FormalPara Relevanz

Wird in armen Ländern mehr gearbeitet als in reichen? Die vorliegende Studie zeigt erhebliche Arbeitszeitunterschiede zwischen Ländern mit hohem und niedrigem Einkommen auf. Je höher das Pro-Kopf Einkommen, desto kürzer ist die durchschnittliche Wochenarbeitszeit. Bei Wohlstandsvergleichen etwa zwischen Industrie- und Entwicklungsländern blieb dieser Unterschied allerdings meist unberücksichtigt. Dies deutet darauf hin, dass die Produktivitäts- und Wohlfahrtsunterschiede zwischen armen und reichen Ländern deutlich grösser sind, als bisher vermutet. Denn in reichen Ländern erwirtschaften Arbeitnehmer nicht nur ein höheres Einkommen, sie tun dies auch in kürzerer Zeit.

FormalPara Quelle

Bick, A., Fuchs-Schündeln, N., & Lagakos, D. (2018). How do hours worked vary with income? cross-country evidence and implications. American Economic Review, 108(1), 170–199.

Im Juli 2021 hat Island für die Mehrheit aller erwerbstätigen Personen die Arbeitszeit um bis zu fünf Stunden pro Woche verkürzt und damit einen Schritt in Richtung einer Vier-Tage-Woche gemacht. Dies hat die Diskussion um die Arbeitszeitverkürzung neu entfacht. Der nordische Sonderweg soll die Work-Life-Balance der arbeitenden Bevölkerung verbessern. Im Vergleich zu anderen Industriestaaten gehörte Island bereits vorher zu den Ländern mit den wenigsten Arbeitsstunden pro Arbeitskraft.

Die Arbeitszeitverkürzung mag auf den ersten Blick drastisch erscheinen. Allerdings ist sie Teil einer Entwicklung, welche die meisten OECD-Länder schon lange durchlaufen. Allein zwischen 1989 und 2019 ist die durchschnittliche Arbeitszeit um insgesamt 6,8 % gesunken. Von 2019 auf 2020 reduzierte sie sich vor allem aufgrund der Covid-Krise um weitere 3,2 %. Trotz dieser rückläufigen Tendenz, welche in den meisten entwickelten Volkswirtschaften beobachtet wird, gibt es zwischen den Ländern grosse Arbeitszeitunterschiede. Zahlreiche Studien haben diese in der Vergangenheit untersucht. Zumeist beschränkten sie sich jedoch auf reiche Industriestaaten. Für Entwicklungsländer existieren hingegen nur wenige Studien. Ein Grund dafür ist, dass in ärmeren Ländern landwirtschaftliche Tätigkeiten üblicherweise einen grossen Teil der Arbeit ausmachen. Häufig handelt es sich dabei um selbstständige oder unbezahlte Arbeit, welche in offiziellen Statistiken kaum vollständig erfasst wird.

Der Anteil von selbstständiger oder unbezahlter Arbeit ist in den ärmeren Ländern deutlich höher. Bisher existierten daher kaum umfassende Daten über die geleisteten Arbeitsstunden.

An diesem Punkt setzen die Ökonomen Nicola Fuchs-Schündeln von der Goethe-Universität Frankfurt, Alexander Bick von der Arizona State University und David Lagakos von der Universität San Diego an. Statt offizielle Dokumente, wie beispielsweise Lohnabrechnungen, nutzten die Forscher Umfragen, um die geleisteten Arbeitsstunden zu bestimmen. Im Gegensatz zu früheren Studien konnten sie unbezahlte Arbeit so besser erfassen und erhielten gerade für ärmere Länder ein präziseres Abbild der Realität.

Es besteht ein negativer Zusammenhang zwischen der Arbeitszeit und dem Pro-Kopf Einkommen: Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit ist in den reichsten Ländern rund 9,5 h kürzer als in den ärmsten.

Für ihre Analyse verwendeten die Autoren Daten aus 49 Ländern im Jahr 2005. Abb. 1 zeigt ein zentrales Ergebnis ihrer Studie nämlich einen negativen Zusammenhang zwischen dem BIP pro Kopf und den durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitsstunden. Je reicher ein Land ist, desto weniger wird im Durchschnitt gearbeitet. Zur einfacheren Lesbarkeit der Grafik verwenden die Autoren den Logarithmus des Pro-Kopf Einkommens; dies hat keinerlei Einfluss auf die Resultate. Die vertikalen Trennstriche kennzeichnen die drei Terzile der weltweiten Einkommensverteilung: Diese unterteilen die 49 Länder in drei ähnlich grosse Gruppen mit niedrigem, mittlerem bzw. hohem Einkommen. Die Gruppe der ärmsten Länder weist eine durchschnittliche Arbeitswoche von 28,5 h auf. In Ländern mit mittlerem Einkommen wird im Durchschnitt noch 21,7 h pro Woche gearbeitet und in jenen mit hohem Einkommen nur 19 h.

Abb. 1
figure 1

(Quelle: Bick et ail. u. a. (2018), Abb. 2)

Durchschnittliche Arbeitsstunden pro Erwachsenen und Land 2005.

Bei den wöchentlichen Arbeitsstunden handelt es sich um den Durchschnitt aller Erwachsenen, unabhängig von ihrer tatsächlichen Erwerbstätigkeit. Jener hängt im Wesentlichen von zwei Faktoren ab. Einerseits von den durchschnittlichen Arbeitsstunden einer erwerbstätigen Person: Je mehr Stunden, desto höher wird der Wert. Andererseits von der Erwerbsquote: Je mehr erwachsene Personen erwerbstätig sind, desto höher der Wert. Die Forscher kommen zum Ergebnis, dass die Unterschiede in der Erwerbsquote rund drei Viertel der Unterschiede in den durchschnittlichen Arbeitsstunden zwischen armen und reichen Ländern erklären. Die höheren Arbeitsstunden pro Erwachsenen sind also mehrheitlich darauf zurückzuführen, dass in den ärmeren Ländern mehr erwachsene Personen einer Arbeit nachgehen als in den reicheren Ländern.

Die Arbeitszeitunterschiede zwischen armen und reichen Ländern können zu drei Viertel auf unterschiedliche Erwerbsquoten von erwachsenen Personen zurückgeführt werden.

Dabei folgen die Länder mit der Zeit einer vergleichbaren Entwicklung: Mit wachsender Wirtschaft und höherem Einkommen geht die Arbeitszeit zurück. Um diesen Zusammenhang zu analysieren, untersuchte das Forscherteam Zeitreihen aus den USA. Denn die USA gelten heute eines der reichsten Länder, während sie vor rund einem Jahrhundert aber noch zu jenen mit mittlerem Einkommen zählten. Tatsächlich nahmen die durchschnittlichen Arbeitsstunden Erwachsener von 27,7 h pro Woche im Jahr 1900 auf 23 h im Jahr 2005 ab. Der Pfad der durchschnittlichen Arbeitszeit in den USA während dieser Zeit ist vergleichbar mit den heutigen Arbeitszeitunterschieden zwischen ärmeren und reicheren Ländern, welche in Abb. 1 dargestellt sind.

Das Forscherteam untersuchte die Daten auch nach demografischen Mustern. Beispielsweise verglich es die durchschnittliche Arbeitszeit nach Geschlecht. Die grundlegende Feststellung, dass in ärmeren Ländern mehr gearbeitet wird als in reicheren, blieb gleich. Allerdings weisen Frauen eine um 25–40 % niedrigere Durchschnittsarbeitszeit auf als Männer. Unterscheidet man zwischen Altersgruppen, fällt auf, dass die Arbeitsstunden von älteren Personen in armen Ländern deutlich höher sind als in reichen. Dies kann man auf die meist gut ausgebauten sozialen Vorsorgesysteme (z. B. Rentenversicherung) in entwickelten Volkswirtschaften zurückführen, weshalb ältere Menschen dort kaum mehr arbeiten müssen. Interessante Resultate liefert auch die Aufteilung nach Bildung. In reicheren Ländern arbeiten gut ausgebildete Personen überproportional lange. In den ärmeren Ländern fällt dieser Unterschied geringer aus. Teilt man die Arbeitsstunden nach den Sektoren Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen auf, sind schliesslich grosse Unterschiede zu erkennen. Bei der Arbeitszeit in der Landwirtschaft gibt es kaum ausgeprägte Unterschiede zwischen Ländern, wogegen in den anderen beiden Sektoren die Arbeitszeit in den ärmeren Ländern deutlich höher ist.

Wie wirken sich die systematischen Arbeitszeitunterschiede auf den Wohlstand in armen und reichen Ländern aus? Die Autoren nutzten die Resultate ihrer Studie und berechneten die Produktivitätsunterschiede zwischen armen und reichen Ländern neu. Bisher war es üblich, die Arbeitsproduktivität in einem Land anhand des BIP pro Arbeitskraft zu messen. Berechnet man die Differenz zwischen armen und reichen Ländern auf diese Weise, so sind reiche Länder 14,3-mal produktiver als arme. Allerdings wird bei dieser Berechnung ignoriert, wie viele Arbeitsstunden geleistet werden. Berücksichtigt man die unterschiedliche Arbeitszeit, sind die reicheren Länder sogar 16,5-mal produktiver als die ärmeren. Dies ergibt einen um 15 % höheren Produktivitätsunterschied als bisher angenommen. In ärmeren Ländern stellt jeder Arbeitnehmer nicht nur weniger Güter her, sondern arbeitet dafür auch noch länger.

Werden neben dem BIP auch die geleisteten Arbeitsstunden berücksichtigt, fallen die Produktivitäts- und Wohlfahrtsunterschiede zwischen armen und reichen Ländern um 15 bzw. 60 % grösser aus als bisher vermutet.

Für Wohlfahrtsunterschiede ergibt sich schliesslich ein ähnliches Bild. Häufig wird die Wohlfahrt anhand des BIP oder Konsum pro Kopf gemessen. Komplexere Wohlfahrtsmasse berücksichtigen daneben auch die Freizeit. Denn Nutzen wird nicht bloss aus dem Konsum gezogen, sondern auch aus der Freizeit. Verwendet man diesen Ansatz, fallen die Wohlfahrtsunterschiede zwischen arm und reich erneut grösser aus. Einwohner reicherer Länder verfügen einerseits über ein höheres Einkommen und können deshalb mehr konsumieren. Andererseits arbeiten sie weniger und haben daher mehr Freizeit, was ihren Nutzen weiter erhöht. Die Autoren kommen zum Schluss, dass die Wohlfahrt in reicheren Ländern unter Berücksichtigung der geleisteten Arbeitsstunden um knapp 19-mal höher ist als in ärmeren. Dies entspricht einem um 60 % höheren Wohlfahrtsunterschied im Vergleich zu traditionellen Massen, welche die Arbeitszeit nicht berücksichtigen.