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Diskussion: Die Natur als Erfahrungsgegenüber am Beispiel der natürlichen Geburt

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Von der Natur vorgesehen

Zusammenfassung

Im Phänomen der als natürlich qualifizierten Geburt wird die Natur als ein Resonanzgegenüber formuliert, das mit eigener Stimme zu sprechen vermag. Vermeintlich ursprüngliche und vorgängige Geburtspraktiken werden in diesem Zuge mit einer als verloren empfundenen, tiefen Verbundenheit mit der Natur assoziiert. Diese Annahmen stellen die Ausgangshypothesen der im Folgenden theoretisch verhandelten Frage dar, inwiefern sich die zuvor ausbuchstabierten ambivalenten Weltverhältnisse und die Natur als unverfügbares Resonanzgegenüber im Ausdruck der natürlichen Geburt widerspiegeln. Vor dem Hintergrund der bereits entfalteten Zeitdiagnosen widmet sich dieses Kapitel der normativen Vorstellung der natürlichen Geburt im gleichzeitig hegemonialen Deutungskontext der Schulmedizin als ein Ausdruck dieser beziehungstheoretischen Ambivalenzen und zielt damit auf eine resonanztheoretische Problematisierung des Desiderats einer natürlichen Geburt.

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Notes

  1. 1.

    In seiner ‚Soziologie der Angst‘ bestimmt Max Dehne (2017: 28) unter anderem in Anlehnung an Heidegger eine Angst, die das Subjekt „aus allen Bezügen der Welt“ (ebd.) löst und die alltäglichen Bedeutungen aufhebt. „Das Individuum fühlt sich ungeborgen und verlassen, Angst zeigt die Geworfenheit in die Welt an“ (Dehne 2017: 28).

  2. 2.

    „Ich spür(t)e eine gewaltige Kraft in mir. Wenn ich das geschafft habe, schaffe ich auch alles andere in meinem Leben“ (Geburtsbericht 3, 2018).

  3. 3.

    In seinem Ratgeber vergleicht der Geburtsmediziner Wolf Lütje (2016: 15) die Geburt mit einer Bergtour, bei der die Gebärende durch mit dem Berggipfel für ihre ihre Leistung und Wirksamkeit belohnt wird. Er mutmaßt, dass „die unmittelbare Erfahrung und das Erleben des Wunders der Geburt“ (Lütje 2016: 15), eine Quelle der Selbstwirksamkeit „in einer Zeit der Fremdproduktion“ (ebd.) darstellen können.

  4. 4.

    Zudem bedürfte es, um die Geburt als Resonanzerfahrung in ihren spezifischen Qualitäten insbesondere empirisch adäquat zu untersuchen, eines methodisch weit anspruchsvolleren Instrumentariums als es an dieser Stelle geleistet werden kann und soll.

  5. 5.

    Ein weiteres Beispiel dafür, dass die Idee einer resonanten Beziehung zur Natur auch noch die Grundlage „für so manche kollektiven sozialen Veranstaltungen in hochtechnisierten Umgebungen“ darstellt, illustriert Rosa (2016: 460) mit dem hochalpinen Skifahren.

  6. 6.

    Ähnlich wie Barbara Duden konzentriert sich auch Eva Labouvie auf Quellen aus dem 18. Jahrhundert aus dem Bereich der unprofessionalisierten, ländlichen Geburtshilfe und -praxis, um gegenwärtig erlebbare Körperlichkeit mit der der ‚Frühen Neuzeit‘ zu kontrastieren. Auch Labouvie stellt den Blick ins Körperinnere durch medizinisch-technische Vermittlung als entscheidenden Wendepunkt für das subjektive Erleben dar.

  7. 7.

    Dass die Vorstellung des naturgemäßen Gebärens in einer Krankenhausumgebung als Konstrukt Bestand haben kann, spricht Kneuper (2005: 247) zufolge entschieden dafür, dass es sich bei dieser Natürlichkeit um eine ideologische Formulierung handelt.

  8. 8.

    In dem zitierten Aufsatz sieht Rosa Autonomiespielräume vorrangig durch „das kapitalistische Wirtschafts- und Beschleunigungsregime“ (Rosa 2012b: 93, Herv. i. O.) beschränkt. Darüber hinaus aber bedingt das Festhalten an diesen Maßstäben selbst „schwerwiegende Pathologien wachsenden Ausmaßes“ (Rosa 2012b: 93, Herv. i. O.).

  9. 9.

    Außerdem ist Eckardt überzeugt, „dass Verletzungsmacht und die Ausübung von Verletzungen die Institution des Krankenhauses mit ihren spezifischen hierarchischen Mustern stabilisiert“ (Eckardt 2020: 264).

  10. 10.

    Rose und Schmied-Kittel beschreiben dies als paradoxes Ineinandergreifen von Re- und Ent-Traditionalisierung im Verhältnis zu einer früheren, gemeinschaftsbezogeneren Geburthilfe: „Während also einerseits vergangene traditionelle Verhältnisse in der Geburtshilfe idealisiert werden, die das gebärende Individuum von einem geschlossenen Gefüge traditioneller Regeln und Helferinnen fürsorglich umgaben, die ihm also gerade keinen Entscheidungsspielraum ließen, wird andererseits – ganz im Sinne von Modernisierung – die Individualisierung der Gebärenden forciert“ (Rose/Schmied-Kittel 2011: 86, Herv. i. O.).

  11. 11.

    Der Argumentationsgang setzt an der moralischen Unterbestimmtheit des Kapitalismus an: Da Gerechtigkeitsfragen im ökonomischen Paradigma keine Rolle spielen, verfügt die kapitalistische Logik aus sich selbst heraus über keine moralischen Rechtfertigungen für das ihr entsprechende Handeln. Damit dennoch auch jene Gruppen konform agieren und leistungsbereit bleiben, die nur geringe Chancen haben, von Akkumulationsprozess zu profitieren, bedarf es außerökonomischer Legitimationsformen. Boltanski und Chiapello sehen diese Funktion durch eine Ideologie erfüllt, die sie den Geist des Kapitalismus nennen. Mit diesem Begriff lassen sich Kapitalismus und die Kritik an diesem in ein und dieselbe Dynamik fassen. Denn in ihrer Argumentation fungiert die Kritik als Ressource, aus der sich der Geist des Kapitalismus speist. „Er ist auf seine Gegner angewiesen, die er gegen sich aufbringt und die sich ihm widersetzen, um die fehlende moralische Stütze zu finden und Gerechtigkeitsstrukturen in sich aufzunehmen, deren Relevanz er sonst nicht einmal erkennen würde“ (Boltanski/Chiapello 2006: 68).

  12. 12.

    Wie Luckmann (1991: 151; s. Abschn. 4.3.1) im Hinblick auf die spirituelle Privatisierung diagnostiziert, werden sinnstiftende Themen und Ziele letzter Bedeutung zu rein subjektivistischen Qualitäten.

  13. 13.

    Schulze (1994: 23; 2000: 35, 37 f.) stellt eine dieses Modell des expressiven Selbst flankierende Erlebnisorientierung in den Mittelpunkt seiner Diagnose moderner Subjektivität.

  14. 14.

    Ein weiteres Beispiel für eine solche Übersetzung ist die bereits erwähnte Deutung von Extremwetterereignissen und Naturkatastrophen als strafende Antwort der übermächtigen Natur auf die Menschheit, die sich an der heiligen Schöpfung versündigt hat (s. Abschn. 4.1.3).

  15. 15.

    Im Erleben des eigenen spirituellen Strebens nach ‚Fülle‘ jedoch ist dieser Zweifel mithin nicht spürbar, wie Taylor einräumt. Die eigene Weltempfindung stellt sich nicht als spezifische, moralisch-spirituelle Deutung, sondern vielmehr als unmittelbare Realität, als Faktum der subjektiven Welt dar. Im religiösen Glauben werden „Kraft oder Fülle […] im Rahmen einer Beziehung empfangen; der Empfangene […] muß dafür geöffnet, verwandelt und aus seinem Selbst befreit werden“ (Taylor 2012b: 24). Diese Beschreibung verdeutlicht noch einmal, inwiefern Taylors Werk Inspirationsquelle für Rosas Resonanzbegriff ist.

  16. 16.

    Gleichwohl erkunden die modernen Naturwissenschaften einen solchen Konstruktionsplan in Gestalt des darwinistischen Geschehens bemerkenswerterweise als ein ähnlich teleologisches Geschehen mit den Mitteln der Vernunft und der Technik (s. Abschn. 5.5).

  17. 17.

    Wie Luckmann (1991) zeigt, führt der Bedeutungsverlust der institutionell-spezialisierten Religion zu einer neuen, synkretistischen Sozialform privatisierter Religiosität (vgl. Luckmann 1991); Was zuvor durch kollektiv und institutionell verbindliche Ordnungen bestimmt war, wird nun offen für sekundäre Deutungen, privatisiert und geradezu beliebig gewählt. Aus der Nova-Struktur pluralistischer Sinnangebote (s. Abschn. 4.3.1) wählt das Subjekt seinen privaten Synkretismus individuell aus, wie es auch Identitätsprädikate wählt.

  18. 18.

    Angesichts des aufklärerischen Gebots, der Mensch habe sowohl das Recht also auch die Pflicht, sich selbst zu vervollkommnen, fragt Birnbacher (2006: 99) hinsichtlich der moralischen Grenzen im Bereich der Gentechnik: „Warum sollte nicht gerade die Selbsttranszendierung mit vom Menschen ersonnenen,,künstlichen‘ Mitteln die ,Bestimmung‘ des Menschen sein, auch gerade hinsichtlich seiner körperlichen Naturkontingenz?“ (Birnbacher 2006: 101). Birnbacher zielt damit auf die anthropologische Kernfrage, die auch Plessner mit der exzentrischen Positionalität und ebenso Gehlen mit seinem Kulturbegriff als zweite Natur des Menschen bearbeiten, und die sich im Rahmen der dualistisch gespaltenen Moderne verschärft.

  19. 19.

    Auch Maya Nadig rekurriert auf den gewichtigen Einfluss von Bildern, Risikoeinschätzungen und Normierungstechnologien, die durch medizinische Expert*innen festgelegt werden, auf die Wahrnehmung körperlicher Prozesse im Bereich von Schwangerschaft und Geburt. Sie sieht darin einen Zusammenhang mit der sich im 20. Jahrhundert durchsetzenden Klinikgeburt (Nadig 2011: 56).

  20. 20.

    Weber beschreibt dies als grundsätzliche Tendenz in den (Natur-)Wissenschaften: „Während die ontologische Grundlage der Naturwissenschaften revolutioniert und lebendige Natur zunehmend besser operationalisierbar wird, werden die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Naturwissenschaften größtenteils beibehalten, die auch bis heute den Wahrheitsanspruch der Wissenschaft zu garantieren haben und ihre Legitimationsressource darstellen“ (Weber 2001: 168).

  21. 21.

    Dehne konkretisiert die umfassenden Unsicherheiten, die das Subjekt der Moderne im Besonderen treffen, als Kontingenzangst. Diese Angst, die der „Verlust epistemischer Kontrolle, d. h. ein Leiden an Ungewissheit“ (Dehne 2015: 36) bewirkt, ist Dehne zufolge ein anthropologisches Basismotiv, das aber angesichts des Verlusts einer verbindlichen Ordnung in der Neuzeit auf gesteigerte Weise bewältigt werden muss. Mit dem Ausdruck der epistemischen Kontrolle beschreibt Dehne ein Streben „nach kognitiver Kontrolle über die kausale Struktur der Umwelt, d. h. nach Orientierung, Verständlichkeit und Vorhersagbarkeit“ (Dehne 2015: 36).

  22. 22.

    Dies trifft im Übrigen auch auf die Phasen im Anschluss an den Partus zu. Einige Komplikationen, wie eine sich nicht vollständig oder zu schnell ablösende Plazenta mit mitunter lebensbedrohlichen Blutverlusten, können unmittelbar nach der Geburt auftreten und machen weitere operative Eingriffe notwendig. Im Wochenbett wiederum steht die Regeneration der Gebärenden, aber auch die Frage der Ernährung des Neugeborenen im Vordergrund. Der Topos des Stillens ist aus ideologiekritischer Sicht höchst brisant und böte Anlass und Material für eine weitere Untersuchung. Im Grunde spielt sich dabei eine ähnliche Verhandlung gesellschaftspolitischer Topoi über weibliche Körper und unter Eingreifen in deren Intimsphäre wie im Falle der Geburt ab. Insofern wird noch einmal deutlich, dass die natürliche Geburt ein umfassenderes, gesellschaftliches Phänomen beispielhaft widerspiegelt.

  23. 23.

    Jutta Weber führt die Tatsache, dass die Natur in der Moderne in einem solch überwältigenden Maße unter die Kontrolle des autonomen Subjekts gebracht wird, darauf zurück, dass die „durch den Verfall der umfassenden metaphysischen Ordnung losgelassene und fremd gewordene Natur […] in ihrer Unberechenbarkeit weitaus bedrohlicher erscheint als zuvor“ (Weber 2001: 12). Damit argumentiert Weber ähnlich wie Rosa für ein paradoxes Zusammenspiel von Unverfügbarkeit, Verfügbarkeitsstreben und Ohmachtserfahrung.

  24. 24.

    Dabei bleiben die widerständigen Momente des Unverfügbaren– trotz der verschiedenen, kulturellen Bewältigungsformen – stets unverfügbar. Gleichwohl müssen sie unbedingt als konstitutiv für das Entstehen von sozialer Ordnung berücksichtigt werden (vgl. Block 2018: 199).

  25. 25.

    Als eine solche Qualität stellt die Natur einen blinden Fleck der Soziologie dar, wie Block (2018: 181) bemängelt. Wird der moderne Dualismus in jedem ‚turn‘ mitverhandelt, wird auch die naturalistisch begriffene Natur als historisch und kulturell spezifische Vorstellung immer vor dem Hintergrund des modernen Dualismus ausgedeutet und als solche reproduziert. Zwar wird vermehrt versucht, auch „nicht kulturell bedingte, sozial konstruierte Dinge quasi als Dinge des prinzipiell Unverfügbaren […] in ihren ordnungskonstitutiven Rollen theoriearchitektonisch zu berücksichtigen“ (Block 2018: 181), allerdings geschieht dies immer im Lichte des Dualismus, der so gerade nicht verabschiedet, sondern nur kulturalistisch aufgelöst wird. Angesichts der Feststellung, dass das dualistische Denken innerhalb der epistemischen Verfassung der Moderne nicht überwunden werden kann, muss ebendiese Qualität des Unverfügbaren vom Begriff der ‚Natur‘ gelöst und vielmehr abseits des Dualismus gedacht werden, so Block (2018: 182).

  26. 26.

    Nadig beschreibt die „zeitgenössische alternative Natürlichkeitsideologie“ (Nadig 2011: 68) gar als einen Versuch, die tendenzielle soziale Isolation der Gebärenden im spätmodernen Geburtssystem zu überbrücken sowie als eine „legitimatorische Einbindung des eigenen Handelns in einen größeren Zusammenhang“ (ebd.).

  27. 27.

    Interessanterweise bezeichnet Gülker die Grenzziehung zwischen Transzendenz und Verfügbarkeit als integralen Bestandteil des wissenschaftlichen Arbeitens: Die Unterscheidungen zwischen verfügbaren und transzendent verankerten Sphären „entscheiden über das, was in einer Gesellschaft für machbar und für ethisch wünschenswert gehalten wird. Sie sind deshalb von fundamentaler sozialtheoretischer – und nicht allein religionssoziologischer – Bedeutung“ (Gülker 2017: 11). Diese konstruierte Grenzziehung entlastet „inhaltlich und ethisch und kann somit die Verfügbarmachung der Welt gerade befördern“ (Gülker 2017: 10). Dieser Topos ist gegenwärtig vor allem in den Diskursen um die Grenzen von Gentechnik und Reproduktionsmedizin zu finden (vgl. Habermas 2001: 46 ff.).

  28. 28.

    Die Feststellung, dass Natur weder nur das passive Andere der Kultur, dass sie auch, aber nicht nur ein gesellschaftliches Produkt ist, wird auch von den postessentialistischen Ansätzen und relationalen Ontologien vertreten (s. Abschn. 3.2.2).

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Behrendt, G. (2024). Diskussion: Die Natur als Erfahrungsgegenüber am Beispiel der natürlichen Geburt. In: Von der Natur vorgesehen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-44344-3_6

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