FormalPara Relevanz

Der Wohnort einer Familie beeinflusst die Zukunftschancen ihrer Kinder. Der Umzug in ein Wohnviertel, wo die künftigen Einkommen der Kinder über jenen ihrer Eltern liegen, verbessert die soziale Mobilität und verringert Armut über Generationen hinweg. Warum ziehen einkommensschwache Familien trotzdem nur selten in solche Chancengebiete? Diese Studie zeigt, dass neben finanzieller Unterstützung bereits einfache Hilfeleistungen, z. B. bei der Wohnungssuche, den Wohnortwechsel in Chancengebiete deutlich erleichtern und so die Perspektiven von Kindern einkommensschwacher Familien langfristig verbessern.

FormalPara Quelle

Bergman, P., Chetty, R., DeLuca, S., Hendren, N., Katz, L. F., & Palmer, C. (2020). Creating moves to opportunity: experimental evidence on barriers to neighborhood. NBER Working Paper Series Nr. 26.164.

Die Wohngegend kann Wohlstand, Bildungsniveau und Gesundheit entscheidend beeinflussen. Diese Entwicklung beginnt bereits im Kindesalter und prägt eine Person ihr Leben lang. So ist beispielsweise das spätere Einkommen stark abhängig davon, wo jemand als Kind aufgewachsen ist. Gebiete, in denen das zukünftige Einkommen eines Kindes im Vergleich zu jenem der Eltern deutlich steigt, bezeichnet man als Chancengebiete. Wenn einkommensschwache Familien mit kleinen Kindern dorthin umziehen, kann dies die Aufstiegschancen der künftigen Generation verbessern und Armutsrisiken auf Dauer mindern. Jedoch ziehen z. B. in den USA nur wenige einkommensschwache Familien in solche Chancengebiete um, obschon die Mieten nicht höher sind als anderswo. Dadurch bleiben Aufstiegschancen für Kinder ungenutzt, was sich in niedriger sozialer Mobilität niederschlägt.

Ein Forscherteam um Raj Chetty, Nathaniel Hendren, Stefanie DeLuca und Lawrence F. Katz setzt an dieser Stelle an und untersucht, was genau Familien daran hindert, in Chancengebiete umzuziehen. Dazu haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen mit den Bezirken Seattle und King County im US-Bundesstaat Washington ein Experiment durchgeführt. Dieses baut auf der staatlichen Mietunterstützung auf: Der Staat fördert einkommensschwache Familien, indem er nach einem Umzug für einen Teil der neuen Miete aufkommt. Die Familien müssen zwischen 30 und 40 % des jährlichen Einkommens für die Miete bezahlen, den Rest übernimmt der Staat. Die Forscher haben zufällig 430 Anträge auf Mietunterstützung von Familien mit Kindern unter 15 Jahren ausgewählt und in zwei Gruppen unterteilt: Die eine Hälfte – die sog. Behandlungsgruppe – hat zusätzlich zu den normalen Leistungen weitere Hilfen erhalten, um den Umzug in Chancengebiete weiter zu erleichtern. Die andere Hälfte diente als Kontrollgruppe und bekam diese zusätzlichen Hilfen nicht. Keine Familie, egal welcher Gruppe, war dabei verpflichtet, in ein Chancengebiet umzuziehen.

Die zusätzlichen Hilfsleistungen umfassten die Unterstützung durch Sozialarbeiter einer gemeinnützigen Organisation bei der Wohnungssuche. Sie erklärten den Familien beispielsweise, wo Chancengebiete liegen und welche Vorzüge ein Umzug dorthin verspricht. Diese Dienste wurden von den Familien sehr unterschiedlich beansprucht. Einige brauchten vor allem Unterstützung bei der Wohnungssuche, andere hatten Mühe beim Ausfüllen der Mietdokumente und nahmen dafür die Hilfe in Anspruch. Der Zeitaufwand der Sozialarbeiter betrug durchschnittlich sechs Stunden pro Familie. Zudem nahmen Programmmitarbeiter direkt mit Vermietern Kontakt auf, um ihnen das Experiment zu erläutern und sie zu ermuntern, Wohnungen an einkommensschwache Familien zu vermieten. Zusätzlich wurden den Vermietern Versicherungen angeboten. Schliesslich erhielten die Familien in der Behandlungsgruppe kurzfristig finanzielle Unterstützung, z. B. wurde beispielsweise das Mietzinsdepot bezahlt. Die Nettokosten für alle Zusatzleistungen betrugen pro Familie durchschnittlich 2660 US$.

Die Ergebnisse machen deutlich, dass erheblich mehr Familien der Behandlungsgruppe in Chancengebiete umzogen als der Kontrollgruppe. Die zusätzlichen Unterstützungsleistungen erhöhten den Anteil von Umzügen in Chancengebiete um 38 Prozentpunkte, wie Abb. 1 zeigt. Die Familien sind dabei in unterschiedliche Chancengebiete gezogen. Deshalb verursachte das Experiment selbst keine grossen Änderungen in der sozioökonomischen Zusammensetzung der betroffenen Wohnviertel. So wurde z. B. verhindert, dass aus einem Chancengebiet durch viele Zuzüge einkommensschwacher Familien ein sozioökonomisch schwaches Gebiet entsteht. Die Familien mussten aufgrund ihrer Teilnahme am Experiment beim Umzug in ein Chancengebiet auch keine Kompromisse eingehen. Ihre neuen Wohnungen waren im Durchschnitt circa vier Quadratmeter grösser.

Abb. 1
figure 1

(Quelle: Bergman et al. u. a. (2020), S. 20)

Anteil der Familien, der in Chancengebiete umzog.

Mit zusätzlicher Unterstützungsleistungen zogen 53 % aller Familien in Chancengebiete um; ohne zusätzliche Unterstützung waren es nur 15 %.

Bleiben die Familien auch langfristig in den Chancengebieten? Hier zeigen sich deutliche Unterschiede: Nach einem Jahr lebten 60 % der Familien der Behandlungsgruppe noch dort. In der Kontrollgruppe betrug dieser Anteil nur 19 %. Familien mit zusätzlichen Unterstützungsleistungen bleiben also eher in den Chancengebieten. Die Forscher konnten auch zeigen, dass deren Zufriedenheit mit den neuen Wohngebieten deutlich höher war. 64 % der Familien mit den zusätzlichen Hilfeleistungen waren nach einem Jahr in ihren neuen Wohnvierteln sehr zufrieden. In der Kontrollgruppe gaben dies mit 46 % deutlich weniger Familien an.

Von den Familien, welche zusätzliche Hilfen bekommen hatten, waren nach einem Jahr 64 % sehr zufrieden mit ihrem neuen Wohnviertel, in der Kontrollgruppe betrug dieser Anteil 46 %.

All diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass viele Familien deshalb nicht in Chancengebieten leben, weil unüberwindbare Hürden sie von einem Umzug dorthin abhalten. Zur Evaluation der Wirksamkeit der Interventionen hat das Forscherteam 80 % der Familien befragt. Dabei war wichtig, dass sie über ihre spezifische Situation erzählen konnten. Die zentrale Erkenntnis dieser Interviews war, dass das Programm mit zusätzlichen Unterstützungsleistungen deshalb so wirkungsvoll war, weil es auf die individuellen Bedürfnisse jeder Familie angepasst wurde. Den Familien standen alle Angebote zur Verfügung, sie konnten sie aber je nach Bedarf in Anspruch nehmen. Ein individuelles Lösungspaket aus Unterstützung bei der Wohnungssuche, Hilfe beim Verfassen der Bewerbungsdokumente, Informationen über Chancengebiete und kurzfristige finanzielle Unterstützungen konnte die Hürden abbauen. Gerade die emotionale Unterstützung durch die Sozialarbeiter wurde von den Familien sehr geschätzt wie auch die Informationen über den Umzug in Chancengebiete.

Wie gross ist der Einfluss eines Umzugs in ein Chancengebiet auf die Zukunftsperspektiven der Kinder? Das Forscherteam schätzt, dass ein Kind, dessen Familie nach der Geburt in ein Chancengebiet umzieht, im Alter von 30 Jahren rund 3000 US$ pro Jahr mehr verdienen wird, als wenn dieser Umzug nicht stattfindet. Hochgerechnet auf das ganze Erwerbsleben schätzen die Autoren das zusätzliche Einkommen auf 214 000 US$. Das entspricht einem Anstieg von 8,4 %. Der Umzug in ein Chancengebiet verbessert also langfristig das Lebenseinkommen und den ökonomischen Status der Kinder.

Das Lebenseinkommen eines Kindes, dessen Familie nach seiner Geburt in ein Chancengebiet umzieht, wird um durchschnittlich 214 000 US$ zunehmen.

Das in dieser Studie untersuchte Programm zeigt, dass viele Hürden einkommensschwache Familien davon abhalten, in Chancengebiete umzusiedeln. Diese können mit kurzfristigen finanziellen Hilfen und einfachen Unterstützungsleistungen durch Sozialarbeiter aus dem Weg geräumt werden. Essenziell ist dabei, dass auf die individuellen Bedürfnisse der Familien eingegangen wird. So kann die gezielte Unterstützung bei der Wohnungssuche einkommensschwachen Familien dabei helfen, die soziale Mobilität zu verbessern und generationenübergreifende Armut zu verringern.