Vor dem Hintergrund einer praxeologischen Analysefolie, welche einen Zugriff „auf die soziale Praxis des Pädagogischen bzw. pädagogischer Ordnungen“ (Schmidt, 2018, S. 9) bzw. einen Blick auf die (soziokulturelle) Praxis im Kontext von Arrangements von Praktiken ‚früher Kindheit(en)‘ (vgl. Honig, 2018, S. 204 ff) erlaubt, versteht sich die vorliegende Schrift als rekonstruktiv. Dieser Zugang fragt nach dem wie der Herstellung sozialer Praxis und ermöglicht, „denjenigen, die Gegenstand der Forschung sind, Gelegenheit [zu geben], ihre Konstruktionen und ihr kommunikatives Regelsystem zu entfalten“ (Bohnsack, 2010, S. 24). Das hierbei konstitutive Moment der Offenheit ermöglicht, dass „die Strukturierung der Kommunikation im Rahmen des für die Untersuchung relevanten Themas so weit wie möglich [den Beforschten] überlassen [werden kann], damit diese ihr Relevanzsystem und ihr kommunikatives Regelsystem entfalten können und auf diesem Wege die Unterschiede zum Relevanzsystem des Forschers überhaupt erst erkennbar werden“ (ebd., S. 21).

In Anlehnung an Nentwig-Gesemann und Nicolai (2014, S. 47) lässt sich die empirische Ausrichtung der vorliegenden Schrift als ethnografisch fokussierte dokumentarische Methode fassen, die „einen empirischen Zugang zur Performanz von Praxis im Moment ihres Vollzug[s]“ ermöglicht und sich dadurch auszeichnet, „die praktische Herstellung pädagogischer Ordnungen zu rekonstruieren und dabei die Wechselwirkungen zwischen den handlungsleitenden Orientierungen, den situationsbezogenen und übersituativen Rahmungen von Kindern und Erwachsenen, zu beleuchten“ (ebd.). Nach Prout und James (2015, S. 22) eignen sich ethnografische Verfahren ganz besonders dazu, „nearer to the ‘truth’ about what childhood is like“ vorzudringen. Vor diesem Hintergrund wurden im Rahmen des Dissertationsprojekts ethnografische Feldaufenthalte in drei frühpädagogischen Institutionen in Österreich durchgeführt (vgl. Abschnitt 3.1). Die Ethnografie bietet, insbesondere mittels teilnehmender Beobachtung, Zugriffsmöglichkeiten auf die soziale Praxis – repräsentiert durch Praktiken (der Hervorbringung) – in situ, vor Ort und in ihrem Vollzug (bspw. Vogd, 2006) (vgl. Abschnitt 3.2), womit sich die Möglichkeit einer Annäherung an die performative Praxis eröffnet (Bohnsack, 2020, S. 70)Footnote 1.

Ausgewertet wurde das DatenmaterialFootnote 2 mittels Dokumentarischer Methode (vgl. Abschnitt 3.3), welche einen Zugang zum reflexiven und handlungsleitenden Wissen der Akteur:innen und deren Handlungspraxis sowie insbesondere zur performativen PerformanzFootnote 3 eröffnet (bspw. Bohnsack, Nentwig-Gesemann & Nohl, 2013, S. 9).

3.1 Feld und Sample

Die Fokussierung auf frühpädagogische Institutionen als ‚empirische Orte‘, resp. als zu beforschendes Feld, gründet in der Bezugnahme auf die zeitliche Einordnung ‚früher Kindheit‘ als Lebensphase, die sich zwischen der Geburt eines Kindes und des Übergangs in die Schule realisiertFootnote 4 (Braches-Chyrek et al., 2020, S. 13). Frühpädagogische Einrichtungen können in diesem Kontext als zentrale Erfahrungsräume kindlicher Lebenswelten verstanden werden, in denen soziale Wirklichkeit in (vor)definierten Handlungspraxen hervorgebracht wird.

Bezugnehmend auf die Forschungsstrategie des theoretical samplingsFootnote 5 (Glaser & Strauss, 2010) und unter Berücksichtigung einer größtmöglichen Offenheit im qualitativen Forschungsprozess, insbesondere auch im Hinblick auf die Erreichung einer theoretischen Sättigung, wurden frühpädagogische Einrichtungen zur Beteiligung am Dissertationsprojekt angefragt, welche möglichst heterogene Rahmenbedingungen aufweisenFootnote 6. Die Kontaktaufnahme verlief hierzu top-down, telefonisch und/oder via Mail, über die Leitungspersonen der Einrichtungen und/oder die Führungsebene des jeweiligen Trägers.

Zur Teilnahme erklärten sich drei Institutionen (bzw. Träger) bereit. Das Einverständnis wurde erst von den Trägern, dann auch schriftlich von allen pädagogischen Fachkräften (aller Gruppen der jeweiligen Einrichtung) und Eltern bzw. Sorgeberechtigte (jener Gruppen, in denen die teilnehmende Beobachtung realisiert wurde) eingeholt. Zudem wurden diesen Akteursgruppen (Träger, Fachkräfte und Eltern) umfassendes Informationsmaterial zum Projekt schriftlich übermittelt. Den Trägern wurde zudem offeriert, das Vorhaben Fachkräften und/oder Eltern bzw. Sorgeberechtigten persönlich vorzustellen und mit den Akteur:innen zu diskutieren. Auf das Angebot wurde insgesamt viermal zurückgegriffen, in dem Sinne, dass die Forscherin in Teamgesprächen in allen drei Einrichtungen sowie zusätzlich einem Elternabend – jeweils zeitweise – beiwohnte, das Promotionsprojekt resp. die geplanten ethnografischen Feldaufenthalte vorstellte, diskutierte sowie Fragen beantwortete. Auf das Einverständnis, das von den Kindern – zumeist prozessual, teils auch schriftlich – eingeholt wurde, wird in Abschnitt 3.2.3 noch detaillierter eingegangen.

Aus forschungsethischen und Datenschutzgründen erfolgt an dieser Stelle keine Vorstellung der einzelnen Einrichtungen. Dennoch soll, anhand der folgenden Tabelle 3.1, kurz darauf hingewiesen werden, dass sich diese durch eine (möglichst) maximale Kontrastierung auszeichnenFootnote 7.

Tabelle 3.1 Übersicht Sample

3.2 Erhebung

Die Kindheitsforschung ist von einer Expansion bzw. einer Ausdifferenzierung und Formierung von ethnografischen Forschungsbemühungen – gerade auch im Hinblick auf das Feld frühpädagogischer Institutionen – gekennzeichnet (Bollig & Cloos, 2018, S. 3). Diese Entwicklung gründet u. a. in ihrem „spezifischen Zugang[s] zur pädagogischen Praxis und ihrer methodischen Alltagsnähe […]. Nicht umsonst wird der Ethnografie ein spezifisches Potential zugesprochen, pädagogisches Verstehen tiefergehend zu grundieren und vorschnellen Setzungen, wie pädagogische Praxis zu funktionieren hat, einen befremdenden Blick entgegenzusetzen“ (ebd., S. 4).

Der Aufenthalt im Feld ermöglicht die unmittelbare Teilnahme in der alltäglichen Praxis der frühpädagogischen Einrichtung, also eben jenem gesellschaftlich ausdifferenzierten Kindheitsraum, indem sich permanent Prozesse der Hervorbringung von früher Kindheit vollziehen; vgl. auch Abschnitt 2.6.1). Der Ethnografie wird zugesprochen, „a particularly useful methodology for the study of childhood“ zu sein (Prout & James, 2015, S. 7). Nach Deckert-Peaceman (2020, S. 318) eröffnet sie die Möglichkeit, „die paradoxe Andersartigkeit von Kindern“, bzw. die Gleichzeitigkeit des Fremdseins und Vertrautseins von Kindern (und Erwachsenen; ebd. S. 317) differenzierter erschließen zu können.

Die ethnografische Erhebung erfolgte in elementarpädagogischen Einrichtungen in Österreich (‚Kindergärten‘, vgl. auch Abschnitt 2.6.2), welche Kinder in einem spezifischen Alterssegment adressieren. Damit sind Kinder etwa zwischen 2,5 bis 6 Jahren angesprochen, abhängig von den jeweiligen institutionellen (zum Teil auch: konzeptuellen) Rahmenbedingungen bzw. föderalen Gesetzgebungen (vgl. auch Engel et al., 2022). Durchgeführt wurden teilnehmende Beobachtungen, die einen Zugriff auf Praktiken der Akteur:innen in situ ermöglichen, ergänzt mit verbalen sowie visuellen Erhebungsmethoden. Die konkrete Auswahl dieser Instrumente war – inspiriert durch den Mosaic Approach (bspw. Clark & Moss 2001; Schütz & Böhm, 2021) und die QuaKi-StudieFootnote 11 (bspw. Nentwig-Gesemann, Walther & Thedinga, 2017; Nentwig-Gesemann et al., 2020) – darum bemüht, an ‚kindlichen‘ (sprachlichen, ästhetischen und körperlichen) Aneignungs-, Ausdrucks- und Beteiligungsformen anzuschließen. Das Instrumentarium  sollte in angemessener Weise, möglichst offen, flexibel und partizipativ in Spielprozesse eingelagert werden (Knapp, Niederer & Winter, 2009, S. 609; Nentwig-Gesemann & Wagner-Willi, 2007, S. 213 f; Neuß, 2010, S. 194 f; Schulz, 2018b, S. 25). Damit wurde intendiert, nicht nur explizite, sondern auch implizite bzw. „prä-reflexive und der Verbalsprache nicht ohne Weiteres zugängliche Wissensbestände“ zum Ausdruck bringen zu können resp. in der Analyse zu berücksichtigen (Nentwig-Gesemann & Thole, 2023, S. 121).

Die ethnografischen Feldaufenthalte realisierten sich jeweils an mehreren aufeinander folgenden Tagen (knapp zwei Wochen) je Einrichtung, jeweils vormittags für eine Dauer von ca. 2,5 h. Insgesamt wurden 25 Tage (ca. 75 h) im Feld verbracht. Diese realisierten sich im Hinblick auf die institutionelle Tagesstruktur vornehmlich im FreispielFootnote 12 – einem raum-zeitlichen Spezifikum frühpädagogischer Einrichtungen, in das u. a. normative Vorstellungen von Kindheit und Spiel eingelagert sind – und zum Teil auch in der Mikrotransition des Übergangs (Ende der ‚Freispielzeit‘). Diese zeitliche Einbettung gründet vorrangig in der Logik des Feldes, resp. in der Beobachtungsmöglichkeit, die seitens der Fachkräfte (zumindest in manchen Einrichtungen) zeitlich offeriert bzw. gesetzt und für die weiteren Erhebungen übernommen wurde. Nohl, Dehnavi und Amling (2011, S. 84) weisen in deren Studie darauf hin, dass sich der Vormittag – eben vom organisationalen Ablauf bzw. der zeitlichen Struktur geprägt – eignet, einen Zugriff auf sowohl (stärker) strukturierte (z. B. ritualisierte Interaktionen) als auch auf (weniger) unstrukturierte Phasen (eben gefasst als ‚Freispiel‘) und Praktiken zu erhalten.

Die Feldaufenthalte realisierten sich in unterschiedlichen Phasen des Jahres (bzw. ‚Jahreskreises‘), womit auch heterogene institutionelle bzw. pädagogische Schwerpunktsetzungen berücksichtigt werden konnten. Diese finden sich an manchen Stellen auch auf thematisch-inhaltlicher Ebene im Datenmaterial wieder (bspw. Fall Mittagskreis). Der Erhebungszeitraum erstreckt sich von Oktober 2019 bis Februar 2020Footnote 13.

Der gesamte Datenkorpus umfasst schließlich Beobachtungsprotokolle, Interviews und Paarinterviews mit Kindern, Kinderzeichnungen sowie Fotos. Das gesamte visuelle Material ist im Kontext der Erhebung mittels Interviews und Paarinterviews entstanden. Hier wurde intendiert, den Kindern Partizipationsmöglichkeiten hinsichtlich der Gestaltung der Erhebungssituation (in möglichst hohem Ausmaß, innerhalb eines Rahmens) zu eröffnen. So konnten sie wählen, ob sie ein Gespräch führen möchten, ob sie ein Bilderbuch ansehen und besprechen möchten, ob sie eine:mehrere Zeichnung:en anfertigen und/oder mit Lege- und Konstruktionsmaterial ‚spielen‘/‚etwas bauen‘ möchten. Die Kinder wählten aus, mit welchen Materialien sie sich auf welche Art und Weise und ggf. in welcher Anzahl und Reihenfolge sie sich befassen wollten.

Für die Zeichnungen wurde unterschiedliches Papier (weißes Tonpapier in den Formaten A3, A4 und A5) und verschiedene Malutensilien (Filzstifte, Farbstifte, Pinsel und wasserlösliche bzw. mit Wasser und Pinsel „vermalbare“ Farbstifte) zur Verfügung gestellt. Es gab keine Vorgaben oder Hinweise hinsichtlich der Motive oder Themen.

Die Fotos bilden Bauwerke (großteils elementarpädagogische Einrichtungen) ab, die von den Kindern konstruiert wurden. Auch hier wurden Materialien zur Verfügung gestellt (Holzfiguren in unterschiedlichen Größen, Glassteine, Holzblöcke und -platten, Tücher in verschiedenen Farben und Materialien, Holzringe, Filzmatte; vgl. Anhang 1Footnote 14). Die Kinder wurden hier gebeten, einen ‚Kindergarten‘ zu bauen. Angedacht war dieses Konstruktionsangebot als Erzählanreiz bzw. auch als Möglichkeit, den ‚spielerischen Charakter‘ der (Paar-)Interviewsituation zu erreichen/aufrechtzuerhalten. Die Fotos wurden während und/oder nach dem Konstruktionsprozess angefertigt, zum Teil von den Kindern selbst, zum Teil von der Forscherin. Einige Bauwerke wurden mehrmals, nämlich aus unterschiedlichen Perspektiven, abgebildet.

Nach der Erhebung wurde eine Auswahl für die Analyse getroffen: Es wurden Beobachtungsprotokolle als Datensorte ausgewählt, die mittels Dokumentarischer Methode analysiert wurden. Dieser Selektion liegt ein längerer, intensiv überlegter – und u. a. in Forschungswerkstätten diskutierter – Entscheidungsprozess zugrunde, der sich vorrangig auf das Argument beruft, dass die teilnehmende Beobachtung einen Blick auf die Praktiken der Akteur:innen im Feld ermöglicht (Bütow, Eckert & Teichmann, 2016, S. 40). Über die Teilnahme und Beobachtung kultureller und sozialer Praktiken kann das implizite Wissen der Praxis erschlossen (Kelle, 2018, S. 224) bzw. ein Zugang zur performativen Performanz (Bohnsack, 2020, S. 70) geschaffen werden:

Die Logik der gelebten Praxis ist eine andere als die der (Akteurs-)Theorien über die Praxis. Wenngleich auch Einzelinterviews und insbesondere Gruppendiskussionen mit Hilfe der dokumentarischen Methode in der reflektierenden Interpretation dahingehend ausgewertet werden können, dass die Aufmerksamkeit von dem, was gesagt wird, auf den modus operandi gelenkt wird, also geschaut werden kann, wie hier performativ Wirklichkeit hergestellt wird und welche Orientierungen hier zur Geltung kommen […], liefern die Methoden ‚teilnehmende Beobachtung‘ wie auch ‚Videoanalyse‘ einen unmittelbaren Weg, um die Details der gelebten Praxis bzw. die vielfältigen Kontexte und Differenzierungen dieser Praxis zu rekonstruieren (Vogd, 2006, S. 90; Hervorhebungen lt. Original).

Dieses Vorgehen verweist auf das konstitutive Moment der (methodischen) Offenheit qualitativer bzw. rekonstruktiver Forschungsprozesse (Bohnsack, 2010, S. 24; Strübing et al., 2018, S. 85 f) sowie auf Suchbewegungen (Bollig & Cloos, 2018, S. 5), die sich in ethnografischen Projekten in wechselseitiger Verschränkung von Daten, Analyse und Theorie vollziehen (Krinninger, 2018, S. 7). Aufgrund der Entscheidung, Beobachtungsprotokolle als Datenmaterial zur Analyse heranzuziehen, folgt im anschließenden Abschnitt 3.2.1 eine Kontextualisierung der Ethnografie als methodischem Zugang sowie der teilnehmenden Beobachtung als Methode. In Abschnitt 3.2.2 wird das methodische Vorgehen bei der Protokollierung beschrieben. Von der Vorstellung der anderen Erhebungsmethoden (Interviews, Paar-Interviews, Kinderzeichnungen, Fotografie), die einen Zugriff auf die proponierte Performanz ermöglichen, aber weniger Aufschluss über tatsächliche Handlungspraxis geben können (Bohnsack, 2020, S. 70), wird abgesehenFootnote 15.

3.2.1 Ethnografie

Wie bereits einleitend in das Kapitel 3 formuliert, versteht sich der empirische Zugang der vorliegenden Schrift als ethnografisch fokussierte Dokumentarische Methode, welche sich insbesondere zur „Erforschung von körperlich-performativen Interaktionspraktiken (z. B. Rituale, Spiele, pädagogisch-didaktische Situationen)“ (Bohnsack, Nentwig-Gesemann & Nohl, 2013, S. 20) eignet.

[Die Ethnografie] verfolgt die relativ einfache, aber nicht voraussetzungslose Grundidee, Menschen in ihren situativen oder institutionellen Kontexten beim Vollzug ihrer Praktiken zu beobachten. Ein solcher Forschungsansatz gründet sich auf die Überzeugung, dass nur die andauernde Präsenz vor Ort einen direkten Einblick in verschiedene Wissensformen der Teilnehmer ermöglicht (Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff & Nieswand, 2015, S. 7).

Nach Tervooren und Kolleg:innen (2014, S. 9) stellen der Ausgangspunkt der Praxis und die leibliche Anwesenheit der Forschenden Potenziale ethnografischer Forschung dar – und dies lässt sie für unterschiedliche (pädagogische) Felder im deutschsprachigen Raum sowie international bedeutsam und anschlussfähig werden. Ethnografie versteht sich dabei weniger als Methode, sondern mehr als Haltung und Forschungsstrategie (Bollig & Cloos, 2018, S. 5). Zwar handelt es sich hierbei um keinen „klar umrissenen und methodisch eng gefassten Forschungszugang“ (ebd., S. 4) und auch der Ethnographie-Begriff selbst wird heterogen gebraucht, dennoch lässt sich ein gemeinsamer Kern ethnographischer Bemühungen dahingehend beschreiben, „dass die Forschenden über einen gewissen Zeitraum am Alltagsleben in pädagogischen Feldern teilnehmen und diese ‚Teilnehmende Beobachtung‘, das heißt das partielle Eintauchen in eine Praxis vor Ort, zum Ausgangspunkt ihrer analytischen Arbeit machen“ (ebd.).

,Teilnehmend‘ und ,Beobachtend‘ sind damit zwei untrennbar mit dem Anspruch, etwas über die alltäglichen Lebenswelten herausfinden zu wollen, verbundene Bestandteile. Ohne diese könnte die Erfahrung des Dabei-Seins nicht erfahrbar gemacht werden und die Ethnographie verlöre ihren grundlegenden methodologischen Anspruch (Budde, 2015, S. 12).

Im Zentrum der ethnografischen Erhebung steht die teilnehmende Beobachtung (Rosenthal, 2015, S. 111), welche den Forschenden einen Zugang zur Ordnung der sozialen Welt des Feldes ermöglicht und die Näherung an die Frage erlaubt, wie Sinn und Bedeutung zugeschrieben und Handlungsanschlüsse gesichert werden (Breidenstein et al., 2015, S. 7). Die Feldaufenthalte umfassen daher (möglichst) einen längeren Zeitraum, um in diese Ordnung „eintauchen“ zu können. Die Phasen sind hierbei von einem Wechselschritt zwischen going native und coming home (ebd., S. 42) gekennzeichnet. Die sich dabei vollziehenden Prozesse – also die ‚Einsozialisation‘ in den ethnographisch beobachteten pädagogischen Alltag (Schoneville et al., 2006), die Herausforderungen des ‚Fremdseins‘/‚Vertrautseins‘ (Hünersdorf, 2013, S. 20 f; Rosenthal, 2015, S. 111 ff) sowie ‚Positionierens‘/‚Positioniert-Werdens‘ (Schoneville et al., 2006, S. 232) und ‚Mit-Erzeugens‘ (Unterweger, Sieber Egger & Maeder, 2018, S. 13), das Changieren zwischen Teilnahme und Beobachtung (Schlachzig, 2022, S. 169) und schließlich auch das Eintreten in und Mitjustieren von Machtverhältnissen durch die eigene Präsenz (Unterweger, Sieber Egger & Maeder, 2018, S. 11) – sollen im Laufe des Forschungsprozesses einer stetigen Reflexion unterzogen werden (Rosenthal, 2015, S. 111; vgl. auch Abschnitt 3.2.3).

Der Aufenthalt im Feld ermöglicht – und dies ist für die vorliegende Arbeit von erheblicher Relevanz – die unmittelbare Teilnahme am AlltagFootnote 16 frühpädagogischer Einrichtungen, wo sich Prozesse der Hervorbringung von früher Kindheit im Kontext institutioneller Arrangements vollziehen. Dieses Teilnehmen „bedeutet eine leibliche und psychische Erfahrung, die uns bei der nicht-teilnehmenden Beobachtung verschlossen bleibt“ (Rosenthal, 2015, S. 113) und diese ethnographische Perspektivierung eröffnet, die Perspektive auf das Handeln der Akteur:innen – hier: v. a. der jungen Kinder – im Feld zu richten (Bütow, Eckert & Teichmann, 2016, S. 40). So können auch „Gesten und andere[r] körperbezogene[r] Ausdrucksformen, die sprachlich nicht repräsentiert werden“, analytisch in den Blick genommen werden (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014, S. 279). Damit kann insbesondere an (forschungsethische) Überlegungen in der Kindheitsforschung angeschlossen werden, die fordern, Kindern methodisch „die Chance geben, sich mit ihrem Körper und im praktischen Tun sowie in der Interaktion mit anderen auszudrücken“ (Nentwig-Gesemann, Walther & Thedinga, 2017, S. 14), da sie hierbei auf weitgehend implizite – eben inkorporierte – Wissensbestände zurückgreifen (ebd.; vgl. auch Abschnitt 2.2).

Die Realisierung eines Projekts in frühpädagogischen Institutionen in Form einer EthnografieFootnote 17 kann somit potenziell einen erheblichen Erkenntnisgewinn eröffnen; sie stellt Forschende aber auch vor Herausforderungen, bspw. im Hinblick auf die Selektion der Beobachtung bei der Erhebung im Feld: So ist diese „stetigen Entscheidungsprozessen unterworfen, es gilt stets auszuwählen zwischen verschiedenen Orten, an denen etwas passiert“ (Jung, 2009, S. 64). Zwar ermöglicht die teilnehmende Beobachtung eine Bezugnahme auf die Alltagswirklichkeit der Erforschten (Wagner-Willi, 2013, S. 133) und eine große Nähe zu den in situ aufgeführte Praktiken der Akteur:innen (Vogd, 2006, S. 89); die Erfassung von Sequenzialität und Simultanität dieser Praktiken in der sozialen Realität (Wagner-Willi, 2004, S. 51) erfordert jedoch eine erhebliche – parallel zu erbringende – Leistung, die mittels teilnehmender Beobachtung nicht vollumfänglich erfüllt werden kann. Da die Wahrnehmung der forschenden Person – quasi als Beobachtungsinstanz – per se selektiv und ausschnitthaft ist, ist somit grundsätzlich nicht vollständig rekonstruierbar, was en detail passiert, was sich auf welche Weise ganz genau ereignet.

Die ‚Tugend‘ der teilnehmenden Beobachtung besteht darin, den vollen Detailreichtum der Praxis wahrnehmen zu können. Dies stellt gleichzeitig ihr methodologisches Problem dar: Der Beobachter mag alles Mögliche erkennen. Doch nun droht die Gefahr, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu erkennen. […] Ohne methodologische Kontrolle läuft der Forscher Gefahr, sich in der Vielfalt beliebiger Details zu verlieren. […] Beobachtung ist also immer fokussierte und selektive Beobachtung (Vogd, 2006, S. 90 f).

Dem Ziel, das Feld in seiner Regelhaftigkeit deskriptiv erschließen zu wollen, steht somit die Realität gegenüber, es in seiner Totalität prinzipiell nicht erfassen zu können (Fritzsche & Wagner-Willi, 2013, S. 270). Die Wahrnehmung der forschenden Person strukturiert die beobachtete Realität – zumindest ein Stück weit – mit, sie blendet zugleich ein und aus (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014, S. 400). Eine Möglichkeit, mit der Selektivität der Wahrnehmung umzugehen, liegt darin, jene reflexiv zu bearbeiten, wenngleich die grundlegende Subjektivität, die in ethnografischen Prozesse ganz besonders vakant wird, nur schwer methodisch kontrollierbar bleibt (Budde, 2015, S. 12). Przyborski und Wohlrab-Sahr (2014, S. 46 ff) weisen generell auf die Notwendigkeit hin, die eigene Forschungsrolle und im Forschungsprozess auftretende Probleme stetig reflexiv auszuhandeln (vgl. Abschnitt 3.2.3). Besondere Aufmerksamkeit gilt hier insbesondere dem spannungsreichen Verhältnis von Nähe und Distanz im Kontext ethnografischer Erhebungen:

Die teilnehmende Beobachtung schließt die Reflexion der Rolle des Feldforschers ein. Dieser begibt sich auf eine Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz, zu der es gehört, die Perspektiven der Untersuchungspersonen übernehmen zu können, aber gleichzeitig als ‚Zeuge‘ der Situation Distanz zu wahren. Ohne Nähe wird man von der Situation zu wenig verstehen, ohne Distanz wird man nicht in der Lage sein, sie sozialwissenschaftlich zu reflektieren. Die Frage der Balance des Feldforschers zwischen Nähe und Distanz, Inklusion und Exklusion ist nicht mit einfachen Rezepten zu lösen (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014, S. 46).

3.2.2 Methodisches Vorgehen (Protokollierung)

Das Festhalten der episodischen Beobachtungen im Feld, der SynekdochenFootnote 18 oder ThemenFootnote 19 erfolgt im Rahmen von zeitnah (oder während der Beobachtungen) angefertigten Verschriftlichungen. Hinsichtlich des genauen Vorgehens werden in methodisch-methodologischen Texten unterschiedliche Strategien präferiert (bspw. Breidenstein et al., 2015, S. 85 ff, Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014, S. 49 ff; Rosenthal, 2015, S. 116 ff). Breidenstein und Kolleg:innen (2015, S. 86 f) empfehlen das Schreiben von Feldnotizen (fieldnotes), welche zu Feldprotokollen ggf. zusammengefasst bzw. transformiert, in einem mehrstufigen Prozess jedenfalls verdichtet werden (ebd., S. 97 ff). Dieses Schreiben ist ethnografisch von erheblicher Relevanz, weil „das Beobachtete von Anfang an nur in Form dessen vorliegt, was die Ethnografin selbst aufgeschrieben hat“ (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014, S. 400). Das Verschriftlichen der fieldnotes bzw. die Verdichtung zu Feldprotokollen ist daher ein bedeutsamer Akt, der zur Vergegenwärtigung des Umstands aufruft, dass Beobachtungen stets perspektivisch gebunden und hochgradig selektiv sindFootnote 20 (Rosenthal, 2015, S. 116):

Nicht nur, dass wir Ausschnitte der sozialen Wirklichkeit wahrnehmen, mit der sprachlichen Übersetzung unserer Erfahrungen geht auch vieles von dem verloren, was uns selbst nicht unmittelbar bewusst ist und was von uns nicht rasch sprachlich erfasst werden kann. Wir können diese Protokolle nicht als ein Abbild der sozialen Wirklichkeit verstehen. (ebd.)

Dennoch bieten Beobachtungsprotokolle „eine solide Grundlage“ (Vogd, 2006, S. 94) für eine weitere Analyse, sofern sie methodisch sorgfältig erstellt werden. Dazu ist das was und wie der Protokollierung zu berücksichtigen: Was wird (selektiv) wahrgenommen? Was wird auf welche Weise verschriftlicht? Hierzu bietet Vogd konkrete Hinweise zur Verschriftlichung an (ebd.):

  • Erhaltung der Sequenzialität des Geschehens

  • Hoher Detaillierungsgrad

  • Beschreibung jener Themen, die das eigentliche Erkenntnisinteresse berühren, also: „auf der Protokollebene konsequent das [beschreiben], was der Akteur sagt und tut“ (ebd.)

  • Vermeidung von Motivunterstellungen, also möglichst keine „Vermutungen und Zuschreibungen darüber, warum er dies tut“ (ebd.)

In Anlehnung an Rosenthal (2015, S. 116 ff) bedarf auch das Moment der Zeit Berücksichtigung: Feldnotizen sollten entsprechend während bzw. unmittelbar nach der teilnehmenden Beobachtung angefertigt werden. Wie von Breidenstein und Kolleg:innen (2015, S. 86 f) vorgeschlagen, basieren die im vorliegenden Projekt erstellten Feldprotokolle auf verdichteten Feldnotizen, welche entweder direkt während der Beobachtung im Feld oder im unmittelbaren Anschluss an die Szene (bspw. in der Garderobe oder im Besprechungsraum der jeweiligen frühpädagogischen Einrichtung) entstanden und in einem Notizbuch festgehalten wurden. Die Protokolle wurden möglichst detailliert verschriftlicht und in diesem Entstehungsprozess mehrfach überarbeitet. Nach Nohl, Dehnavi und Amling (2021, S. 85) wurden dabei Raum, Mobiliar und genutzte Utensilien möglichst mitaufgenommen. Um diese deutlich kenntlich zu machen, wurde zu jedem Feldprotokoll auch eine Raumskizze (in schematischer Darstellung, nach Erinnerung) angefertigtFootnote 21. Gedanken und Emotionen der ForscherinFootnote 22, die bei der Erhebung oder im unmittelbaren Anschluss daran, notiert wurden, wurden kursiv gekennzeichnet, ebenso Terminologien und Annahmen, die nicht unmittelbar beobachtbar sind und denen bereits erste Interpretationen zugrunde liegen und/oder Wissensbeständen des common sense zuzuordnen sindFootnote 23. Ergänzungen und Anmerkungen zu einem deutlich fortgeschrittenen Zeitpunkt erfolgten in der Fußzeile. Mit „doppelten Anführungszeichen“ wurden Aussagen (und Begriffe) markiert, die direkt der beobachteten Sequenz entstammen. Sie wurden nicht mittels eines Aufnahmegeräts erhoben, sondern entstammen den Feldnotizen. In Anlehnung an TiQ (Talk in Qualitative Research, vgl. Anhang 2Footnote 24) wurden Betonungen unterstrichen und laut(er) Gesprochenes fett formatiert.

Die Protokolle enthalten, bezugnehmend auf die Empfehlungen von Nentwig-Gesemann, Walther, Bakels und Munk (2020, o. S.) – zumindest in GrundzügenFootnote 25 – folgende Aspekte:

  • Zeitpunkt, Dauer und Kontext

  • Beschreibung des Raumes bzw. Ortes und seiner materiellen Ausstattung

  • allgemeine Beschreibung der beteiligten Akteur:innen

  • Handhabung bzw. Einbindung der verschiedenen Materialien und Territorien in die Aktivitäten der Beteiligten

  • Mimik und Gestik, Körperhaltung, Ausdruckskraft der Akteur:innen im Verlauf der Situation

  • Verbale und nonverbale Äußerungen bzw. Handlungen und Interaktionen der beteiligten Akteur:innen im zeitlichen Verlauf, ggf. Interaktionsabbrüche

  • verbale und nonverbale Ausdrucksweisen von Gefühlen

Im Hinblick auf die Bezeichnungspraktiken wurde versucht, die Akteur:innen mit Pseudonymen zu repräsentieren. An manchen Stellen wurden geschlechtsneutrale Namen verwendet, nämlich dann, wenn der ursprüngliche Name nicht bekannt war, er akkustisch nicht genau wahrgenommen bzw. verstanden werden konnte und/oder er aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes einem Geschlecht nicht bzw. nicht eindeutig zuordenbar war. Nur an den Stellen, wo Namen bekannt waren und diese „eindeutig“ männlich oder weiblich konnotiert waren, wurde ein entsprechend dem Geschlecht codiertes Pseudonym ausgewähltFootnote 26.

3.2.3 Reflexivität im Kontext von ethnografischer Kindheitsforschung

How researchers make sense of the world impacts the world being studied. (Cooper, 2023, S. 79)

Ethnografische Kindheitsforschung ist auf besondere Weise auf eine ständige Reflexionsleistung der forschenden Personen verwiesen. Dies betrifft insbesondere die Asymmetrie zwischen den Statusgruppen Kindern und Erwachsenen resp. Kindern und erwachsenen Forscher:innen. Im Rahmen des Promotionsvorhabens wurde intendiert, Kinder sowohl als Gleiche als auch als Andere zu berücksichtigen (vgl. auch Abschnitt 2.2).

Bereits vor der Erhebung im Feld wurden im Rahmen der Erstellung der Disposition (Holztrattner, 2019) forschungsethische Überlegungen – bezugnehmend auf zwei Aufsätze von Nentwig-Gesemann und Großmaß (2017) sowie Trần (2017) – vorgestellt, die quasi als Prinzipien im Forschungsprozess dienen sollten. Jene sollten von Beginn an keinen Anspruch auf Vollständigkeit propagieren, sondern fungierten als ‚Arbeitsgrundlage‘, die es im Laufe der Datenerhebung und -auswertung zu reflektieren und ggf. zu modifizieren galt. Sie werden folgend aufgelistet:

  1. 1

    Prinzipielle Anerkennung von Kindern in ihrem Akteur:innenstatus

  2. 2

    Berücksichtigung der besonderen Vulnerabilität von Kindern

  3. 3

    Transparente Kommunikation der Forschungsziele und Methoden an alle im Feld Beteiligten (Kinder, Eltern, Personal, Leitung, Trägerschaft); inkl. einer klaren Vermittlung der Forschungsrolle allen Akteur:innen gegenüberFootnote 27

  4. 4

    Angemessene Einbeziehung der Kinder in alle Belange, sie direkt (oder indirekt) betreffen

  5. 5

    Freiwilligkeit der Teilnahme, inkl. Einholen des expliziten und informierten Einverständnisses

  6. 6

    Wahrung aller Persönlichkeitsrechte (ggf. explizites Einverständnis zur Aufhebung von Anonymität/Pseudonymität – wenn diese nicht gewährleistet werden kann; bspw. beim Erstellen von Fotos), Vertraulichkeit und Schutz

  7. 7

    Ermöglichung eines jederzeitigen Abbruchs der Erhebungen (insbesondere Achtung non-verbaler Signale des Kindes)

  8. 8

    Adäquate Methodenwahl, die es (möglichst) allen Kindern erlaubt, sich als Akteur:innen zu erleben und auszudrücken

  9. 9

    Abwägung unterschiedlicher Ansprüche und transparente Begründung von Entscheidungen (wenn unterschiedliche Ansprüche und Interessen der Forschenden sowie der unterschiedlichen Akteur:innen im Feld aufeinandertreffen)

  10. 10

    Ständige Reflexion der Forschungsrolle (im Hinblick auf Spannungs- und Machtverhältnisse, generationale Ordnung, Standortgebundenheit, …)

  11. 11

    Angemessene Rückmeldung zu den gewonnenen Forschungsergebnissen – an alle im Feld Beteiligten (sofern Interesse besteht)

  12. 12

    Vollständige Anerkennung der Datenschutzgrundverordnung

Jene Prinzipien dienten dem Forschungsprozess tatsächlich – über die Phase der Datenerhebung hinweg – als produktive Reflexions- und Diskussionsgrundlage. Gerade in den letzten Jahren lässt sich ein gesteigertes wissenschaftliches Interesse an Forschungsethik bemerken, gerade im Kontext (ethnografischer) Kindheitsforschung, was sich insbesondere in vermehrten Publikationsleistungen (bspw. Kerle, Hartmann & Cloos, 2024Footnote 28), der Organisation von Konferenzen und Workshops sowie Bemühungen um Vernetzung und AustauschFootnote 29 artikuliert. Im Forschungsprozess erfolgte eine intensive Auseinandersetzung mit jenen Entwicklungen, insbesondere im Austausch mit Kolleg:innen, etwa im Kontext der Teilnahme an Vorträgen und Workshops sowie der Diskussion einschlägiger Literatur und empirischen Materials im Hinblick auf forschungsethische Fragestellungen in analog und digital organisierten Forschungswerkstätten und Vernetzungstreffen.

In Anschluss an Beck, Deckert-Peaceman & Scholz (2022, S. 16) ist dem gesamten Forschungsprozess ein Bemühen und zugleich ein Ringen „um ein angemessenes Verständnis von Kindern und Kindheit bei Anerkenntnis der Nicht-Verstehbarkeit“ inhärent:

Dabei wird sichtbar, dass sich Kinder nicht einfach beobachten und erforschen lassen, ohne dass Erwachsene sich dazu in Beziehung setzen. Zum einen ist es auch immer die biographische Erfahrung, selbst Kind gewesen zu sein, die eine Rolle spielt. Zum anderen kann man sich dem erzieherischen Verhältnis, innerhalb dessen man agiert und sich positioniert, auch im Erkenntnisprozess nicht vollständig entziehen (ebd.).

Hiermit ist die Reflexion der eigenen (machtvollen) Rolle sowie der Standortgebundenheit angesprochen, die den gesamten Forschungsprozess durchzieht und in schriftlicher Form im vorliegenden Abschnitt nur aspekthaft bzw. kursorisch zur Artikulation gebracht wird. Im Hinblick auf die teilnehmende Beobachtung ist etwa insbesondere auf Momente der wechselseitigen (Re-)Adressierung und (Re-)Positionierung auf unterschiedlichen Akteur:innenebenen (insbes. Kinder, Fachkräfte, Forscherin) zu verweisen. Exemplarisch sei hierbei auf die Herausforderung hingewiesen, (asymmetrische) Ansprüche und Bedarfe sowie Rechte und Pflichten unterschiedlicher Akteur:innen (der Kinder, ihrer Eltern, in institutionellen Settings jene der pädagogischen Fachkräfte, der Forschenden, etc.) in ihren relationalen Bezügen auszuloten, zu reflektieren und möglichst transparent zu begründen (Christensen & Prout, 2002, S. 482; Kerle, Hartmann & Cloos, 2024, S. 211 ff; Mey & Schwentesius, 2019, S. 21 f; Nentwig-Gesemann & Großmaß, 2017, S. 212).

Dies zeigt sich bspw. in der Frage nach der prinzipiellen Teilnahme(möglichkeit) am Forschungsprojekt. Nach Reicher (2012, S. 93) kommt dem informed consent erhebliche Bedeutung zu, welcher impliziert, dass beforschte Personen ihr Einverständnis zur Teilnahme explizit und informiert geben resp. insbesondere über die Freiwilligkeit und jederzeitige Abbruchmöglichkeit der Teilnahme ohne negativer Konsequenzen Bescheid wissen. Im Kontext der ‚Beforschung‘ von Kindern in frühpädagogischen Einrichtungen ist – neben der Einverständnis der Kinder – auch jene der Eltern bzw. Sorgeberechtigten sowie den Fachkräften und Leitungspersonen im Feld einzuholen (ebd., S. 92). Hieran schließt eine Reihe von Fragen anFootnote 30: Ist die Einverständnis schriftlich und/oder mündlich einzuholen, einmalig und/oder prozessual? Ist jene Frage für unterschiedliche Akteur:innengruppen auch unterschiedlich zu beantworten? Und wenn ja, aus welchen Gründen? Spielen bei der Beantwortung generationale Adressierungen eine Rolle und wie ist mit jenen Zuschreibungsprozessen wiederum umzugehen? Und schließlich, was bedeutet es, wenn sich verschiedene Akteur:innen unterschiedlich äußern – in den Worten von MarieFootnote 31: „und was (.) wenn die Eltern nein sagen (.) und die Kinder ja sagen?“

Um einen informed consent zu ermöglichen, wurden Kinder, Fachkräfte und Eltern über das Vorhaben informiert, möglichst auf eine verständliche, umfassende und zugleich ‚kurz & knackige‘ Weise (zum Vorgehen bei Eltern und Fachkräften: vgl. Abschnitt 3.1). Das Einverständnis zur teilnehmenden Beobachtung wurde von den Kindern prozessual (verbal, z. T. auch korporiert anhand Blickkontakt, Mimik, Gestik) eingeholt. Dies zeigt sich bspw. in den Beobachtungsprotokollen Ritter (UT 1.2; vgl. Abschnitt 4.2) und Mittagskreis (UT 2.1; vgl. Abschnitt 4.4). Das Einverständnis zu weiteren Erhebungen (Interview, Paarinterview, Zeichnung, Fotografie) wurde prozessual (verbal, z. T. auch korporiert) und schriftlich eingeholt. Prozessual bedeutet in diesem Kontext schließlich auch: Wollten Kinder (oder andere Akteur:innen) die Erhebung explizit abbrechen oder äußerten sich implizit – verbal und/oder korporiert –, nicht (mehr) beobachtet werden zu wollenFootnote 32, so wurde auf diese – verbal und/oder korporiert vermittelten – Bitten jeweils unmittelbar gefolgt. Beobachtungen wurden dann entsprechend nicht notiert, ggf. bereits erhobenes Datenmaterial vernichtet. Für die weitere Analyse wurden – im Kontext der Fallauswahl – auch all jene Daten außenvorgelassen resp. exkludiert, bei denen Rückschlüsse auf einzelne Akteur:innen nicht ausgeschlossen werden konnten, wenngleich damit ein potenziell inhaltlicher Verlust hinsichtlich des Erkenntnisgewinns in Kauf genommen wurde.

It is necessary therefore to think carefully about how the voice of researcher is relational to that of the participant and how researchers often seek to represent children’s voices using processes which are vulnerable to interpretation and translation. (Cooper, 2023, S. 78).

Die Gestaltung des wie des Einholens des informed consents ist – rückblickend – sowohl als prozessual zu betrachten als auch kritisch zur Disposition zu stellen. Der informed consent dient hier als Beispiel, an dem ein reflexives sich-abarbeiten möglich ist, an dem grundsätzliche Fragen reflektiert werden können, die sich auf das prinzipielle Verhältnis von Forscher:innen und ‚Beforschten‘ resp. von erwachsenen Forschenden und ‚beforschten‘ Kindern beziehen und damit notwendigerweise in asymmetrische und machtvolle Beziehungen eingelagert sind.

Im Forschungsprozess bedarf es vielerlei Entscheidungen, die trotz umfangreicher Prozesse des Abwägens letzten Endes – in einem mehr oder weniger pragmatischen Sinne – getroffen werden müssen, die aber auch immer anders getroffen werden könnten und schließlich einen situativen Umgang mit Spannungsverhältnissen dokumentieren, welche wiederum zu reflektieren sind. In Anschluss an Abschnitt 2.2 durchzieht die vorliegende Schrift aber jedenfalls das Bemühen, die eigene Positionierung und jener der Akteur:innen im Feld, die Relationierung zwischen den Akteur:innen und der Forscherin sowie die Verantwortung hinsichtlich der (Re-)Produktion und (Re-)Präsentation von Wissensbeständen unterschiedlicher Akteur:innen über den gesamten Forschungsprozess hinweg kritisch zu reflektieren. Dies bedeutet insbesondere, sich an einer ethischen Symmetrie zu orientieren, im gleichzeitigen Bewusstsein darüber, dass jenes Ideal zwar angestrebt wird, aber wohl nie vollständig erreicht werden kann.

3.3 Analyse

In den beiden folgenden Abschnitten werden ausgewählte Überlegungen zur Dokumentarischen Methode und ihrer Verortung sowie das methodische Vorgehen in der Analyse des Datenmaterials im Kontext der vorliegenden Schrift vorgestellt.

3.3.1 Dokumentarische Methode

Zur Analyse der erhobenen Daten wurde auf die Dokumentarische Methode zurückgegriffen. Dieses Verfahren erfreut sich im Kontext der Kindheitsforschung zunehmender Beliebtheit, da es erlaubt, „diejenigen handlungsleitenden Orientierungen und Praktiken rekonstruktiv freizulegen, die sich einer verbalen Formulierung (noch) fast oder vollständig entziehen“ (Wagner-Willi, Bischoff-Pabst & Nentwig-Gesemann, 2019, S. 4). Die Dokumentarische Methode weist mit der Ethnografie wichtige Gemeinsamkeiten auf, von denen eine – grundlegend – hervorgehoben werden soll: Beide sind „an der Herausarbeitung der ‚performativen Struktur‘ […] von Praktiken interessiert“ (Nohl, Dehnavi & Amling, 2021, S. 80). Diese praxeologische Klammer stellt die besondere Eignung der Methode im Kontext des durchgeführten Promotionsprojekts heraus, das auf die Rekonstruktion von Praktiken der Hervorbringung von früher Kindheit abzielt (vgl. Abschnitt 1.2).

Grundlagentheoretisch lässt sich die Dokumentarische Methode in der Praxeologischen Wissenssoziologie verorten, wo sie von Ralf Bohnsack seit den 1970-ern als Verfahren und Methode entwickelt, konturiert und methodologisch reflektiert wurdeFootnote 33 (Nohl et al., 2013, S. 9 f). Auf Karl Mannheim rekurrierend, eröffnet sie einen Zugriff auf unterschiedliche Wissensebenen, insbesondere zum handlungsleitenden Wissen der Akteur:innen und deren Handlungspraxis (Bohnsack, Nentwig-Gesemann & Nohl, 2013, S. 9; Bohnsack, 2017; 2018b).

Die rekonstruktiv-praxeologische Analyse im Sinne der Dokumentarischen Methode und der Praxeologischen Wissenssoziologie geht über die Rekonstruktion der Theorien, welche die Erforschten über ihre Praxis halten, und über die darin implizierten rationalistischen Vorstellungen hinaus und wendet sich der Rekonstruktion der Praxis der Erforschten selbst zu (Bohnsack, Kubisch & Streblow-Poser, 2018, S. 20).

Sie nimmt nicht nur das was (und das dass), sondern insbesondere das wie als analytischen Ausgangspunkt und ermöglicht somit eine Annäherung an das Performative (Bohnsack 2018a, S. 53). Eine zentrale Rolle spielen dabei die konjunktiven Erfahrungsräume der Beforschten (ebd., 2018b, S. 195 f; Nentwig-Gesemann, 2018), die bspw. in Milieu, Geschlecht, Generation und in andere soziale Lagerungen interdependent eingewoben sind (Nohl et al., 2013, S. 10 ff). Bezugnehmend auf Karl Mannheim beschreiben Przyborski und Wohlrab-Sahr (2014, S. 285) ein „menschliche[s] Miteinandersein, das sich in der gelebten Praxis fraglos und selbstverständlich vollzieht […]. Das Wissen, das in der Praxis angeeignet wird und das diese Praxis zugleich orientiert, ist damit ein präreflexives, ‚atheoretisches Wissen‘ […]. Eine Geste erhält ihre Bedeutung im atheoretischen, praktischen Vollzug, und zwar durch die Reaktionen anderer auf diese Geste“.

Wie schon einführend in Kapitel 3 vermerkt, ermöglichen die Teilnahme und Beobachtung kultureller und sozialer Praktiken einen Zugang zum impliziten Wissen der Praxis (Kelle, 2018, S. 224) – im Kontext der Datenerhebung. Mittels dokumentarischer Methode kann dieser Zugang zur performativen Performanz (Bohnsack, 2020, S. 70) bei der Analyse der Daten erschlossen werden.

Hierzu wird zwischen unterschiedlichen Wissensbeständen unterschieden: Das theoretische, reflexive und kommunikative Wissen vermag Aufschluss darüber zu geben, was sich zeigt, was gesagt, sichtbar und bearbeitet wird; es ist auf einer expliziten Ebene angelegt. Die implizite Ebene zeigt sich im atheoretischen, vorreflexiven, inkorporierten, handlungsleitenden und konjunktiven Wissen. Dieses dokumentiert sich im wie: Wie zeigt sich etwas, wie wird etwas gesagt, sichtbar und bearbeitet?

Diese Struktur ist […] bei den Akteuren selbst wissensmäßig repräsentiert. Es handelt sich also um ein Wissen, über welches auch die Akteure verfügen und nicht um eines, zu dem lediglich der Beobachter einen (privilegierten) Zugang hat, wie dies für objektivistische Ansätze charakteristisch ist. Die sozialwissenschaftlichen Interpret(inn)en im Sinne der Wissenssoziologie Karl Mannheims gehen also nicht davon aus, dass sie mehr wissen als die Akteure oder Akteurinnen, sondern davon, dass letztere selbst nicht wissen, was sie da eigentlich alles wissen, somit also über ein implizites Wissen verfügen, welches ihnen reflexiv nicht so ohne weiteres zugänglich ist (Bohnsack, Nentwig-Gesemann & Nohl, 2013, S. 12).

Dieser „Wechsel der Analyseeinstellung“Footnote 34 (ebd., S. 13) führt zur Frage nach dem modus operandi, nach dem der Praxis zugrundeliegenden Habitus. Das handlungsleitende Wissen kann von den untersuchten Akteur:innen (in der Regel) nicht expliziert werden, es erschließt sich erst in der Analyse. Die praxeologische Analyseeinstellung liegt also darin, „den Fokus nicht allein auf die performative Struktur des Dargestellten – also auf den inhaltlich-propositionalen Gehalt – sowie auf den Vollzug dieser Darstellung – auf ihre ‚Performanz‘ zu richten, sondern darüber hinaus empirisch auf das zuzugreifen, was der alltäglichen Konstruktion von Wirklichkeit vorgelagert ist und die Praxis in ihrer je spezifischen Ausprägung strukturiert“ (Nentwig-Gesemann, 2010, S. 25). Die Dokumentarische Methode versteht sich als ein Angebot, sich diesem Wissen zu nähern und dabei einen Beitrag zur Überwindung der „Aporie von Subjektivismus und Objektivismus“ (Bohnsack, Nentwig-Gesemann & Nohl, 2013, S. 13) zu leisten. Hierin ist die Herausforderung angesprochen, einerseits Akteur:innen und ihre Handlungen als empirischen Ausgangspunkt der Analyse zu setzen, andererseits aber auch, sich gegenüber dem common sense im Hinblick auf den Erkenntnisgewinn zu distanzieren: „Vielmehr gewinnt der Beobachter einen Zugang zur Handlungspraxis und zu der dieser Praxis zugrunde liegenden (Prozess-) Struktur, die sich der Perspektive der Akteure selbst entzieht“ (ebd.).

Die in die soziale Praxis eingelagerten Handlungsvollzüge zeichnen sich, nach Przyborski und Wohlrab-Sahr (2014, S. 286) durch eine Regelhaftigkeit aus. Sie sind somit nicht beliebig, müssen auch nicht von den Akteur:innen „umfassend gewusst werden“ (ebd.), sondern die Praktiken funktionieren gerade durch die Selbstläufigkeit, da sie eben auf konjunktiven Erfahrungen beruhen. Przyborski und Wohlrab-Sahr (2014, S. 286) weisen daher darauf hin, dass die dokumentarische Interpretation „immer bei kollektiven Erfahrungsgrundlagen an[setzt], also bei geteilten oder auseinanderfallenden existenziellen Hintergründen, und begreift das empirische Material als Ausdruck, als Dokument von Orientierungswissen, das diesen Erfahrungshintergründen entspringt.“ Konjunktives Verstehen bedeutet somit, dass sich Akteur:innen nichts erklären müssen, da sie einander im Modus des Selbstverständlichen verstehen (ebd., S. 288). Die hier zugrundeliegende Kollektivität geht – folgt man der praxeologischen Wissenssoziologie – über die beobachtete Akteur:innengruppe hinaus, denn der konjunktive Erfahrungsraum verbindet die Akteur:innen miteinander, indem jene „an Handlungspraxen und damit an Wissens- und Bedeutungsstrukturen teilhaben, die in einem bestimmten Erfahrungsraum gegeben sind. Diese Kollektivität wird nicht als eine verstanden, die dem Einzelnen extern ist, die ihn primär zwingt oder einschränkt, sondern als eine, die Interaktion und alltägliche Praxis erst ermöglicht und gemeinsame Handlungsvollzüge […] beschreibbar macht“ (ebd.).

Auch die Forschung selbst wird im Rahmen der dokumentarischen Methode als soziale Praxis verstanden. Dies bedeutet, dass nicht nur der Wissensproduktion – im Sinne der Ergebnisorientierung – Aufmerksamkeit zuteilwird, sondern auch der Forschungsprozess selbst mit seinen Voraussetzungen reflektiert wird. Besondere Bedeutsamkeit erfährt in diesem Kontext der kritische Diskurs mit Kolleg:innen innerhalb von Forschungswerkstätten (Wagner-Willi, Bischoff-Papst & Nentwig-Gesemann, 2019, S. 5). Mit diesem Verweis auf die interaktive Bearbeitung des Gegenstands deutet sich bereits ein weiterer, für die dokumentarische Methode zentraler, Aspekt an: die Bedeutung der sog. Standortgebundenheit.

Die ‚Standortgebundenheit‘ […] kann zwar nicht überwunden oder eliminiert, wohl aber durch die systematische Operation mit empirischen und somit explizierbaren Vergleichshorizonten, also durch die systematische komparative Analyse, zunehmend methodisch kontrolliert werden. Die Forschenden bewegen sich dann – experimentell-intellektuell, nicht: existenziell-lagemäßig – sozusagen zwischen den Milieus bzw. auf deren ‚Rändern’ und halten diese vergleichend gegeneinander. Je mehr ich die von meinem Standort abhängigen (intuitiven) Vergleichshorizonte durch empirische Vergleichsfälle ersetze, desto mehr werden nicht nur meine Interpretationen und Typenbildungen intersubjektiv überprüfbar. Ich gelange zugleich auch zunehmend zu einer Reflexion auf meine (bisher impliziten) Vergleichshorizonte und somit meinen milieu-, generations- oder geschlechtsspezifischen Standort etc. (Bohnsack, Hoffmann & Nentwig-Gesemann, 2019, S. 42).

Zur ‚Kontrolle‘ der Standortgebundenheit wird die – im vorangegangenen Zitat schon angedeutete – systematische Komparation von Fällen empfohlen. An die Grounded Theory implizit anknüpfend plädiert Bohnsack schon in frühen Überlegungen (im Rahmen seiner Dissertation) für empirische, respektive komparative Fallvergleiche (Nohl et al., 2013, S. 15). Dieser Vorschlag entwickelte sich in der Ausdifferenzierung der Dokumentarischen Methode zu einer grundlegenden Forderung und begegnet dabei jenen Prozessen, die von dem schwierigen – letztlich unauflösbaren – Verhältnis von Individualität und KollektivitätFootnote 35 bzw. jenem von Akteur:innenschaft und Struktur gekennzeichnet sind.

Ein Ausstieg aus der Standortgebundenheit bzw. deren Kontrolle ist dem Beobachter zwar nicht prinzipiell möglich. Gleichwohl lässt sich diese Kontrolle methodisieren, indem an die Stelle der impliziten Vergleichshorizonte zunehmend empirisch beobachtbare Vergleichsfälle treten (Bohnsack, 2013, S. 252).

So kommt dem Fallvergleich in diesem Kontext nicht nur die Funktion der Erkenntnisgenerierung und -entwicklung zu, sondern dieser dient auch der Formulierung und Ordnung empirischer Ergebnisse, welche schließlich als Typiken bezeichnet werden können und – in Abgrenzung zur Grounded Theory – über die Entwicklung von Kategorien hinausgehen (Nohl et al., 2013, S. 19). Nach Nohl (2013; 2017) dienen komparative Fallvergleiche der Rekonstruktion jener (latenten) Prozessstrukturen, welche in das soziale Handeln eingelagert sind und welche sich im Einzelfall in mehrdimensionaler Überlagerung zeigen. Nohl und Kolleg:innen (2013, S. 19) weisen im Hinblick auf die Genese der Dokumentarischen Methode, resp. der Entwicklung der Typenbildung auf eine oftmals rezipierte Aussage Bohnsacks hin:

Der Kontrast in der Gemeinsamkeit ist fundamentales Prinzip der Generierung einzelner Typiken und ist zugleich die Klammer, die eine ganze Typologie zusammenhält (ebd.).

Das hinter der Analyse liegende Interesse gilt somit nicht dem Fall an sich, sondern den mehrdimensionalen Erfahrungszusammenhängen bzw. dem konjunktiven Erfahrungsraum (Wagner-Willi, Bischoff-Papst & Nentwig-Gesemann, 2019, S. 6). Dabei stützt sich die Analyse auf die Prämisse, „dass das Spezifische eines Falls nur im Lichte vergleichbarer Fälle und damit verbundener (minimaler und maximaler) Fallkontraste erkennbar wird“ (ebd.). Die methodische Bedeutung der komparativen Analyse zeigt sich somit nicht nur im Hinblick auf die methodische Kontrolle der Standortgebundenheit, sondern auch als grundlegend für die Generierung, Abstraktion und Spezifizierung der empirischen ErkenntnisseFootnote 36 (Bohnsack, 2013, S. 253).

3.3.2 Methodisches Vorgehen (Fallauswahl, Interpretationsschritte und Typenbildung)

Der, wie in Abschnitt 3.2 schon ausgeführt, sehr offenen und umfangreichen Erhebung, sollte eine sehr gezielte Auswahl des komplexen und ggf. umfangreichen Datenmaterials (im Rahmen eines zirkulären Forschungsprozesses) folgenFootnote 37. Es mag auf den ersten Blick banal anmuten, ist aber – u. a. im Hinblick auf empirische Sättigung – von entscheidender Bedeutsamkeit: Die Fallauswahl nimmt vorweg, was überhaupt (nicht) zum Gegenstand der Analyse werden kann. Insofern ist eine gezielte Auswahl von Fällen zur Komparation von erheblicher Relevanz:

Für die empirische Sättigung sind der Umfang und die Zusammensetzung des Datenkorpus relevant. […] Interpretationen können sich in der qualitativen Forschung zwar an einzelnen empirischen Details entzünden, ihre Verankerung erhalten sie jedoch in ihrer vielfachen Anbindung an das gesamte Korpus (Strübing et al., 2018, S. 89).

Stehen zu Beginn des empirischen Prozesses theoretische Überlegungen (im Sinne des theoretical samplings) im Vordergrund, so sollten im Verlauf einer Untersuchung „die Überlegungen, welche Vergleichshorizonte im weiteren Verlauf hinzuzuziehen sind, sich jedoch zunehmend aus gegenstandstheoretischen Überlegungen speisen. Die Fragen, welche sich aus der Auswertung des bisherigen Materials ergeben, geben also den Ausschlag für die zu wählenden weiteren Kontraste“ (Vogd, 2006, S. 95). Breidenstein und Kolleg:innen (2015, S. 140 f) verweisen hinsichtlich der Fallauswahl auf fünf Kriterien:

  1. 1.

    Datenqualität: möglichst detailreiche und nuancierte Beschreibung

  2. 2.

    Spektrum möglicher Fälle: Kontrastierung der Fälle, möglichst große Varianz

  3. 3.

    Relevanz des Falles im Kontext des Feldes: Relevanzsetzung durch die Teilnehmenden im Feld, Analyse der Markierung der Relevanz

  4. 4.

    Typizität des Falles: Typik, Häufigkeit, Alltäglichkeit, Repräsentation von Normalität

  5. 5.

    Irritierendes des Falles: Fokussierung von Ungewöhnlichem, Unerwartetem und Unverstandenem, Grenzbearbeitungen

Vogd (2006, S. 96) schlägt Maximal- und Minimalkontraste – bezugnehmend auf die Varianz zum Ausgangsfall – vor. Damit muss – notwendigerweise – eine Auswahl von Fällen, resp. eine erhebliche Datenreduktion vorgenommen werden, mit dem Ziel, „einzelne Sequenzen auszuwählen, die später pars pro toto das Ganze repräsentieren, die also für den typischen modus operandi stehen“ (ebd., S. 98). Für die Auswahl von Fällen eignen sich insbesondere „Szenen mit einer hohen interaktiven Dichte“ (ebd) bzw. „Passagen verdichteter, engagierter, selbstläufiger und szenisch-performativer Handlungs- und Interaktionspraxis“ (Nentwig-Gesemann, 2013, S. 762 f). Jene können auch als Fokussierungsakte bezeichnet werden, in denen „sich eine habitualisierte Handlungspraxis [dokumentiert], der die Ebene konjunktiver Erfahrungen zugrunde liegt“ (Wagner-Willi, 2004, S. 64).

Eine weitere Selektion, die forschungsethisch begründet werden kann, betrifft jene Daten, bei denen Rückschlüsse auf einzelne Akteur:innen – soweit abschätzbar – nicht ausgeschlossen werden können. Wie in Abschnitt 3.2.3 bereits ausgeführt, wurde entsprechendes Datenmaterial im Kontext der vorliegenden Schrift für eine weitere Analysen ausgeschlossen.

Der gesamte Datenkorpus umfasst folgendes Material (vgl. Abschnitt 3.2):

  • 25 Beobachtungsprotokolle

  • 4 Paarinterviews mit Kindern

  • 9 Interviews mit Kindern

  • 17 Zeichnungen von Kindern

  • 40 Fotos, z. T. von Kindern, z. T. von der Forscherin erstellt

Für die dokumentarische Analyse wurden schließlich vier Beobachtungsprotokolle (Fälle Atelier, Ritter, Rutsche und Mittagskreis) ausgewähltFootnote 38, in denen sich fokussierte Akte abbilden und die maximale Kontraste darstellen: Sie verstehen sich insbesondere im Hinblick auf ihre Kontextualisierung in unterschiedlichen und zugleich „typischen“ institutionellen Arrangements (hoch vs. gering präformiert/präformierend) in den frühpädagogischen Institutionen als heterogen, verorten sich auf unterschiedliche Weise im raum-zeitlichen Gefüge der Einrichtungen, bilden unterschiedliche Akteur:innen-Relationen ab (Fachkraft-Kind- sowie Kind-Kind-Interaktionen) weisen eine entsprechend hohe Datenqualität sowie metaphorische und interaktive Dichte auf, stellen Zentren gemeinsamen Erlebens dar und enthalten dabei sowohl routinisierte Praktiken als auch Brüche und Irritationen (vgl. folgende Tabelle 3.2 zur Übersicht).

Tabelle 3.2 Übersicht Fallauswahl

Der, weiter vorne schon dargestellten, Differenzierung von Wissensbeständen – im Kontext von expliziten vs. impliziten resp. dokumentarischen Sinngehalten – folgen im Rahmen der Dokumentarischen Methode zwei unterschiedliche Arbeitsschritte bei der Analyse des Datenmaterials: Die Frage nach dem was vollzieht sich in der formulierenden Interpretation, der Frage nach dem wie wird in der reflektierenden Interpretation nachgegangen (Bohnsack, Nentwig-Gesemann & Nohl, 2013, S. 16 f). In der formulierenden Interpretation wird die Frage bearbeitet, was überhaupt verhandelt wird. Umgesetzt wird dieser Arbeitsschritt in Form einer Zusammenfassung, in der möglichst auf inhaltliche Interpretationen – im Sinne von Deutungen und Bewertungen – verzichtet wird (ebd., S. 16). Nentwig-Gesemann und Nicolai (2017, S. 59, Hervorhebung lt. original) beschreiben diesen Schritt auch als „mikroanalytische[n] Beobachtung und Deskription von sozialer Realität auf der Ebene des manifesten Sinngehalts“. Es gilt hierbei, ein soziales Phänomen möglichst sorgfältig und differenzierend zu rekonstruierenFootnote 41 (ebd.). Im vorliegenden Werk wird die Verschriftlichung des Feldprotokolls – in Anlehnung an Vogd (2006, S. 94) – bereits als formulierende Interpretation verstanden und daher nicht gesondert in einem weiteren Schritt vorgenommen.

Die reflektierende Interpretation intendiert eine Rekonstruktion des wie – im Hinblick auf die Frage, auf welche Weise etwas hervorgebracht wird, „wie die Akteure miteinander interagieren, welche propositionalen Gehalte sie bearbeiten (inhaltliche Ebene), welche Gestalt dies hat (formale Ebene) und welche Qualität von Diskursen oder Interaktionen (dokumentarische Orientierungsebene) sie herstellen“ (Nentwig-Gesemann & Nicolai, 2017, S. 59). In diesem Arbeitsschritt ist die Interpretationsleistung der Forschenden essenziell, im Sinne einer reflexiven Bearbeitung „der implizierten Selbstverständlichkeiten des Wissens der Akteure“ (Bohnsack, Nentwig-Gesemann & Nohl, 2013, S. 16). Im Rahmen der vorliegenden Schrift wird der Intention nachgegangen, die Interaktionsorganisation – im Sinne „der Modi der gemeinsamen Herstellung einer (pädagogischen) Situation durch sprachliche und körperliche Bezugnahmen aufeinander […] und zwar im Moment der Situationsherstellung selbst“ (Nentwig-Gesemann & Nicolai, 2014, S. 51) – zu rekonstruieren.

Wie schon in Abschnitt 3.2.2 ausgeführt, wurden die ausgewählten Feldprotokolle mit einer Raumskizze ergänzt. Anschließend wurde ein thematischer Verlauf erstellt, der die jeweilige Sequenz in Passagen, resp. Ober- und Unterthemen, strukturiert. Im Rahmen der reflektierenden Interpretation wurden Interaktionsmodi nachgezeichnet, die Auskunft über die Teilung und Bearbeitung von Orientierungsgehalten zu geben vermögen und einen Zugang zu ihrer Organisation ermöglichen (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014, S. 299). Um die Darstellung der empirischen Ergebnisse (insbesondere in den Abschnitten 4.1 bis 4.5) klar nachvollziehbar zu machen, werden die zur Analyse herangezogenen Interaktionsmodi in der folgenden Tabelle 3.3 schlaglichtartig vorgestellt.

Tabelle 3.3 Übersicht Interaktionsmodi

Im Anschluss an die reflektierende Interpretation wurde – im Kontext der vorliegenden Schrift – eine sinngenetische TypenbildungFootnote 42 angestrebt, wobei komparative Fallvergleiche den gesamten Prozess der Analyse durchziehenFootnote 43. Ausgehend von der Basistypik, als jener Typik, „bei der die Konstruktion einer ganzen Typologie ihren Ausgangspunkt nimmt [und die] durch das Erkenntnisinteresse eines Projekts vorgegeben“ ist (Bohnsack, 2013, S. 253 f), wurde der Versuch unternommen, eine idealtypische Typologie (Bohnsack, 2014, S. 146) herauszuarbeiten. Diese verhandelt „ein gemeinsames Thema, ein gemeinsames Muster, das den Vergleich zu strukturieren hilft“ (Paseka, 2013, S. 137). Dieses sog. Tertium Comparationis stellt die Abstraktion der verhandelten Themen dar. In Anlehnung an Paseka (2013, S. 138) bedeutet dies:

Über die Themen sowie die fallinterne bzw. fallübergreifende Kontrastierung eröffnen sich unterschiedliche Vergleichshorizonte und damit Dimensionen, die durch die Interpretation erläutert und unter Rückverweis auf das vorhandene Material, also empirisch, begründet werden. Konkret bedeutet das: Im Rahmen einer sinngenetischen Typenbildung werden entlang des ‚Tertium Comparationis‘ und durch Verdichtung jene Gemeinsamkeiten herausgearbeitet, durch die sich die einzelnen Fälle bündeln lassen (Paseka, 2013, S. 138).