Zusammenfassung
Leitend für den vorliegenden Beitrag ist die Hypothese, dass sich die Effekte und Wirkungsweisen des digitalen Wandels der Gesellschaft sukzessive in Form eines digital konstituierten Unbewussten in den Raum des subjektiven Denkens und Handelns einschreiben. Der Fokus der Betrachtungen richtet sich dabei konkret auf den Sachverhalt, dass sich maschinelle Operationen unter den Bedingungen der Digitalität affektiv und oftmals jenseits der reflexiven Erfahrungswelt mit Subjekten verschalten. Der Beitrag entwickelt einen systematischen Zugang zu dieser Perspektive durch die Verbindung von Bildungstheorie und Psychoanalyse unter Hinzunahme von theoretischen Anleihen aus dem Neuen Materialismus. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse werden anschließend in ihrer Bedeutung für die Lern- und Bildungsforschung skizziert und methodologisch exploriert.
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Notes
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Damit verbunden ist nicht zuletzt die bildungstheoretische Anerkennung eines oftmals allzu fragilen Subjekts, das mittlerweile vor allem im Kontext der psychoanalytischen Pädagogik als ängstliches, verunsichertes, exzessives oder gespaltenes Subjekt verhandelt wird (vgl. z. B. Fatke & Scarbath, 1995; Finkelde, 2015; Langnickel, 2021).
- 2.
Der hier exemplarisch gewählte Verweis auf Marotzki ist an dieser Stelle gleichsam paradigmatisch, da Marotzki insbesondere die freudsche Kategorie des Unbewussten ins Zentrum seiner bildungstheoretischen Interpretation der Psychoanalyse stellt. Angesichts des Sachverhalts, dass Marotzkis Perspektive der transformatorischen Bildungstheorie angehört, ist damit ein breites Forschungsspektrum adressiert, das bislang priorisiert durch eine Rezeption der strukturalen Psychoanalyse Lacans und dem damit verbundenen Fokus auf sprachliche Erzählungen dokumentiert ist (vgl. z. B. Koller, 2012, S. 45–54; Wulftang, 2016). Die Bedeutung der im Folgenden vorgelegten, primär auf Freud bezogenen Ausführungen für diese Rezeption – auch im Hinblick auf ihr noch zu verhandelndes Gewicht für eine sich auf Sprache fokussierende Lern- und Bildungsforschung – ist zweifellos einen eigenen Beitrag wert, insbesondere dann, wenn die Behauptung des Lacan-Schülers Herrmann Lang (2000, S. 16) stimmt, dass eine „Selbstverständlichkeit“ für ein Verständnis Lacans darin zu sehen ist, dass seine Leser:innen „jeden Satz des Freudschen Gesamtwerkes präsent haben sollte[n].“
- 3.
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Leineweber, C. (2024). ‚Unboxing the black box‘. Bildungstheoretische Kartographierung und methodologische Exploration des Unbewussten für die Lern- und Bildungsforschung im Kontext von Digitalität. In: Pieper, M., Neuhaus, T. (eds) Bildung und Digitalität . ars digitalis. Springer Vieweg, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-44228-6_5
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