Nach der eingehenden Analyse der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes in Deutschland im Zeitraum bis einschließlich 2016 soll nun ein Fazit dieser Arbeit gezogen werden: Welche Ergebnisse hatte die Politik zum Immateriellen Kulturerbe in Deutschland und welche Erkenntnisse ergeben sich daraus für eine künftige Politik? (Abschnitt 7.1.) Welche Modifikationen wären darüber hinaus, auch unter Betrachtung der Erfahrungen in anderen Staaten, im Ergebnis dieser Arbeit zu empfehlen? (Abschnitt 7.2.) Schließlich: Welche Bereiche bedürfen einer weiteren politik- und/oder kulturwissenschaftlichen Erforschung? (Abschnitt 7.3.)

Wenn ein neues Instrument von Kulturpolitik eingeführt wird, als welches man die nationale Umsetzung der UNESCO-Konvention mit ihren verschiedenen Maßnahmen verstehen muss, soll damit eine Regelungs- oder Förderlücke geschlossen werden. Zwar handelte es sich in diesem Fall um einen speziellen Impuls, der von außen, nämlich der Staatengemeinschaft der UNESCO, kam. Trotzdem ist ein solcher Lückenschluss gelungen: Insbesondere sind neue Akteure, die vorher wenig Berücksichtigung im Politikfeld gefunden haben, in der eigenen Wahrnehmung aber Kulturakteure sind, in die Arena der Kulturpolitik eingetreten.

„Wenn man eine Million Menschen hat, die in zehntausend Chören wöchentlich singen, dann ist das eine Größe. Und das mag einem nun gefallen, nicht gefallen, aber sagen wir mal, die Kultur und die Bedeutung, die das für das Leben der Menschen hat, das ist schon unglaublich. […] Oder man kann eben viele Beispiele nehmen. Also das hat eine große Lebendigkeit in Deutschland. Und das hat man allmählich entdeckt. Und dann wurde auch klar, dass es dafür jetzt einen Begriff gibt.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Im Vorgriff auf die detaillierte Darstellung in diesem Kapitel hier zunächst fünf zentrale Ergebnisse der Arbeit und fünf Empfehlungen für die weitere Arbeit mit dem Politikinstrument der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes in Deutschland:

In Deutschland wird die UNESCO-Konvention seit 2013 mit einer Vielzahl von neu aufgelegten Maßnahmen operationalisiert und damit in den nationalen Kontext übersetzt. Zentrale Maßnahme ist wie in den untersuchten Nachbarländern die Inventarisierung von Formen Immateriellen Kulturerbes. Dies erfolgt hierzulande über ein mehrstufiges Verfahren, an dem eine Reihe von zum Teil im Politikfeld etablierten, zum Teil neuen Akteuren, beteiligt ist.

Die beteiligten Akteure kooperieren produktiv und in ihren Rollen gut aufeinander abgestimmt miteinander; die Politikverflechtung zeigt überwiegend positive Wirkungen. In dem neu geschaffenen Politiknetzwerk haben die Akteure aber verschiedene Interessen, die sie versuchen um- und durchzusetzen. Da in der Phase der Politikformulierung versäumt wurde, eine klare und gemeinsame Zieldefinition der deutschen Mitwirkung an der Konventionsumsetzung zu formulieren, differieren auch die Wirkungsabsichten, was gelegentlich zu (Ziel-)Konflikten führt.

Durch die Umsetzung der Konvention ist die kulturelle Teilhabe in Deutschland in mehreren Dimensionen erhöht worden. Die Arbeit konnte allerdings zeigen, dass dies bei den relevanten Akteuren zu Beginn kaum vernehmbares Motiv oder gar eine Strategie der deutschen Mitwirkung an der Konventionsarbeit war.

Das Kulturverständnis öffnet sich durch die Umsetzung der UNESCO-Konvention schrittweise in Richtung der UNESCO-Definition und nimmt mehr breitenkulturelle Elemente sowie Formen von Wissen und Können auf. Während die Trägergruppen anerkannter Kulturformen zum einen von gewachsenem Stolz auf das eigene Tun und höherer Selbstachtung berichten, sind zum anderen vielfach auch neue (internationale) Kontakte entstanden. Durch den Reflexionsprozess werden Gemeinsamkeiten genauso wie Unterschiede und Trennungslinien deutlich; die Konstituierung von Gruppen produziert zugleich Inklusion wie auch Exklusion.

Rund um die Umsetzung der 2003er-UNESCO-Konvention in Deutschland sind vielfache Wechselwirkungen zwischen der nationalen und der internationalen Kultur(erbe)politik zu konstatieren. Insbesondere ist eine neue Dynamik im kulturpolitischen Feld zu beobachten. Eine wichtige Erkenntnis des internationalen Vergleichs ist, dass kulturpolitische Maßnahmen gesellschaftliche Debatten anregen, zu kultureller Teilhabe beitragen und ein Bewusstsein für internationale Verbindungen und Zusammenarbeit fördern können.

Für eine gedeihliche Weiterentwicklung des Instruments in Deutschland lassen sich folgende fünf Empfehlungen ableiten: Erstens wird empfohlen, bewusster auf die Förderung kultureller Teilhabe Wert zu legen und allgemein Kulturerbe-Politik stärker in Richtung Gesellschaftspolitik auszulegen. Zweitens sollte das Konzept ‚Immaterielles Kulturerbe‘ im Policy-Netzwerk und in der Ausgestaltung der konkreten Umsetzungsmaßnahmen noch geschärft werden, um die Verständigung darüber zu fördern und das Wirkungspotenzial auszuschöpfen. Drittens sollten beim Inventarisierungsverfahren Anpassungsmaßnahmen vorgenommen werden, um dieses konsistenter sowie noch effektiver zu machen und dabei zugleich strategischer auszurichten. Viertens sollte das Netzwerk der Trägergruppen, das bisher nur rudimentär existiert, gestärkt werden, indem Austausch- und Qualifizierungsangebote gemacht werden. Und fünftens schließlich sollten Ressourcen zur Inwertsetzung Immateriellen Kulturerbes, insbesondere in Form von Aufmerksamkeit und einer Harmonisierung mit einer nachhaltigen Entwicklung, mobilisiert werden.

7.1 Zentrale Ergebnisse der Arbeit

Die Methode einer Politikfeldanalyse anhand des Modells des Policy-Cycles erwies sich als geeignet für die Untersuchung der ersten Phase der Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes in Deutschland bis einschließlich des Jahres 2016. Die strukturierte Auswertung von Experteninterviews und Dokumenten, ergänzt um Medientexte und Fallbeispiele, erlaubte gute Einblicke in die zu untersuchenden Vorgänge. Dass dabei eine alleinige Konzentration auf die politischen Akteure und ihre Perspektiven vermieden wurde und stattdessen mit dem Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus die Strukturen und Institutionen mit ihren Interaktionen mit in den Blick genommen wurden, zeigte sich ebenfalls als sinnvoll, zumal dieser Ansatz in der Lage ist die Mehrebenenverflechtung abzubilden. Die mit dem Ansatz verbundene Annahme, dass der Kontext mit seinen institutionellen Regeln das Handeln der Akteure bestimmt, bestätigte sich an vielen Stellen dieser Arbeit ebenso wie die Gültigkeit der komplementären Beobachtung, dass institutionelle Strukturen maßgeblich durch die darin aktiven Akteure gestaltet werden (vgl. Scharpf 2000: 17, 41 f., 78). Das Konzept des politischen Lernens erwies sich für die Erkenntnissammlung in der vorliegenden Arbeit darüber hinaus als sehr hilfreich, da es Übertragungseffekte aus dem internationalen Kontext wie auch des Wettbewerbsföderalismus und der typischen Phasen des Policy-Cycle erklären konnte.

An der Umsetzung der Konvention zum Immateriellen Kulturerbe in Deutschland sind, wie gezeigt, eine ganze Reihe von im Politikfeld bereits etablierten sowie auch neuen Akteuren beteiligt. Da sich diese Akteure zum Teil passiv, aber durchaus wohlwollend, zum Teil sogar äußerst aktiv und mit großer Begeisterung beteiligen, steht stark zu vermuten, dass sie sich alle durch die Mitwirkung bessergestellt sehen als zuvor: Die Vorteile und der Nutzen durch Beteiligung an der Umsetzung überwiegen offenbar die Kosten, also den Ressourceneinsatz (vgl. Blum/Schubert 2009: 127 f.).

Allerdings gilt wie in den untersuchten Nachbarländern auch in Deutschland, hier in Anlehnung an Ausführungen von Stefan Koslowski vom Schweizer Bundesamt für Kultur im Mai 2017, die Erkenntnis, dass Immaterielles Kulturerbe nach wie vor weder in kommunikativer noch in kulturpolitischer Hinsicht ein leicht zu vermittelndes Thema ist. In allgemeinen Kulturerbediskursen im Politikfeld ist Immaterielles Kulturerbe inzwischen zwar präsent und wird meist mitgemeint, aber in seiner Spezifik doch insgesamt wenig berücksichtigt. Die Trägerschaften des materiellen Kulturerbes sind zudem im Vergleich noch immer wesentlich besser organisiert als jene des Immateriellen Kulturerbes. In der Kulturförderung wird Immaterielles Kulturerbe auch nur ansatzweise mitgedacht und eher wenig berücksichtigt. Ausnahmen von spezifischen Förderungen für Formen des Immateriellen Kulturerbes sind in Deutschland an einer Hand abzählbar.

Aus der Hauptmaßnahme der ersten Phase der Konventionsumsetzung in Deutschland, der Inventarisierung von Formen Immateriellen Kulturerbes, die zunächst eine reine Bestandsaufnahme sein sollte, hat sich eine qualitative Auszeichnung entwickelt, und zwar in erster Linie der Kulturformen und in zweiter Linie der Trägergruppen. In Beantwortung der erkenntnisleitenden Frage dieser Arbeit ist zwischen den verschiedenen Akteuren zu differenzieren: In der allgemeinen Öffentlichkeit wird vornehmlich eine kulturpolitische Würdigung von besonderen Kulturformen wahrgenommen. Die staatlichen Stellen tendierten von Anfang an dazu, eine „Hitliste“ zu erstellen und das Besondere ins Rampenlicht zu stellen sowie im Eigeninteresse selbst von dem Glanzlicht schillernder Auszeichnungen im UNESCO-Kontext zu profitieren. In der Perspektive der Trägergruppen der anerkannten Kulturformen handelt es sich um eine Kombination aus der Würdigung ihres, häufig ehrenamtlichen, Engagements in Verbindung mit einer öffentlichen Anerkennung im prestigeträchtigen Bereich des Kulturerbes als Anhäufung symbolischen Kapitals (vgl. E1, Interview am 15.10.2018). Für die Fachorganisationen und -experten stand die Bestandsaufnahme in Kombination mit einer wertschätzenden Würdigung bürgerschaftlichen Engagements im Kulturbereich im Vordergrund. Der DUK und den Nichtregierungsorganisationen im Bereich lag viel an der Sensibilisierung für das Immaterielle Kulturerbe und seinen besonderen Wert für das menschliche Zusammenleben. Dass sich die Anerkennung für die Trägergruppen lohnen müsse, erkannte man im DUK-Expertenkomitee aber bereits recht früh, und entschied sich noch vor den ersten Eintragungen ein Logo zu kreieren und zur Nutzung an die Trägergruppen zu vergeben. Dass öffentliche Aufmerksamkeit das realistischste Ziel und Ergebnis der Anerkennung ist, die es durch die Träger selbst in andere Vorteile und Erhaltungsmaßnahmen umzumünzen gilt, betonte die DUK nach den ersten Verzeichniseinträgen sowohl gegenüber erfolgreichen wie auch gegenüber noch an einer Bewerbung interessierten Trägergruppen. Es fällt auf, dass keiner der maßgeblichen Akteure mit der nationalen Umsetzung der 2003er-UNESCO-Konvention explizit die Erhöhung kultureller Teilhabe zum Ziel hatte. Dass sich dies trotzdem zumindest teilweise als Ergebnis des Prozesses realisierte, wird im Unterkapitel 7.1.3. detaillierter bilanziert. Dies wurde von einem entsprechenden Reflexions- und Erkenntnisprozess unter den Experten des Immateriellen Kulturerbe und bei den zivilgesellschaftlichen Akteuren begleitet. Von einigen Akteuren des Policy-Netzwerks wird die Inventarisierung als reine Pflichtaufgabe der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention gewertet, von einigen aber auch begeistert im Erkenntnisinteresse verfolgt und als Möglichkeit den eigenen Einflussbereich auszuweiten gesehen. Im Fall der neuen Akteure im Politikfeld, den Experten und den Trägergruppen, wird durch die Mitwirkung im Netzwerk die Chance gesehen, nachdrücklich auf die Bedeutung des eigenen Wirkens auch außerhalb des Netzwerks, also im wissenschaftlichen Kontext oder im Verhältnis zu anderen Akteuren des bürgerschaftlichen Engagements, aufmerksam zu machen.

7.1.1 Politische Maßnahmen der Umsetzung der UNESCO-Konvention in Deutschland

Vielfach wurde im Laufe dieser Arbeit deutlich, dass es sich bei der Umsetzung der 2003er-UNESCO-Konvention nicht etwa um ein rein fachliches, sondern um ein politisches Projekt handelt. Dieses wird von konkreten Akteuren – von den Trägergruppen über Experten bis hin zu den in der Verwaltung auf verschiedenen Ebenen Verantwortlichen – ausgestaltet und mitgeprägt. Das Umsetzungssystem hat sich dabei nicht so eng an das etablierte Vorgehen im Bereich des materiellen Kulturerbes angelehnt wie vorhergesagt. (vgl. Tauschek 2012: 208 f.) Es handelt sich bei der Politikformulierung um den seltenen Fall einer Policy-Erneuerung (vgl. Howlett/Ramesh/Perl 2009: 137, 204 f.), denn es sind neue Ideen und auch neue Akteure ins Politikfeld der Kultur eingetreten. Allerdings finden im Politikfeld auch eine Reihe von Übertragungen aus der klassischen Kulturförderung und vom materiellen Welterbe zum Immateriellen Kulturerbe statt, die manchmal zum gegenseitigen Nutzen sind, wenn etwa Vertrauenskapital aus dem Bereich Welterbe auf das neuere Programm übertragen wird oder sich Anerkennungen gegenseitig stärken, wie zum Beispiel bei den Bauhütten oder „[…] Bamberg mit der Gärtnerkultur. Das ist ein gutes Beispiel, finde ich, wo die das Immaterielle mit dem Materiellen verbinden. Also das muss man wirklich nicht für jede Nominierung machen lassen, aber mit Sicherheit kann man da einiges tun.“ (B, Interview am 05.11.2018) Gelegentlich kann aber auch Schaden aus der engen Verknüpfung entstehen, wenn daraus etwa Missverständnisse über die jeweiligen Verfahren und Gegenstände erwachsen oder die Diskurse mit Konflikten aus dem jeweils anderen Feld belastet werden.

„Man muss immer aufpassen, dass das nicht verwechselt und miteinander vermischt wird. Das ist, glaube ich, die entscheidende Frage. Also Welterbe hat natürlich den entscheidenden Vorteil, dass man dahinfahren kann, sich das angucken kann. […] Und das geht natürlich nur begrenzt [beim Immateriellen Kulturerbe …]. Deswegen sollte man eben versuchen, so gut es eben geht, die Eigenständigkeit und die Andersartigkeit dieser, ja, Bewertung oder dieser Würdigung deutlich zu machen. […] Aber das ist, denke ich, den Schweiß der Edlen wert, das immer wieder zu versuchen. Aber es ist schon eine Herausforderung, das immer wieder abzugrenzen. Zu sagen, wir reden da über was anderes. Und gleichzeitig auch deutlich zu machen, den eigenen Stellenwert auch zu unterstreichen. Das ist schwierig.“ (K, Interview am 01.11.2018)

Für die Diskurse über Kultur und Kulturerbe ergaben sich im Politikfeld neue Erkenntnisse und Einsichten durch die Umsetzung der neuen UNESCO-Konvention in Deutschland. Mit den Experten, die Immaterielles Kulturerbe einschätzen und bewerten, sowie den Trägergruppen, die teilweise zuvor gar nicht im Kulturfeld verortet wurden, sind neue Akteure ins Politikfeld integriert worden. Zudem sind auch ganz neue Institutionen entstanden, die durch ihre Entscheidungen und ihr Wirken wesentlich einen Teil dieser Politik mitprägen (vgl. Tauschek 2010: 98).

Im Abschnitt 6.3.1. ist im Detail eine ganze Reihe von politischen Maßnahmen (Projekten, Programmen und Strategien) vor- und dargestellt worden, mit denen die maßgeblichen Akteure in Deutschland das völkerrechtliche Instrument UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes umsetzen. Dazu gehören nach der Klassifikation von von Beyme (1998, 2002), ergänzt durch Wimmer (2011: 10), insbesondere regulative Maßnahmen zur Gestaltung von Rahmenbedingungen mit einigen protektiven Elementen, in der Mehrzahl dienen sie allerdings der Förderung eines öffentlichen Bewusstseins und Diskurses. Im Bereich der distributiven Maßnahmen, das heißt der monetären Förderung, passiert im Vergleich zu anderen Bereichen der Kulturpolitik wenig. Insgesamt konnten 35 konkrete Maßnahmen identifiziert und voneinander abgegrenzt werden – ein Mix aus prozeduraler Steuerung, Strukturierung und Informationsinstrumenten, die nach Jann (1981: 62 f.) als informationelle Instrumente bezeichnet werden und insbesondere auch Auszeichnungs- und Titelvergaben beinhalten. Bei dem Maßnahmenmix handelt es sich im Ganzen um eine Form von indirekter bzw. Anreizsteuerung. (vgl. Braun/Giraud 2003: 149 f.) Darunter finden sich Aktivitäten zur Aus- und Weiterbildung von Kulturakteuren, zur Dokumentation und Popularisierung von Immateriellem Kulturerbe sowie Studien verschiedener Art. In den Bereichen der Integration von Immateriellem Kulturerbe in Strategien anderer Politikfelder und in konkrete Bildungsprogramme bestanden im Untersuchungszeitraum noch Leerstellen. (vgl. Abschnitt 6.2.6.)

Der Hauptfokus fast aller Akteure in der untersuchten Anfangszeit der nationalen Umsetzung des Übereinkommens lag auf dem vereinbarten mehrstufigen Verfahren und der schrittweisen Erstellung eines Bundesweiten Verzeichnisses des Immateriellen Kulturerbes. Wie in den vergleichend betrachteten Staaten Österreich, Schweiz, Belgien und Frankreich auch, ist dies zweifelsohne „Brennpunkt und Herzstück der Umsetzung der Konvention“ (Koslowski 2016: 65). Eine Aufnahme ins Verzeichnis erwies sich vielfach als ein Vorteil im Rahmen der sogenannten „Ökonomie der Aufmerksamkeit“, die sinngemäß besagt, dass im Strom der Fülle von Informationen, die in unserer Gesellschaft heute verfügbar ist, die Aufmerksamkeit zur wertvollsten Ressource geworden ist. Zweifellos schafft ein Eintrag in einem nationalen Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes höhere Sichtbarkeit für eine Kulturform und ihre Trägergruppe und produziert auf diese Weise „kulturelle Bedeutsamkeit“ (Tauschek 2013: 94). Interessant ist im Hinblick auf den zeitlichen Ablauf der Inventarisierung zudem der vergleichende Blick: Eine maßgebliche Begleiterin der Umsetzung der Konvention in Frankreich weist darauf hin, dass die Inventarisierung und UNESCO-Nominierungen dort parallel gestartet worden sind (vgl. Cachat 2015: 51) – ähnlich, wenn auch mit etwas anderen Vorzeichen, war es in Belgien – während Österreich, die Schweiz und auch Deutschland bewusst entschieden hatten, zweistufig vorzugehen. Dass dies eine politische Richtungsentscheidung war, wird in diesem Vergleich deutlich. Kritik am Modus der Inventarisierung in Deutschland, u. a. der tendenziell kompetitive Charakter, die implizit an vielen Stellen entgegen der Konventionsabsichten doch vorgenommene qualitative Bewertung der Kulturformen nach Einmaligkeit, Authentizität und historischer Unveränderlichkeit (vgl. Lenski 2014: 102 f.) sowie an den langen Verfahren, hat durchaus eine gewisse Berechtigung. Der Einschätzung, dass die Erstellung des Verzeichnisses die Umsetzung der Konvention in Deutschland komplett ausmache (vgl. Schönberger 2017: 1), ist durch eine genaue Analyse der ersten vier Jahre der Konventionsimplementierung in Deutschland und unter Verweis auf die 35 konkreten Projekte, Programme und Strategien, die im Rahmen dieser Arbeit vorgestellt und kontextualisiert wurden, allerdings nicht zu folgen.

Zu den über die Inventarisierung hinausgehenden strukturell bedeutsamen Maßnahmen zählen die Einrichtung einer koordinierenden Geschäftsstelle bei der Deutschen UNESCO-Kommission, die maßgeblich Informations- und Öffentlichkeitsarbeit betrieben und als „Spinne im Netz“ (L, Interview am 15.11.2018) des entstandenen Politiknetzwerks fungiert hat, und eines ebenfalls bei der DUK angesiedelten Expertenkomitees; darüber hinaus die Benennung von Ansprechpersonen für das Thema in den Länder-Kulturministerien und die Einrichtung von evaluierenden Länderjurys in den meisten sowie von Länderverzeichnissen und landesgeförderten Beratungsstellen in einigen Bundesländern. Die Arbeit hat sich in Abschnitt 6.2. der Entstehung dieser Strukturen zur Umsetzung der Konvention gewidmet. Eine wichtige Rolle spielt in den aufgebauten Beratungs- und Informationsstrukturen die mit der Konvention und der Kommunikation über ihre Inhalte verbundene Ermunterung zu bzw. die mit den Anerkennungen verbundene Stärkung bürgerschaftlichen Engagements im kulturellen Bereich sowie die Betonung der sozialen bzw. gesellschaftlichen Funktion von Kultur. Sophie Lenski geht soweit, von einer „im weiteren Sinne der Verwaltung soziokultureller Gruppen“ (Lenski 2014: 104) dienenden Funktion bzw. potenziellen Nutzungsmöglichkeit der Konvention zu sprechen. Diese Erörterung der Funktion der UNESCO-Konvention zwischen den Polen einer im engeren Sinne kulturpolitischen Absicht mit teilhabe- bzw. demokratiefördernden Komponenten („Kultur von allen für alle“) und der Würdigung – bzw., negativ und überspitzt formuliert, Vereinnahmung – bürgerschaftlichen Engagements, also einer eher gesellschaftspolitischen Wirkung von Kulturpolitik, korrespondiert eng mit der erkenntnisleitenden Fragestellung dieser Arbeit (siehe Abschnitt 1.2. und 7.1.). Der Autor dieser Arbeit ist der Auffassung, dass die positiven Effekte dominieren und im Großen und Ganzen keine Absichten der staatlichen Stellen zu erkennen sind, entscheidend in die Dynamiken soziokultureller Gruppen einzugreifen.

Die Kommunen in Deutschland haben die Anerkennungen im Rahmen der UNESCO-Konvention zum Teil durchaus für eigene Motive instrumentalisiert, etwa eine Identitätsbildung, um die Bevölkerung emotional an den Ort zu binden oder auch um touristische Effekte zu erzielen (vgl. Burkhard 2015: 273). Einige der Länder der Bundesrepublik Deutschland haben die Konvention zudem genutzt, um ihre Heimatpflege zu modernisieren bzw. gewissermaßen in ein modernes, UNESCO-induziertes Konzept einzubetten. Bayern ist hier allen voran zu nennen, aber auch Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und mit Abstrichen Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen haben Schritte in diese Richtung getan bzw. im Betrachtungszeitraum zumindest eingeleitet. Die Einrichtung von Landesverzeichnissen des Immateriellen Kulturerbes ist dabei einerseits ein Mittel, um den stellenweise kritisierten allzu selektiven Charakter des deutschen Inventarisierungsweges abzumildern (vgl. Schönberger 2017: 7) – in Mecklenburg-Vorpommern zieht man allerdings, dies konterkarierend, andererseits einen Vergleich zum Sport, nämlich, dass dies einer Erweiterung des Verständnisses vom Immateriellen Kulturerbe als Leistungssport – gemeint ist die Auswahl für das Bundesweite Verzeichnis – um den Breitensport gleichkäme (vgl. Schmied 2017: 11). Dass die Länder allerdings das Immaterielle Kulturerbe gezielt und strategisch genutzt hätten, um „die Identitäten in den Bundesländern auf diese Weise [zu] stärken“ (Lenski 2014: 102) ist, mit wenigen Ausnahmen und auch dort höchstens in Ansätzen, nicht zu beobachten. Der Staat beschränkt sich, wie typischerweise im Kulturbereich, im Sinne prozeduraler Steuerung bei der Inventarisierung Immateriellen Kulturerbes weitgehend darauf, die Entscheidungsmodi festzulegen und auf diese Weise einen gewissen Einfluss auf die Richtung der Ergebnisse auszuüben, nicht aber die Ergebnisse an sich zu beeinflussen (vgl. Offe 1975: 93 und Braun/Griaud 2003: 169; siehe auch Abschnitt 5.1.5.). Darüber hinaus gibt es einige Maßnahmen, die sogar völlig unabhängig von staatlichen Eingriffen sind. Nichtsdestotrotz ist der Staat, wie im Kontext einer UNESCO-Konvention und im Kulturvölkerrecht auch kaum anders zu erwarten, ein zentraler Akteur, der die wichtigsten Ressourcen im Politikfeld verteilt.

7.1.2 Wirkung der Konventionsumsetzung auf die Kulturpolitik und ihre Akteure

Mit der zweiten Forschungsfrage sollte untersucht werden, wie sich die Beschäftigung mit dem Thema Immaterielles Kulturerbe auf die Kulturpolitik und ihre Akteure im deutschen Mehrebenensystem sowie ihr Zusammenwirken mit ihren jeweiligen Absichten und Zielen auswirkt. Allgemein ist festzuhalten, dass „[t]he 2003 Convention highlights and revitalizes intangible cultural heritage as an element of cultural policy on the national and sub-national level, and offers a platform for international cooperation“ (Merkel 2011: 56). Die Governance der Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes in Deutschland kann als „Kind ihrer Zeit“ interpretiert werden. Groß geschrieben wird der Wert Kooperation, zum einen zwischen Zivilgesellschaft und Staat – ein Policy-making unter solch engem Einbezug nicht-staatlicher Akteure wäre, zumal in einem Bereich mit Völkerrechtsbezug, einige Jahrzehnte früher wohl undenkbar gewesen, was den Wandel der politischen Entscheidungsstrukturen im Politikfeld demonstriert (vgl. Mayntz 1997: 241) –, aber zum anderen auch die Kooperation der staatlichen Ebenen untereinander. Nachdem in Abschnitt 6.2.2. die formal vorgesehenen Beziehungen beschrieben wurden, in Abschnitt 6.3.2.5. die faktischen Akteurskonstellationen erläutert wurden, sollen hier nun die von letzteren nicht weit abweichenden sich in funktioneller Hinsicht als optimal herausgestellten Beziehungen (vgl. Mayntz 1980: 9) dargelegt werden: Die verschiedenen staatlichen Ebenen und die mitwirkende Zivilgesellschaft inklusive der Experten haben bei der Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes in Deutschland fast modellhaft ihre Rollen im Zusammenspiel eingenommen und kooperieren in ihren einander ergänzenden Zuständigkeiten in diesem Netzwerk zum ganz überwiegenden Teil reibungslos und geradezu beispielhaft miteinander:

Die Deutsche UNESCO-Kommission, die als e. V. nicht Teil der staatlichen Verwaltung ist, allerdings neben renommierten Einzelpersonen und wichtigen gesellschaftlichen Institutionen auch Vertreter von Bund und Ländern in ihren Steuerungsgremien aufweist und Zuwendungsempfängerin des Bundes ist, wirkt als intermediäre Institution zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Sie ist vermittelnder und koordinierender Akteur, der weder dem Bund noch den Ländern zugehörig ist, und gestaltet so als weitgehend unparteiische Schaltzentrale erfolgreich die nationale Umsetzung. Die Deutsche UNESCO-Kommission als Mittlerorganisation der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik mit Plattformcharakter für die in Deutschland vorhandene Expertise in den UNESCO-Themenfeldern konzentriert sich zum einen auf die Unterstützung der Erhaltung Immateriellen Kulturerbes durch alle daran interessierten Akteure und zum anderen auf die Bündelung von Expertise. Ihr grundlegendes Interesse an einer effektiven deutschen Mitwirkung an der UNESCO-Arbeit wird durch diese Rolle gut bedient. Zudem kann sie mittels dieser zentralen Position im Rahmen der nationalen Umsetzung der 2003er-UNESCO-Konvention auch ihre Position im Kulturpolitikfeld insgesamt stärken.

Nach dem die deutsche Politik prägenden Subsidiaritätsprinzip und der grundlegenden Zuständigkeit der Länder für Kultur sind diese folgerichtig erste Ansprechpartner für die Trägergruppen Immateriellen Kulturerbes und Adressat der Bewerbungen aus der Zivilgesellschaft, sowie zum Teil aus der kommunalen (Selbst-)Verwaltung, für das Bundesweite Verzeichnis. Die Initiativmöglichkeit von zivilgesellschaftlichen Gruppen und der kommunalen (Selbst-)Verwaltung schafft ein im (Kultur-)Völkerrecht sehr partizipatives Element, das einer modernen Governance von Kulturpolitik in Deutschland entspricht. Den zum Teil gänzlich neuen Akteuren im Politikfeld geht es insbesondere um eine Anerkennung und Würdigung.

Die Länder konnten im Kontext des Immateriellen Kulturerbes ihre strategisch wichtige Position behaupten und sich einen entscheidenden Zugriff auf die Ausgestaltung der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention sichern. Außerdem gewannen sie die Möglichkeit mit diesem Instrument eine potenziell identitätsstiftende Kulturpolitik im eigenen Verantwortungsbereich zu gestalten. Die Vorsortierung der eingehenden Vorschläge für das weitere Inventarisierungsverfahren erfolgt in jeweils eigener Zuständigkeit der Länder nach dem Prinzip der Plausibilitätsprüfung, d. h. eine Prüfung von formalen Kriterien, in Kombination mit einem Qualitätsurteil, das allerdings durch das Föderalismusprinzip mit festen Quoten pro Bundesland relativiert wird.

Die eigentliche unabhängige fachliche Qualitätsprüfung der Vorschläge für das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes geschieht auf der dritten Stufe des Verfahrens durch eine von Länderproporz weitgehend unabhängige fachliche Bewertung des bei der DUK eingerichteten unabhängigen Expertenkomitees. Die Entscheidung über Aufnahmen in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes haben Länder und Bund also in der Tradition klassischer öffentlicher Kulturförderung – Schaffung von Rahmenbedingungen, Bereitstellung von Ressourcen und Ermöglichung von kreativer Entfaltung unter Betonung einer weitgehenden Nichteinmischung (vgl. Lembke 2017: 206) – nicht selbst übernommen. Die staatlichen Akteure verlassen sich, wie auch bei Kulturförderentscheidungen üblich, auf eine Prüfung von formalen Kriterien durch die Kulturverwaltungen und ein Votum von Expertenjurys. Die Experten können sich, da sie nicht die Letztentscheidung über Aufnahmen treffen müssen, relativ frei von öffentlichem Druck ihren Kompetenzen entsprechend inhaltlich mit den Bewerbungen befassen. Sie versachlichen Debatten und treffen weitgehend neutrale Entscheidungen (vgl. Benz 2016: 52, 63 f.). Sie bereiten dadurch die Lösungen vor und statten diese auf Basis ihres Sachverstands mit der entscheidenden Legitimation aus (vgl. Kropp 2010: 26). Die Fachleute übernehmen also die Rolle der fachlichen Bewertung der eingehenden Bewerbungen und damit der Beratung von Politik und Verwaltung. Dies sichert letztere gegen die potenzielle Kritik politischer Einflussnahme ab, erstere können inhaltlichen Einfluss im kulturpolitischen Feld geltend machen.

Die demokratische Legitimation der fachlichen Urteile geschieht auf der vierten Stufe des Verfahrens durch ein Benehmen von Bund (BKM) und Ländern. Dieses bezieht sich auch auf die Entscheidung über UNESCO-Nominierungen, die dann im Anschluss fachlich zwischen den Trägergruppen und der DUK-Geschäftsstelle erarbeitet und schließlich vom Auswärtigen Amt auf offiziellem (zwischen-)staatlichen Wege eingereicht und in den internationalen Gremien vertreten werden. BKM handelt also vor allem in Ausgestaltung des nationalen Verfahrens und hat nach seiner Etablierung 1998 dadurch eine weitere Mitgestaltungsmöglichkeit in der gesamtdeutschen Kulturpolitik im Verhältnis zu den Ländern erlangt, während das AA die internationale Komponente der Konventionsumsetzung eng begleitet und damit sein Tätigkeitsfeld der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik weiterhin quasi exklusiv verteidigt. Im DUK-Expertenkomitee sind die staatlichen Akteure, auch die Kommunen als Teil der Länder, zwar bereits mit Beobachterstatus vertreten. Die staatlichen Stellen haben sich die Letztentscheidung über eine Anerkennung dennoch vorbehalten und legitimieren diese damit auch demokratisch – ein Aspekt, der die Wirkung der Anerkennung symbolisch erhöht und damit für die Trägergruppen attraktiver macht. Diese Entscheidung erfolgt in Form einer von Ländern und Bund im Benehmen miteinander hergestellten Bestätigung der Empfehlungen der Experten und legt damit, wenn auch nicht die faktische, sondern doch die moralische Hürde, diesen Empfehlungen zu widersprechen und damit die aggregierte Expertenmeinung zu desavouieren, sehr hoch.

Das gesamte Verfahren und die damit verbundenen Kommunikations- und Interaktionsprozesse, die verschiedenen, zum Teil sich widersprechenden, Steuerungslogiken folgen, sind zweifelsohne komplex und kompliziert. Nach aktuellem Stand sorgt die Umsetzung der Konvention in Form der Inventarisierung aber keineswegs für unbefriedigende Lösungen, die sich aus dieser Politikverflechtung durchaus ergeben könnten. Die Politikergebnisse führen ganz im Gegenteil zu Zufriedenheit bei den meisten Akteuren und werden ganz überwiegend als adäquate Lösungen und nicht als Probleme oder Konfliktfaktoren wahrgenommen (vgl. Scheller/Schmid 2008: 8). Der kooperative Bundesstaat, unterstützt von Expertengremien, dominiert im Verfahren und zeigt sich als handlungsfähig. Er eröffnet durch die Aushandlungsprozesse auch Diskurs- und Kommunikationsforen, die für eine gesellschaftliche (Selbst-)Verständigung genutzt werden können (vgl. Scheller 2008: 27 f.; siehe auch Abschnitt 5.1.4.).

Man kann sagen, dass der Staat das neue Politiknetzwerk mit einer Mischung aus etablierten Akteuren der verschiedenen staatlichen Ebenen und ganz neuen gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen bewusst geschaffen oder zumindest seine Konstituierung gefördert hat, um über eine passende Steuerungsstrategie für die nationale Umsetzung der Konvention zu verfügen (vgl. Mayntz 1997: 202 sowie Jann/Wegrich 2003: 74; siehe auch Abschnitt 5.1.6.). Das Inventarisierungsverfahren insgesamt zeigt mit seiner Beteiligung vieler verschiedener Akteure bis hin zur Zivilgesellschaft mit überwiegend für alle Beteiligten befriedigenden Ergebnissen eindrücklich die Vorzüge eines funktionierenden kooperativen Föderalismus.

Mit den Trägergruppen Immateriellen Kulturerbes sind zum Teil neue Akteure im Feld der Kulturpolitik aufgetaucht, deren (Binnen-)Strukturen weitgehend unbekannt sind und die oft auch im Inventarisierungsverfahren eine black box blieben. Eine Analyse erster Tendenzen zu deren erfolgreicher Integration ins Politikfeld besagt, dass eine enge Zusammenarbeit zwischen (lokaler) Verwaltung und Zivilgesellschaft bzw. auch eine Unterstützung der (lokalen) Politik ein wichtiger Erfolgsfaktor ist. Dass es aber, ähnlich übrigens wie beim UNESCO-Welterbe, auch möglich ist, als einzelner „Kulturerbeaktivist“ (Tauschek 2013: 94) an entscheidenden Stellen so viel Überzeugungsarbeit zu leisten, dass eine Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe erreicht wird, zeigt, dass es im deutschen Verfahren noch Defizite in der Frage der adäquaten Beteiligung der Trägergruppen und -gemeinschaften gibt. Zugleich war die Wirkung auf die Trägergruppen zum Teil anders als beabsichtigt: Viele empfanden das Inventarisierungsverfahren eher als Prüfung und Wettbewerb denn als Bestandsaufnahme und würdigenden Reflexionsprozess.

Trotz des weitgehend harmonischen Miteinanders der kulturpolitischen Akteure bei der Umsetzung der UNESCO-Konvention konnte im Rahmen dieser Arbeit gezeigt werden, dass diese keineswegs mit einer einheitlichen Problem- und klaren Zieldefinition in die nationale Umsetzung der UNESCO-Konvention eingestiegen sind. Gertraud Koch spricht von einer „Nolens-volens-Entwicklung“ (E2, Interview am 25.10.2018). Auch die für eine konsistente Programmformulierung notwendige Verständigung über beabsichtigte Wirkungen erfolgte nur rudimentär. Einzig den „Durchführungsteil“ (Jann 1981: 49) dieser vier Elemente, also welche Institutionen mit welchen Aufgaben betraut werden, hatte man im Vorfeld – das heißt bis zum Jahr 2012 – ausführlich diskutiert. (siehe auch Abschnitt 5.1.5.) Die Akteure sind – insbesondere im Hinblick auf die öffentliche Wirkung der Inventarisierung – mit unterschiedlichen Interessen und Absichten in diese Umsetzung eingestiegen und haben die Strukturen und Prozesse für unterschiedliche Absichten und Ziele genutzt, die sich zum Teil durchaus widersprechen. Beachten muss man dabei auch, dass „[d]as Governance-Feld des Erbeschutzes […] Handlungsräume [eröffnet], die auch für andere als die von der UNESCO definierten Ziele genutzt werden können“ (Eggert/Peselmann 2015: 157). Immaterielles Kulturerbe kann zweifellos auch als Ressource für politische, soziale und wirtschaftliche Interessen interpretiert und sollte stets mindestens auch aus diesem Blickwinkel mit untersucht werden (vgl. Eggert/Mißling 2015: 74). Nach einer gewissen Zeit der Umsetzung des Instruments ergibt sich in Deutschland inzwischen das Dilemma, dass sich das weitere Vorgehen nach den ersten Erfahrungen zwischen den verschiedenen Akteuren schwierig gemeinsam bestimmen lässt, da man sich – nun verspätet – erst einmal wirklich auf Ziele und beabsichtigte Wirkungen der deutschen Mitwirkung verständigen muss.

Die im Rahmen dieser Arbeit befragten Experten sind sich weitgehend einig, dass sich der Aufwand, die Konvention in Deutschland in einem nach Zuständigkeiten fein ziselierten System umzusetzen, gelohnt hat und – auch wenn an der ein oder anderen Stellschraube zu drehen sein wird – weiterhin lohnt. Bedingung für eine längerfristige Wirkung ist nach dieser Auffassung eine Kontinuität in der Umsetzung. (vgl. u. a. K, Interview am 01.11.2018) Kritisch kann man einerseits anmerken, dass sich mit der UNESCO-Konvention von 2003 und ihrer nationalen Umsetzung der Staat bzw. in Deutschland die verschiedenen staatlichen Akteure, erstmals regulativ in einen Kulturbereich „eingemischt“ haben bzw. diesen für sich vereinnahmen, bei dem sie bisher außen vor waren (vgl. Mißling 2010: 96 f., 105 ff.). Es ergibt sich damit also ein spezifisches neues Verhältnis zwischen staatlicher Kulturpolitik und zivilgesellschaftlich geprägter Kulturpraxis. Man kann sich andererseits aber auch fragen, ob aus der Aufgabe der Umsetzung der Konvention und des Umgangs mit sowie der Auslegung von Immateriellem Kulturerbe in Deutschland bereits ausreichend viel kulturpolitisch gemacht wurde. Insbesondere das Potenzial des partizipatorischen Momentums und der Chance zur gesellschaftlichen Selbstverständigung aus einer anderen Perspektive scheint noch nicht vollkommen ausgeschöpft zu sein. (vgl. Koslowski 2015b: 34) Auch die Hoffnung verschiedener Experten und Wissenschaftler, unter anderem von Wolfgang Schneider (2014b: 196, siehe auch Dok. 18: DUK-Arbeitspapier 2012), dass die (Länder-)Kulturpolitik sich im Kontext der Konventionsumsetzung, von weltweiten Impulsen inspiriert, Reformen unterzieht und einen Paradigmenwechsel einleitet, ist bis dato nicht eingetroffenen. Zwar ist durchaus etwas in Bewegung gekommen in den 2010er Jahren, denn heute wird zivilgesellschaftliches und in ländlichen Räumen verortetes Kulturschaffen zunehmend gewürdigt, aber hierzu hat das Immaterielle Kulturerbe wohl nur marginal beigetragen, war also nicht der entscheidende Reformtreiber.

7.1.3 Teilhabe an Kunst und Kultur als Ziel, Aufgabe und Gegenstand der Umsetzung der UNESCO-Konvention in Deutschland?

Bei der dritten Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit ging es um eine Gesamtbetrachtung, inwiefern es Ziel, Aufgabe und Gegenstand der Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes in Deutschland ist, die Teilhabe an Kunst und Kultur zu verbreitern. Zum einen bietet Immaterielles Kulturerbe die Gelegenheit, mithilfe einer Ausweitung des Kulturverständnisses in Deutschland die kulturelle Partizipation breiter Bevölkerungsgruppen zu stärken und dadurch etablierte Kulturbegriffe aufzubrechen bzw. zu erweitern. Der Text des Übereinkommens mit starker Betonung auf Partizipation und Mitwirkung der Gemeinschaften und Gruppen, ggf. auch Einzelpersonen, der sich insbesondere im Art. 15 artikuliert, legt zum anderen nah, dass in seiner Umsetzung zivilgesellschaftliches Engagement aktiviert und gewertschätzt wird. Kulturelle Teilhabe möglichst vieler Menschen wird damit nicht nur begrüßt, sondern gar eingefordert. (vgl. Koslowski 2015b: 38) Die Frage ist allerdings: Gelingt die Übertragung dieser Absichten in der nationalen Umsetzung in Deutschland?

Allein durch die Trägerschaft einer selbst definierten, zivilgesellschaftlichen Gruppe in Bezug auf die jeweiligen Kulturformen und die Erstellung des Bundesweiten Verzeichnisses als Bottom-up-Prozess ist der Teilhabeaspekt beim Immateriellen Kulturerbe sehr ausgeprägt und „im Kontinuum der kulturellen Teilhabe zwischen rezeptiver Betrachtung und aktiver Betätigung […] als hochgradig partizipativ zu bewerten“ (Rieder 2019: 144). „Diese offene und partizipative Form der Verzeichniserstellung kann auch als Einladung an breite Bevölkerungsschichten verstanden werden, an Kunst und Kultur teilzuhaben.“ (Hanke 2019: 147) Dass zudem neue Akteure ins Feld der Kulturpolitik eingetreten sind, etwa in den Bereichen Handwerk, Naturwissen, aber auch Bräuche, ist ein deutliches Zeichen, dass kulturelle Teilhabe nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ gestärkt wurde.

Charakteristikum der Formen des Immateriellen Kulturerbes ist allerdings, dass sie bereits seit Generationen praktiziert werden und daher nun als kulturelles Erbe anerkannt werden können. Durch die Anerkennung entstehen allerdings nicht unmittelbar neue Teilnehmerzahlen an kulturellen Angeboten, wie das bei der Gewinnung neuer Publika für Theater- oder Orchestervorstellungen oder neuer Besucher in Museen der Fall ist, sondern die Gruppe der auch schon bisher aktiv und passiv an den Kulturformen Partizipierenden wird faktisch nur in eine neue Schublade gesteckt. Dies ist im Grunde eine Aufwertung von bisher marginalisierten Kulturakteuren. (vgl. Hanke 2019: 147)

Das Augenmerk des Immateriellen Kulturerbes auf Alltags- bzw. Breitenkultur und gesellschaftliches Wissen und Können ist in gewisser Weise eine Fortführung der Ausweitung von Kulturangeboten und -förderung unter dem Stichwort „Kultur für alle“ mit dem Vormarsch der Soziokultur und ihrer Orientierung am kulturellen Durchschnittskonsumenten in den 1970er und 80er Jahren (vgl. von Beyme 2012: 11) sowie der damit bereits verbundenen Ausweitung des Kulturbegriffs. Es handelt sich dieses Mal allerdings nicht um eine Schaffung neuer Kulturangebote, sondern um eine Ausweitung der Anerkennung von bestehender Kulturpraxis. Immaterielles Kulturerbe kann ‚Hochkultur‘ sein, aber auch ‚Breitenkultur‘. Man kann sie als „Kultur von allen mit allen für alle“ bezeichnen. Dies passte gut in den Zeitgeist der Kulturpolitik zur Zeit des deutschen Beitritts im Jahr 2013. Michael Wimmer spricht unter Sparzwängen und im Kontext des, zumindest gefühlten, Abbaus des Wohlfahrtstaats von einer Wandlung hin zur „Kultur mit allen“:

„Und so machen sich staatliche Akteure auf die Suche nach PartnerInnen aus der Zivilgesellschaft, um mit ihnen gemeinsam die Rahmenbedingungen für eine ‚aktivierende Kulturpolitik‘ zu definieren. […] Ihre Handlungsfelder umfassen Freiwilligenarbeit, bürgerschaftliches und ehrenamtliches Engagement.“ (Wimmer 2011: 82)

Die Umsetzung der Konvention in Deutschland ist also auch in dieser Hinsicht ein „Kind ihrer Zeit“ bzw. passt in ihrer Würdigung des bürgerschaftlichen Engagements und der wichtigen Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure gut in die vorherrschende Lesart von Kulturpolitik.

Darüber hinaus hat allein der Umgang mit dem Immateriellen Kulturerbe und die positive Wertschätzung, die es mittlerweile erfährt, das Kulturverständnis in der Politik in Deutschland zumindest graduell bereits geändert.

„Die UNESCO-Konvention bricht die gängigen Argumentations- und Handlungsmuster der Kulturförderung nicht zuletzt dadurch auf, dass sie die zentrale Bedeutung der Gemeinschaften, Gruppen und Individuen bei der Inwertsetzung des immateriellen Kulturerbes hervorhebt: Der Prozess der Erbwerdung kulturellen Tuns wird nicht mehr als Privileg von Eliten aus Politik, Verwaltung oder Wissenschaft verstanden. […] Die Betonung des zivilgesellschaftlichen Beitrags jenseits der Fachexpertise und jenseits politischer und administrativer Entscheide ist ein Spezifikum des UNESCO-Übereinkommens, durch das es sich von anderen abhebt. Die Konvention aktiviert zivilgesellschaftliches Engagement und begrüsst ausdrücklich kulturelle Teilhabe, die keine privilegierte Position der Erkenntnis voraussetzt und auf die Mitgestaltung des kulturellen Lebens von möglichst vielen Menschen abzielt. […] Die Konvention […] rüttelt an einem Verständnis von Kulturförderung, das bislang die kulturell-gesellschaftliche Leistung des kulturellen Schaffens von Laien marginalisierte.“ (Koslowski 2015a: 49)

Viele der Formen des Immateriellen Kulturerbes bauen auf bürgerschaftlichem und ehrenamtlichem Engagement auf. Dies hat der Staat – Bund und Länder –, anders als die Kommunen, in Deutschland im kulturellen Bereich bis dato kaum gefördert und daher inhaltlich in der Kulturpolitik auch kaum im Blick gehabt. Die Ländervertreterin im DUK-Expertenkomitee Susanne Bieler-Seelhoff weist darauf hin, dass sich gesellschaftspolitisch in den letzten zwanzig Jahren viel getan habe:

„Die Kultur in den ländlichen Räumen ist bei allen Ländern, bis auf die Stadtstaaten natürlich, viel stärker in den Fokus gerückt worden und damit auch kleinere Kultureinrichtungen, Kulturprojekte, die es immer schon gab, die existiert haben, die feste Bestandteile ihrer Gemeinde waren, die aber vielleicht, ganz bestimmt, nicht im Förderfokus von Ländern standen, weil sie eben eine sehr ortsbezogene regionale Bedeutung hatten, und Länder ja in der Regel fördern, was von Landesinteresse ist oder beispielhaft für das Land ist.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Insofern kann man erneut feststellen, dass die UNESCO-Konvention bzw. ihre Umsetzung in Deutschland durchaus zu einem günstigen Zeitpunkt kamen, da sie in vielen Fällen die Stärkung der Kultur in ländlichen Räumen und der zivilgesellschaftlichen bzw. gemeinnützigen Komponente des Kulturpolitikfelds erfolgreich flankierten.

Auf die Frage, warum der Staat in unserem politischen System Kultur fördert, antwortete Oliver Scheytt unter Bezug auf drei Bereiche: „Die Künste leben vom Wagnis, entfalten Visionen, geben dem Experiment Raum und stärken den Eigen-Sinn der Individuen. Kulturelle Bildung entfaltet künstlerische und schöpferische Impulse, sie fördert gesellschaftliche Handlungskompetenz, soziale und politische Mündigkeit. Geschichtskultur tradiert, reflektiert und inszeniert Historie im Spektrum von Aufklärung, Bildung, Wissenschaft und politischer Verantwortung, Ästhetik und spielerischer Aneignung.“ (Scheytt 2010: 27) Das Immaterielle Kulturerbe lässt sich keinem dieser drei Bereiche – Künste, kulturelle Bildung und Geschichtskultur – eindeutig zuordnen. Die einzelnen Kulturformen haben aber durchweg bedeutende Anteile von einem, zwei oder gar allen dreien der genannten Bereiche. Immaterielles Kulturerbe kann daher in diesem Querschnittssinne als legitimer Teil von fördernder Kulturpolitik begriffen werden, was aber eben vor dem deutschen Konventionsbeitritt nicht auf dem kulturpolitischen Radar war.

Dies kann man unter anderem mit Blick auf die dominierenden Begriffsverständnisse von ‚Politik‘ und ‚Kultur‘, das heißt die jeweiligen weiten bzw. engen Begriffe, und ihre Kombination miteinander als wichtige Determinanten von konkreter Kulturpolitik, erklären. Bis in die 1960er-Jahre dominierte in Deutschland eine Kombination aus engem Kulturbegriff (Kultur als Kunst) und engem Politikbegriff (Politik als staatliches Handeln), die inzwischen von einem nach wie vor dominanten engem Kulturbegriff in Kombination mit einem weiten Politikbegriff (Politik sowohl als staatliches als auch gesellschaftliches Handeln) abgelöst wurde. Sollte sich zunehmend der UNESCO-induzierte weite Kulturbegriff (Kultur im Plural als Sitten, Gebräche, Lebensweisen der Menschen) durchsetzen, indem u. a. das Immaterielle Kulturerbe verstärkt Anerkennung als Teil von Kultur und Kulturpolitik findet, z. B. auch wie in Frankreich als Teil der Kulturstatistik, und zudem kulturpolitische Interventionen im ländlichen Raum selbstverständlich zum Aktivitätenportfolio von Kulturpolitik gehören, wird dies das Wesen von Kulturpolitik in Deutschland langfristig erneut verändern. (vgl. Klein 2009: 65 f.) Trotz eines im Vergleich mit anderen Politikfeldern geringen Etats hätte Kulturpolitik so die Gelegenheit, weiter an Anerkennung und als bedeutend für Gesellschaftspolitik zu gewinnen. Denn das Immaterielle Kulturerbe bietet die Chance,

„den eigenen Sinn für kulturelle Praktiken zu schärfen, die unsere gegenwärtige Gesellschaft prägen und die wir im Hinblick auf unser kulturelles Miteinander für wertvoll erachten. […] So lässt sich die Konvention als Instrument zur gesellschaftlichen Selbstverständigung verstehen und nutzen.“ (Koslowski 2015b: 38)

Durch den Beitritt zur Konvention und die folgenden Umsetzungsprozesse ist sicher noch kein umfassender Wandel des Kulturbegriffs in Deutschland erfolgt, jedoch wurde eine entsprechende Sensibilisierung angestoßen. Beachtenswert im Hinblick auf das Ziel kultureller Teilhabe durch die Umsetzung der UNESCO-Konvention ist die für das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes erfolgte Kreation einer neuen (Unter-)Kategorie der „Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation“. Dies findet sich im UNESCO-Kontext und in anderen Staaten nicht so explizit als Bereich, in dem Immaterielles Kulturerbe zum Ausdruck kommt. Wenngleich sich dies relativ spontan aus den ersten Einreichungen aus der Zivilgesellschaft, u. a. der Genossenschaftsidee und -praxis, ergab und diese Kategorie vom DUK-Expertenkomitee relativ geräuschlos und ohne formalen staatlichen Beschluss eingeführt wurde, kommt dadurch ein Verständnis der nationalen Umsetzung der 2003er-UNESCO-Konvention zum Ausdruck, das die Organisation von Gesellschaft in Deutschland und die Beteiligung der Menschen an gesellschaftlichem bzw. kulturellem Leben als relevanten Faktor betrachtet. Dies mag auf die öffentliche Wahrnehmung des Immateriellen Kulturerbes und seines Beitrags zu kultureller Teilhabe durchaus, zumindest indirekt und mittelfristig, Einfluss nehmen.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass kulturelle Teilhabe mit der deutschen Umsetzung der UNESCO-Konvention im Grunde fast en passant, ohne bewusste dahinterstehende Absicht der meisten politischen Akteure, erhöht wurde, das heißt, ohne dass dies von Anfang an strategisch ein bewusstes Motiv der nationalen Umsetzung war. Es müsste an anderer Stelle bzw. in weiteren Studien genauer untersucht werden, ob es sich bei kultureller Teilhabe um ein tief verinnerlichtes Ziel der deutschen Kulturpolitik handelt und daher stets implizit mitgedacht und damit auch konzeptionell verfolgt wird, wenn neue Maßnahmen im Politikfeld ergriffen werden. Oder wird es vielleicht so bewusst dann doch nicht von den kulturpolitischen Akteuren als Ziel verfolgt, weil andere kunst(sparten)immanente Ziele dominieren? Für letztere These spräche, dass gerade im Bereich des kulturellen Erbes häufig eher eine Fokussierung auf Objekte festzustellen ist, so dass kulturelle Teilhabe als Ziel hier bislang eher nicht auf dem Schirm war. ‚Kulturerbe‘ wird in Deutschland i. d. R. bisher wenig inklusiv interpretiert, stattdessen wird eher versucht, einen Nimbus von Exklusivität zu schaffen. Das Interesse richtet sich auf das Kulturerbe an sich – und nicht auf die damit in Verbindung stehenden Trägergruppen bzw. die Anlieger von Erbestätten. Dieser Umgang mit kulturellem Erbe steht dem Immateriellen Kulturerbe nach UNESCO-Verständnis wie auch dem Ziel, der Erhöhung kultureller Teilhabe durch eine Kulturpolitik für das Immaterielle Kulturerbe entgegen. Zwar waren sich die meisten beteiligten Akteure auch anfangs wohl schon bewusst, dass Gruppen auf den Plan treten würden, mit denen Kulturpolitik bisher wenig Berührung hatte. Aber die verwunderten oder gar belustigten Reaktionen über die UNESCO-Listungen vor dem deutschen Beitritt etwa in verschiedenen Medienberichten und die ersten deutschen Verzeichniseintragungen in Fachkreisen ließen dann doch darauf schließen, dass man nicht mit der Andersartigkeit der neuen Kulturträgerschaften gerechnet hatte. Bei der Untersuchung der hier betrachteten Forschungsfrage muss man daher auch das konkrete Begriffsverständnis von ‚kultureller Teilhabe‘ im jeweiligen Kontext genau unter die Lupe nehmen: Kulturelle Teilhabe wird in Deutschland noch immer häufig in Bezug auf klassische Kunst- und Kulturangebote und den Zugang des Publikums zu diesen verstanden, also Theateraufführungen, Museumsbesuche usw. Um kulturelle Teilhabe tatsächlich aktiv mittels der Umsetzung der UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe zu fördern, müsste sich als Vorbedingungen dieses Verständnis im Politikfeld zunächst erweitern.

Das Potenzial des Instruments Immaterielles Kulturerbe in Bezug darauf, Teilhabe an Kunst und Kultur zu ermöglichen und bürgerschaftliches Engagement zu fördern und wertzuschätzen, wird in der deutschen Kulturpolitik also noch nicht voll ausgeschöpft. Zum einen hat der Bund unter den hier relevanten Akteuren erkennbar am wenigsten Interesse, dieses Ziel mittels der nationalen Konventionsumsetzung zu verfolgen. Zum anderen bedienen die verschiedenen Bundesländer das Thema recht unterschiedlich – während Bayern oder Nordrhein-Westfalen, aber auch Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern, ihre Trägergruppen auf verschiedenen Wegen würdigen und zum Teil auch materiell oder durch Aktionen, die öffentliche Aufmerksamkeit generieren, fördern, sind bisher etwa im Saarland oder in den Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen keine oder sehr überschaubare Angebote für die Trägergruppen auszumachen. Unterschiede definieren sich zum Teil auch darüber, ob man kulturelle Teilhabe und kulturelle Bildung eben auch in Bezug auf gewachsene Regionalkultur (vgl. Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft 2015: 50) definiert, wie es einige ländlich geprägte Bundesländer durchaus tun, während andere, wie gezeigt, beide Konzepte tendenziell nur in Bezug auf Hochkultur anwenden. Einige Länder haben dagegen verstanden, dass im Sinne kultureller Teilhabe das Immaterielle Kulturerbe gerade in peripheren Regionen eine große Rolle bei der Aktivierung und partizipativen Mitwirkung an Gemeinschaftsaktivitäten spielen kann: „Dort wo ein konsumierbares Kunst- und Kulturangebot fern ist, ist die Partizipation entscheidend.“ (Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft 2015: 50)

Ein Fakt oder – je nach Perspektive – auch Problem ist, dass die Aktivitäten zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland eben regional sehr unterschiedlich verteilt sind. Am sichtbarsten wird dies durch die hohe Zahl bayerischer Einträge im Bundesweiten Verzeichnis und auch durch die Existenz von Landeslisten in einigen Bundesländern bis hin zu gar keiner Sichtbarkeit von Formen Immateriellen Kulturerbes in anderen Bundesländern.

„Die Schwäche sehe ich darin, dass es nicht ausgewogen ist. Nicht ausgewogen zwischen den Kategorien [die in der Konvention aufgeführten Bereiche des Immateriellen Kulturerbes; Anm. d. Verf.], nicht ausgewogen zwischen den Ländern. Aber ich meine, wir haben ja noch nicht mal zehn Jahre hinter uns.“ (B, Interview am 05.11.2018)

Allein aufgrund der weiteren Dynamik von Aufmerksamkeit und Anerkennungen für eine breitere Palette von Kulturformen ist beispielsweise Gertraud Koch optimistisch:

„Insofern denke ich, dass wir mehr Landeslisten bekommen werden, auf der ganz praktischen Ebene, dass sich diese Idee, dass Immaterielles Kulturerbe vielleicht vor allem in Süddeutschland verbreitet ist, so langsam auflösen wird und [wir] dann eben auch hier im Norden entsprechend Aktivitäten bekommen werden, die versuchen, tatsächlich auch Teil von den Listen zu werden.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Auch der Vertreter der Kommunen im Expertenkomitee denkt in diese Richtung:

„Fände ich gut, wenn alle Länder oder überall, die es für relevant halten [ein Landesverzeichnis einrichten]. Und ich finde, ich kenne kein Land in Deutschland […], was nicht in der Hinsicht auch was zu bieten hätte. Also, wüsste ich nicht. Gerade die ganzen mitteldeutschen Länder, Küstenländer sowieso.“ (K, Interview am 01.11.2018)

Im Übrigen äußern sich auch die in dieser Arbeit befragten Kulturträgergruppen häufig an einer differenzierenden Listungssystematik mit Landes- und Bundesverzeichnissen interessiert.

Die Beteiligung der Zivilgesellschaft an Kultur und die Mitwirkung an Kulturpolitik, zum Beispiel über ehrenamtliches Engagement, muss durch Instrumente der Kulturförderung ermöglicht werden – hier funktionieren die politischen Maßnahmen (Projekte, Programme und Strategien), die zur Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes eingesetzt werden, insbesondere die sehr offene Einladung sich am Inventarisierungsverfahren zu beteiligen, bisher insgesamt durchaus recht gut. Dann, so zeigt sich, können Konzepte und Instrumente, mit denen Kulturpolitik gemacht wird, wie eben die Anerkennung von Formen Immateriellen Kulturerbes, auch neue Formen kultureller Partizipation ermöglichen. Die verschiedenen Logiken, nach denen das Bundesweite Verzeichnis erstellt wird, konfligieren in dieser Hinsicht allerdings gelegentlich miteinander: Der Kulturföderalismus blockiert stellenweise die kulturelle Teilhabe, wenn allein aufgrund von zahlenmäßiger Beschränkungen für die Länder bei der Weiterleitung von Vorschlägen verhindert wird, dass Aktivitäten zur Erhaltung Immateriellen Kulturerbes gewürdigt werden können. Eine ähnliche Problemkonstellation kennt man in der Schweiz (vgl. Graezer Bideau 2012: 307). Ebenfalls von dort bekannt, ist, dass geographische, konfessionelle und wirtschaftliche Faktoren eine Rolle spielen, wie viele Vorschläge für das nationale Verzeichnis aus den jeweiligen Regionen kommen. Tendenziell fühlen sich urban geprägte, protestantische und stärker industrialisierte Regionen eben weniger vom Immateriellen Kulturerbe betroffen. (vgl. Graezer Bideau 2012: 309) Anders gesagt, hier in Anlehnung an einen im Mai 2017 gehaltenen Vortrag von Stefan Koslowski, der die Inventarisierung Immateriellen Kulturerbes in der Schweiz koordiniert: Trägerschaften, jenseits eines brauchorientierten Verständnisses des Immateriellen Kulturerbes fühlen sich von der Definition und dem Kontext des Immateriellen Kulturerbes bisher eher nicht angesprochen. Auch der Organisationsgrad ist hierfür mitentscheidend, denn diese brauchorientierten Trägerschaften sind zweifellos besser organisiert als lebendige Traditionen im urbanen Raum oder Gruppen, die auf Traditionellem basierend viel Neues wagen. Eine direkte persönliche Ansprache möglicher Trägerschaften, Verantwortungsträger und Multiplikatoren verspricht den größten Erfolg. Kulturakteure der zeitgenössischen Kulturszenen scheinen zudem Berührungsängste zu den Trägerschaften des Immateriellen Kulturerbes zu haben. Diese, und sei es projektartig, zusammenzuführen, könnte künftig ein lohnendes Unterfangen für beide Seiten darstellen. In Diskursen über kulturelle Teilhabe ergeben sich Möglichkeiten, Immaterielles Kulturerbe als integralen Bestandteil von Kulturleben mit zu berücksichtigen. Dafür sollten kulturpolitische Bezüge zu kultureller Vielfalt, materiellem Kulturerbe, Kulturförderung und kultureller Teilhabe bewusst geschaffen werden.

Die vorliegende Arbeit hat gezeigt, dass diese Erkenntnisse aus der Schweiz nahtlos auf Deutschland übertragbar sind. Die grundlegenden Herausforderungen in vergleichbaren inhaltlichen, zeitlichen und räumlichen Kontexten sind also mehr oder weniger unabhängig vom konkreten Politiknetzwerk und der Wahl der Politikinstrumente.

Schließlich noch ein Hinweis in Bezug auf die Grenzen von kultureller Teilhabe: Einbeziehung hat stets auch eine Kehrseite, nämlich den Ausschluss Dritter. Zwar trägt Immaterielles Kulturerbe gesamtgesellschaftlich zu größerer Teilhabe an Kultur bei, aber durch die Definition von mehr oder weniger festen Trägergruppen erfolgt in Bezug auf eine Kulturform immer auch eine Abgrenzung, die folglich Ausschlüsse produziert und Teilhabe im Kleinen sogar entgegenwirken kann. Diesen limitierenden Faktor gilt es in der Abwägung mit Blick auf die Untersuchung einzelner Phänomene stets zu beachten. (vgl. Rieder 2019: 143)

7.1.4 Öffnung der Perspektive für Gemeinsamkeiten oder Verengung auf Partikularitäten?

Die Frage, ob man in Kulturfragen eher das Verbindende oder das Trennende sieht, reicht konzeptionell über die Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes deutlich hinaus. Es kommt hier auf eine wünschenswerte Haltung und Einstellung der Beteiligten an, die allerdings kulturpolitisch durchaus aktiv gefördert werden kann.

Die Umsetzung der Konvention hatte auf die deutsche Kulturpolitik insgesamt, wie bereits gezeigt, grundsätzlich eine öffnende Wirkung im Hinblick auf das Kulturverständnis: Durch die Anerkennungsprozesse und eine diskursive Begleitung sind neue Formen der Kulturpraxis bzw. des kulturellen Erbes in den Kanon der weithin anerkannten Kultur aufgenommen worden. Dass dies viel mit sozialem Zusammenleben in Gemeinschaften zu tun hat, verleiht dem Immateriellen Kulturerbe gesellschaftspolitisch eine zusätzliche Relevanz. Gleichzeitig hat der Charakter der Inventarisierung als Auszeichnung oder zumindest als Anerkennung die mit dem Begriff ‚Kulturerbe‘ stark verbundene Exklusivität vermittelt, die zunächst mit der Projektierung als reine Bestandsaufnahme eigentlich vermieden werden sollte. Trotzdem liegt auch – dies zeigt unter anderem das UNESCO-Welterbe – in der Exklusivität eine Chance, das Gemeinsame zu suchen: Die Welterbestätten fühlen sich untereinander als gemeinsames Erbe der Menschheit durchaus verbunden.

Mit der vierten Forschungsfrage sollte konkret untersucht werden, ob die Trägergruppen Immateriellen Kulturerbes sich zum einen ebenfalls mehr mit von anderen Gruppen gepflegten kulturellen Traditionen, die Ähnlichkeiten zur eigenen Traditionspflege haben, aber in anderen kulturellen Kontexten existieren, identifizieren und zum anderen, ob dies auch mit Traditionen, die dieselbe Anerkennung im selben Referenzsystem – nämlich das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes – erfahren haben, obwohl sie in verschiedenen Kontexten und auf ganz andere Art ausgeübt werden, funktioniert. Eröffnen sich also neue Perspektiven, die man ins Verhältnis zu der vertrauten, eigenen kulturellen Praxis setzt? Daraus würde sich im besten Fall eine Konkretisierung der eher abstrakten Auszeichnung als Immaterielles Kulturerbe ergeben. (vgl. Tauschek 2010: 291 ff.)

Die Konvention selbst pendelt zwischen einem relativistischen Ansatz auf der einen und einer universalistischen Note an der anderen Seite. Die Bestimmung des Immateriellen Kulturerbes durch die jeweilige Trägergruppe und des identitätsstiftenden Charakters dieser Kulturform durch einen subjektiven Prozess der Identifikation (vgl. Rieder 2019: 145) erfolgt losgelöst vom Nationalstaat. Die Kulturformen und ihre Trägergruppen müssen aber u. a. die universell gültigen Menschenrechte zwingend einhalten genauso wie den Respekt zwischen verschiedenen Gruppen und Gemeinschaften und für nachhaltige Entwicklung gewährleisten (vgl. Meyer-Rath 2007: 159) und sie begeben sich mit der Inventarisierung, zumindest symbolisch, in den supranationalen Kontext der UNESCO. „Nicht mehr die Ethik-Chartas der Karnevalsvereine sind künftig der alleinige Maßstab närrischen Handelns, sondern die Konvention der Menschenrechte, die seit Jahrzehnten das, zugegebenermaßen nicht immer reibungslose, Miteinander der Menschen garantiert“, meint Karnevalsexperte Günter Schenk (2015: 129). Man kann sich fragen, welche Ansprüche mit der Identifizierung als Immaterielles Kulturerbe an die Trägergruppen gerade nach einer Anerkennung ihrer Kulturform tatsächlich verbunden sind.

Zunächst gehört zu einer Antwort auf diese Frage(n) die wichtige Erkenntnis aus der deutschen Umsetzung, dass Experten und die koordinierende DUK eindringlich und fortwährend versucht haben, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass sich Immaterielles Kulturerbe dynamisch weiterentwickeln (können) muss, „dass Traditionen und Kulturerbe nicht einfach gegeben sind, sondern durch Transformation, Neuentstehung, Übernahmen, Wiederbelebungen, ja teilweise Erfindungen charakterisiert sind“ (Zürcher 2015: 17). Dies relativiert die Eignerschaft einer bestimmten Gruppe über die jeweilige Kulturform und setzt sie zugleich ins Verhältnis zu früheren Generationen und anderen Kulturen.

Ob die Stärkung der eigenen Identität der jeweiligen Trägergemeinschaften immaterieller Kulturformen eigenständiges Ziel der UNESCO-Konvention ist oder die Identifizierung Immateriellen Kulturerbes vielmehr dem internationalen Austausch und der Förderung der kulturellen Vielfalt dienen soll, ist im Konventionstext ebenfalls nicht eindeutig bestimmt (vgl. Lenski 2014: 95). „Das Eigene kann bekanntlich stets nur in Bezug auf oder in Abgrenzung zum Anderen oder Fremden bestimmt werden. Wenn Listen nach nationalen oder regionalen Gesichtspunkten erstellt werden, dann liegt es in der Natur der Sache, dass zunächst das Eigene interessiert“ (Zürcher 2015: 18), stellte der Generalsekretär der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften anlässlich einer schweizerisch-deutschen Tagung zum Immateriellen Kulturerbe zurecht fest. Er fährt fort:

„Dort dürfen wir aber auf keinen Fall stehen bleiben. Im Eigenen oder im Besonderen müssen wir wiederum nach dem Gemeinsamen suchen, das heisst nach den gemeinsamen symbolischen Formen, welche die Menschheit in ihrer Kulturentwicklung und in ihrer Migrationsgeschichte hervorgebracht hat. Also: Wir müssen dem Gemeinsamen, das sich weltweit in besonderen Ausprägungen verschiedener Kulturen manifestiert, Beachtung schenken. Alles andere führt im besten Fall zu Provinzialismus, im schlechtesten Fall in Abgründe, die an dieser Stelle nicht thematisiert werden müssen.“ (Zürcher 2015: 18)

Es handelt sich bei einigen der in Deutschland anerkannten Kulturpraktiken um sehr lokale oder regionale Formen, die einen engen Bezug zum Ort mit hoher identitätsstiftender Wirkung haben. Diese Kleinteiligkeit hat im Spannungsverhältnis zwischen Selbstbezogenheit und transkultureller Öffnung einen anderen Ausgangspunkt als größere, geographisch weiter verbreitete Phänomene wie etwa das Amateurchorwesen. In einem föderalistischen Staat müssten die Länder, insbesondere jene mit einem höheren Anteil an ländlichen Räumen, ein Interesse daran haben, erstere Form der Heimatpflege bzw. Regionalkultur zu fördern. Dass Frankreich als Zentralstaat damit objektiv zunächst große Probleme hatte, überrascht kaum. Vor dem Hintergrund der spezifischen deutschen Geschichte, die mehrfach „das Nationale“ mit verheerenden Folgen überbetont und missbraucht hat, gibt es hierbei allerdings auch hierzulande zum Teil große Vorbehalte und beträchtliche Unterschiede zwischen den Ländern. Bayern fördert die Heimatpflege traditionell sehr stark, was auch direkt Auswirkungen auf den Umgang mit Immateriellem Kulturerbe im Freistaat hatte. Die Stadtstaaten fremdeln dagegen ziemlich mit dem Immateriellem Kulturerbe, was für urbane Räume an sich gilt. Eine mögliche Bewerbung des Münchener Oktoberfests, ein internationales und auch interkulturelles Ereignis par excellence mit zahlreichen Adaptionen weltweit und zugleich großem Regionalbezug, wurde von vornherein ausgeschlossen, da sich der Münchener Stadtrat als Träger des Volksfests ausdrücklich gegen eine Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe positionierte. Eine hierbei denkbare enge Verknüpfung von Heimatpflege und Internationalität im Kontext Immaterielles Kulturerbe ist daher also, zumindest bisher, nicht zustande gekommen. Schleswig-Holstein ging die Förderung der Regionalkultur in anderer Weise an, indem man die guten grenzüberschreitenden Beziehungen mit den Dänen als Inhalt einer Bewerbung für das Bundesweite Verzeichnis und später für das UNESCO-Register Guter Praxis-Beispiele gefördert hat. Die tendenzielle Bevorzugung von deutschlandweiten oder grenzüberschreitend praktizierten, ‚generalistischeren‘ Kulturformen im DUK-Expertenkomitee entspricht zwar nicht gänzlich den ursprünglichen Absichten hinter der UNESCO-Konvention, dies sorgt aber tendenziell in der deutschen Umsetzung für eine stärkere inter- und transkulturelle Perspektive, so dass bei den Trägergruppen die Verbindungen zu anderen, ähnlichen, aber durchaus auch unterschiedlichen, Kulturformen deutlicher vermittelt werden. Dies ist ganz im Sinne des UNESCO-Bildungskonzept der Global Citizenship Education, die die Wechselwirkungen von lokalem Handeln und globalen Entwicklungen aufzeigen möchte.

Zweifelsohne gewinnt eine anerkannte Kulturform, das identitätsstiftende Merkmal der Trägergruppe, und damit auch diese selbst durch ein erfolgreich durchlaufenes Bewerbungsverfahren an Prestige und der Stolz auf das eigene Tun sowie das Selbstwertgefühl wachsen. Vielen Gruppen geht es bei der Bewerbung für das Verzeichnis zuvorderst um Anerkennung und Aufmerksamkeit. Die drei in Abschnitt 4.2. untersuchten Fallbeispiele haben gezeigt, dass der Stolz auf die Anerkennung auch das Verantwortungsgefühl („ownership“) (vgl. Hafstein 2007: 84) der Trägergruppe für die eigene lebendige Tradition gesteigert hat. Aus den untersuchten Nachbarländern (siehe Abschnitt 4.4.2.) gibt es ähnliche Erkenntnisse; zudem die Beobachtung, dass die Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe zu neuen Ideen in den Erhaltungsaktivitäten wie auch zu neuen Kontakten zu Trägergruppen ähnlicher oder gleicher Kulturformen in anderen Ländern geführt und damit begünstigend für die internationale Vernetzung gewirkt haben (vgl. Staatenbericht AUT 2015: 7, 14).

Nicht überall scheint die Anerkennung aber den zugleich gewünschten Effekt der interkulturellen Öffnung des Blickes der Trägergruppen gehabt zu haben:

„Das ist immer ein starker Rückbezug auf das, was vor Ort da stattfindet. Das ist ja ein wichtiger Punkt, aber die Tür, die sich öffnen könnte in dem Schauen, was gibt es denn da eigentlich noch und wo ergeben sich für uns Anknüpfungspunkte, auch aus einer intrinsischen Neugier heraus, das habe ich bisher noch nicht entdeckt, also jedenfalls nicht in der Orchester- und Theaterlandschaft. Wobei bei Theater bin ich nicht dicht genug dran, um das kompetent beurteilen zu können. Beim Orchester, das ist jetzt vielleicht zu hart gesagt, also ich meine, da ist schon eine Neugier da, und die sind ja auch […] a) international besetzt, und b) es gibt auch viel Austausch. Das meine ich damit nicht, sondern ich meine speziell, um das noch mal klarzumachen […], dass dieses Instrument selber, das Instrument ist noch mal ein Schlüssel, um eine Tür aufzumachen und was Neues zu entdecken. […] Nach meiner Wahrnehmung, […], ist das […] mehr rückbezogen, dass man sagt, so zack, ihr habt eine Auszeichnung. Damit gehen wir ran. Wie weit das jetzt, eben wie gesagt, die Neugier, wie ist das in Brasilien, wie ist es denn da? Das nehme ich zumindest nicht wahr. Vielleicht passiert es, aber ich nehme es nicht wahr.“ (V, Interview am 06.11.2018)

Ein wirksames Instrument sind in dieser Hinsicht internationale Nominierungen, denn damit begeben sich Trägergruppen bewusst in den internationalen Kontext und lassen sich auf Vergleiche und Bezüge ein. Noch einmal stärker relativierend auf eine lokale oder nationale Fokussierung wirken multinationale Nominierungen für die UNESCO-Listen, wie jene, an denen sich Deutschland mit der Falknerei, dem Blaudruck und – zeitlich nach dem Untersuchungszeitraum dieser Arbeit – den Bauhütten und im Nachgang noch weiteren beteiligt hat. Aber auch niedrigschwelliger auf Ebene des informellen Austauschs zwischen Trägergruppen über Grenzen hinweg, wie etwa bei verschiedenen Karnevals-, Faschings- bzw. Fastnachtstraditionen, zum Teil wissenschaftlich untermauert, können effektiv für die Einnahme einer transnationalen Perspektive mit der Fokussierung auf das Gemeinsame und gegenseitige Bezüge sein. Überhaupt sind wissenschaftliche Aktivitäten, wie etwa von UNESCO-Chair-Inhaber Tiago de Oliveira Pinto (Weimar/Jena) im Zusammenwirken etwa mit den Finkenfreunden im Harz, ebenfalls hilfreich, um Trägergruppen für interkulturelle Perspektiven zu sensibilisieren. Aber auch Anlässe, wie die Auszeichnungsveranstaltungen oder Fachtagungen, die Gelegenheit zum allgemeinen Austausch zwischen anerkannten Gruppen Immateriellen Kulturerbes boten, wurden von Trägergruppen und anderen Akteuren wiederholt als perspektivenöffnend beschrieben.

Zumindest kann man konstatieren, dass die vor dem deutschen Beitritt bestehenden Ängste oder zumindest Bedenken, dass es durch die Anerkennung von kulturellen Traditionen mit problematischen geschichtlichen Zusammenhängen zu einer Re-Nationalisierung kommt, derzeit – wie auch in allen untersuchten Nachbarländern – im Zusammenhang mit der Umsetzung dieser UNESCO-Konvention unbegründet erscheinen. In jenen Fällen, in denen Zweifel an den Praktiken in den fraglichen Zeiträumen bestanden, haben die Expertenbegutachtung und entsprechende Nachfragen ihren Zweck erfüllt. Die Chance, die sich Deutschland bot, einen neuen Ansatz zum Umgang mit Volkskultur und gemeinschaftsstiftendem kulturellen Erbe zu entwickeln, wurde ergriffen, indem ihr positiver Wert in einem internationalen Rahmen mit bestehenden Verbindungen und neuen Kooperationen über Grenzen hinweg betont werden konnte (vgl. Koch/Hanke 2013: 52). Von Expertenseite und der DUK wurde stets sehr bewusst nach „Immateriellem Kulturerbe in Deutschland“ gesucht und explizit nicht nach „deutschem Immateriellem Kulturerbe“. Es soll kein Besitzanspruch des Staates oder der Bevölkerungsmehrheit formuliert werden. Auch die Bezeichnung „Bundesweites Verzeichnis“ statt „nationales Verzeichnis“ war bewusst gewählt, um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen – man beachte die entsprechenden Erfahrungen in Österreich rund um die inzwischen gestrichene Bezeichnung der koordinierenden Stelle als „Nationalagentur“ im zeitlichen Zusammenhang mit dem strittigen Element der Wiener Balltradition (siehe Abschnitt 4.4.2.1.).

Vonseiten der Kulturwissenschaften wird zurecht in Frage gestellt, ob die zum Teil überholten Theorien zu Kulturtraditionen und Gruppenbildungen, wie sie Grundlagen der Konvention sind oder implizit mitschwingen, eigentlich hilfreich für das Verständnis jener Kulturformen sind. Es handelt sich sicherlich um ein Spannungsfeld mit Unzulänglichkeiten, die man immer wieder thematisieren sollte, aber aus Sicht internationaler Kulturpolitik sind durch die politische Setzung des Rahmens des UNESCO-Übereinkommens im Bereich der traditionellen kulturellen Ausdrucksformen durch Aufmerksamkeit durchaus positive Effekte des Kulturaustauschs und internationaler Zusammenarbeit erkennbar. (vgl. Koslowski 2015b: 37)

Selbstverständlich kommt es im Prozess der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention von 2003 neben der Betonung von Gemeinsamem auch zur Herausarbeitung von Unterschieden und Trennungslinien. Dies betrifft etwa die Unterschiede Stadt-Land, in Glaubensfragen (dominierend katholisch vs. dominierend protestantisch), zwischen als elitärer und als populärer Kultur bezeichneten Formen bzw. auch Hoch- vs. Volks- bzw. Alltagskultur, industrialisierter bzw. technisierter vs. landwirtschaftlich geprägter Kulturen oder auch Kulturformen bestimmter sozialer Schichten (z. B. Lieder der Arbeiterkultur) (vgl. Graezer Bideau 2012: 308). Neben dem Potenzial des Immateriellen Kulturerbes Inklusion zu fördern und durch die Anerkennung die Position auch von strukturell benachteiligten Gruppen zu stärken und damit zur gesellschaftlichen Kohäsion beizutragen, besteht durchaus auch die, fast gegensätzliche, Gefahr, dass die Konvention gesellschaftlicher Kohäsion entgegenwirkt, indem partikulare Interessen gestärkt, eine abgrenzende Gemeinschaftsrhetorik gefördert, Superiorität bzw. Überlegenheit der einzelnen Träger(-gruppen) beansprucht wird und damit die Wirkungen tendenziell eher ausgrenzend, also exklusiv, und folglich desintegrativ sind (vgl. Rieder 2019: 147 f.).

7.1.5 Wechselwirkung zwischen der internationalen und der nationalen Umsetzung der Konvention

Die fünfte Forschungsfrage befasste sich mit der Wechselwirkung zwischen der internationalen und der nationalen Umsetzung der Konvention. Durch die Adaption des völkerrechtlichen Rahmens der UNESCO-Konvention haben zivilgesellschaftliche kulturelle Aktivitäten und ein lebendiges Kulturerbe und Erfahrungswissen in der Kulturpolitik in Deutschland eine Aufwertung erfahren. Auch auf das etablierte deutsche Kulturverständnis, d. h. der weitgehenden Verengung von Kultur als Kunst, hat der internationale Einfluss und Austausch eine Wirkung. Und schließlich sind neue Akteure in das Politikfeld integriert worden.

Damit wird das Verständnis von überliefertem Wissen und Können neu geprägt und zugleich das Kulturverständnis im Land graduell beeinflusst. Und doch muss man festhalten, dass hiermit keineswegs etwas ganz neu aus dem Boden gestampft wurde, sondern dass auf Bewährtem – Breitenkultur, Heimatpflege, Heimatkultur, Handwerkskultur, Brauchpflege usw. – aufgebaut und dies in einen neuen Rahmen gesetzt wurde.

„[W]e should recognise that safeguarding ICH is by no means a new endeavour and not only has it been an important aspect of their heritage for countries and people worldwide long before the [Convention] was adopted, but communities have been and continue to safeguard ICH on their own initiative. However, much of this was being done without any official sanction, support or framework and the Convention has encouraged the development of related national legislative, administrative, financial and other responses.“ (Blake 2019: 18)

Es ist aber eben so, dass die UNESCO-Konvention das zivilgesellschaftliche Engagement für die Pflege und Erhaltung lebendiger Traditionen mit kulturpolitischen Mitteln unterlegt und letztlich unterstützt. Die Projekte, Programme und Strategien sind dabei in Deutschland insbesondere administrativer und ideeller Natur.

Der Neuigkeitswert und die Wirkung der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention in Deutschland im Politikfeld gehen also über die Erweiterung des Kreises der Kulturakteure hinaus. Auf einer strukturellen Ebene gibt es mehrere wesentliche Punkte, die Christoph Wulf anführt:

„Einmal ist die Verbindung, die Internationalität, die potenzielle, eine Erneuerung. Und die Verbundenheit mit anderen Ländern […] sogar über Europa hinausgehend, da ist, glaube ich, ein wirklich neuer Punkt. Der zweite Punkt ist, dass eben die Konvention klarmacht, es geht nicht um eine traditionelle Folklore. Sondern es geht um eine ganz andere, viel komplexere Verankerung der Kultur […]. Das Dritte ist, dass man das Ganze überhaupt ins Bewusstsein ruft und sagt, das ist Kultur. Das ist eine praktizierte Kultur. […] Der vierte Punkt […], da geht es um die Diversität: Kulturen können sich heute nicht mehr sozusagen nationalstaatlich begründen, sondern das sind fraktionierte Bereiche, wo es Vielfalt gibt, […]. Und das ist, wenn man so will, eine Dezentralisierung. Aber die eben wichtig ist für das Verständnis heutigen kulturellen Lebens.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Gertraud Koch stimmt ihrem Kollegen Wulf nahezu uneingeschränkt zu und schaut zudem von der institutionellen Perspektive auf die Innovationen, die sich ergeben haben:

„Neuerung war es ja vor allem auch deswegen, weil es eine UNESCO-Konvention war. Natürlich haben sich Leute schon lange mit diesen Forschungsgegenständen beschäftigt. Aber als Konvention wird es eine kulturpolitische Maßnahme und damit auch ein Governance-Ansatz. Und das ist das, was ich bei aller Kritik, die es da auch aus wissenschaftlicher Sicht geben mag, und die auch berechtigt ist, als unglaublich positiv sehe und warum ich mich selber da auch so gerne dafür einsetze, dass damit erstmals auf kulturpolitischer Ebene auch ein Instrument da ist, das den Wert von dem Immateriellen tatsächlich thematisiert, sichtbar macht, es auch politisch auf einer suprastaatlichen Ebene heraushebt und damit ja auch zu einem Austausch, zu einem Thema – zu einem Dialogthema – zwischen den Staaten macht. Das hatten wir bisher in der Form nicht. Wir hatten davor die eher nationalistische Aushandlung von Kulturerbe. Und mit der Konvention können wir das tatsächlich auch in einer nachhaltigen Art und Weise herausholen, herausheben.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

In diesem Zitat finden sich mehrere sehr wichtige Punkte, die zentrale Ergebnisse dieser Arbeit noch einmal aufgreifen: Erstens, dass die Konvention eine kulturpolitische Maßnahme und ein Governance-Ansatz ist, der für Bewegung im Feld der Kulturpolitik gesorgt hat. Dies bestätigt die Grundannahmen der vorliegenden Arbeit. Und zweitens, dass es gelingt oder zumindest gelingen kann, also die Konvention das Potenzial hat, die Beschäftigung mit lebendigen Traditionen aus dem nationalen Rahmen herauszuholen und zu einem Austauschthema in internationaler Perspektive zu machen. Damit ist drittens auch eine kulturelle Öffnung der Perspektiven der Trägergruppen verbunden. Es sei jedoch erwähnt, dass durchaus auch Befürchtungen in diesem Zusammenhang existieren:

„Ihren Wert als praktisch bedeutsames kulturpolitisches Instrument in der Hand der Staaten und ihrer jeweiligen Regierungen können die in der Konvention von 2003 vorgesehenen Maßnahmen entfalten, indem sie einerseits zu einer staatlichen – mitunter nationalen – Vereinnahmung bestimmter kultureller Praxen führen und leicht als Mittel solcher staatlicher Kulturpolitiken eingesetzt werden können, die auf die Herausbildung, Stärkung oder Profilierung nationaler Identitäten abzielen. Andererseits können sie aber auch zur Schaffung oder Stärkung einer effektiven staatlichen Kontrolle der betroffenen kulturellen Praxen beitragen.“ (Mißling 2010: 107)

Auch wenn man mit solchen Einschätzungen angesichts der sehr kurzen Zeitspanne, die hier untersucht wurde, vorsichtig sein muss, ist eine Vereinnahmung der Kulturformen des Immateriellen Kulturerbes oder gar die Ausübung staatlicher Kontrolle über sie in Deutschland bisher nicht festzustellen. Allerdings sind zwischen staatlichen Akteuren und den Trägergruppen Immateriellen Kulturerbes neue Beziehungen entstanden, deren Entwicklung weiter zu beobachten sein wird. Außerdem hat sich durch die UNESCO-Konvention ein neuer Orientierungspunkt bzw. „Kompass“ (Schenk 2015: 129 am Beispiel des Karnevals) für die Trägerschaften und ihre Pläne zur Tradierung bzw. Erhaltung der Kulturformen ergeben.

Bei der Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes handelt es sich um eine international vergleichbare Intervention in Gesellschaft, Staat und zum Teil auch Markt der Vertragsstaaten. Zwar haben diese in der nationalstaatlichen Umsetzung des Instruments sehr viel Spielraum, aber es bietet sich wegen des gemeinsamen Rahmens der Konvention trotzdem untereinander die Möglichkeit einer Vergleichbarkeit in einem spezifischen Bereich von Kulturpolitik. Zur Klärung der Forschungsfrage wurde im Rahmen dieser Arbeit u. a. im Kapitel 4 die UNESCO-Konvention und ihre Entstehung erläutert sowie auch auf die nationale Umsetzung in vier Vergleichsstaaten (Österreich, Schweiz, Belgien und Frankreich) rekurriert. Zudem wurde im Abschnitt 6.4. das politische Lernen der Vertragsstaaten untereinander thematisiert. In diesen Untersuchungen war festzustellen, dass gut nachzuvollziehende Wechselwirkungen zwischen der deutschen und der internationalen Umsetzung der Konvention bestehen. Deutschland hat insbesondere in Österreich und der Schweiz viele Anleihen genommen, aber auch aus den früheren Erfahrungen in Frankreich und Belgien sowie weiteren Ländern etwas gelernt. Die nach Rose (1991) als Lektionen bezeichneten Ergebnisse des Policy-Lernens changieren je nach Maßstab zwischen Adaptionen bestimmter Aspekte, einer Hybridbildung oder Synthese der verschiedenen Umsetzungsmodelle bis hin zu reinen Inspirationen in bestimmter Hinsicht. Im Vergleich zur Schweiz ist Deutschland beispielsweise bei der dezentralen Erfassung von Vorschlägen in den Ländern für das Bundesweite Verzeichnis stringenter vorgegangen, indem man hierzulande nicht nur einen Leitfaden, sondern ein einheitliches Formular und einheitliche Kriterien, die jeweils weitgehend aus dem zentralistischer vorgehenden Österreich übernommen wurden, vorgegeben hat.

Es zeigte sich in dem Vergleich der Staaten untereinander und ihrer Strategien der Umsetzung der Konvention aber auch, dass nationale oder regionale Traditionen der Kulturerbepflege durch die neue UNESCO-Konvention nicht komplett beseitigt worden sind. Zum einen muss sich die Umsetzung der Konvention in die etablierten Kompetenzverteilungen im Politikfeld Kultur einpassen. Zum anderen kommt es auch inhaltlich zu einem Interaktionsprozess zwischen dem neuen Rahmen und früheren Formen des Umgangs mit den heute als Immaterielles Kulturerbe bezeichneten kulturellen Ausdrucksformen. (vgl. Fournier 2012: 339)

Das Beispiel der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes zeigt: Kulturpolitik und kulturpolitische Maßnahmen können gesellschaftliche Debatten befördern, damit u. a. zu Teilhabe beitragen und ein Bewusstsein für internationale Verbindungen und Zusammenarbeit fördern. Zugleich gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch, Immaterielles Kulturerbe möglichst inklusiv und teilhabeorientiert im Sinne des weiten Kulturbegriffs darzustellen und dem faktischen Zwang bei Inventarisierungsprozessen und erst recht bei internationalen Anerkennungen im UNESCO-Rahmen aufwändige Auswahl- und Bewertungsprozesse durchzuführen (vgl. Tauschek 2010: 73).

Das Spektrum der kulturpolitischen Maßnahmen auf finanzielle Unterstützung in relevantem Maße und legislative Maßnahmen auszuweiten, könnte der nächste Schritt der Umsetzung in den kommenden Jahren sein. Dass es dazu bisher nicht gekommen ist oder nur in Einzelfällen erfolgt, macht aus dem Umgang mit dem Immateriellen Kulturerbe einen Spezialfall der deutschen Kulturpolitik. Diese definiert sich normalerweise vorrangig über eine finanzielle Förderung von Kulturträgern, d. h. eine distributive Steuerung. Es bleibt abzuwarten und spannend zu beobachten, ob sich diese Sonderstellung halten wird. Zumal aus der Betrachtung des Untersuchungszeitraums noch unbeantwortet bleibt, ob die hier in Frage kommende Alternative zu einer Fokussierung der kulturpolitischen Maßnahmen auf materielle Förderpolitik, nämlich das Anstoßen öffentlicher Debatten bzw. Bewusstseinsprozesse, tatsächlich als kulturpolitische Maßnahme stringent von den Akteuren verfolgt wird.

Im internationalen Rahmen wurden, wie die Abschnitt 4.4.2. und 6.3.4. zeigten, eine Reihe von neuen Kontakten geknüpft oder vertieft, z. B. beim Blaudruck, bei den Genossenschaften oder im Bereich Orgelbau und Orgelmusik, wo jeweils implizit die für das Leben im Anthropozän zentrale Frage nach dem Verhältnis von Partikularem und Universellem im Bereich der Kultur aufgeworfen wird, aber auch auf kulturpolitischer und fachlicher Ebene zwischen im Feld aktiven NGOs und den jeweils für die nationale Umsetzung verantwortlichen Organisationen der Vertragsstaaten. Häufig wird nicht zuverlässig zwischen einer nationalen und einer internationalen Anerkennung unterschieden. Christian Höppner meint allerdings zuvorderst komme es auf den Stolz auf das eigene Tun bei den Trägergruppen an:

„Also ich bin ja kein Freund von Tohuwabohu. Ich erlebe da in der Richtung schon ein ziemliches Durcheinander. Aber meistens finde ich das total süß, weil der Stolz, auf der Liste zu sein, viele bringen das dann eben nicht nur ineinander, sind dann manchmal auch enttäuscht, wenn sie erfahren, nein, das ist ja nur die nationale Liste, statt jetzt die große Welterbeliste [die UNESCO-Listen des Immateriellen Kulturerbes, Anm. d. Verf.]. Aber, also da, wo es funkt, ist es, glaube ich, nicht so entscheidend. Das ist vielleicht ein bisschen despektierlich, aber, ob das jetzt die nationale oder die Welterbeliste ist: Das hat dann einfach vor Ort funktioniert.“ (V, Interview am 06.11.2018)

Des Weiteren sei auf die doppelschneidige Rolle der UNESCO hinsichtlich des Themas kulturelle Vielfalt hingewiesen: Einerseits sind die Anstrengungen für die Bewahrung der kulturellen Vielfalt weltweit der Hauptantrieb für die völkerrechtlichen Instrumente, die die UNESCO verabschiedet hat und seitdem dynamisch verfolgt, andererseits drückt sie eben durch ihre Rolle als global Standards vorgebende Institution einen einheitlichen Stempel auf die Kulturen dieser Welt und sorgt für eine Homogenisierung und damit Verminderung der Vielfalt der Herangehensweisen an die Bewahrung eben jener kulturellen Vielfalt (vgl. Bortolotto 2012: 265 f.). Diese Arbeit hat gezeigt, dass Deutschland zwar in wichtigen Aspekten von den Erfahrungen anderer Staaten gelernt und natürlich auch wichtige Elemente der UNESCO-Standards übernommen hat, aber trotzdem – im Sinne der Vielfalt – sein eigenes System der nationalen Umsetzung der Konvention gefunden und auch die Konzepte für sich interpretiert hat. Es handelt sich im Grunde um einen permanenten Aushandlungsprozess zwischen den nationalen und internationalen Einflüssen, der durchaus mit den historischen Wurzeln zu tun hat, die der Umgang mit den als Immaterielles Kulturerbe bezeichneten Kulturformen im jeweiligen Staat hat, wie das Beispiel Frankreich sehr deutlich gemacht hat, wo die Vorläufer des Umgangs mit diesen Formen die erste Phase der Inventarisierung stark beeinflusst haben bzw. sogar als Gegenbewegung zu den neuen Konzepten interpretiert werden konnten (vgl. Bortolotto 2012: 277).

Schließlich ein Blick auf die Auswahl von UNESCO-Nominierungen – ein Bereich, in dem noch einmal ganz spezifische Mechanismen der Wechselwirkung zwischen nationaler und internationaler Umsetzung der Konvention bestehen: Wie gezeigt, wollten die Experten der DUK inhaltliche bzw. thematische Impulse setzen, die der Vielfalt auf den UNESCO-Listen neue Aspekte hinzufügen. Damit wollten sie zum einen den Mehrwert betonen, dass Deutschland sich an der Umsetzung nun – verspätet – beteiligte und zum anderen auch explizit ein Zeichen und Nachweis der Relevanz nach innen an die deutsche Öffentlichkeit senden, das zum Beispiel Demokratie und Teilhabe fördernde Kulturformen, wie die Genossenschaftsidee und -praxis, oder gemeinhin als herausragend im internationalen Vergleich wahrgenommene Vorschläge, wie Orgelbau und Orgelmusik oder die Deutsche Theater- und Orchesterlandschaft, gemacht wurden. Dies führte aber dazu, dass deutsche Bewerbungen im internationalen Rahmen zum Teil als sperrig oder gar abseitig wahrgenommen wurden. Zwar wurde in den internationalen Gremien hinter vorgehaltener Hand betont, dass dies durchaus interessante Impulse wären, aber konsensfähig war dies dann eben nicht immer und sorgte dafür, dass einige deutsche Nominierungen nicht (auf Anhieb) die Aufnahme schafften. Die Bemühungen um das Setzen von kraftvollen Impulsen führten zugleich dazu, dass deutschlandweiten und sogar darüber hinaus verbreiteten Elementen, wie dem Hebammenwesen, als UNESCO-Nominierungen von den Experten der Vorzug vor lokalen Phänomenen gegeben wurde. Bedingt war dies paradoxerweise allerdings auch durch den Föderalismus: Um kein Bundesland mit einer Auswahl einer regionalen Nominierung zu bevorzugen und damit die anderen 15 zu benachteiligen, griff man lieber auf Nominierungen von nationaler Tragweite zurück. Dies alles steht insgesamt im Kontrast zur engen Trägerorientierung des Wortlauts der UNESCO-Konvention und eigentlich eben auch zur föderalen Struktur, gerade im Kulturbereich, – Belgien, die Schweiz, Österreich und sogar Frankreich als zentralistischer Staat haben, auch zu Anfang ihrer eigenen nationalen Umsetzung bereits, zum Teil deutlich lokalere Elemente mit klarer fassbarer Trägergruppe für die UNESCO-Listen nominiert als Deutschland.

Es bleibt festzuhalten, dass der Beitritt zur UNESCO-Konvention von 2003 und ihre Umsetzung im nationalen Rahmen in Deutschland eine neue Dynamik im kulturpolitischen Feld kreiert hat.

„The act of signing up to the Convention, of implementing its guidelines within national borders, and in promoting and facilitating community-based processes required for the preparation of nominations, have generated new practices, analyses and discourses that together are shaping the understanding and practices of intangible cultural heritage.“ (Akagawa/Smith 2019: 1)

Die mittel- und langfristigen Folgen für die deutsche Kulturpolitik, speziell den Bereich des kulturellen Erbes, sind derzeit noch nicht genau abzusehen, könnten aber durchaus tiefgreifend sein. Eine deutsche Mitwirkung im Zwischenstaatlichen Ausschuss, die ab 2022 für vier Jahre erstmals erfolgt, und damit auch eine engere Einbindung der deutschen Konventionsumsetzung in internationale Diskurse rund um das Immaterielle Kulturerbe kann in beide hier untersuchten Richtungen gehen bzw. können die Wechselwirkungen zwischen nationaler und internationaler Umsetzung der Konvention noch einmal neue Wendungen nehmen.

7.2 Empfehlungen zur weiteren Umsetzung der Konvention in Deutschland

Nach Windhoff-Héritier (1987: 20) ist eine Politikfeldanalyse zum einen ein analytisch-erklärendes, zum anderen aber auch ein präskriptives Instrument. Neben einer Bewertung der Problemdefinition und Zielauswahl in einer konkreten Problemlage und einer (ex-post)-Erfolgskontrolle der durchgeführten Programme, wie sie in Abschnitt 7.1. für diese Arbeit anhand der Forschungsfragen zusammenfassend vorgenommen wurde, geht es auch darum alternative Methoden zur Erreichung dieser Ziele darzustellen sowie die Durchführungschancen der vorgeschlagenen Lösungswege einzuschätzen (vgl. Windhoff-Héritier 1987: 115 f.). Den entsprechenden Empfehlungen und Vorhersagen auf Basis der bisherigen Erfahrungen ist dieses Unterkapitel des Fazits dieser Arbeit gewidmet.

Ein kulturpolitisches Konzept, „welche Rolle das immaterielle Kulturerbe im innerstaatlichen kulturellen Gesamtgefüge spielen soll“ (Lenski 2014: 105), gibt es bisher in Deutschland im Wesentlichen nicht. Dies wäre zweifellos ein Desiderat für die weitere Umsetzung der Konvention. Es schüfe nicht nur für die direkt beteiligten Akteure Klarheit, sondern böte für alle Akteure im Politikfeld der Kulturpolitik eine wichtige Orientierung. Dabei würde es sich gegebenenfalls lohnen, die Ergebnispapiere der größeren DUK-Fachtagungen von 2013 und 2015, die interessante Anregungen aus der Zivilgesellschaft und aus Expertenkreisen gesammelt hatten, die aus Kapazitätsgründen aber nicht alle verfolgt werden konnten, einzubeziehen.

7.2.1 Kulturelle Teilhabe und Kulturerbe-Politik als Gesellschaftspolitik

Immaterielles Kulturerbe kann potenziell zu allen dreien von Max Fuchs (2005: 37) genannten strategischen Zielen von Kulturpolitik in Deutschland beitragen: „Erhaltung des Kulturerbes, Innovation und Publikumsgewinnung“. Auch erfüllt sie alle vom selben Autor als „Kulturfunktionen“ bezeichnete Aufgaben: Möglichkeiten zur Selbstreflexion bieten, mithin der Gesellschaft den Spiegel vorhalten; Angebote an Identitäten und Vorstellungen vom guten Leben machen; sowie die Funktion eines sozialen und kulturellen Gedächtnisses. (vgl. Fuchs 2003: 16) Damit verdient die Politik zum Immateriellen Kulturerbe prinzipiell ein größeres Interesse der kulturpolitischen Akteure, gerade auch da sie stark in ländlichen Räumen verankert ist, und die dort angesiedelte Kultur häufig in der öffentlichen Wahrnehmung zu kurz kommt. Hierzu bedarf es einiger präzisierenden Zuspitzungen in der Kommunikation über Immaterielles Kulturerbe und, dem am besten vorgeschaltet, eines politikfeldinternen Bewusstseinsbildungsprozesses. Es hängt dabei auch vom Verständnis ab, was man als Policy-Netzwerk unter Kultur bzw. konkret als öffentliche geförderte und unterstützte Kultur zu zählen bereit ist und wie dies entsprechend dieser Wertschätzung dann in der Gesellschaft wahrgenommen wird.

Grundsätzlich wäre empfehlenswert, dass die Akteure des Politikfelds diskursiv die Perspektive der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe über den Kulturerbeerhalt pro domo, also in einem engen Sinne den Erhalt der Kulturformen um ihrer selbst willen, hinaus weiten: Die Gewährleistung kultureller Teilhabe für die Förderung gesellschaftlichen Zusammenhalts, also eine Politik der Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes als Gesellschaftspolitik und Demokratisierung von Kultur zu deklarieren, wäre ein beachtlicher Schritt vorwärts. Aus einer rechtsnormativen Perspektive bedarf der

„sowohl kulturstaatlich als auch sozialstaatlich motivierte Gedanke der kulturellen Daseinsvorsorge und eines kulturellen Grundangebots bei aller Freiheit in der Ausgestaltung staatlicher Kulturpolitik stärkerer Aufmerksamkeit. Die Sicherung der breiten Zugänglichkeit kultureller Einrichtungen und Veranstaltungen ist ein wesentliches Element der Förderung der Kultur selbst wie auch der Gesellschaft als ganzer.“ (Germelmann 2013: 758)

In diesem Sinne äußert auch Christian Höppner einen Wunsch für die Zukunft:

„Den Schwerpunkt würde ich tatsächlich darauf legen, wie können wir die vorhandenen Potenziale, die vorhandenen Kräfte noch besser bündeln im Sinne von Wirksamkeit, in unsere Gesellschaft hinein. […] Ich würde es halt auch, sagen wir mal, unter dem Blickwinkel nehmen, gesellschaftlicher Zusammenhalt. Das können Sie natürlich als Instrumentalisierung dann auch wiederum kritisieren, aber ich finde, wir haben da neben dem Eigenwert, der unumstritten ist und wo man gar nicht dran popeln sollte, schon gar nicht im Grundgesetz, neben diesem Eigenwert haben wir aber auch diese Mitverantwortung für das Thema ‚Gesellschaftlicher Zusammenhalt‘, und da tun wir noch viel, viel, viel zu wenig. Da reicht es nicht nur, darüber zu reden. Da gibt es natürlich auch viele gute Beispiele, aber, wenn man sich das ganze Reservoir anguckt, dann ist da noch viel mehr möglich. [… D]iese beiden Stränge, Eigenwert und soziale [Wirkung], würde ich in der gesamten Kommunikationsschiene wirklich als einen wesentlichen Bestandteil [ansehen …].“ (V, Interview am 06.11.2018)

Auch Sophie Lenski (2014: 104 f.) konstatiert durch die verschiedenen denkbaren politischen Umsetzungsmaßnahmen erhebliche Möglichkeiten von gesellschaftlichen Wirkungen der Umsetzung der Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes.

Die Potenziale, die man strategisch-kulturpolitisch gezielt mittels der Umsetzung der Konvention noch stärker ausschöpfen könnte, sind aus Sicht des Autors dieser Arbeit folgende sieben Punkte:

  1. 1.

    Immaterielles Kulturerbe leistet einen Beitrag zur Klärung und Schärfung kultureller Identitäten, ohne dass dies ausgrenzend und hierarchisierend wirkt. Schließlich werden mittels Formen Immateriellen Kulturerbes kollektive Identitäten konstruiert bzw. bestätigt, ohne dass zwingend eigene Überhöhungen damit verbunden sein müssen.

  2. 2.

    Das Immaterielle Kulturerbe kann entscheidend dazu beitragen, die in der Gesellschaft vorhandenen Wissens- und Könnensbestände zu würdigen und gesamtgesellschaftlich stärker nutzbar zu machen und dadurch inwertzusetzen. Dies trüge auch zu einer Aufwertung praktischen bzw. impliziten Wissens und Könnens gegenüber theoretischem „Buch“-Wissen bei.

  3. 3.

    Eng mit dem vorgenannten Punkt zusammenhängend, kann eine kulturpolitische Würdigung Immateriellen Kulturerbes auch einen Beitrag zu ganzheitlichen Bildungsprozessen leisten. Die Weitergabe Immateriellen Kulturerbes ist häufig ein Akt informellen Lernens bzw. informeller (kultureller) Bildung. Dies auch so zu begreifen, zu würdigen und zu nutzen, wäre kultur- und auch bildungspolitisch angeraten, um die verschiedenen Formen der Aneignung von Fähigkeiten gleichwertig zu behandeln.

  4. 4.

    Mit der Umsetzung der UNESCO-Konvention in Deutschland sollte eine noch stärkere Würdigung bürgerschaftlichen Engagements im engeren und weiteren Kulturbereich einhergehen. Die Rolle des Ehrenamts für kulturelle Betätigung ist in den letzten Jahren zunehmend stärker erkannt und gewürdigt worden. Der enge Zusammenhang der Themen Kulturerbepflege und bürgerschaftliches Engagement wird beim Immateriellen Kulturerbe besonders deutlich, kulturpolitisch aber bisher noch selten hergestellt.

  5. 5.

    Im kunstpolitischen Sinne, aber auch im Sinne der Förderung der Kultur- und Kreativwirtschaft, gilt es die kulturellen Ressourcen der Formen des Immateriellen Kulturerbes stärker zu entdecken und freizulegen. Viele der in Rede stehenden Kulturformen haben in der Vergangenheit Anstöße für neues Kunst- und Kulturschaffen sowie für wirtschaftliche Innovationen gegeben. Ebenso geben sie aktuell Anregungen für kontemporäre Schaffensprozesse und können auch in Zukunft Impulse in dieser Hinsicht setzen.

  6. 6.

    Die aus dem überlieferten Wissen gewonnenen Innovationen gehen von der gesellschaftspolitischen Bedeutung her über die Bereiche Kunst und Wirtschaft noch hinaus, da sie einen Beitrag zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen, wie der Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung, den Umgang mit dem Klimawandel, Reaktionen auf den demografischen Wandel usw. leisten können.

  7. 7.

    Schließlich kann das Immaterielle Kulturerbe mit seinen sowohl lokalen wir auch globalen Anknüpfungspunkten Beiträge zur stärkeren Verbreitung und Umsetzung des Konzepts der Global Citizenship leisten, das sich die UNESCO im Bereich der hochwertigen Bildung (Sustainable Development Goal 4) auf die Fahnen geschrieben hat.

Bei allen diesen Fragen geht es zum einen um die Förderung gesellschaftlicher Debatten, die unsere Gesellschaft im Sinne einer gemeinsamen Diskursfähigkeit in der Demokratie mehr als nötig hat, was u. a. zur Klärung von Spannungen beitragen kann, und zum anderen geht es um konkrete Produkte oder Ergebnisse der Kulturformen, die das Wissen und Können jetzt und in Zukunft gesellschaftlich relevant machen.

Im Grunde muss auch eine Debatte über den Kulturbegriff in Deutschland noch einmal fundiert geführt werden. Denn an vielen Stellen in der Umsetzung in Deutschland hat sich gezeigt, dass klassisch-bürgerliche Formen des kulturellen Ausdrucks, wie Theater, Tanz und Musik, schnell und bereitwillig Anerkennung gefunden haben, nicht zuletzt, weil die beteiligten Stellen mit diesen Akteuren umzugehen wissen. Hebammen und andere Gruppen, die Traditionen im Bereich Natur und Universum praktizieren und selbst Handwerkstraditionen sowie die im Grunde im Zentrum der Konvention stehenden Alltags- und klassischen Volkskulturtraditionen hatten es da vergleichsweise schwerer. Und es gibt durchaus eine Bewegung innerhalb der Experten des Immateriellen Kulturerbes, die dieses in Deutschland gern auf klassische Hochkulturformen begrenzen würden. Aber „nach Auffassung […] vieler, auch selbst große Teile der entsprechenden Leute in der UNESCO [würde dies] zu einer Verengung dieses ganzen Feldes führen“ (E1, Interview am 15.10.2018). Tatsächlich muss sich der weite Kulturbegriff im Sinne der UNESCO-Konferenz von Mexiko-Stadt (1982) in Deutschland noch durchsetzen, denn selbst im Kulturbereich kennen diesen die meisten nicht.

„Das ist ja auch eine Abgrenzungsfrage oder eine Teilhabefrage. […] Und also ich werbe immer dafür, dass man den Kulturbegriff nicht gleichzeitig mit einer Wertzumessung verbindet, sondern wenn man jetzt ganz brutal ist oder ganz holzschnittartig formuliert, kann man sagen, alles, was nicht Natur ist, ist Kultur. […] Aber natürlich, wenn man es feiner zieht, dann finde ich, ist die Erklärung von Mexiko-City einfach für mich die Referenzgrundlage schlechthin.“ (V, Interview am 06.11.2018)

Mit dem Kulturbegriff in engem Zusammenhang steht auch der Wissensbegriff, den die UNESCO ebenfalls breiter versteht als im in Deutschland gebräuchlichen Sinne: Erfahrungs- und implizites praktisches Wissen ist demnach nicht minder wichtig als akademisch und schulisch erworbenes Wissen.

„Es wird vielleicht auch in den Wissenschaften interessanter werden, in der Kulturwissenschaft oder auch in der Erziehungswissenschaft, wo man die Bildungsbedeutung noch viel mehr […] einfach erkennen muss. […] Wir haben in den letzten Jahren so einiges erreicht, dass [das Immaterielle Kulturerbe] zumindest in der Wissenschaft akzeptiert wird als eine ganz wichtige Dimension.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Es braucht, befördert durch das Immaterielle Kulturerbe, einen Bewusstseinswandel des Verständnisses von Wissen einerseits und damit im engen Zusammenhang des Potentials von Immateriellem Kulturerbe für Bildungsprozesse in unserer modernen Gesellschaft und von Kultur andererseits. Christoph Wulf schildert dies mit einer im Kontext Immaterielles Kulturerbe gemachten konkreten Erfahrung:

„Also mir ist das noch mal so klar geworden bei [einem] Film über […] den Orgelbau. Da wurde gezeigt, wie ein Orgelbauer, wie er eine Pfeife bearbeitet. Und wie es um Millimeter geht, die er wegschleift. Und wo er also eine kleine Kerbe einbringt und so weiter. Das war außerordentlich eindrucksvoll. Da ist dieses alte Verständnis, Handwerk ist Kunst, also technae und artes ist noch nicht getrennt, Kunst und Handwerk. Sondern das ist noch zusammengedacht. Bei den Griechen ja auch […] und bei den Römern natürlich […]. Und das geht ja bis in die Moderne hinein. Also und dafür hat man dann ein Beispiel, wie das zusammengeht, Kunst und Handwerk.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Dass Kulturerbe auch für Bildungsprozesse eine Rolle spielt, und zwar nicht nur als Lerninhalt, sondern auch für die Lernprozesse – also auf welche Weise wir welche Inhalte inkorporieren, d. h. neben der geistigen Aufnahme auch körperlich verinnerlichen – hat sich als Erkenntnis in Deutschland bei weitem noch nicht durchgesetzt. Das Immaterielle Kulturerbe liefert mit Handwerkstechniken, aber auch mit performativen Praktiken wie z. B. Tanz oder Brauchausübungen – denkt man etwa an bestimmte Abläufe, die den Beteiligten über die Jahre der Praktizierung „in Fleisch und Blut übergehen“ –, eindrucksvolle Belege, so dass eine intensivere Befassung auch in der international vergleichenden Bildungsforschung im Kontext der Erreichung des SDG 4 produktiv erscheint.

7.2.2 Schärfung des Konzepts und der Umsetzungsmaßnahmen

Das Verständnis von Immateriellem Kulturerbe in der Fachöffentlichkeit und auch der allgemeinen Öffentlichkeit benötigt ganz ohne Zweifel noch Nachschärfung. Gleichzeitig darf und sollte man gar nicht unbedingt erwarten, dass ein partizipatives und an vielen Stellen dezentrales Verfahren ein hundertprozentig stringentes Bild ergibt. Dann müsste man allerdings in der Kommunikation auch offensiv vertreten, dass diese Dekonstruktion eines „auf stimmige Schlüssigkeit zielende[n] kulturpolitische[n] Konzept[s]“ (Koslowski 2015a: 42) gewollt ist. Das heißt jedoch wiederum nicht, dass man jede Unschärfe in Kauf nehmen bzw. tradieren muss. Zum einen sollte daher das Konzept des Immateriellen Kulturerbes im Bedeutungsverhältnis zu den teilhabeorientierten und demokratisierenden Konzepten Breitenkultur, Alltagskultur, Volkskultur, Heimatkultur, Stadtteil- und Soziokultur konkretisiert werden. Viele der anerkannten Formen sind eben nicht der traditionellen Hochkultur zuzurechnen und werden deshalb, selbst an ihren Praxis- und Aufführungsorten, bisher gar nicht wirklich als Teil von Kultur gesehen (vgl. Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft 2015: 33). Gleichzeitig gibt es auch von den Experten und staatlichen Stellen eine bestimmte, manchmal gar nicht explizit gemachte, aber unterschwellig mitklingende, Erwartungshaltung, dass die anerkannten Formen gewissen Qualitätsstandards, sei es in Punkto Ästhetik, Professionalität oder sonstiger Exzellenz, entsprechen müssten. Hier bedarf es unbedingt einer konzeptuellen Schärfung des Immateriellen Kulturerbes.

Weiterhin muss das Verhältnis zum Welterbe für breite Bevölkerungsschichten geklärt werden. Von allen befragten Experten wird es als kommunikative Aufgabe gesehen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten: „Das ist auch bei Abgeordneten, bei Politik und so weiter immer wieder ein Ansatzpunkt, übrigens auch bei der Presse, die es ja eigentlich besser wissen könnte und müsste, nachzuarbeiten, begrifflich zu schärfen und das auseinanderzuhalten.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Ein Kriterium der klaren Unterscheidbarkeit von Welterbe und Immateriellem Kulturerbe, das bisher allerdings wenig in der öffentlichen Darstellung genutzt wurde, ist die Einmaligkeit auf der einen Seite gegenüber dem Prinzip Wiederholung auf der anderen: „Diese Gegenüberstellung, zu sagen, also Universelles, Festes, was sich nicht wiederholt, […], sondern was einmalig ist [Welterbe, Anm. d. Verf.]. Und [… beim Immateriellen Kulturerbe] geht es gerade um das Repetitive.“ (E1, Interview am 15.10.2018) Christoph Wulf bezeichnet die Aufgabe, die Zusammenhänge des Immateriellen Kulturerbes mit den anderen UNESCO-Programmen im Bereich Bildung und insbesondere Erbe herzustellen, ebenfalls als eine wichtige: „Zusammenführung und damit eben auch die Komplexität und die Unterschiedlichkeit im Gemeinsamen herausarbeiten.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Stärker kulturpolitisch betont werden sollte darüber hinaus noch beim Immateriellen Kulturerbe,

„dass wir […] von lebendigem Kulturerbe sprechen und dass diese Lebendigkeit das Kernkriterium ist. Und [dass] ohne diese Lebendigkeit das Siegel auch nichts mehr nutzt. […] Dieser Modus, dass es eben nicht versteift, nicht musealisiert, nicht folklorisiert und damit ja ein Stück weit auch unabhängig von der Kulturpolitik bleibt, widerständig vielleicht auch ein bisschen zur Kulturpolitik ist. Das würde ich als einen zentralen Modus sehen. Und ich bin gespannt, ob das bleibt.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Gertraud Koch bringt in diesem kurzen Zitat eine aus ihrer Sicht ideale dialektische Beziehung zwischen dem Immateriellen Kulturerbe und Kulturpolitik zum Ausdruck: Die kulturpolitischen Akteure sollen die Lebendigkeit als Hauptcharakteristikum der Formen Immateriellen Kulturerbes künftig stärker betonen und dadurch auch fördern, damit die Kulturträgergruppen und ihre Kulturformen gerade nicht in eine zu starke Abhängigkeit von kulturpolitischen Akteuren – siehe die entsprechenden Bedenken von Lenski (2014) und Mißling (2010) – und/oder von kulturtouristischen Förderungen, wie museale oder folkloristische Darstellungen, die eine Einschränkung der Lebendigkeit bedeuten könnten, geraten. Koch fordert gar eine Widerständigkeit gegen Kulturpolitik, die an die Unabhängigkeit bzw. Freiheit, die auch sonstige Kunst- und Kulturschaffende nach Art. 5 GG für sich reklamieren, erinnert. Eine interessante Frage ist in diesem Zusammenhang, welche Unterstützung die Kulturformen bzw. konkreter ihre Trägergruppen benötigen und auf welche Form der Förderung sie von staatlicher Seite hoffen können. Vor dem Beitritt Deutschlands zur Konvention gab es die Befürchtung, dass finanzielle Verpflichtungen durch Anerkennungen als Immaterielles Kulturerbe begründet bzw. eingefordert werden. Aber

„mit dem Geld ist es gar nicht getan. Sondern das sind einfach ganz viele Menschen, die sich da ehrenamtlich engagieren, ob im Chorgesang oder in der Kirchweih oder im Karneval. Und denen man gar nichts Gutes tun würde, wenn man da jetzt was Hauptamtliches drüber stülpen würde. Vielleicht bräuchten die manchmal ein bisschen mehr Unterstützung, das will ich gar nicht verhehlen. Aber im Grundsatz wollen die das ehrenamtlich machen. Davon lebt das auch. Und deswegen ist das für mich jetzt gar nicht so ein Wert an sich, dass das jetzt kulturpolitisch durch die Decke geht […]. Die Gesamtheit, dass man sagt, wir haben so viele Traditionen und Dinge, die auch leben und das am Leben zu erhalten und auch zu fördern, die Gesamtheit sollte eigentlich sozusagen dadurch verstärkt werden. Und ich habe den Eindruck, dass das gelingen kann. Ob es schon gelungen ist, das weiß ich jetzt nicht, weil ich glaube, das ist ein langer Prozess.“ (K, Interview am 01.11.2018)

Auch Gertraud Koch macht diesen Punkt und akzentuiert ihn zudem etwas anders:

„Zentral ist Ehrenamt. Also wenn es um dieses Erhalten und Starkmachen geht, ist eigentlich das Ehrenamt, ohne das passiert nirgendwo was. Und [wir müssen] versuchen da auch wegzukommen von dieser Idee, dass es um Finanzierung, sondern eher um Ressourcing geht in einem viel, viel breiteren Verhältnis. Und ich glaube, da müssen wir den Trägergruppen Rückenstärkung auch geben, dass die dann auch sagen können: ‚Nein, in das Marketingheftchen gehen wir jetzt nicht rein‘, und da auch noch mal politisches Rüstzeug, oder Rüstzeug für den Umgang mit Politik, zu geben. Das wären, glaube ich, noch mal ziemlich zentrale Perspektiven auch.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Eine der Fragen, die diese Arbeit behandeln wollte, ist die Ansiedelung des Themas Immaterielles Kulturerbe auf dem Kontinuum zwischen kulturpolitischer Würdigung und Anerkennung von bürgerschaftlichem Engagement. Im Grunde muss man dies, wie die vorliegende Arbeit gezeigt hat, aber gar nicht als Entweder-oder-Frage behandeln, denn zivilgesellschaftliches Engagement kann staatliche Kultur(förder)politik ideal ergänzen. Einige meinen, der Staat sollte sich zunehmend im Bereich Kulturpolitik gar nicht mehr darauf beschränken, direkt, v. a. mittels finanzieller Förderung, zu intervenieren, sondern eine Impulse setzende, führende Rolle im Zusammenspiel mit privaten und zivilgesellschaftlichen Partnern einnehmen (vgl. Wimmer 2011: 82). Dazu gehört auch die Bereitstellung von Arenen der Aushandlung, was kulturpolitisch gemeinsam erreicht werden soll. Ein mögliches Mittel, dass – ähnlich wie in der Schweiz – auch in Deutschland hierbei zunehmend zum Einsatz kommen könnte, ist die Organisation von Foren, auf denen alle interessierten Akteure zusammenkommen und diese Fragen etwa im Hinblick auf das Immaterielle Kulturerbe gemeinsam und offen diskutieren können.

Das Aktivierungspotenzial von zivilgesellschaftlichem Engagement sollte im Rahmen der Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes noch einmal verschärft in den Blick genommen werden: Koch sieht ein großes Potenzial, „tatsächlich diese zivilgesellschaftlichen Dimensionen von Kultur hervorzuheben“ (E2, Interview am 25.10.2018), und damit auch das demokratisierende Potenzial von Kultur im Allgemeinen und dem Immateriellen Kulturerbe im Speziellen.

Der Deutsche Kulturrat und andere Dachverbände könnten die Potenziale des Immateriellen Kulturerbes, u. a. im Themenfeld Beheimatung einerseits und Weltoffenheit und geteilte Verantwortung der Menschheit für die vielfältigen kulturellen Erbeformen andererseits, noch fokussierter nutzen. Dies meint selbst der Präsident des Deutschen Kulturrats: „Ich finde, […] das, was da an Botschaften aus dem materiellen wie aus dem immateriellen Kulturerbe abzuleiten ist, dass das auch noch ein ungehobener Schatz ist, den wir noch viel größer ziehen könnten, auch im Kulturrat.“ (V, Interview am 06.11.2018)

Möglicherweise muss in diesem Zusammenhang auch die Begrifflichkeit, wie sie in Deutschland Anwendung findet, die sich in der Fachöffentlichkeit zwar inzwischen etabliert hat und sich natürlich auch an das Welterbe anlehnt, noch einmal überdacht werden. Eine Lösung wie in der Schweiz, wo man von ‚Lebendigen Traditionen‘ spricht, wäre denkbar. Zwar ist es bei den Trägergruppen überwiegend gelungen, die formale Begrifflichkeit ‚Immaterielles Kulturerbe‘ mit Leben auszufüllen, aber, ob sie selbst den Begriff im Alltag nutzen, ist fraglich, weil andere dann wiederum nichts damit anfangen können. (vgl. L, Interview am 15.11.2018)

Ein weiteres Problem ist jenes der sinkenden Aufmerksamkeit nach dem Anlass der erfolgten Auszeichnung einer Kulturform durch Aufnahme in ein Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes, was

„natürlich der Logik [folgt], dass die Länderkulturpolitik tatsächlich nicht für jede einzelne regionale Gruppierung zuständig ist. Und das folgt natürlich auch der Logik, dass viele Dinge gar nicht direkt im Kulturbereich verortet sind, was manchmal ja auch zu schwierigen Debatten führt, weil wir eben tatsächlich nicht die Zuständigkeit für Gesundheitsberufe, für Handwerk oder für Umweltpraktiken und Naturpraktiken haben. Also, wenn wir allerdings über gesellschaftspolitische Veränderungen diskutieren, könnte man natürlich sagen, in der Metaebene sind immer alle mitgedacht, aber [...] da will ich jetzt keine Haarspalterei betreiben. Ich glaube, dass es in der direkten Beschäftigung der Länder in kulturpolitischen Fragen eine geringe Rolle spielt.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Susanne Bieler-Seelhoff drückt damit aus, dass die Länderkulturpolitik durchaus jene Formen zu fördern versucht, die in ihre eigene Zuständigkeit fallen. Wo allerdings zum einen aus dem Grund, dass es eine sehr lokale Praxis ist, die in die Förderzuständigkeit der kommunalen Ebene fällt oder es zum anderen in anderer Ressortzuständigkeit liegt, dies nicht gegeben ist, sind den für Kultur zuständigen Landesministerien die Hände mehr oder weniger gebunden. Dass das Immaterielle Kulturerbe auf einem weiten Kulturbegriff beruht, sollte allerdings keine Einschränkung erfahren, wie auch der Vorsitzende des DUK-Expertenkomitees Christoph Wulf betont: „Also wir als Kommission sind der Auffassung, dass man das Spektrum ausschöpfen muss.“ (E1, Interview am 15.10.2018) Als Mittel gegen das Problem der verteilten Zuständigkeiten wäre eine Vertretung weiterer relevanter Bundesministerien (z. B. die für die Themen Umwelt, Landwirtschaft, Gesundheit und Wirtschaft zuständigen Ministerien) im DUK-Expertenkomitee – ähnlich wie im österreichischen Fachbeirat –, ggf. auch des Bundestags (vgl. Albert/Disko 2011: 20; wenn auch hier für die Mitgliederversammlung eines letztlich nicht zustande gekommenen Modells eines Nationalkomitees für Immaterielles Kulturerbe vorgeschlagen), denkbar. Eine vermutlich allerdings zu bevorzugende Variante, da sie nicht dazu führt, dass das DUK-Expertenkomitee mit weiteren Vertretern staatlicher Stellen besetzt wird, wäre die Gründung eines interministeriellen Arbeitskreises bzw. einer formaleren interministeriellen Arbeitsgruppe unter Führung des BKM. Dieser könnte sich zum Beispiel parallel zum Bewertungszeitraum des Expertenkomitees mit den vorliegenden Bewerbungen befassen und zu den in die jeweiligen Ressorts fallenden Themen dem BKM eine kurze Einschätzung geben. Einen Hinweis auf die mögliche Zusammensetzung gibt die Beratung der Ausschüsse der Beitrittsanträge von 2011 im Deutschen Bundestag (vgl. Abschnitt 6.1.3.): Demnach müssten mindestens das AA, das BMJ, das Finanzministerium, das Wirtschaftsministerium mit den Zuständigkeiten für Handwerk, Tourismus sowie die für die Themen Ernährung, Landwirtschaft, Umwelt und Verbraucherschutz zuständigen Ressorts vertreten sein. Ein weiterer positiver Aspekt dieser Maßnahme wäre, dass die Ressorts frühzeitig über möglicherweise anstehende Anerkennungen als Immaterielles Kulturerbe aus ihren Zuständigkeitsbereichen informiert würden. Frühzeitig könnten sie gegebenenfalls bestehende Bedenken zum Ausdruck bringen und würden zugleich ein Ownership für die Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes entwickeln und diese auf breitere Beine stellen. Dies könnte in der Folge, ebenfalls wie in Österreich, mittels Projektförderungen auch Bereiche des Immateriellen Kulturerbes stärken, die bisher aus den Kulturhaushalten eben nicht gefördert werden konnten, wie Handwerk, Naturpraktiken usw. und damit zugleich das Thema insgesamt in der Breite besser aufstellen. Auch in den Ländern wäre eine oben beschriebene Variante der strukturierten Einbeziehung der Expertise weiterer Fachressorts in der Vorbewertung der Bewerbungsdossiers denkbar. Möglicherweise kann der Wettbewerbsföderalismus hier einen Beitrag zur testweisen Einführung leisten, wenn ein Bundesland dieses Modell in einer kommenden Bewerbungsrunde zur Unterstützung der Länderjury bzw. der Facheinschätzung des für Kultur zuständigen Ministeriums einmal ausprobieren sollte und seine Erfahrungen anschließend teilt.

Den Blick auf die Gefährdung von Formen Immateriellen Kulturerbes hat man in Deutschland bislang weitgehend gescheut. Dies könnte zum einen mit der Befürchtung zusammenhängen, dass staatlichen Stellen daraus finanzielle Verpflichtungen erwachsen könnten (vgl. E1, Interview am 15.10.2018), zum anderen aber auch damit, dass man der Auffassung war, dass

„die Konvention ja eigentlich grundsätzlich erst einmal für andere Erdteile gedacht war und tatsächlich das gefährdete Immaterielle Kulturerbe ja in den Mittelpunkt gerückt hat. Und das war auch [anfangs] doch eine inhaltliche Diskussion, brauchen wir so etwas eigentlich? Und im Übrigen kann man die Frage auch heute immer noch stellen. Und die wird auch teilweise noch gestellt. Lebt sich aber mittlerweile […] anders. Also wir sind, glaube ich, bisher ganz, ganz rar konfrontiert worden wirklich mit aussterbendem Immateriellem Kulturerbe in Deutschland. Sondern eher mit kulturellen Praktiken, die eine Vergangenheit haben und die auch in unseren Augen zumindest jetzt auch noch eine Zukunft haben.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Tatsächlich hat sich – entgegen der Vorhersage von Klaus von Beyme (2010: 273) – der Staat mit der Umsetzung der UNESCO-Konvention erstmals den nicht-gefährdeten populären Kulturformen gewidmet. Zuvor war er bei lebendigen Kulturformen, wie Volksliedern und Fastnacht, kulturpolitisch erst eingeschritten bzw. den Traditionsträgern zur Hilfe gekommen, wenn eine Gefährdung des Bestands drohte. Dass dies nun mit der nationalen Umsetzung der 2003er-UNESCO-Konvention gar nicht verfolgt wurde, lässt sich nur aus den Ängsten der Anfangszeit vor finanziellen Verpflichtungen erklären.

„Aber wir haben natürlich auch Bereiche, wie die Türen auf dem Darß, die von Zimmerleuten in ganz besonderer Weise hergestellt werden, die nur in dieser Region da sind. Und jetzt kann man natürlich das abklären und sagen, na ja, das sind ein paar Dutzend Leute und wenn die sterben, dann ist das eben vorbei. Aber man kann natürlich auch sagen, das ist ein kulturelles Wissen, dass es sinnvoll ist, zu erhalten in dieser Region. Wenn die Menschen es erhalten wollen, dann kann man sie dabei unterstützen. Wenn sie es nicht mehr erhalten wollen, geht es zugrunde.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Den Intentionen der UNESCO bzw. des Vertragstextes würde es entsprechen, wenn man diesen Aspekt künftig auch in Deutschland stärker betont und in die Umsetzungsmaßnahmen einbezieht. Auch der bis zum Jahr 2018 im Expertenkomitee als Vertreter der Kommunen präsente Jörg Freese sieht die Frage der Erhaltungsbedürftigkeit als möglichen stärkeren Akzent für die Zukunft: „Gefährdung ist ja ein weiter, dehnbarer Begriff, aber solche Sachen [sollte man] eben auch im Blick [behalten].“ (K, Interview am 01.11.2018)

Eine weitere Empfehlung wäre, das Thema Immaterielles Kulturerbe durch eine rechtliche Verankerung zu stärken. Vom rechtlichen Standpunkt aus betrachtet, existiert Immaterielles Kulturerbe als Konzept in Deutschland bis heute nicht, da, bis auf eine Ausnahme, keiner der Aspekte des Umgangs mit den entsprechenden Kulturformen, auch nicht hinsichtlich ihrer Finanzierung oder anderer Erhaltungsmaßnahmen, rechtlich geregelt ist (vgl. Schönberger 2017: 4). Zwar ist das Politikfeld Kultur vergleichsweise wenig verrechtlicht, allerdings gerade im Kulturerbebereich und teilweise selbst darüber hinaus nimmt gerade in den letzten Jahren die Rechtssetzungstätigkeit der Länder zu. Doch nur im Kulturfördergesetz NRW bzw. in seiner Weiterentwicklung zum Kulturgesetzbuch NRW wird die Förderung des Erhalts und der Pflege des Immateriellen Kulturerbes, sowie die Erfassung und Sichtbarmachung durch öffentlich zugängliche Inventare, Verzeichnisse und Portale – insbesondere die Dokumentation im NRW-Landesverzeichnis – explizit erwähnt.

7.2.3 Justierungen beim Inventarisierungsverfahren

Im direkten Zusammenhang mit einer Unschärfe, welche Ziele die Akteure mit dem Instrument der UNESCO-Konvention in Deutschland erreichen wollen, bleibt auch der von den politisch Verantwortlichen angestrebte Charakter des Bundesweiten Verzeichnisses weitgehend unklar: Bei der Ausformulierung einer entsprechenden Strategie wäre etwa eine Orientierung an der Schweiz, wo einerseits die Singularität der aufgenommenen Kulturformen betont wird, andererseits aber auch ein Augenmerk auf Repräsentativität im Sinne einer Exemplifizierung weiterer ähnlicher Phänomene bei der Auswahl gelegt wird. Konkret heißt es im Schweizer Inventarisierungsleitfaden:

„Die lebendige Tradition weist gegenüber anderen lebendigen Traditionen in der Schweiz oder im Ausland unterscheidende Merkmale auf (Singularität) und eignet sich durch ihre Ausstrahlung, eine Gruppe ähnlicher lebendiger Traditionen zu repräsentieren (Repräsentativität). Ihre Einschreibung trägt dazu bei, das Bewusstsein für die kreative Vielfalt der lebendigen Traditionen in der Schweiz zu fördern.“ (Bundesamt für Kultur 2010: 11)

Im Grunde entspricht dies im Großen und Ganzen zwar der Auswahlpraxis im DUK-Expertenkomitee, aber explizit gemacht wird dies als Auswahlansatz nicht. Im Idealfall sollte genauer untersucht werden, inwiefern die Praxis – Stand Oktober 2023 sind 144 Kulturformen und Erhaltungsprogramme ins Bundesweite Verzeichnis aufgenommen worden – überhaupt den Absichten, die man mit der Inventarisierung verfolgt, entspricht, und dann entsprechende Anpassungen vornehmen. Dafür allerdings müsste man eben vorab diese Absichten zunächst einmal gemeinsam im Policy-Netzwerk definieren, ausformulieren und somit transparent machen.

Häufige Kritik am deutschen Modus der Inventarisierung gibt es zum einen an der vermeintlichen Inflation von Einträgen und zum anderen an der ebenfalls vermeintlichen Zufälligkeit der Zusammensetzung des Verzeichnisses. Dem ersten Vorwurf hält die stellvertretende Vorsitzende des DUK-Expertenkomitees, Gertraud Koch, entgegen: „Es ist toll, dass wir so viel haben. Und Prinzip muss eben die Qualität sein, um das Kulturerbe, das immaterielle, zu beurteilen. [… D]a gibt es ja eine Reihe: identitätsstiftend, Verankerung in den Trägergruppen, besondere Ausdrucksform und so weiter.“ (E2, Interview am 25.10.2018) Mit anderen Worten: Wenn die Kriterien erfüllt sind, was durchaus auch bei einem weiten Kulturverständnis einen hohen Qualitätsanspruch in inhaltlicher Hinsicht und Aussagekraft bedeuten kann, ohne dabei allerdings nur ‚Hochkultur‘ zu würdigen (vgl. Germelmann 2013: 12), spreche nichts gegen viele Einträge im Verzeichnis. Dem ist im Sinne der Ziele und des Geists des Übereinkommens zuzustimmen. Andernfalls würde sich der gerade nicht angestrebte Wettbewerbscharakter zwischen den Kulturformen bzw. ihren Trägergruppen verschärfen. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die Perspektive des Verbandsvertreters Christian Höppner:

„Ich bin […] ja der Meinung, dass es nicht genug sein kann […]. Ich meine, klar, je mehr es wird, desto schwieriger wird es, das dann auch noch unterscheidbar zu machen, noch diese Einmaligkeit der jeweiligen Auszeichnung damit klarzumachen, aber […] es ist sicher eine Herausforderung, auch wieder an die Kommunikation, an die Öffentlichkeitsarbeit, gar keine Frage. Da würde ich mir auch noch mehr wünschen. Also, das klingt jetzt alles vielleicht ein bisschen, wir leisten es ja selber nicht als Kulturrat, aber da würde ich mir mit dem Potenzial, das ich in der [...] Deutschen UNESCO[-Kommission] vermute, einfach noch mehr wünschen und auch noch mehr politische Treffen.“ (V, Interview am 06.11.2018)

Gleichzeitig wäre aber statt einem rein additiven Inventarisieren, wie es seit 2013/14 in Deutschland erfolgt, eine echte Evaluation der bestehenden Verzeichniseinträge und Aktualisierung des Verzeichnisses spätestens alle sechs Jahre vergleichbar dem Vorgehen in der Schweiz zu empfehlen (vgl. Koslowski 2015b: 41). Auch Flandern mit seinem Verfahren der Verknüpfung der Trägergruppen mit Kulturerbeexperten bzw. -organisationen und der Vorlage von konkreten Erhaltungsplänen böte interessante Ansatzpunkte für eine qualitative Weiterentwicklung bestehender Einträge. Schon die Machbarkeitsstudie zur deutschen Umsetzung forderte, dass das Verzeichnis „regelmäßig (z. B. alle fünf Jahre) überprüft und aktualisiert werden [müsste], um sicherzustellen, dass die enthaltenen Elemente die Aufnahmekriterien weiterhin erfüllen“ (Albert/Disko 2011: 28). Eine solche Evaluation wurde von der DUK-Geschäftsstelle und dem -Expertenkomitee bereits ab etwa 2017 angestrebt – über verschiedene kollaborative Verfahren mit den Trägergruppen wurde dabei bereits nachgedacht. Aus Ressourcengründen musste das Projekt jedoch immer wieder zeitlich geschoben werden.

„Ich denke, wir sind ja immer beim Nachsteuern. Das ist schon auch Teil von solchen Anfangsprozessen. Die Richtung, die wir dabei genommen haben, finde ich, ist, gerade auch vor dem internationalen Hintergrund, gut. Ich denke, dass wir bei diesem Aspekt der Lebendigkeit wahrscheinlich noch mal ein bisschen Hausaufgaben haben, weil die Liste sich weiterentwickelt und die Frage ist: Wie sieht es in fünf Jahren aus? Sind die, die schon lange drauf sind, von Anfang an, noch lebendig? Und dann mal Instrumente auch zu entwickeln, die dann eben auch die Träger nicht diskreditieren.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Auch eine zeitliche Begrenzung der Aufnahme statt einer Quasi-Ewigkeits-Listung für das Bundesweite Verzeichnis könnte man im Rahmen einer solchen Evaluation als Option prüfen. Dies war auf UNESCO-Ebene in den Anfangsjahren eine diskutierte Vorgehensweise, u. a. um bei den Trägergruppen der Kulturformen auf den Listen nicht den falschen Eindruck zu erwecken, sie müssten nun für alle Zeit die Tradition genau so weiterpflegen wie einmal beschrieben (vgl. Meyer-Rath 2007: 168). Es würde auch der Idee entsprechen, dass eine Kulturform zwar repräsentativ für Immaterielles Kulturerbe steht, jedoch nicht besser oder höher als andere Formen gewertet werden sollte (vgl. Letzner 2013: 61). Die Idee fand allerdings keinen Eingang in den Text der Richtlinien zur Durchführung des Übereinkommens, wird aber in den letzten Jahren in den internationalen Konventionsgremien zunehmend wieder diskutiert.

Für eine gewisse Differenzierung könnte auch die Einrichtung thematischer Verzeichnisse sorgen. Wie in der Schweiz könnte man auch in Deutschland zum Beispiel lebendige Traditionen mit stark kulinarischem Charakter in ein eigenes Verzeichnis auslagern. Auch Frankreich führt neben dem zentralen mehrere kleinere, thematische Verzeichnisse des Immateriellen Kulturerbes. Die Verantwortung für diese Verzeichnisse müsste in Deutschland auch nicht beim Staat liegen, sondern diese könnten geeignete zivilgesellschaftliche Organisationen, wie Verbände oder Vereine, übernehmen. Denkbar wäre eine solche thematische Inventarisierung etwa auch für die Vielfalt der Karnevals-, Faschings- und Fastnachtsbräuche oder der Stadtfeste.

Bei der Öffentlichkeitsarbeit wird über die Landesverzeichnisse hinaus im Übrigen ein regional differenziertes Vorgehen unter Beteiligung aller Akteure gefordert:

„Ob das immer jetzt bundesweit sein muss, also sagen wir, die Deutsche UNESCO-Kommission interessiert […] oder ob es auch in den Ländern passiert, das ist vielleicht sogar noch mindestens genauso nötig und sinnvoll, weil man dadurch auch der oft ja Regionalität, das sind ja längst nicht alles bundesweite Geschichten, dann auch da eher Rechnung tragen kann. […] Das finde ich, das ist eine Aufgabe, die nicht nur an die UNESCO geht, sondern auch an die DUK und eben auch an die Länder und wenn es sehr kleinräumig ist, natürlich auch an uns [die kommunale Ebene, Anm. d. Verf.].“ (K, Interview am 01.11.2018)

Zum zweiten Einwand gegen die Zusammensetzung des Bundesverzeichnisses – die Zufälligkeit der Bewerbungen – gibt Susanne Bieler-Seelhoff zu bedenken, dass man am Anfang vielleicht noch aktiver hätte Hilfestellung geben müssen, denn „jetzt ist es schwierig, noch einmal so ein zentrales Moment […] zu setzen. Und jetzt muss sich das quasi zurechtmendeln, dass wir da einen guten Querschnitt an Themen haben.“ (L, Interview am 15.11.2018) Auch Birgitta Ringbeck äußert in dieser Hinsicht einen Vorschlag:

„Also […] wir haben ja jetzt einen Bottom-up-Ansatz im Moment. Aber manchmal würde ich mir schon wünschen, auch mal von oben zu gucken aus wissenschaftlicher Sicht so. Ich meine, ICOMOS hat für die Welterbe-Konvention verschiedene Gaps ausgemacht. Und diese Gap-Analyse […], aus nationaler und auch aus internationaler Sicht finde ich die immer ganz spannend. Wenn man also über die verschiedenen Formen hinweggeht und sagt, wenn wir weltweit gucken und wenn wir national gucken, was bräuchten wir eigentlich noch auf der Seite?“ (B, Interview am 05.11.2018)

Eine Mischung verschiedener Modelle stünde auch aus Sicht der Ländervertreterin Deutschland gut zu Gesicht. Sie erinnert u. a. daran, dass in der durch und durch föderalistischen Schweiz die Zentralebene Vorschläge zur Zusammenfassung von Bewerbungen machen könne. In Österreich wiederum wurden von der dortigen UNESCO-Kommission zum Teil Schwerpunktthemen, etwa nach den in der Konvention genannten Bereichen, vorgegeben, um Lücken zu füllen.

„Weil [der Zentralstaat] durchaus einen Überblick hatte, über die verschiedenen auch regionalen [Praktiken], also es wären ja hier im Umkehrschluss die Länder, was passen könnte in die Konvention, und hat Themenfelder vorgegeben. Das finde ich gar nicht so schlecht, um auch tatsächlich, jetzt gar nicht im Sinne von abschließend, einen Kanon vorzugeben, aber gleichzeitig doch einmal Leitplanken zu setzen, was da reingehören würde oder was zwingend eigentlich sowieso schon auf der Agenda steht, und wo noch etwas fehlt.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Die Idee nach einer gewissen Zeit, zum Beispiel nach zehn Jahren Umsetzung, einen wissenschaftlich fundierten, ergänzenden Blick auf das aus dem zivilgesellschaftlich getragenen Verfahren gewachsene Verzeichnis zu werfen, ist sicherlich eine Überlegung wert. Dies muss dem gewählten Verfahren mit Bottom-up-Bewegung auch nicht widersprechen bzw. konkurrierend gegenüberstehen, sondern kann dieses ergänzen bzw. sich einfügen, wie die Erfahrungen aus der Schweiz zeigen (siehe Abschnitt 4.4.2.2.). Diese Reihenfolge des Vorgehens – umgekehrt zu jenem in Frankreich, wo man zunächst top-down vorging und dies dann bottom-up ergänzen wollte (siehe Abschnitt 4.4.2.4.) – kann dazu beitragen, dass die erwähnten Lücken gefunden werden, ohne dass die Bottom-up-Bewegung, die dem Geist der Konvention zweifelsohne besser entspricht, gestört wird. Bleibt man in der Logik des deutschen Vorschlagsverfahrens, was für die Konsistenz und Konstanz zu empfehlen ist, müsste man auch in der Top-down-Analyse geeignete Trägergruppen identifizieren und Vorschläge nach dem etablierten Verfahren generieren. Eine konkrete Idee wäre, dass dies die im Expertenkomitee vertretenen Experten selbst initiieren bzw. sogar an ihren Lehrstühlen und Universitäten selbst durchführen. Die DUK könnte dies mit ihrer Geschäftsstelle begleiten. (vgl. B, Interview am 05.11.2018) Birgitta Ringbeck meint zudem als Vorschlag in Richtung DUK: „Ich würde jetzt mal die einschlägigen Forschungsinstitute in Deutschland zu einer Konferenz zusammenholen.“ (B, Interview am 05.11.2018) Gesellschaftlich noch deutlich breiter anlegen würde diese Aufgabe der im Rahmen dieser Arbeit befragte Verbandsvertreter Christian Höppner:

„Mein Fokus wäre tatsächlich, das wäre vielleicht noch einmal eine spannende Frage, dass man so einen, Brainpool oder so was, dass man wirklich mit einer offenen Diskussion noch mal draufguckt, was haben wir heute? Wo geht es vielleicht perspektivisch hin von der gesellschaftlichen Entwicklung, von der kulturellen Entwicklung? Wie vernetzt sind wir eigentlich mit dem kulturellen Umfeld, dem näheren und weiteren? Wo gibt es noch weiße Flecken? Also da würde ich mir jetzt nicht anmaßen, das schon mal konkret benennen zu wollen, aber so ein Gefäß, […] in der Mischung aus DUK und Zivilgesellschaft. Und auch an Stellen noch mal schauen, dass man Fachexpertise dazu kriegt, wo man ganz frei offen rumspinnen kann. Das könnte ich mir sehr gut vorstellen, Und wenn man feststellt, wir haben schon alles, ist ja auch gut, aber dass man das noch mal aufgreift.“ (V, Interview am 06.11.2018)

Die Anregung noch einmal über ein großes offenes Forum ein zentrales Momentum zu schaffen, könnte mit einer vorgeschalteten wissenschaftlichen Analyse und einer Reflexion der Länder und des Bundes anlässlich des im sechsjährigen Turnus durchgeführten Staatenberichtsverfahrens verbunden werden. Ein weiterer Aspekt der Bestandsaufnahme der nationalen Umsetzung ist die Kommunikation der Einträge und des Verzeichnisses in seiner Gesamtheit:

„Da gibt es ja auch […] Überlegungen zu sagen, irgendwann muss man ja auch mal Punkte machen und sagen, so, jetzt haben wir das schon so und so viel Jahre und das und das ist alles auf den Listen [...]. Irgendeinen Marketing-Experten [müsste man] da mal fragen, zu sagen, wie kann man das mal so ein bisschen aufbereiten, dass das sozusagen auch in der Kulturpolitik noch stärker deutlich wird, was das eigentlich alles ist. Die verschiedenen [Kulturformen], aber was auch zusammengehört. Und dass dann mit allen Sinnen begreifbarer machen. Ansonsten wird es ja schwierig, das zu verkaufen. Weil tolle Musik oder tolles Theater oder tolles Kino kann man schnell verkaufen. Diese Breite ist natürlich nicht so einfach. Und deswegen, das müsste man wahrscheinlich mal machen, wenn zehn Jahre rum sind oder so.“ (K, Interview am 01.11.2018)

Im Jahr 2013 gab es im Ergebnis des von der DUK organisierten Fachsymposiums in Berlin die Idee, alle (ernsthaften) Vorschläge, die für das Bundesweite Verzeichnis gemacht wurden in einer Online-Datenbank zu dokumentieren: zum einen als Nachweis eines transparenten Prozesses der Verzeichniserstellung und zum anderen, um denjenigen Anerkennung zukommen zu lassen, deren kulturelle Ausdrucksform aus verschiedenen Gründen (noch) nicht ins Verzeichnis aufgenommen werden konnte. Wohl vor allem aus Ressourcengründen und weil ihm keine hohe Priorität zugemessen wurde, wurde dieser Vorschlag nicht weiterverfolgt. Möglicherweise sollte man dies aber noch einmal erwägen, um ein gutes Verhältnis zwischen der Würdigung aller Vorschläge und insbesondere auch von Kulturformen, die nur aufgrund von Kapazitätsproblemen in den Trägergruppen noch nicht die Aufnahme ins Verzeichnis geschafft haben, auf der einen Seite und den ins Verzeichnis aufgenommenen und repräsentativ für die Vielfalt stehenden Kulturformen auf der anderen Seite darzustellen.

Eine Herausforderung für ein großes Land wie Deutschland bleibt das in der Konvention angelegte Erfordernis der umfassenden Beteiligung der Kulturakteure, die Träger Immateriellen Kulturerbes sind, bei allen diese Kulturformen betreffenden Fragen, etwa der Identifizierung, der Erhaltung, der Weitergabemaßnahmen usw. Wie dieses bei der Gestaltung der Projekte, Programmen und insbesondere auf Ebene der Strategien zur nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention angemessen strukturell berücksichtigt werden kann, ist bisher nicht befriedigend beantwortet worden. Den am deutschen Inventarisierungsprozess Beteiligten möchte man empfehlen, die Einbindung aller Gruppen(-mitglieder) im Bewerbungsverfahren noch sorgfältiger sicherzustellen, Konflikte in diesen Prozessen auch durchaus in Kauf zu nehmen und produktiv zu nutzen, da dies sehr gewinnbringend für das eigentliche Ziel der Erhaltung der Kulturformen im Hinblick auf die innere Organisation und Zukunft einer Trägergruppe sein kann. Gertraud Koch meint etwa: „Ich kann mir vorstellen, das dringt nicht zu uns, aber ich höre so bisschen aus der Sankt-Pauli-Initiative, dass es Leute gibt, die sagen: ‚Wollen wir gar nicht‘.“ (E2, Interview am 25.10.2018) Das Expertenkomitee bzw. das gesamte Verfahren mit allen beteiligten Akteuren müsste hier Wege finden, dass wirklich gut informierte Entscheidungen über eine Bewerbung oder Nicht-Bewerbung getroffen werden (vgl. E2, Interview am 25.10.2018) Ein mögliches Vorgehen wäre, explizite Einverständniserklärungen aller Trägergruppen bzw. aller an einer Kulturform Beteiligten mit der Bewerbung zu fordern, so wie es in Österreich gemacht wird – dies war einer der wenigen Punkte, die Deutschland nicht vom Bewerbungsverfahren des Nachbarlands übernommen hatte. Auch das flämische Modell einer engeren Zusammenarbeit mit Experten und der Aufstellung eines mit allen Trägern abgestimmten Erhaltungsplans liefert hierbei vermutlich bessere Ergebnisse. In diesem Zusammenhang sowie anknüpfend an die oben nachgezeichnete Debatte, ob zu viel oder zu wenig Einträge im Bundesweiten Verzeichnis erfolgen, wäre möglicherweise auch zu überlegen, ob die Eintragungen vom Umfang der Kulturform, den Titeln und Trägergruppen künftig nicht lieber spezifischer, also kleinteiliger, sein sollten statt tendenziell generalistisch, wie es bisher häufig der Fall ist. Hier ist im Vergleich der Praxis der Expertengremien beziehungsweise ihrer Geschäftsstellen in den einzelnen Vertragsstaaten (siehe Abschnitt 4.4.2.) sowie auf UNESCO-Ebene ein durchaus sehr unterschiedliches Vorgehen zu beobachten. Gerade international für die UNESCO-Listen gibt es aber Vorbehalte gegen zu große Elemente mit relativ unspezifischer Trägerschaft.

In Anbetracht der Verfahren der UNESCO-Nominierungen in Deutschland wird empfohlen eine Art Tentativliste nach Schweizer bzw. Welterbe-Vorbild einzuführen, um mehr Spielraum in der zeitlichen Reihung zu haben als es über das aktuelle Verfahren möglich ist. Faktisch hat sich dies sowieso bereits etabliert, wenn UNESCO-Nominierungen vom DUK-Expertenkomitee empfohlen und von Ländern und BKM im Benehmen bestätigt werden, dauert es mittlerweile mehrere Monate oder auch Jahre bis diese eingereicht werden. Anfangs war man davon ausgegangen, dass die Übertragung der Informationen aus den Bewerbungen für das Bundesweite Verzeichnis auf die UNESCO-Formulare in bis zu drei Monaten zu schaffen sei. Einige Nominierungsprojekte, zumal, wenn sie multinationale Elemente betreffen, benötigen aber allein angesichts der geforderten Beteiligungsprozesse deutlich mehr Zeit bzw. ihre Qualität leidet unter zu hohem Zeitdruck, wie die DUK und die Trägergruppen sowie im internationalen Rahmen dann das AA in den Anfangsjahren der deutschen Konventionsmitwirkung erfahren mussten.

Zur Besetzung des DUK-Expertenkomitees und der Verbreiterung der dort versammelten Expertise gibt es weitere Überlegungen, bei der DUK, aber auch aus dem Kreis der aktuellen Mitglieder auf Basis ihrer unmittelbaren Erfahrungen:

„Also gerade in den Bereichen, wo es um Natur geht, da brauchen wir noch mal Kompetenz oder auch Informationen hinsichtlich von gesellschaftlichen Auseinandersetzungsprozessen, die gerade laufen. Vielleicht muss man teilweise Gutachten einholen. Ich denke, dass wir als Expertengremium ganz gut besetzt sind, aber das ist natürlich immer ein Ausschnitt. Und dann wird man in Detailfragen vielleicht noch mal Informationen brauchen. […] Wir haben ja oft Fragen, die wir gar nicht beantworten können, die aber auch so speziell sind, dass es sich nicht lohnt, dafür extra Expertise ins Komitee zu holen.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Gertraud Koch formuliert ihre Wünsche, denen sich der Autor der vorliegenden Arbeit anschließt, für die künftige Umsetzung der UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe in Deutschland im Zusammenhang mit der Inventarisierung wie folgt:

„Also, ich würde mir wünschen, dass das natürlich noch breiter wahrgenommen wird, dass ein Verständnis auch wächst darum, was da alles darunterfällt und dass die Lebendigkeit und die Trägergruppen im Zentrum stehen, dass sich auch Verbandsfunktionäre nicht gemüßigt fühlen, das für sich zu instrumentalisieren und dass wir sehr viel stärker auch noch mal Gruppen bekommen, die nicht verbandsstrukturmäßig organisiert sind. Also so ein bisschen die, die auch nicht so geübt sind in diesen Formen der Beantragung, in den Blick zu bekommen.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Der im Zitat angesprochene Umgang mit Verbänden ist im Kontext Immaterielles Kulturerbe nicht leicht zu beurteilen. Während sie gerade in der Interessenbündelung und deren professioneller Vertretung in anderen Bereichen von Kulturpolitik, aber auch beim Immateriellen Kulturerbe, eine durchaus positive Rolle spielen sowie als Dachorganisation von Praktikern und als eine demokratisch legitimierte Repräsentanz der organisierten Zivilgesellschaft ideale Ansprechpartner für Kulturpolitik und -verwaltung sind, gibt es beim Immateriellen Kulturerbe auch eine negative Seite ihrer Rolle. Es besteht häufig der Verdacht zu starker (verbands-)politischer Einflussnahme auf die Bewerbungsprozesse und dass diese nur für ein Lobbying in eigener Sache bzw. für ein Interesse, das nicht unbedingt hundertprozentig der Erhaltung der Kulturformen dient, missbraucht würden. Damit zusammenhängend wird häufig das Risiko einer drohenden Entfremdung der Praktiker von ihrer Kulturform gesehen und zudem, dass Kulturverbandsbürokratien „unverdient“ zu Nutznießern einer Anerkennung werden. Als Gegenbewegung hat man sich seitens der Experten und der Geschäftsstelle der DUK die Stärkung kleiner, ehrenamtlicher Gruppen u. a. durch Verstetigung bzw. Stärkung des in Abschnitt 6.3.1.3. beschriebenen Mentoring-Programms auf die Fahnen geschrieben.

7.2.4 Netzwerk der Trägergruppen stärken und managen

Nach der Anerkennung wird von vielen Trägergruppen eine wieder sinkende Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit moniert – der Vorteil im Rahmen der „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ hält oft nicht lang über die Auszeichnungsfeier und entsprechende Medienberichte hinaus an. Die Gruppen fragen sich dann, welchen Nutzen sie von der Würdigung als Immaterielles Kulturerbe eigentlich konkret haben. An dieser Stelle wäre nach den Erörterungen der vorliegenden Arbeit zu empfehlen, dass sich Bund, Länder, aber insbesondere auch die Kommunen konkrete Gedanken machen, wie sie die Kulturformen und ihre Trägerschaften insgesamt, aber auch im jeweils einzelnen Fall, praktisch unterstützen können. Dafür müssen sich die Kulturträgergruppen in ihren Gemeinden, gegenüber den Kulturverwaltungen, Gehör verschaffen und sich in lokale Politik einmischen (vgl. Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft 2015: 27) – eine Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe ist dafür eine gute Voraussetzung, aber eher der Startpunkt als das Ziel. Ergebnis kann dann eine kleine regelmäßige Zuwendung an die Kulturträger sein oder auch die Bereitstellung kostenloser Räumlichkeiten – also klassische Maßnahmen der Kulturförderung – aber auch logistische und/oder rechtliche Unterstützung durch die Kommunalverwaltungen (z. B. bei Veranstaltungen im öffentlichen Raum). Da gibt es bereits gute Beispiele, an denen man sich orientieren kann – einige hat die DUK 2016 in einem Handbuch (siehe Abschnitt 6.3.1.3.) zusammengefasst.

„Da hilft der Bauhof beim Transport von Bühnenteilen, stellt Farbe und Baumaterial aus Restbeständen zur Verfügung oder sperrt die Straße für eine Musikveranstaltung. Gemeindeeigene Räume werden kostenlos überlassen und Energiekosten von der Gemeinde übernommen.“ (Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft 2015: 29)

Gertraud Koch berichtet Ähnliches aus einem von ihr verantworteten Forschungsprojekt:

„Also was wir sehr stark wahrgenommen haben, ist diese lokale Verankerung tatsächlich in einem breiten Sinne. Wo dann halt der Sparkassendirektor wegguckt oder sagt: ‚Ja, ist in Ordnung‘, wenn praktisch Dienstzeit abgeschnitten wird für irgendeine Aktivität. Oder irgendwelche Flächen, die da sind bei der Gemeinde oder auch bei Privatleuten fürs Unterstellen von irgendwelchen Fastnachtswagen. Also wo so ein informeller Konsens ist, dass es etwas Wichtiges ist, und man ohne zu fragen Ressourcen nutzen lässt, die so oder so da sind, wo es einem nicht so weh tut, wo man weiß, man kriegt auf der anderen Seite auch wieder einen Gefallen. […] Das scheint mir essenziell auch für den sozialen Kit, den das [Immaterielle Kulturerbe] ja auch bilden soll.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Weiterhin könnte der Austausch von Seiten der Kulturpolitik zwischen den Kulturformträgerschaften stärker gefördert werden. Durch eine stärkere und kontinuierliche Vernetzungsarbeit könnten neue Impulse gesetzt werden. Die Aussage „while the [ICH Convention] provides an important framework and reference point, effective safeguarding will continue to depend on the resilience and energy of stakeholders“ (Akagawa/Smith 2019: 9) gilt an dieser wie auch an vielen anderen Stellen, bedarf aber einer aktiven Förderung.

Auch wenn es zwischen einzelnen Akteuren im Policy-Netzwerk des Immateriellen Kulturerbes bereits einen relativ intensiven Austausch gibt – was im Rahmen dieser Arbeit zwar nicht vertieft mittels einer Netzwerkanalyse untersucht werden konnte, wofür es aber aufgrund der hier erfolgten Analysen dennoch zahlreiche Belege gibt –, gilt es doch in Zukunft an vielen Stellen diesen Austausch noch einmal deutlich zu intensivieren. Im Rahmen von Vernetzungstreffen könnten gemeinsame Probleme und Lösungswege, eine attraktivere öffentliche Darstellung des Immateriellen Kulturerbes oder gemeinsame kulturelle bzw. künstlerische Interventionen oder auch Vermittlungsaktivitäten zum Beispiel von zwei verschiedenen Kulturformen Themen sein. Die Trägergruppen der Verzeichniseinträge kommunizieren untereinander relativ wenig miteinander, wenn sie nicht bereits zuvor in gemeinsamen Kreisen oder Arbeitsgruppen aktiv waren, wie z. B. die Aktiven des Peter-und-Paul-Fests Bretten in der AG Kinder- und Heimatfeste Süddeutschland – dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass es dafür an gemeinsamen Anlässen und Anreizen fehlt. Auch mit der Politik und der Verwaltung bestehen seitens der Trägergruppen nur sporadische Kontakte. Hier könnten Beratungsstellen stärker auch eine Rolle in der Vernetzung und Beratung von bereits anerkannten Kulturformen spielen. Im Erfahrungsaustausch quer zu den genauen Ausprägungen der kulturellen Ausdrucksformen zu spezifischen Themen (wie Weitergabe mit Bildungs- oder Medienarbeit, Fördermittelakquise usw.) liegt ein noch nicht gehobenes Potenzial der Anerkennung und Konstituierung der neuen Akteursgruppe der Trägerschaften Immateriellen Kulturerbes. Aber auch unter den politischen Akteuren und unter den von diesen mit Evaluierungen und Beratung betrauten Experten gibt es trotz bestehender Foren und Gelegenheiten für diese Zwecke noch Bedarf des strukturierten Austauschs: „Ich glaube, wir müssen einfach alle Akteure, auch die Länderjurys […], noch stärker miteinander vernetzen.“ (L, Interview am 15.11.2018) Hierfür müsste die DUK-Geschäftsstelle, wenn sie dies künftig im Sinne eines Netzwerkmanagements – was bisher nicht zu den offiziell benannten Aufgaben der einen dafür vorgesehen Person gehört – bzw. einer Rolle als moderner „Cultural Broker“ stärker fördern soll, besser mit Personal- und Finanzressourcen ausgestattet werden, um Kontakte regelmäßig pflegen und diese wiederum miteinander in Kontakt bringen zu können. Die KMK-Machbarkeitsstudie zum deutschen Beitritt sah zwei bis drei Mitarbeitende als notwendig für die Aufgabenerfüllung an, schränkte allerdings ein, dass bei Anbindung an die DUK ggf. weniger Aufwand entstünde. Eine Aufgabenkritik mit Abgleich der Wünsche und Erwartungen der politischen Akteure vor dem Hintergrund einer Strategie für den Umgang mit dem Immateriellen Kulturerbe in Deutschland (siehe Empfehlung in Abschnitt 7.2.3.) erscheint inzwischen dringend notwendig. Eine Netzwerkmanager-Rolle könnten allerdings auch dezentral die Länderansprechpersonen für das Immaterielle Kulturerbe künftig noch stärker übernehmen. Dafür wiederum wäre auch ein strukturiertes Weiterbildungsprogramm zu Themen des Immateriellen Kulturerbes ein gutes Instrument, mit dem nicht nur Kenntnisse und Informationen vermittelt, sondern auch ein Austausch unter den wichtigsten Akteuren befördert würde.

Auch eine Partnerschaft von Trägergruppen Immateriellen Kulturerbes und solchen von Sub- bzw. Jugendkulturen wäre an konkreten Projekten denkbar (vgl. Rieder 2019: 151). Von staatlicher Seite oder Stiftungen könnten für solche innovativen Tandems Anreize, wie Projektgelder, zur Verfügung gestellt werden. Die Erfahrung zeigt, dass aus solchen Tandem-Projekten von kulturellen Akteuren, wie sie etwa die Organisation MitOst im Kontext des Kulturaustauschs zwischen Künstlern verschiedener Kulturkreise fördert, wertvolle Erkenntnisse und Produkte, die mehr als die Summe der einzelnen Beiträge sind, entstehen. Dass dies auch gesellschaftliche Wirkung entfalten könne, wenn etwa Orchester und Finkenfreunde aus dem Harz gemeinsam ein Projekt auf die Beine stellen würden, fasziniert Christian Höppner. Solche Projekte trügen dazu bei, „Zusammenhänge her[zu]stellen. Wir haben zu sehr doch die Fragmentierung in allen gesellschaftlichen Bereichen, aber da eben auch. Das wäre total spannend.“ (V, Interview am 06.11.2018) Auch Ländervertreterin Susanne Bieler-Seelhoff ist der Meinung: „Also das wäre ein Punkt, dem wir uns, […] in Zukunft stärker widmen sollten.“ (L, Interview am 15.11.2018)

„Ich stelle auch fest, dass wir aufgrund der Anmeldung sehr singulär betrachten, was gibt es sozusagen. In wenigen Fällen, insbesondere die, die wir vielleicht für beispielgebend halten über Deutschland hinaus, versuchen wir, eine gute Vernetzung aller Akteure in der Bundesrepublik zusammenzutragen und damit auch deutlich zu machen, dass das eine starke Bewegung ist.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Die Betonung liegt aber eben darauf, dass diese Stärkung der Vernetzung und der Strukturen bisher sehr vereinzelt erfolgt. Dies zu einer systematischen Strategie auszuweiten, erfordert einen höheren materiellen Einsatz, verspricht aber auch eine exponentielle Wirkung. Die Vernetzung könnte dann stärker auch schon im Bewerbungsverfahren, wenn sich Akteure auf eigenen Antrieb auf den Weg der Anerkennung begeben, verfolgt werden. Dies wäre eine weitere Aufgabe der Beratungsstellen und der Ansprechpersonen der Länder, die sie bisher nur zum Teil schon wahrgenommen haben. Das DUK-Expertenkomitee hat dahingehend auch schon im Begutachtungsverfahren interveniert, indem zum Beispiel Bewerbungen zur Überarbeitung zurückgegeben wurden, mit dem ausdrücklichen Auftrag Akteure aus anderen Landesteilen oder anderen Verbänden in die Bewerbung mit aufzunehmen.

„Ein konkretes Beispiel sind die Bauhütten. Wir hatten einen Antrag, von, glaube ich [zunächst einer, dann …] drei Bauhütten am Anfang, jetzt sind es doch bald zehn. Und wir haben das wieder zurückgegeben und ins Gespräch gebracht […]. Und so können wir natürlich auch Sachen initiieren.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Darüber hinaus könnte man das Thema Vernetzung bzw. Netzwerkaufbau sogar noch einen Schritt weiter vorn, also vor einem Bewerbungsprozess, verorten, wie es etwa Frankreich in den Jahren 2010 und 2011 mit einer großflächigen Untersuchung der Frage, welche Personen und Institutionen potenziell und tatsächlich zu einem Policy-Netzwerk des Immateriellen Kulturerbes gehören (sollten), getan hat (vgl. Staatenbericht FRA 2013: 22). Selbst zehn Jahre nach Beginn der nationalen Umsetzung könnte man eine solche Bestandsaufnahme, die die DUK 2012 nur ansatzweise mit zwei Forschungsaufträgen einmal vorgenommen hatte, noch einmal unternehmen und erhielte sicherlich wertvolle neue Erkenntnisse mit dem Potenzial bisher unerschlossene Partnerschaften einzugehen.

Denkbar wäre in diesem Zuge ebenfalls ein System der Unterstützung von Trägergruppen zu etablieren. Dies könnten wie in Flandern (siehe Abschnitt 4.4.2.4.) auch in Deutschland mehrere Kulturerbeorganisationen der verschiedenen von der UNESCO-Konvention abgedeckten Themenbereiche ausfüllen. Hierzu bedürfte es aber, wenn man dem flämischen Beispiel folgt, einer Unterstützung dieser „Cultural Broker“. Auch die stellvertretende Vorsitzende des DUK-Expertenkomitees weist darauf hin, dass

„eben auch Beratungskompetenz [aufgebaut werden muss], damit die [Trägergruppen] so bleiben können, wie sie sind, sage ich mal salopp, in dieser Situation, weil wir ja aus ganz vielen Kontexten auch wissen, dass dann die Tourismusflut kommt und irgendwie gehandelt werden muss. Also da so diese Wirkungen, die man teilweise möchte, aber teilweise auch eben nicht mehr händeln kann, dass man das so ein bisschen stärker auch noch aufgreift und integriert.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Die Vertreterin des AA im Expertenkomitee der DUK äußert noch eine internationale Komponente als Ziel für die weitere Arbeit mit der UNESCO-Konvention: „Ich finde, wir sollten einfach mal irgendwann ins Komitee. Denn da spielt die Musik.“ (B, Interview am 05.11.2018) Auf der 9. Vertragsstaatenkonferenz der UNESCO-Konvention im Juli 2022 war die deutsche Bewerbung für einen Sitz im Zwischenstaatlichen Ausschuss erfolgreich. International wird die Umsetzung der Konvention zudem seit 2018 von einem von den Vertragsstaaten verabschiedeten übergreifenden Zielrahmen bestimmt, dem sogenannten „Overall Results Framework“. Gertraud Koch hat an dessen Entstehung als Expertin mitgewirkt und konstatiert, dass die Komplexität der Konvention im Grunde auch ihre Qualität ausmache und diese sei „in dem Overall Results Framework unglaublich positiv adressiert worden und auch auf eine Art und Weise heruntergebrochen worden, dass diese Komplexität auch lebbarer wird“ (E2, Interview am 25.10.2018). Dies muss sich im deutschen Rahmen allerdings noch beweisen; es hat sich konkret erstmals mit der Abgabe eines periodischen Berichts über die Umsetzung der Konvention im Dezember 2021 angedeutet. Hier besteht die Aussicht, dass durch die Orientierung an den im Zielrahmen vereinbarten Zielen und Maßzahlen eine Vergleichbarkeit zwischen den Vertragsstaaten noch einmal verstärkt hergestellt wird. Dies kann wiederum für das gegenseitige Lernen voneinander, für das die UNESCO mit ihren Konventionen und Programmen hervorragende Gelegenheiten bietet, sehr hilfreich sein. Eine auch in diesem Zusammenhang wichtiger werdende Aufgabe ist es, „dass man Verbindungen herstellt zwischen unterschiedlichen Praktiken, […] sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene“ (E1, Interview am 15.10.2018). Die Querbetrachtung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden über die bisherigen vereinzelten Projekte hinaus kann die Beschäftigung mit dem Immateriellen Kulturerbe noch einmal auf eine neue, wertvolle Ebene des interkulturellen Austauschs heben. Sophie Lenski empfahl bereits 2014, dass man Traditionen, die zwar nicht einheitlich, aber doch mit vielen Gemeinsamkeiten in mehreren Ländern Europas praktiziert werden, wie zum Beispiel der Brauchkomplex Karneval, stärker unter Betonung dieser Gemeinsamkeiten und ihrer nationen- und grenzüberschreitenden Entwicklungslinien als Immaterielles Kulturerbe herausarbeitet und als verbindend hervorhebt, um „sowohl die identitätsstiftende und -fördernde Zielrichtung der UNESCO voranzutreiben als auch gleichzeitig dem kulturpolitischen Auftrag der [Europäischen] Union, wie er im Primärrecht festgeschrieben ist, auf exzeptionelle Weise Rechnung zu tragen“ (Lenski 2014: 106). Hierzu bedarf es wahrscheinlich einer stärkeren Sensibilisierung der entsprechenden Trägerschaften durch grenzüberschreitende Initiativen wie auch konkreter Impulse und Unterstützungen aus den jeweiligen nationalen und internationalen Policy-Netzwerken.

7.2.5 Valorisierung und Inwertsetzung Immateriellen Kulturerbes

Eine Valorisierung von Immateriellem Kulturerbe kann vor allem über die Zurverfügungstellung von Ressourcen aus dem Politikfeld Kultur erfolgen. Damit sind ausdrücklich nicht ausschließlich finanzielle Ressourcen gemeint. Räume bzw. Orte, wo Formen Immateriellen Kulturerbes praktiziert werden können, oder die Gewährung von Zeitressourcen für die Ausübung der Kulturpraxis (siehe Abschnitt 7.2.4.) sind mitunter wichtiger als Mittel der klassischen Kulturförderung, zumal das Immaterielle Kulturerbe häufig von ehrenamtlichem Engagement oder Einkünften anderer Art, z. B. wirtschaftlicher Aktivitäten, getragen wird. Aber für die Inwertsetzung im kulturpolitischen Feld braucht es zum einen häufig regional oder lokal passgenau unterstützende Maßnahmen – die generelle Orientierung an Beispielen aus anderen nationalen Kontexten ist durch den Rahmen des Kulturvölkerrechtsinstruments UNESCO-Konvention gut möglich und sehr fruchtbar – und zum anderen gezielte Aufmerksamkeit. Christian Höppner mahnt in diesem Sinne ein stärkeres Engagement der höchsten deutschen Politiker für die Würdigung von Immateriellem Kulturerbe an:

„Es ist toll, dass Maria Böhmer […] es auch im Amt [von 2013 bis 2017 Staatsministerin für Auswärtige Kulturpolitik im Auswärtigen Amt, ab 2018 DUK-Präsidentin, Anm. d. Verf.] mit befördert. Und trotzdem ist es mir zu wenig zum Beispiel, auch von [Außenminister] Heiko Maas […]. Dass [Kulturstaatsministerin] Monika Grütters das stützt, wo sie kann, aus meiner Wahrnehmung, alles gut. Aber ich finde, da kann auch die Kanzlerin zu bestimmten Punkten, so dass man so ein bisschen sortieren könnte, wo es jetzt im gesamtgesellschaftlichen Interesse von besonderem Gewicht wäre. Ich finde, den Mut sollte Politik haben, jetzt nicht alles gleichermaßen schick zu finden, sondern dann auch dann noch mal bewusst innerhalb dieser nationalen oder auch der Welterbeliste [die UNESCO-Listen des Immateriellen Kulturerbes, Anm. d. Verf.] dann noch mal Schwerpunkte zu setzen.“ (V, Interview am 06.11.2018)

Es wird also angeregt, dass führende Politiker sich des Themas in Deutschland stärker annehmen. „[P]erhaps more than in the case of listings under the 1972 World Heritage Convention, the 2003 Convention has provided national governments as well as local communities with new tools to protect and promote national as well as local interests“ (Akagawa/Smith 2019: 10). Dies wäre nicht nur im Interesse der Kulturerbeformen und ihrer Trägergruppen, sondern würde Politikern auch Mittel an die Hand geben, um einerseits Gemeinschaft und Identität zu stiften. Eine solche Valorisierung von kollektiv getragenen Traditionen geschieht bisher nur auf lokaler und zum Teil regionaler Ebene, auf nationaler Ebene aber kaum. Andererseits können auch andere Ziele und Interessen, etwa wirtschaftlicher Art oder im Umweltbereich, damit verfolgt werden, was bisher nur sehr zögerlich geschieht.

„Intangible cultural heritage has become part of the arsenal available to national governments in the exercise of […] ‚soft power‘ within the broader domain of cultural diplomacy […] Broader in its touristic attraction than specific objects of tangible heritage, ICH appeals to a broader spectrum of humanistic, aesthetic and intellectual engagement, encouraging consumers to relate at the level of ‚meaning‘ that can apply to the full range of the intellectual and sensory receptors.“ (Akagawa/Smith 2019: 3)

Während im Bereich der Umweltpolitik durchaus vereinzelt Anknüpfungen gesucht und gefunden werden, sind Aktivitäten der Wirtschaft im Zusammenspiel mit dem Immateriellen Kulturerbe bisher noch recht dünn gesät bzw. nicht sonderlich sichtbar. Zuerst denkt man dabei an das Handwerk, das sowohl im Wirtschaftssektor angesiedelt ist als auch als Teil des Immateriellen Kulturerbes eben im Politikfeld Kultur. Auch die Tourismusbranche, die ein großes Interesse am Kulturerbe hat, kommt einem in den Sinn. Die Auszeichnung von Formen Immateriellen Kulturerbes kommt der Logik der Nutzung von Verkaufs- und Marketingpotenzialen von erlebbarem Kulturerbe sehr entgegen. (vgl. Letzner 2013: 63) Durch die Bestimmung, dass das Logo des Immateriellen Kulturerbes nur für nicht-kommerzielle Aktivitäten genutzt werden darf, ist hier möglicherweise ein gewisser Bremseffekt entstanden, der vom Policy-Netzwerk des Immateriellen Kulturerbes auch durchaus beabsichtigt war. Es ist auf lange Sicht aber nicht klug, die zum Teil durchaus legitimen Interessen der Kulturträgerschaften in dieser Hinsicht zu ignorieren. Schenk (2015: 130) weist zurecht darauf hin, dass sich die UNESCO-Konvention ausdrücklich dafür einsetzt, dass diejenigen, die das jeweilige Immaterielle Kulturerbe ausüben davon auch Einkünfte erzielen können sollen. Ein kluger Umgang mit den wirtschaftlichen Dimensionen und touristischen Interessen von erfolgreich anerkanntem Immateriellem Kulturerbe wird künftig vor dem Hintergrund der Herausforderung einer nachhaltigen Entwicklung noch genauer auszuloten sein. Natürlich bestehen weiterhin Gefahren – die Stichworte sind Folklorisierung, Kommerzialisierung (vgl. Tauschek 2010 am Beispiel des Karnevals von Binche) und Konventionalisierung, auch verflachte Anpassung an die Bedürfnisse des Tourismus (vgl. Eberhard/Letzner 2009: 7) sowie zu starke Musealisierung. Hier können Österreich und die Schweiz wie auch Frankreich, die alle dem Thema Handwerk bereits größere Aufmerksamkeit im Kontext Immaterielles Kulturerbe geschenkt haben, Orientierung bieten. Österreich und die Schweiz haben auch im (Natur-)Tourismusbereich die Inwertsetzungspotenziale des Immateriellen Kulturerbes im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung bereits genauer unter die Lupe genommen als man sich dies in Deutschland bisher getraut hat. Eine Reflexion in Form von (gemeinsamen) Konferenzen könnte der bisherigen Tabuisierung des Themas entgegenwirken und zudem die Attraktivität der Anerkennung noch einmal steigern.

Um sich dem etablierten Bereich der Kulturförderung stärker anzunähern, wird auch die Einrichtung eines Unterstützungsfonds für Trägergruppen Immateriellen Kulturerbes immer wieder diskutiert. Hier würden i. d. R. bereits kleine Beträge – man könnte etwa an eine Höhe von bis zu 5.000 Euro auf Antragsbasis denken – genügen, um einzelne Erhaltungsmaßnahmen wie z. B. bewusstseinsfördernde Projekte für anerkannte Kulturformen anzustoßen. Wenn einzelne Bundesländer dies, etwa im Rahmen ihrer zum Teil zunehmend prononcierteren „Heimatpolitik“, ausprobieren würden, und Erfahrungen positiver Art im Rahmen der KMK oder anderer Foren teilen, könnte über den Wettbewerbsföderalismus eine solche Maßnahme wahrscheinlich sogar recht schnell Verbreitung verbinden. Zumindest das Landesinteresse wäre im Falle einer erfolgten Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe und damit überregionalen Würdigung und Ausstrahlungswirkung problemlos zu begründen.

Ein weiterer Punkt, der im Sinne der Inwertsetzung und Valorisierung Immateriellen Kulturerbes dringend auszubauen wäre, wären gemeinsame Anstrengungen der Partner des Policy-Netzwerks die mediale Aufmerksamkeit für das Thema zu erhöhen. Hier wären verschiedene Formate denkbar, etwa im öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Umsetzung seines „Kulturauftrags“ eine Serie über konkrete Formen Immateriellen Kulturerbes, wie sie für das UNESCO-Welterbe auf 3sat regelmäßig produziert wird. Auch attraktive bewusstseinsfördernde Kampagnen mit Medien- oder Werbepartnern der DUK oder anderer Akteure gehören bisher kaum zum Aktivitätenportfolio, wären aber für die Bekanntheit des Themas und die Vermittlung zentraler Botschaften zielführend.

Schließlich ein Punkt, der, wiewohl Teil der Inwertsetzungsbemühungen, eher abwehrend verstanden werden muss: Es gilt im Sinne der Erhaltung der Kulturformen dringend eine Bürokratisierung von Formen bzw. Erhaltungsaktivitäten Immateriellen Kulturerbes zu vermeiden. Markus Tauschek (2012: 208) verweist darauf, dass Heritage Regimes sehr häufig zur Bürokratisierung von Management und Interpretation von Erbe führen. In diesen Fällen würden die guten Absichten, die man der UNESCO-Konvention und ihren Umsetzungsakteuren in Deutschland unterstellen darf, zum Gegenteil führen, nämlich einer Fossilisierung statt zu einer erhaltenen oder gar gesteigerten Lebendigkeit der kulturellen Ausdrucksformen. Hier böte es sich an, die DUK im Rahmen ihrer koordinierenden Funktion der Konventionsumsetzung, wie sie es bereits vereinzelt tut, auch mit der Autorität aller staatlichen Akteure explizit darauf zu verpflichten, solche Entwicklungen als „watchdog“ im Auge zu behalten und wenn nötig gegenzusteuern.

7.3 Forschungsdesiderata und Ausblick

Die sich aus den Ergebnissen und Empfehlungen der vorliegenden Arbeit ergebenden weiteren Forschungsperspektiven können grob in drei Bereiche eingeteilt werden, die sich allerdings nicht in jedem Fall klar voneinander trennen lassen: erstens zum Politikfeld Kulturpolitik in Deutschland, zweitens zur konkreten Ausgestaltung der Umsetzung der UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe in Deutschland und drittens zum Immateriellen Kulturerbe mit seinem kultur- und gesellschaftspolitischem Potenzial.

Noch immer werden generell in der Kulturpolitik und in den sie beobachtenden Kreisen, insbesondere in den Medien, Maßnahmen der finanziellen Kulturförderung oder Personaldebatten aufmerksamer verfolgt und debattiert als das Anstoßen öffentlicher Debatten bzw. Bewusstseinsprozesse (vgl. Wimmer 2011: 109, 289) wie im Fall der Umsetzung der 2003er-UNESCO-Konvention in Deutschland. Diese Schwerpunktsetzung im Zuge der (hoffentlich) aufblühenden deutschen Kulturpolitikforschung wissenschaftlich genauer zu untersuchen, empirisch sowohl qualitativ und quantitativ zu belegen und kritisch-konstruktiv zu hinterfragen, könnte einen Beitrag leisten, Kulturpolitik grundsätzlich breiter aufzustellen und ihr damit auch zu mehr Relevanz zu verhelfen.

Häufig wird, u. a. vom BHU, im Zusammenhang mit dem Immateriellen Kulturerbe auf die Rahmenkonvention des Europarates über den Wert des Kulturerbes für die Gesellschaft – die sogenannte Faro-Konvention (2005) – hingewiesen, die ein modernes Kulturverständnis propagiert und Kulturerbe als soziale, kulturelle und auch ökonomische Ressource begreift. Sie betont zudem Kulturerbe als Potenzial bzw. Kapital für nachhaltige Entwicklung und Lebensqualität. Wichtige neue und für das Immaterielle Kulturerbe förderliche Impulse wären bei einer, bisher kaum ernsthaft erwogenen, deutschen Ratifizierung auch dieses Völkerrechtsinstruments, das viele Experten und Vertreter anderer Staaten in enger Verbindung zur UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe sehen, zu erwarten. Sie fördert eine zeitgemäße Kulturerbepolitik und bildet eine solide Grundlage für die zukünftige Ausrichtung einer umfassenden Politik zur Erhaltung des kulturellen Erbes, wobei die Leistungen des Kulturerbes für die Gesellschaft ins Zentrum gerückt und die Mitwirkung, Mitverantwortung und Teilhabe der Bevölkerung am Kulturerbe gestärkt werden sollen. (vgl. Schweizerische Eidgenossenschaft 2020: 3230) Dies könnte mittelfristig in Deutschland zu einer kohärenteren und konsistenteren Kulturerbe-Politik führen, die sich trotz aller bereits lange bestehenden Bemühungen im Bereich des Welterbes, im Denkmalschutz, beim Dokumentenerbe und seit 2013 auch beim Immateriellen Kulturerbe, bisher nicht erkennen lässt. Eine Forschung, die diese Bezüge und das Potenzial herausstellt, wäre auch in praktisch-politischer Beratungsfunktion wünschenswert.

Eine kontinuierliche Betrachtung der Kooperations- und Dominanzverhältnisse im Mehrebenensystem der Kulturpolitik wäre eine wichtige Aufgabe der Kulturpolitikforschung. Der Bund hat seit der Etablierung von BKM zweifelsohne Kompetenzen und Macht im Bereich der Kulturpolitik gewonnen. Ob dies zulasten der Länder und/oder Kommunen ging, ist ohne empirische Untersuchungen schwer zu sagen, da das Kulturpolitikfeld insgesamt dynamisch ist. Derzeit erscheint es eher so, dass das Thema insgesamt an Gewicht gewonnen hat und sich ausdifferenziert hat, so dass Kommunen, Länder und Bund gut nebeneinander Kompetenzen haben können und sich gegenseitig ergänzen (vgl. Burkhard 2015: 184 f.). Wie die noch relativ neue Entwicklung der Gründung einer Kulturministerkonferenz seit 2019 sich auf die gesamtstaatliche Rolle der Länder im Politikfeld längerfristig auswirken wird, wird eine weiterhin spannend zu beobachtende Entwicklung sein.

Eine Frage, der sich diese Arbeit – zum einen aus Kapazitätsgründen, zum anderen, weil der Untersuchungszeitraum begrenzt war und bestimmte Wirkungen erst längerfristiger zu erwarten sind – nur am Rande widmen konnte, ist, was der Staat bzw. seine verschiedenen Ebenen in Deutschland aus der Gestaltungsmöglichkeit bzw. der Macht, die er mit der Ernennung Immateriellen Kulturerbes erlangt, eigentlich macht (siehe Abschnitt 3.1.). Eine diesbezügliche Untersuchung der ersten zehn oder gar 15 Jahre der Konventionsumsetzung in Weiterverfolgung des Ansatzes der vorliegenden Arbeit wäre spannend. Hierzu gab es im Vorfeld und auch der Anfangszeit in der Wissenschaft große Bedenken (vgl. Mißling 2014 und Lenski 2014), die sich im Rahmen der Untersuchungen hier nicht bestätigt haben, mittlerweile aber, da es auch in den Jahren 2017 ff. konkret etwas zu untersuchen gäbe, kaum mehr thematisiert werden.

Wünschenswert wäre zudem in Zukunft eine genaue Untersuchung der Binnenstruktur von Trägergemeinschaften des Immateriellen Kulturerbes: Wer spricht in den Bewerbungsprozessen oder auch nach einer Anerkennung für wen und mit welcher Legitimation? Die Definition von ‚community‘ oder ‚Gemeinschaft‘ ist international, aber besonders auch in der deutschen Umsetzung, sehr offen und damit unklar belassen worden. Im Grunde müssen daher auf Basis von schriftlichen Bewerbungen oder Nominierungen Experten entscheiden, wer die legitimen Trägergruppen sind, wie groß sie sind oder ob die Genannten berechtigt sind für eine Kulturform als Träger zu stehen. Dies senkt, entgegen den Wünschen des Wortlauts der UNESCO-Konvention und ihrer Umsetzungsrichtlinien, den Einfluss der Gemeinschaften, weil die Gruppenzugehörigkeit, Grenzen und Unterscheidungen bzw. Unterschiede doch wieder von außen, von anderen definiert werden. Sie sind nur scheinbar natürlich gegeben. Es besteht außerdem im Nachgang einer Anerkennung die Gefahr, dass sich aus einer zuvor gegebenen produktiven Mehrstimmigkeit eine interne Homogenität und Konformität entwickelt, die Dissens unterdrückt (vgl. Hafstein 2007: 94 f.). Oder aber – andersherum – es entstehen als Folge der neuen Situation Konflikte, die vor einer Anerkennung bewusst oder auch unbewusst nicht ausgetragen wurden.

„The international normative recognition obliges governments to actively implement these Conventions; it also legitimizes substantial activities and initiatives by non-state actors. For publicly committed scholars it will be worthwhile to follow how the thus inscribed dialogical elements might influence cultural practice over time, particularly in situations of conflict and violence.“ (Merkel 2011:59)

In diesem Zusammenhang würde auch eine Untersuchung von Ein- und Ausschlüssen im Sinne kultureller Teilhabe und Offenheit der Trägergruppen bei Fallstudien, am besten vergleichender Natur, von als Immaterielles Kulturerbe anerkannten Kulturformen lohnen. (vgl. u. a. Rieder 2019: 143) Damit im Zusammenhang könnte sich auch eine exemplarische Untersuchung der Binnenverhältnisse in einer Trägergruppe im Sinne der Besser- bzw. Schlechterstellung (vgl. Blum/Schubert 2009: 128) durch die Anerkennung einer Kulturform als Immaterielles Kulturerbe als sinnvoll erweisen. Zu denken wäre hierbei zum Beispiel an die „Deutsche Brotkultur“, bei der es zu einem „Trittbrettfahrer-Problem“ kam, als die Aufbackbäcker in Discountern mit dem Prädikat Immaterielles Kulturerbe warben, obwohl die Anerkennung sich ausdrücklich auf die Handwerksbäcker bezog.

Auch eine genauere Untersuchung der Binnenstruktur des Netzwerks der anerkannten Kulturträgergruppen, das heißt der Kontakte untereinander, sowie zu Kulturverbänden, Kulturpolitikern, den Kulturverwaltungen usw., erscheint sinnvoll. Hier kann an Untersuchungen von Kilian Lembke (2017) und die Grundlagen von Netzwerkanalysen nach Patrick Föhl und Robert Peper (2014) angeknüpft werden. Vermutlich sollte dies zunächst im regionalen Kontext zum Beispiel eines Bundeslands angegangen werden, da das Netzwerk deutschlandweit inzwischen bereits sehr groß und verzweigt ist – methodisch möglich wäre aber wohl beides.

Im Bereich insbesondere der Brauchforschung wäre im Kontext Immaterielles Kulturerbe – mit seinem breiten Verständnis von Wissen, Können, Fertigkeiten und Techniken – eine genaue, historisch differenzierte, Untersuchung sinnvoll, ob tatsächlich der Süden Deutschlands, über mehr Formen überlieferter, traditioneller und bis heute lebendiger Kultur verfügt als die nördlichen Regionen. Dies hat sich im politischen Diskurs über das Immaterielle Kulturerbe unter den Ländern im Laufe der Umsetzung schleichend so als gegeben festgesetzt – eine genauere Untersuchung, ob, gerade wenn man den breiten Kulturbegriff des Immateriellen Kulturerbes zugrunde legt, nicht aus historischen Gründen im Norden, Osten und Westen viel verschüttet ist oder die Gruppen bisher einfach nicht so aktiv werden wie in Bayern, wäre jedoch noch einmal eine genaue Untersuchung wert. Dies könnte mittelfristig das Ungleichgewicht im Bundesweiten Verzeichnis doch ein wenig abmildern, weil es in anderen Bundesländern zumindest ermunternd auf Kulturträgergruppen wirken könnte.

Mehr Aufmerksamkeit aus gesellschaftspolitischer Sicht sollte in der Forschung das Lern- und Erziehungspotenzial des Immateriellen Kulturerbes erhalten, das im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur thematisch gestreift wurde:

„Es ist ein wesentlicher Bereich, in dem Kinder, Nachwachsende, in Kultur eingeführt werden. Das hat die Erziehungswissenschaft bislang nicht wirklich in der Bedeutung begriffen. Das würde ich auch für die Kulturwissenschaften sagen. Das fängt so langsam an, dass man sieht, dass das ein riesen Feld ist. Und dass man sehr vieles lernt, als Kind, wenn man teilnimmt an einem Karnevalsumzug. […] Also da wird so viel gelernt an Sozialem, an Selbstständigkeit, aber auch, […] an Gefühle[n], wie man die ausdrückt, wie man sie darstellt und so weiter, das ist in der Komplexität außerordentlich groß und eben wirklich auch bedeutend für eine Gesellschaft.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Das Immaterielle Kulturerbe gehört, gerade wenn man die Bezüge zur Kulturellen Teilhabe betont, im weitesten Sinne in den Bereich der kulturellen Bildung. Als Aufgabe von Forschung käme dann auch hinzu, die in den letzten Jahren zu beobachtende zunehmende Tendenz Bildung zu ökonomisieren und strikt zu effektivieren, mit wissenschaftlichen Methoden zu hinterfragen:

„Digitalisierung und das ist alles sehr wichtig. Und kein Mensch wird da was gegen sagen. Aber es ist eben nicht alles für das menschliche Leben. Es gibt eben andere Dinge, die kulturell besetzt sind, die auch oft für das persönliche Leben bedeutender sind. Und die müssen im Bildungsbereich noch Berücksichtigung finden. Es geht auch nicht alles, dass man Bildungsfragen unter ökonomischen Fragen abhandelt, sondern es geht um Entwicklung von Menschen.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Insbesondere im Bereich Handwerk und dem Erlernen der Techniken spielt die Vermittlung des „impliziten Wissens, des kulturellen Wissens, des schweigenden Wissens […, das] sich auch schwer sprachlich vollständig fassen“ (E1, Interview am 15.10.2018) lässt, das aber einen Kern von Immateriellem Kulturerbe ausmacht, eine besondere Rolle. Christine Merkel (2011: 61) argumentiert mit Richard Sennett und seinem 2008 erschienenen Werk „Handwerk“, dass das Prinzip Handwerk nicht nur im Handwerk und im Kleinen beim einzelnen Handwerker relevant ist. Genauso wichtig sei es für Innovationen im großen Stil. Es betrifft dann potenziell auch den IT-Sektor, den Dienstleistungssektor oder wissenschaftliche Forschung und Wissenserwerb im Allgemeinen.

„[Intangible cultural heritage] can be described as an activity which combines performance and knowledge. The creation of knowledge is based on the performance of rituals and other forms of intangible heritage, whereas the performance of cultural expressions, on the other hand, reactivates, deepens and transmits knowledge. Thus, this type of agency inscribes itself into a vision of a more equitable knowledge society with widespread empowerment of cultural actors. It cannot be stressed enough that practices of intangible cultural heritage are crucial progenitors of practical knowledge […]. For a possible contribution of ICH to alternative modernization, this is probably the most important structural element.“ (Merkel 2011: 60)

In diesem Sinne wäre die Ergründung des Potenzials des Immateriellen Kulturerbes, mit seinem die Vereinheitlichungstendenzen der Globalisierung bekämpfenden Impuls, einen Beitrag zu einer alternativen Form der Modernisierung unserer Gesellschaft (vgl. Merkel 2011: 60) zu leisten, nicht nur im Bildungsbereich, sondern noch darüber hinaus ein bedeutendes Forschungsdesiderat.

Konzepte und Begriffe der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes sind noch immer Kritik ausgesetzt – aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist das teilweise auch durchaus berechtigt: Hier wurden und werden zum Teil überholte Wissensbestände der Kulturwissenschaften gepflegt bzw. reanimiert, insbesondere von der vermeintlichen Unveränderlichkeit von kulturellen Traditionen, also einer ungebrochenen Kontinuität, und einer sozialen Geschlossenheit, also der festen Verbindung mit homogenen Gemeinschaften (vgl. Kaschuba 2015: 54 f.). Das dem gegenüber gestellte dekonstruierende Verständnis von Kultur als permanent im Wandel befindlich und eine durch die verantwortlichen Akteure und Austauschprozesse entstehende Veränderbarkeit klingen zwar im Text der Konvention an, sind aber beileibe nicht geteilte Überzeugungen aller an der Konventionsumsetzung international wie auch in den jeweiligen nationalen Kontexten Beteiligten. „Die nachvollziehbare Kritik […] bleibt allerdings blind, wenn sie deren Leistungen [des UNESCO-Übereinkommens, Anm. d. Verf.] übergeht und deren gesellschafts- und kulturpolitischen Leistungen ignoriert.“ (Koslowski 2015a: 48) Bewusst sind die Konzepte und Begriffe der Konvention, als Produkte von Kompromissen, interpretationsbedürftig. (vgl. Koslowski 2015a: 47) Dies ermöglicht wiederum allerdings auch, und hier sind Forschungsaktivitäten ganz sicher noch nicht ausgeschöpft, eine Interpretation und Operationalisierung im jeweiligen Kontext. Anlässlich der ersten Aufnahmen ins Bundesweite Verzeichnis äußerte Christoph Wulf:

„Eigentlich ist das eine Wertediskussion. Viele Menschen verbinden mit dem Begriff Kultur etwas Elitäres, das nur bestimmten Gruppen der Bevölkerung vorbehalten ist, den Menschen, die einen Sinn für das Historische und für die Schönen Künste haben. Das Immaterielle Kulturerbe bricht etablierte Kulturbegriffe auf und rückt Alltagskultur in ein neues Licht. Das sorgt für ein breiteres Verständnis von Kultur bei den Menschen. Was ist uns heute wichtig und was kann uns morgen wichtig sein? Mit dem bundesweiten Verzeichnis ist die Chance verbunden unser kulturelles Gedächtnis und mit ihm die Bedeutung von Gemeinschaften wieder zu entdecken und nicht bei Individualismus und Leistungsdenken stehen zu bleiben.“ (unesco heute online, erschienen am 12.12.2014, http://www.unesco.de/9128.html – nicht mehr online auffindbar)

Diese spannenden Diskussionen und Diskurse, über das, was Kultur für den Einzelnen und für Gruppen, die im Kontext des Immateriellen Kulturerbes entstanden sind (vgl. Letzner 2013: 63), eigentlich ist und bedeutet, sind bisher noch wenig erforscht worden. Gerade im urbanen Kontext gilt es noch eine ganze Reihe von Erkenntnissen zu Tage zu fördern. Kaschuba (2015: 59) schlägt etwa vor, nicht nach dem dörflichen Erbe in der Stadt, sondern nach neuen Kategorien zu suchen, die Traditionen nach neuen Zeitmaßstäben und Formen anerkennen. Das wäre für ihn dann eine Re-Definition des kulturellen Erbes, das auch quer zu sozialen und kulturellen Schichten gemeinschaftsstiftend sein kann.

Das Immaterielle Kulturerbe sollte in diesem Kontext zunehmend noch stärker im Zusammenhang mit Identitätsfragen untersucht werden, d. h. mit dem eher traditionell orientierten Heimatdiskurs einerseits und andererseits mit den Fragen der Superdiversität in modernen Städten. Christoph Wulf äußert zu diesen Zusammenhängen folgende Gedanken:

„In den Städten [haben wir] Menschen mit 150, 160 Migrationshintergründen […] und […] im Grunde [ist] die Diversität das Medium des Lebens geworden […]. Das ist natürlich ein völlig anderes Denken als wir es ja auf dem Lande haben, als wir es traditionell in den Nationen haben, wo eben der Staat, dann die polnische, deutsche, tschechische Nationalität für die Identität herangezogen wird. Die ist natürlich bei uns auch wichtig, gar keine Frage. Es kann nicht darum gehen, diese Dimensionen der Identitätsstiftung dieser kulturellen Arbeit irgendwie auszugrenzen. Nein, das ist wichtig. Aber man kann sie offen sehen, in einem europäischen, in einem Weltkontext. Und dann, das ist natürlich etwas ganz anderes, wenn dieses nicht zur Ausgrenzung [dient], sondern lädt eher ein, daran teilzunehmen: andere, auch Menschen aus anderen Kulturen.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Das Potenzial des Immateriellen Kulturerbes für die eigene kulturelle Identitätsstiftung, abgegrenzt von einer rückwärtsgewandten Heimattümelei noch näher in politischen Kategorien zu untersuchen, wäre wohl einige wissenschaftliche Untersuchungen wert. Schließlich sind nicht alle relevanten Akteure des Policy-Netzwerks von einer zu engen Beziehung zwischen dem Immateriellen Kulturerbe und dem Heimatdiskurs bzw. Heimatpolitik begeistert:

„Ich sehe im Moment so ein bisschen mit Sorge, dass vielleicht auch so Instrumentalisierungen stattfinden, stattfinden sollen, versucht werden für das Heimatthema. Und das würde ich eigentlich gern voneinander getrennt haben […]. Und da sehe ich aber auch bei sehr informierten Politikern, die um den Wert der Konvention und ihre Bedeutung wissen schon, dass so ein gewisser Konnex hergestellt wird. Das sehe ich aus wissenschaftlicher Sicht kritisch. Ich verstehe das. Also ich verurteile das nicht, ich verstehe das, dass man das, gerade wenn man das Wissen hat, dass die Konvention etwas bewegen kann, was sie bewegen kann, wie sie ausgestaltet werden kann, dies auch einbringen möchte, um dieser unsäglichen Heimatdiskussion eine andere Richtung zu geben. Das verstehe ich sehr wohl. Ich denke aber nur, dass der Heimatbegriff so belastet ist historisch, dass man den nicht mehr so richtig gedreht kriegt.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Tatsächlich beschäftigt die Verbindung bzw. die Bezüge zwischen Heimat und Immateriellem Kulturerbe auch die Vertreterinnen von Bund und Ländern: „Heimat war für mich […] ein Begriff, den man am besten nicht nutzte. Haben die Leute überhaupt keine Angst mehr vor. Also ich glaube, das sollte man auf jeden Fall im Auge behalten.“ (B, Interview am 05.11.2018)

Zum Thema Superdiversität und Immaterielles Kulturerbe haben das niederländische Zentrum für Immaterielles Kulturerbe, die belgischen NGOs tapis plein und FARO sowie die Deutsche UNESCO-Kommission im Nachgang des Untersuchungszeitraums der vorliegenden Arbeit im Jahr 2018 eine Tagung in Utrecht durchgeführt (vgl. https://www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/unser-beitrag/projekte-zum-immateriellen-kulturerbe; Zugriff am 19.07.2020). Wulf äußert zu diesem Themenkomplex, den die DUK künftig mit Partnern auch noch weiterverfolgen will, folgende Gedanken:

„Ein großes Problem ist das, dass man das immaterielle kulturelle Erbe weniger in Städten verankern kann oder verankert sieht. Also wir haben ein großes Interesse daran, hinzugucken in die Städte und zu gucken, ob es da etwas gibt. Aber das Problem ist, dass ja die Vorstellung da ist, es soll über einen gewissen Zeitraum entwickelt sein, zwei, drei Generationen. Und in den Städten, die Städte sind schnelllebiger, da findet man zwar auch kulturelle Arbeit, eben aber dann oft sehr kurzfristig, über manchmal nur ein paar Jahre. Und die Frage ist, gibt es Möglichkeiten, in diesem Bereich etwas aufzuzeichnen, etwas zu identifizieren. Also da sind wir sehr sensibel und suchen. Aber das ist eben nicht einfach. Also in den Großstädten, klar, gibt es regionale Gruppen oder auch ethnische Gruppen, Migrationsgruppen, die sich bilden. Aber die müssten natürlich eine gewisse Tradition haben und eine gewisse Zeit brauchen sie auch, um sich zu entwickeln, um eigene kulturelle Arbeit vorzulegen. Und das ist nicht so ganz einfach. Wir haben dann versucht, ja über den Poetry Slam etwas Modernes aus der Gegenwartskultur zu nehmen und haben dann auch zeigen können, wie das ja doch schon eine kulturelle Verankerung hat. Aber wie gesagt, das ist ein Feld, in dem wir gerne noch mehr identifizieren würden und auch noch mehr machen würden. Aber da hängt es natürlich auch von der Situation ab, die da ist.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Gertraud Koch erweitert die Perspektive noch dahingehend, dass es gar nicht im Kern um städtisches in Abgrenzung zu ländlichem Immateriellen Kulturerbe geht, denn die Grenzen seien fließend, sondern dass dies als Chiffre steht für Kulturerbe, das sich modernen Problemlagen widmet,

„was wir unter so Aspekten wie städtisches Kulturerbe, urbanes Kulturerbe zusammenfassen, aber dabei ja eher dann tatsächlich Entwicklungen im Blick haben, die in der Moderne und unter den Lebensbedingungen der Modernisierung entstanden sind, wie die Genossenschaften zum Beispiel“ (E2, Interview am 25.10.2018).

Ein weiteres Thema, das noch mehr Aufmerksamkeit auch der kulturwissenschaftlichen Forschung verdient, sind die typischen Spannungsfelder des Immateriellen Kulturerbes im gesellschaftlichen Diskurs im (west-)europäischen Kontext: Dies sind erstens der ethisch-moralisch diskutierte Umgang mit Tieren, zweitens Genderfragen, d. h. der Ausschluss von entweder Männern oder Frauen bei der Ausübung von lebendigen Traditionen, aber auch im Kontext sexueller Identitäten, drittens die Folgen einer touristischen und sonstigen wirtschaftlichen Inwertsetzung, die etwa zu einer Kanonisierung führen können (vgl. Tauschek 2010 am Beispiel des Karnevals von Binche), viertens der Umgang mit Erfahrungswissen, das unter Umständen im Gegensatz zu wissenschaftlichen Erkenntnissen steht (z. B. traditionelle Heilmethoden), und fünftens bei der Beteiligung von Minderheiten bzw. an Religionen und Religionsgemeinschaften orientierten Bräuchen. Die fünf kurz skizzierten Themen stehen im Zusammenhang mit vielen virulenten gesellschaftlichen Debatten, nur, dass diese in der allgemeinen Öffentlichkeit selten direkt mit dem Immateriellen Kulturerbe verknüpft werden. Ob dies wünschenswert wäre, sei dahingestellt, weil dies das Thema auch in der Wahrnehmung beschädigen könnte. Werden die erwähnten strittigen Themen nicht möglichst sensibel vor dem Hintergrund der damit verbundenen Werte und Ideologien sowie wissenschaftlich fundiert im Kontext der Traditionspflege von Gemeinschaften behandelt, sorgen die dadurch ausgelösten Konflikte möglicherweise dafür, dass der kooperative Umgang der beteiligten Akteure miteinander in den Hintergrund tritt und das Programm der Umsetzung der UNESCO-Konvention des Immateriellen Kulturerbe in Deutschland insgesamt leidet (vgl. Benz 2016: 35 ff., 39 f.). Die deutschsprachigen UNESCO-Nationalkommissionen Deutschlands, Österreichs, der Schweiz und von Luxemburg haben jedenfalls vorausschauend und weil es unter den Experten dazu selbstverständlich bereits Debatten gibt im Mai 2018 in Wien eine Tagung veranstaltet (vgl. https://www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/unser-beitrag/projekte-zum-immateriellen-kulturerbe; Zugriff am 19.07.2020) Christoph Wulf führt zum Beispiel zum Bereich Naturwissen und der Traditionen im Umgang mit Tieren aus:

„Das sind komplexe Probleme, weil das Verhältnis zum Tier sich ja ändert. Früher, sagen wir mal im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ging es vor allen Dingen um die Differenz, was macht den Menschen besonders im Vergleich zum Tier. Heute sind wir mehr interessiert an dem, was wir gemeinsam haben. Also man spricht von menschlichen Primaten oder nicht-menschlichen Primaten. Und das heißt natürlich, dass sich diese Grenze verschiebt, wo man relativ einfach sagen konnte, es sind ja bloß Tiere. Das wird auch noch ein Problemfeld werden für uns. Das ist, glaube ich, ziemlich sicher. Aber gut, als Prinzip gibt es natürlich diese Grundhaltung, dass man alles, was durch Gesetze abgedeckt ist und möglich ist, eben auch akzeptiert. Aber es kann natürlich auch da Grenzverschiebungen geben.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Schließlich könnte das ganze Feld der Ergründung von spezifischen Transferprozessen des transnationalen Austauschs im Rahmen des politischen Lernens im Zusammenhang mit dieser, und durchaus auch anderer, UNESCO-Konventionen in der Kulturpolitikforschung noch intensiver angegangen und empirisch untersucht werden. Dolowitz/Marsh (1996) und Howlett/Ramesh/Perl (2009) haben dafür eine Reihe von Fragen und Kriterien für eine genauere Untersuchung vorgeschlagen.

Alles in allem konnte die vorliegende Arbeit zeigen, dass das Themenfeld in vielfacher Hinsicht einer genaueren Untersuchung wert ist. Die Erkenntnisse sind hilfreich für ein genaueres Verständnis des Mehrebenensystems Kulturpolitik in Deutschland, für die Hintergründe und konkreten Beweggründe der Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes in Deutschland sowie für das Wechselspiel aus internationaler und nationaler Umsetzung von internationalen Kulturvölkerrechtsinstrumenten. Der Autor der Arbeit wäre erfreut, wenn weiterführende Forschungen die hier erarbeiteten Erkenntnisse vertiefen, erweitern, mit anderen Methoden belegen oder auch falsifizieren würden. In jedem Fall bietet die Thematik Stoff für eine weitergehende wissenschaftliche Befassung in mehreren Disziplinen.