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Seit der globalen Finanzkrise 2008 sind die Zinsen in der Eurozone und vielen anderen Industriestaaten sehr niedrig. Anders als von manchen Ökonomen erwartet, führten die langanhaltend tiefen Zinsen zumindest bisher kaum zu nennenswert höheren Preisen. Im Gegenteil, die Inflation lag meist sogar unter dem Ziel der Zentralbanken. Wie kann man dieses Inflationsrätsel erklären? Eine wichtige Rolle spielen «Zombie Firmen». Sie sind wenig produktiv, hochverschuldet und überleben nur dank tiefer Zinsen. Dennoch steigert ihre Produktion das Güterangebot, was die Preise niedrig hält.

FormalPara Quelle

Acharya, V., Crosignani, M., Eisert, T., & Eufinger, C. (2020). Zombie credit and (Dis-) inflation: Evidence from Europe. NBER Working Paper 27.158.

Warum führen langanhaltend niedrige Zinsen nicht zu höherer Inflation? Seit der Finanzkrise sind die Zinsen in den meisten Ländern Europas ausserordentlich niedrig. Die expansive Geldpolitik der Europäische Zentralbank (EZB) und anderer Notenbanken zielt darauf ab, Investitionen und Konsum zu fördern. Sie wird ergänzt durch zahlreiche unkonventionelle Massnahmen wie negative Einlagezinsen und grossangelegte Kaufprogramme für Vermögenswerte, welche in der aktuellen Corona-Krise noch deutlich erweitert wurden. Auf Basis der ökonomischen Theorie aber auch aufgrund vieler Beispiele aus der Vergangenheit würde man erwarten, dass niedrige Zinsen mit der Zeit die Inflationsraten erhöhen. Dennoch ist dies – zumindest in den letzten mehr als zehn Jahren – kaum eingetreten. «Während die Geldpolitik der EZB günstige Finanzierungsformen ermöglichte, und sich diese positiv auf Bruttoinlandsprodukt und Beschäftigungsrate auswirkte, ist der Effekt auf Löhne und Inflation langsamer als erwartet», resümierte der damalige EZB Präsident Mario Draghi 2019.

Für Europas „fehlendes Inflationsrätsel“ gibt es verschiedene Hypothesen. Ein Forscherteam um Viral Acharya von der New York University schlägt nun einen neuartigen Erklärungsansatz vor. Ihre zentrale Hypothese ist, dass niedrige Zinsen sogenannte «Zombiefirmen» begünstigen. Dies sind hochverschuldete und unprofitable Unternehmen, die in Konkurs gehen würden, wenn sie nicht mit billigen «Zombiekrediten» quasi künstlich am Leben gehalten würden. Indem solche Unternehmen im Markt bleiben, verlangsamt sich nicht nur das Wirtschaftswachstum. Sondern das künstlich hohe Güterangebot bremst auch den Anstieg der Preise.

Um ihren Ansatz empirisch zu überprüfen, analysieren die Wissenschaftler, wie sich der Anteil von Zombiefirmen seit 2008 in 65 verschiedenen Branchen entwickelte und auf die Preise auswirkte. Ihr Datensatz umfasst Informationen zu 1,1 Mio. Unternehmen in zwölf europäischen Ländern. Als Zombiefirmen klassifizieren die Forscher wenig kreditwürdige Unternehmen, die sich dennoch zu vergleichsweise niedrigen Kosten finanzieren können. Sie weisen eine branchenweit unüblich hohe Verschuldung auf. Wichtig ist, dass Zombiefirmen weder besonders jung noch abhängig von kurzfristigen Krediten sind. Somit vermeiden die Forscher, Start-Ups oder Unternehmen, die in Krisenzeiten auf kurzfristige Kredite angewiesen sind, fälschlicherweise als Zombiefirmen zu erfassen. Nach der Finanz- und Eurozonenkrise erhöhte sich der Anteil von Zombiefirmen deutlich.

Der Anteil von Zombiefirmen in Europa stieg um durchschnittlich über die Hälfte von rund 4,5 % im Jahr 2012 auf 6,7 % Mitte 2016.

Seit 2011 erhöhten Zombiefirmen trotz stark rückläufiger Rentabilität ihre Verschuldung. Bei anderen, wenig profitablen Nicht-Zombiefirmen zeigte sich eine gegenteilige Entwicklung. Das weist darauf hin, dass sich nicht alle Unternehmen mit Zugang zu günstigen Krediten neu verschuldeten, sondern nur Zombiefirmen. Dennoch waren letztere oft nicht in der Lage, einen Konkurs zu vermeiden: Zwischen 2014 und 2017 verdreifachte sich die Konkursrate von Zombieunternehmen. Der Anstieg fiel bei anderen Unternehmen, die nur kurzzeitig wenig profitabel waren, schwächer aus.

Die Analyse der Ökonomen macht deutlich, dass ein zunehmender Anteil von Zombiefirmen mit niedrigerer Inflation einhergeht. Dieser Zusammenhang ist in Abb. 1 ersichtlich. Sie zeigt auf der linken Achse die Inflationsrate und auf der rechten Achse den vermögensgewichteten Anteil der Zombiefirmen an allen Branchen.

Neben ihren stabilisierenden Effekten während der Rezession, verringern Zinssenkungen auch den finanziellen Druck auf schwache Unternehmen mit nicht nachhaltigen Geschäftsmodellen, welche andernfalls in Konkurs geraten würden. Dadurch tragen sie zur zunehmenden Zahl von Zombiefirmen bei (siehe Abb. 1). Das Gesamtangebot der Güter steigt im Vergleich zu dem Fall, in dem der Konjunkturzyklus seinen normalen Verlauf nimmt. Die daraus resultierende Überkapazität setzt die Preise unter Druck, senkt die Margen und verringert letztlich die Inflation.

Die Ökonomen schätzen, wie sich der zunehmende Anteil von Zombiefirmen auf den jährlichen Preisanstieg in jeder Branche auswirkt. Dabei berücksichtigen sie Landes-, Industrie- und zeitliche Spezifika. Ihre Schätzungen zeigen, dass nach 2012 die Inflationsraten in jenen Branchen geringer waren, wo die Zahl von Zombiefirmen besonders stark zunahm. Der Zeitpunkt, an dem sich die Inflationsdynamik abzuschwächen begann, fällt mit genau mit den außerordentlichen geldpolitischen Lockerungsmaßnahmen wie negativer Zinssätze durch die EZB und andere Zentralbanken zusammen.

Eine Zunahme des Anteils von Zombiefirmen in einer Branche um 11 Prozentpunkte ist typischerweise mit einer um 0,23 Prozentpunkte niedrigeren Inflation verbunden.

In einigen Branchen fiel die Zunahme von Zombiefirmen nach 2012 besonders stark aus: Beispielsweise wies der produzierende Sektor in Frankreich eine anteilige Steigerung um 38,5 % auf. Der Preisanstieg bei französischen Industriegütern wäre demnach um 0,81 Prozentpunkte höher, wenn der Anteil der Zombiefirmen unverändert geblieben wäre.

Zudem berechnen die Forscher für jede Branche die Inflation, welche eingetreten wäre, wenn der Anteil der Zombiefirmen unverändert auf dem Niveau von 2012 geblieben wäre. Daraus ergibt sich die kontrafaktische Inflationsrate, welche in Abb.1 dargestellt wird.

Ohne einen Anstieg der Zombiefirmen nach 2012 wäre die Inflationsrate in Europa zwischen 2012–2016 im Durchschnitt um 0,45 Prozentpunkte höher.

Weiter macht die empirische Evidenz deutlich, dass ein grösserer Anteil von Zombiefirmen in einer Branche mit einer höheren Zahl von Unternehmen, weniger Konkursen und weniger Markteintritten verbunden ist. Zombiekredite halten unprofitable Unternehmen künstlich am Leben, wodurch Produktpreise, Margen sowie Inflationsraten sinken.

Welche Rolle spielt die Kreditvergabe der Banken für diese Ergebnisse? Europäische Firmen finanzieren sich überwiegend mit klassischen Bankkrediten. Schwach kapitalisierte Banken haben dabei einen Anreiz, bestehende Kredite an notleidende Unternehmen wie z. B. Zombiefirmen zu verlängern. In der Hoffnung, dass diese Schuldner den Kredit später zurückzahlen werden, verschieben Banken die Realisierung von Verlusten, welche sie selbst nur schwer verkraften könnten, in die Zukunft. Dadurch trägt die Kreditvergabe schwach kapitalisierter Banken zum beobachteten Wachstum der Zombiefirmen bei. Steht Banken hingegen ausreichend Eigenkapital zur Verfügung, können sie Verluste bereits heute realisieren und haben kaum einen Anreiz, Zombiekredite zu verlängern. Die Forscher können daher einen Teil des schwachen Inflationswachstums auf Veränderungen der Kreditvergabe von (schwach kapitalisierten) Banken zurückführen.

Eine niedrigere Eigenkapitalquote von Banken geht typischerweise mit einer Zunahme von Zombiefirmen sowie geringerer Inflation einher.

Zusammenfassend liefern die Wissenschaftler durch den «Zombiekreditkanal» einen neuen, angebotsseitigen Erklärungsansatz für die anhaltend niedrige Inflation in Europa. Ihre Ergebnisse machen insbesondere deutlich, dass die Übertragung geldpolitischer Massnahmen auf die Realwirtschaft von großer Bedeutung ist. Andernfalls kann expansive Geldpolitik unbeabsichtigte Konsequenzen haben, welche dem Ziel, die Inflation zu stabilisieren und das Wachstum zu fördern, entgegenwirken. Um die Wirksamkeit von Zinssenkungen angesichts eines schwächelnden Finanzsektors zu verbessern, empfehlen die Forscher, sie mit einem gezielten Programm zu Rekapitalisierung für Banken zu begleiten.

Abb. 1
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(Quelle: Acharya et al. u. a. (2020), S. 3, S. 17)

Zombiekredite und Inflation.