Etwa seit der Jahrtausendwende steht das frühpädagogische Feld zunehmend im Fokus bildungspolitischer, gesellschaftlicher, programmatischer und wissenschaftlicher Debatten (Braches-Chyrek, Röhner, Sünker & Hopf, 2020; Cloos & Tervooren, 2013; Fried, Dippelhofer-Stiem, Honig & Liegle, 2012; Göbel, 2018; Kaul et al., 2023; Kutscher, 2013; Sousa & Moss, 2022). Im Kontext ökonomischer und wohlfahrtsstaatlicher Überlegungen werden zunehmend Fragen nach der frühen Bildung bearbeitet, die sich im Rahmen des Diskurses um Qualität, Professionalisierung und Akademisierung nachzeichnen lassenFootnote 1 (Blatter, Michl, Schelle & Kalicki, 2023; Bock, Hoffmann, Kessl & Viernickel, 2013; Smidt, 2018).

Frühpädagogische Einrichtungen beruhen auf generationaler Ordnung, einer zugleich grundlegenden und alltagsweltlich kaum hinterfragten Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen (Honig, 2018, S. 193; Kelle, 2005, S. 83) und können als Ausdruck ausdifferenzierter, institutionalisierter Kindheitsräume verstanden werden (Bollig, Betz & Eßer, 2017, S. 8; Mierendorff, 2014, S. 24). In ihrer Funktion als gesellschaftlich ordnende, aus der Familie freisetzende Institutionen bzw. im Spannungsfeld öffentlicher und privater Erziehung stellen sie Orte dar, an denen heterogene Logiken, Zuschreibungen und Interessen aufeinandertreffen, sich überlagern und ausgehandelt werden müssen. Frühpädagogische Institutionen organisieren dabei, als spezifisches raum-zeitliches Arrangement im gesellschaftlichen Geflecht sozialer Ordnungen, frühe Kindheit, (auch) indem Kinder als ‚Kindergartenkinder‘Footnote 2 anhand performativer Praktiken adressiert und positioniert werden (Braches-Chyrek et al., 2020, S. 17; Mierendorff, 2014, S. 24).

Ausgehend vom Interesse an frühpädagogischen Einrichtungen, die in ihrer funktionalen Bestimmung mit der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) von Kindern betraut sind, stellte sich zu Beginn des Promotionsvorhabens die Frage, was denn unter der Begrifflichkeit frühe Kindheit überhaupt zu verstehen sei (Bischoff, Bollig, Cloos, Nentwig-Gesemann & Schulz, 2018, S. 3; Kaul et al. 2023, S. 20). Zwar schienen die vorangegangenen Jahre und Jahrzehnte von zunehmend umfangreichen Analysen zum (allgemeinen) Begriff Kindheit geprägt (bspw. Ariès, 1984; Lenzen, 1985; Honig, 1999; Fangmeyer & Mierendorff, 2017) – weitgehend ungeklärt blieb aber bislang, was frühe Kindheit istFootnote 3. Scheinbar selbstverständlich wurde im Diskurs auf den Begriff frühe Kindheit rekurriert, jedoch ohne seinen ‚Kern‘ und seine ‚Ränder‘ auszubuchstabieren.

1.1 Erkenntnisinteresse und Fragestellung

Dieses Desiderat begründet das ursprünglich eher ontologisch angelegte Interesse, sich der Frage zu widmen, was denn frühe Kindheit – als ein prominenter und zugleich weitgehend unbestimmter Begriff in der Pädagogik der frühen Kindheit – überhaupt sei. Die zunehmende Auseinandersetzung mit dem Gegenstand aus einer praxeologischen Perspektive (vgl. Abschnitt 1.2) wendete das Erkenntnisinteresse zunehmend. Stärker drang die Frage nach dem wie der Herstellung früher Kindheit im institutionellen Kontext in den FokusFootnote 4.

Von Kindern und Erwachsenen zu sprechen, hat eine alltagsweltliche Plausibilität. Dagegen ist es Aufgabe einer sozialwissenschaftlichen Theorie der Kindheit, Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen nicht vorauszusetzen, sondern ihr Zustandekommen zu erklären (Honig, 2018, S. 193).

Dem vorangegangenen Zitat Honigs bzw. aktuellen Debatten der childhood studies folgend, wurden daher jene Praktiken perspektiviert, in denen Akteur:innen – konkret: Kinder und Fachkräfte in frühpädagogischen Institutionen – frühe Kindheit als gemeinschaftliche Leistung überhaupt erst hervorbringen.

Im Zentrum der vorliegenden Schrift steht die erkenntnisleitende Frage, auf welche Weise frühe Kindheit in institutionellen Arrangements hervorgebracht wird und auf welche Bedingungen der Möglichkeit diese Hervorbringungsprozesse wiederum verwiesen sind.

Der Versuch der Beantwortung dieser erkenntnisleitenden Fragestellung zeigt sich als ein komplexes Unterfangen, sofern man sich von der Annahme, „Was ein Kind, was Kindheit ist, ‚weiß jeder‘, weil jeder selbst einmal ein Kind war“ (Honig, 1999, S. 172), distanziert.

Wird frühe Kindheit als normatives, historisch-kulturell vermitteltes, resp. als ein in gesellschaftliche, resp. generationale Ordnung(en) verflochtenes und in das Spannungsfeld von Öffentlichkeit und Privatheit eingelagertes Konstrukt gefasst, so zeigt sie sich einerseits als wandel- sowie veränderbar und andererseits als erheblich normativ wirkmächtig. Hierin artikulieren sich die Relevanz und Bedeutsamkeit, Praktiken der Hervorbringung früher Kindheit analytisch in den Blick zu nehmen, vor deren Hintergrund die vorliegende Schrift betrachtet werden kann.

1.2 Eine Rahmung

Wie eben ausgeführt, bezieht sich das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Schrift auf die Hervorbringung früher Kindheit im institutionellen Kontext. Empirisch bedeutet dies, sich den (wechselseitig aufeinander bezogenen) Praktiken zu widmen, in denen Kinder und frühpädagogische Fachkräfte frühe Kindheit in frühpädagogischen Institutionen performativ (re-)produzieren (vgl. auch Alemzadeh, 2014, S. 9 f.). In der Fragestellung ist die schon angedeutete praxeologische PerspektiveFootnote 5 bereits implizit angesprochen, die das vorliegende Werk rahmt. Mit dieser verbindet sich eine ‚spezifische Forschungshaltung‘ (Schmidt, 2018, S. 20), welche (im Rahmen des sog. practice turns) einen veränderten Blick auf Praxis (Bittner, Bossen, Budde & Rißler, 2018, S. 9), genauer: eine Fokussierung „auf die soziale Praxis des Pädagogischen bzw. pädagogischer Ordnungen“ (ebd., S. 10) ermöglicht und „hierbei grundlegende epistemologische Erweiterungen für eine gehaltvolle Erfassung erziehungswissenschaftlicher Fragestellungen“ vornimmt (ebd.). Denn Praxeologisierungen verfolgen „eine empirische Verunsicherung, Destabilisierung und Erneuerung der existierenden theoretischen Konzepte und Konstrukte“ (Schmidt, 2018, S. 22) und dies ist insbesondere dann relevant, wenn Kinder – und dies wird im vorliegenden Werk zugleich intendiert und kritisch reflektiert – als Akteur:innen anerkannt werden. Sie werden hier zwar auch als „Träger überindividueller, gemeinsam geteilter Wissensordnungen und Sinnmuster aufgefasst – sie befinden sich nicht privat und exklusiv ‚im Kopf‘ des Handlungssubjektes, sondern immer auch in, bzw. zwischen den Körpern, Texten und Dingen“(ebd., S. 27). Das Mentale wird dennoch nicht negiert, „vielmehr wird sein traditioneller epistemologischer Status revidiert: Mentales drückt sich in Praktiken ‚öffentlich‘ aus; es wird auf diese Weise ‚berichtbar‘ gemacht (accounted), von den Teilnehmern zugeschrieben und ratifiziert.“ (ebd., S. 27 f.). Nach Müller (2022, S. 165) sind Praktiken in ein regelhaftes Interaktionsgeschehen eingebunden und – in Abgrenzung zum Handlungsbegriff – als relativ unabhängig von subjektiven Intentionen, Motiven oder Zielen einzuordnen. Für das Funktionieren von Praktiken sind nach Bollig (2018a, S. 140)

körperliche wie mentale Leistungen zentral. Allerdings werden die für die Ausführungen von Praktiken notwendigen mentalen Vollzüge und Zustände […] nicht als vorstrukturierende Elemente von Praktiken gefasst, sondern vielmehr wird danach gefragt, wie diese sich im organisierten Vollzug der Verkoppelung von Einzelakten zu Praktiken als Elemente dieser Praktiken vollziehen.

Dabei entsteht soziale Wirklichkeit in und durch Praktiken, wobei Routinisiertheit eine zentrale Bedeutung zukommt (Budde, 2015, S. 14). Jene meint „eine struktur- und verlaufsähnliche Reproduktion einer Handlung in zeitlicher und räumlicher Verschiebung“ (ebd., S. 15) und Praktiken insofern kennzeichnet, als sie als „Ausdrucksgestalt tieferliegender sozialer Ordnungen verstanden und analysiert werden“ kann (ebd., S. 14). Nach Bittner und Budde (2018, S. 44) besteht der Sinn von Praktiken darin, vollzogen zu werden – und sie „müssen wiederholt werden, um Aktivitäten zu geordneten Praktiken zu bündeln“.

Rekurrierend auf die Kritik an „mentalistisch und kognitivistisch verkürzten Handlungstheorien“ (Schmidt, 2018, S. 20) versucht sich die Praxeologie an einer sensiblen Analyse von Artefakten, Technologien, Räumen und Körper untersuchter Praktiken (Bollig, Alberth, Schindler, 2020; Frietsch, 2013a, S. 4; Schmidt, 2018, S. 20). Dennoch weist Schmidt (2018, S. 20) auf die Schwierigkeit hin, mentale Bestandteile von Praktiken und in Praktiken eingebundene reflexive und theoretische Wissensbestände im Rahmen der praxeologischen Analyse weder zu vernachlässigen noch auszublenden.

Praxistheoretische bzw. praxeologische Ansätze sind von erheblicher Heterogenität gekennzeichnet (Bittner et al., 2018, S. 9; Bollig & Kelle, 2016, S. 36). Als ein unscharf konturiertes „Bündel heterogener Theorien mit Familienähnlichkeit“ (Bittner et al., 2018, S. 9; vgl. auch Schäfer, 2016, S. 9) – bieten sie sowohl (disziplinäre) Anschlussmöglichkeiten an „Neujustierungen der Sozial- und Kulturwissenschaften“ (Bittner et al., 2018, S. 9) als auch (methodisch/methodologisch) an rekonstruktive wie ethnographische pädagogische Zugänge (ebd.). Der Begriff ‚Praxeologie‘ bezeichnet „den Vorsatz, sich methodisch und theoretisch an den zu erhebenden Praktiken zu orientieren“ (Frietsch, 2013b, S. 311), so wird er „schul- und traditionsübergreifend verwendet: Unter einer Praxeologie der Kulturwissenschaften lässt sich eine Theoretisierung der akademischen kulturwissenschaftlichen Praktiken verstehen, bei der die jeweiligen institutionellen Kontexte mit bedacht werden“ (ebd., 2013a, S. 3).

Praxistheorien stellen traditionelle Handlungstheorien gleichsam auf den Kopf und fassen Akteure nicht als Subjekte intentionaler und reflektierter Handlungen, sondern als Teilnehmer an Praktiken auf, die sie verkörpern und vermitteln (Honig, 2018, S. 206).

Nach Bittner und Kolleg:innen (2018) folgt eine praxistheoretische Erziehungswissenschaft dem Anspruch, „die Geordnetheit des Sozialen zu erfassen und Zugänge zu Erziehungs-, Bildungs- und Lernsettings eben nicht nur in ihrer Singularität, sondern in einer umfassenden (bildungssoziologischen sowie sozial- und kulturtheoretischen) Pluralität anzuerkennen“. Wenngleich folgend auf eine Ausdifferenzierung der unterschiedlichen praxeologischen Strömungen verzichtet wird, soll dennoch auf die Praxeologische Wissenssoziologie nach Ralf Bohnsack (bspw. 2017; 2018b) hingewiesen werden, welche u. a. auf den Arbeiten Karl Mannheims (1979) beruht, da sie als grundlagentheoretische bzw. methodologische Fundierung der Dokumentarischen Methode (welche im Rahmen des vorliegenden Werks als Analyseinstrument dient) fungiert und eine adäquate methodologische Rahmung ermöglicht.

Die praxeologische Perspektivierung ermöglicht einen Zugang zur sozialen Wirklichkeit resp. eine Fokussierung der sozialen Praxis des Pädagogischen bzw. pädagogischer Ordnungen (Schmidt, 2018, S. 9), bzw. einen Blick auf die (soziokulturelle) Praxis bzw. Arrangements von Praktiken früher Kindheit (Honig, 2018, S. 204 ff.). Damit wird es möglich, zu analysieren, „wie Unterscheidungen zwischen Kindern und Erwachsenen alltäglich funktionieren, das heißt: wie Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen relevant werden und Kinder zu ‚Kindern‘ werden“ (ebd., S. 194).

Der Fokus auf Praxis eröffnet, frühe Kindheit – im Sinne eines doing (early) childhood (ebd., S. 205) – als Hervorbringungsleistung (vs. „Durchgangsstation auf dem Weg zum kompetenten Erwachsenen“; ebd., S. 204) zu fassen und die hierfür grundlegenden Praktiken in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen. Mit dieser praxeologischen Rahmung schließt das Projekt an sozial- und kulturwissenschaftliche (Bittner et al., 2018; Schäfer, 2016), insbesondere aber auch frühpädagogische Überlegungen und Forschungsbemühungen an (bspw. Alemzadeh, 2014; Honig, 2018; Nentwig-Gesemann et al., 2020; Neumann, 2019; kritisch hierzu Bilgi & Stenger, 2017Footnote 6). Sie eröffnet die Möglichkeit, „dem spezifischen (sprich pädagogische[n]) Gehalt pädagogischer Praktiken näher[zu]kommen“ (Bittner & Budde, 2018, S. 48) und dabei Aspekte des ‚selbstverständlich Verborgenen‘ (Schmidt, 2018, S. 22), im Kontext der Hervorbringung früher Kindheit, analytisch an die Oberfläche zu holen, um sie damit bearbeitbar zu machen.

1.3 Aufbau der vorliegenden Schrift

Entsprechend der Prämisse qualitativer, resp. rekonstruktiver Zugänge, Forschungsprojekte zirkulär (vs. linear) anzulegen, wechselten im Entstehungsprozess der vorliegenden Schrift Phasen der theoretischen, methodologischen und methodischen Auseinandersetzung sowie der Datenerhebung und -analyse. Wenngleich die Darstellung in den folgenden Ausführungen in getrennten Kapiteln erfolgt, so soll an dieser Stelle dennoch darauf hingewiesen werden, dass der Aufbau nicht der chronologischen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand folgt, sondern jener so gewählt wurde, dass der:die Leser:in einem möglichst nachvollziehbaren Gedankengang folgen kann.

Ohne vertieft auf das grundlegende Verhältnis von Theorie und Empirie eingehen zu wollen, so soll doch darauf verwiesen werden, dass die Auswahl und Darstellung theoretischer Bezugspunkte von empirischen Überlegungen getragen ist – und umgekehrt die empirische Auseinandersetzung keineswegs „theorielos“ erfolgte, wenngleich Vorannahmen – vorerst – ausgeklammert werden solltenFootnote 7.

Im an die vorliegende Einführung (erstes Kapitel) anschließenden zweiten Kapitel folgen ausgewählte theoretische Überlegungen, um ein Verständnis von (früher) Kindheit als normativem, historisch-kulturell geprägtem und in das Spannungsfeld von Öffentlichkeit und Privatheit eingelagertem Konstrukt darzulegen. Ausgehend von einem historischen Blick auf (frühe) Kindheit werden Überlegungen zur Erforschung von (früher) Kindheit vorgestellt, um folgend die disziplinär-paradigmatische Verortung der vorliegenden Schrift – im Kontext der childhood studies – zu begründen. Anschließend wird auf generationale Ordnung, pädagogische Differenz und (relationale) agency als bedeutsame theoretische Bezugspunkte für die Frage nach der Hervorbringung früher Kindheit eingegangen. Das Kapitel schließt mit Überlegungen zur Institutionalisierung früher Kindheit, vor dem Hintergrund des Spannungsfeldes von Öffentlichkeit und Privatheit, resp. einem Einblick in das Feld der Elementarpädagogik in ÖsterreichFootnote 8.

Das dritte Kapitel dient einer Einführung in den empirischen Zugang der vorliegenden Schrift. Es ist von der grundlegenden Annahme getragen, dass die Teilnahme an und Beobachtung von kulturellen und sozialen Praktiken einen Zugang zu impliziten Wissensbeständen der Praxis ermöglichen. Nach einer kurzen Beschreibung des Feldes und des Samples werden daher Ethnografie und Dokumentarische Methode als zentrale Erhebungs- und Analyseinstrumente vorgestellt, die die Erschließung dieser Praxis, resp. der performativen Performanz eröffnen. Im Fokus stehen im Kontext der Beschreibung des methodischen Vorgehens die teilnehmende Beobachtung, resp. die Protokollierung und Verdichtung der entstandenen fieldnotes hin zu Feldprotokollen, Überlegungen zur Reflexivität im Kontext ethnografischer Kindheitsforschung, die Auswahl von Fällen, Schritte der dokumentarischen Interpretation sowie schließlich eine Hinführung zur sinngenetischen Typenbildung.

Die vier ausgewählten und einer dokumentarischen Analyse unterzogenen Feldprotokolle Atelier, Ritter, Rutsche und Mittagskreis werden im vierten Kapitel – auf Ebene der Einzelfälle – erst umfassend, anschließend verdichtend-zusammenfassend dargestellt. Auf Basis dieser Interpretationsleistungen erfolgt im fünften Kapitel der Versuch einer sinngenetischen Typenbildung sowie im sechsten Kapitel eine Zusammenführung der theoretischen und empirischen Überlegungen, resp. die Beantwortung der erkenntnisleitenden Fragestellung.