Dieses Kapitel analysiert durch die Auswertung der identifizierten Dokumente und der Experteninterviews die konkrete Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes in Deutschland. Die Unterkapitel folgen den Phasen des Policy-Cycle, der dieser Arbeit als Modell zugrunde liegt (siehe Abschnitt 5.2.3.): von der Identifikation des politisch zu behandelnden Problems und seiner Platzierung auf der kulturpolitischen Agenda über die Politikformulierung zu seiner Lösung bis hin zur Überführung in eine Politik der Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes und ihre Evaluierung.

Wie in Abschnitt 3.1. erläutert, entsteht kulturpolitisches Handeln anders als in vielen anderen Politikfeldern, die durch Rechtssetzungen geprägt sind, viel stärker im Diskurs und der Aushandlung der maßgeblichen Akteure. Basierend auf der Wahrnehmung von Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik und der aktiven Rolle des Staates in der Gestaltung von Rahmenbedingungen der Kultur in Deutschland, gilt es in dieser Untersuchung in erster Linie die staatlichen Akteure, aber in zweiter Linie auch zivilgesellschaftliche Akteure, wie Verbände und Vereine, in den Blick zu nehmen.

6.1 Problemdefinition und Agenda Setting: Wo bzw. was ist das Problem?

Die Phase der Problemdefinition und des Agenda Setting kann man gliedern in den Prozess der Annäherung an das Thema Immaterielles Kulturerbe in Deutschland (Abschnitt 6.1.1.), die Platzierung auf der kulturpolitischen Agenda (Abschnitt 6.1.2.) und die Ingangsetzung des Beitrittsprozesses zur UNESCO-Konvention (Abschnitt 6.1.3.). Die drei für diese Phase als relevant identifizierten Kategorien (siehe Abschnitt 5.3.4.), erstens das Begriffsverständnis und die Relevanz des Themas Immaterielles Kulturerbe in Deutschland (v. a. in Abschnitt 6.1.1., zum Teil auch in 6.1.2.), zweitens die Faktoren für den deutschen Beitritt zur Konvention (v. a. in Abschnitt 6.1.2.) und drittens – ganz im Sinne des in dieser Arbeit verfolgten Theorieansatzes des akteurzentrierten Institutionalismus – die Rolle der verschiedenen beteiligten Akteure für den Beitritt (v. a. in Abschnitt 6.1.3., zum Teil auch in 6.1.2.) werden hierbei untersucht.

6.1.1 Annäherung ans Thema

Bis etwa zum Jahr 2008 war das Thema Immaterielles Kulturerbe in der deutschen Kulturpolitik kaum präsent. Vor, während und auch noch einige Zeit nach der Verabschiedung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes im Jahr 2003 auf der UNESCO-Generalkonferenz in Paris fand das Konzept, lebendige Tradition, menschliches Wissen und Können als relevantes Kulturerbe einzustufen, in Deutschland kaum Resonanz. (vgl. Hanke 2016: 86) Dies führte dazu, dass ein Beitritt zur Konvention lange gar nicht öffentlich zur Debatte stand. „Da haben die Deutschen ein bisschen gemauert, die sagten, […] für uns ist das erst mal nicht so relevant.“ (E1, Interview am 15.10.2018), erinnert sich der Vizepräsident der Deutschen UNESCO-Kommission und später auch erster Vorsitzende des Expertenkomitees Immaterielles Kulturerbe bei der DUK, Christoph Wulf. Ein echtes Problem im Sinne des Policy-Cycle wurde in Deutschland auf diesem Gebiet der Kulturpflege bzw. Kulturpolitik zunächst nicht identifiziert. Wulf meint, gegen eine Beschäftigung mit dem Immateriellen Kulturerbe bzw. einen deutschen Beitritt zur UNESCO-Konvention seien

„sehr merkwürdige Vorbehalte […] formuliert [worden]. Die einen sollen […] vom Geld gesprochen haben, dass das kostet. Andere hatten Sorge, dass dadurch Migrantengruppen [in ihrer kulturellen Identität, Anm. d. Verf.] so gestärkt werden, dass sie sich nicht mehr integrieren. Also das waren sehr diffuse Ängste, die da eine Rolle spielten.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Bei den Bedenken können grob acht verschiedene Stränge identifiziert werden:

(1) Das Kostenargument ist auf Seiten der Länder und der Bundesressorts tatsächlich besonders häufig ins Feld geführt worden. Vor dem Hintergrund der Weltfinanzkrise ab 2007, die sich auf die Wirtschaftsentwicklung und Steuereinnahmen niederschlug, sowie der Einführung der Schuldenbremse der öffentlichen Haushalte in Deutschland, die 2009 beschlossen wurde, entsprach es dem Zeitgeist, dass zusätzliche öffentliche Ausgaben streng geprüft wurden. Man fürchtete zudem, dass finanzielle bzw. rechtliche Ansprüche durch eine Anerkennung von Kulturformen als Immaterielles Kulturerbes entstehen könnten.

(2) Die Bundesregierung hat darüber hinaus im Hinblick auf eine Inventarisierung des Immateriellen Kulturerbes im Jahr 2009 die Befürchtung geäußert, dass „bestimmte gesellschaftliche oder berufsständische Gruppen eine Eintragung in die Liste bzw. Listen des deutschen immateriellen Kulturerbes mit dem Ziel der Erlangung wirtschaftlicher Vorteile […] betreiben könnten“ (Dok. 5: BT-Drs. 16/13343 vom 11.06.2009: 5). Die Verknüpfung von Kultur und Wirtschaftsinteressen wird – bei allen berechtigten Bedenken, die auch die UNESCO-Konvention formuliert – im Kulturpolitikfeld in Deutschland häufig stark kritisiert, ohne die Chancen, die darin auch liegen können, wahrzunehmen.

(3) In der Vorphase der Umsetzung in Deutschland war bei vielen Verantwortlichen zudem die Befürchtung vorherrschend, dass Traditionen, die aus der Zeit des Nationalsozialismus stammen oder maßgeblich für nationalsozialistische Zwecke instrumentalisiert worden sind, mittels der neuen UNESCO-Konvention wieder propagiert werden könnten (vgl. Albert/Disko 2011: 6 und Dok. 5: BT-Drs. 16/13343 vom 11.06.2009: 4). Dabei hatte sich gerade Deutschland in den Verhandlungen der Konvention besonders dafür eingesetzt, dass nur solche Elemente als Immaterielles Kulturerbe anerkannt werden können, die mit den Menschenrechten und dem Anspruch gegenseitiger Achtung von Gemeinschaften, Gruppen und Einzelpersonen sowie mit einer nachhaltigen Entwicklung im Einklang stehen (vgl. Bernecker 2007: 19 und Dok. 5: BT-Drs. 16/13343 vom 11.06.2009: 4). Trotzdem fürchtete die Bundesregierung 2009 noch einen Missbrauch:

„Da eine Verweigerung der Aufnahme in die nationale Liste bzw. die nationalen Listen der gerichtlichen Prüfung unterläge, erscheint zweifelhaft, ob die Eintragung unerwünschter, jedoch nicht eindeutig rechtswidriger Bräuche (z. B. Rituale mit nationalsozialistischer Konnotation) zu verhindern wäre. Daraus könnte in Medien und Öffentlichkeit des In- und Auslandes der unzutreffende Eindruck einer Sanktionierung derartiger Praktiken durch die Bundesrepublik Deutschland entstehen.“ (Dok. 5: BT-Drs. 16/13343 vom 11.06.2009: 4 f.)

Auch seitens der von der DUK konsultierten Experten wurde wiederholt auf die Spezifik der deutschen Geschichte, insbesondere die Kolonialzeit, die Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus und die deutsche Teilung mit der jeweils einhergehenden Instrumentalisierung kultureller Traditionen, hingewiesen (vgl. u. a. Koch/Hanke 2013: 52). Allerdings sah man durch eine Expertenauswahl hier keine grundsätzlichen Hürden, sich an der Konventionsumsetzung zu beteiligen.

(4) Die Behörde der BKM fürchtete aufgrund des unbestimmten Rechtsbegriffs „Konflikt- und Missbrauchspotenzial“ bei der Erstellung des nationalen Verzeichnisses, insbesondere vor dem Hintergrund, dass „die Einstufung als besonders schützens- oder erhaltenswert“ (Dok. 3: BKM-Sachstand vom 21.11.2008: 2) nicht durch den Vertragsstaat erfolge, sondern es auf dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats den Gruppen und Individuen obliegt, etwas als Bestandteil ihres Kulturerbes anzusehen. „Zu befürchten ist daher, dass auch dubiose Einzelinteressen möglicherweise zum Nachteil einer größeren Gemeinschaft unter dem [sic!] Schutz einer UNESCO-Konvention geraten.“ (Dok. 2: Dokumentation ZDH-Workshop 9./10. April 2008: 4). Der für ein Kulturvölkerrechtsinstrument sehr partizipative Ansatz bot BKM hier also vornehmlich Anlass zur Sorge. In jedem Fall wollte man nach Aussagen von 2008 (vgl. Dok. 3: BKM-Sachstand vom 21.11.2008: 3 f.) und 2009 „die weitere Konkretisierung des Übereinkommens vor der Entscheidung über einen Beitritt“ (Dok. 5: BT-Drs. 16/13343 vom 11.06.2009: 5) abwarten.

Eberhard/Letzner (2009: 7 ff.) listen noch eine ganze Reihe anderer inhaltlicher wie auch politisch-rechtlicher Bedenken der Frühphase in Deutschland auf, etwa (5) die Frage der Urheber- und Verwertungsrechte – also die Frage, wer von einer möglichen Anerkennung profitiert bzw. wie mit dem Problem einer „kulturellen Aneignung“ umzugehen wäre – sowie (6) die durch eine Stärkung von Gruppenidentitäten infolge der Anerkennung von markanten Kulturformen möglicherweise bedingten Abgrenzungstendenzen gegenüber Nicht-Mitgliedern der entsprechenden Gruppe und daraus folgend eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft, auch, aber nicht nur in Punkto Integration. Gefürchtet wurden auch (7) eine drohende Bürokratisierung lebendiger Kulturpflege und (8) eine Musealisierung kultureller Ausdrucksformen (vgl. Albert/Disko 2011: 2) – diese beiden Punkte machte vor allem die damalige Oppositionspartei FDP in der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ als Argumente stark und positionierte sich dahingehend mit einem Sondervotum (s. u.).

Der Begriff ‚Immaterielles Kulturerbe‘ selbst hatte bis dato in Deutschland kaum Bekanntheit erlangt, so dass bis etwa zum Jahr 2010 wenig gesellschaftlicher Druck für einen Beitritt bestand. Weder in der Öffentlichkeit oder der Politik – eine Ausnahme bildete der Deutsche Städtetag, dessen Kulturausschuss sich im Oktober 2007 für eine Ratifizierung des UNESCO-Konvention aussprach – noch im Deutschen Kulturrat, dem Spitzenverband der Kulturverbände in Deutschland, hat man das Thema bis 2012/13 ernsthaft diskutiert. Der damalige Präsident des Deutschen Kulturrats, Prof. Christian Höppner, meint: „Da war ich erstaunt, dass die Echowellen relativ lange gebraucht haben, wo man manchmal mit Themen auch sehr früh dran war, aber da waren wir nicht früh dran.“ (V, Interview am 06.11.2018)

Der Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ (Deutscher Bundestag 2007), immerhin weithin als wegweisendes Dokument der Entwicklung der Kulturpolitik in Deutschland wahrgenommen, betonte im Abschnitt 7.3.1 A ausdrücklich die Bedeutung der Laienkultur, die dazu führe, dass die „Nutzer als handelnde Subjekte (und nicht nur als Konsumenten) auftreten“ (Deutscher Bundestag 2007: 428). Dies erinnerte immerhin stark an eine Definition Immateriellen Kulturerbes und seiner Trägergruppen. Im selben Schlussbericht heißt es mit Blick auf das Immaterielle Kulturerbe zwar eher skeptisch:

„Moderne, hochkomplexe Gesellschaften europäisch-atlantischer Tradition mit vorwiegend schriftlicher und institutionalisierter Tradierung von Wissen, Werten und Standards haben ein anderes Verhältnis zum immateriellen Kulturerbe als das in vielen anderen Teilen der Welt der Fall ist.“ Im Weiteren klingt es jedoch etwas positiver: „Ein lebendiges kulturelles Milieu ist der Nährboden für das Leben und die Überlieferung des immateriellen Kulturerbes. Es sollte deshalb zentraler Bezugspunkt für die Pflege und den Schutz dieses Erbes sein. Solche Milieus, in denen sich Tradition und Aktualität verbinden, sind auch im europäischen Alltagsleben in zahlreichen Facetten, zum Beispiel der Laienkultur, und vielen Regionen mit besonders intensiv ausgeübten Gemeinschaftsriten existent. […] Wenn immaterielle Kultur geschützt werden soll, dann müssen jene Milieus gepflegt werden, in denen aktuelle und tätige Auseinandersetzung mit den Herausforderungen in den regionalen und lokalen Lebenswelten des Alltags stattfindet.“ (Deutscher Bundestag 2007: 428)

In einer der 465 Handlungsempfehlungen des Schlussberichts legte die Enquete-Kommission der Bundesregierung dann konsequenterweise eine Initiative zur Ratifizierung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes und die Vorbereitung entsprechender Maßnahmen nah. Die FDP-Fraktion verfasste zu dieser Empfehlung allerdings ein Sondervotum mit dem Inhalt, dass man zwar im Grundsatz die Ziele des Übereinkommens und die Bedeutung des Immateriellen Kulturerbes und dessen Bewahrung ausdrücklich anerkenne, aber die vorgeschlagenen Institutionen und Maßnahmen, wie die Einrichtung eines UNESCO-Komitees, von Listen und finanziellen Unterstützungsmechanismen für eine „unnötige Bürokratisierung und Konservierung des kulturellen Lebens“ (Deutscher Bundestag 2007: 429) halte. In einer weiteren Empfehlung regte die Enquete-Kommission dann wieder einstimmig an, dass im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit ein Schwerpunkt auf Schutz und Erhaltung materiellen wie auch immateriellen Kulturerbes gelegt werden könnte (vgl. Deutscher Bundestag 2007: 429).

Es gab bei den Anstrengungen in Richtung einer Ratifizierung bzw. eines Beitritts zum UNESCO-Übereinkommen über die Bedenken hinaus einige grundlegende Probleme, die letztlich typisch für das deutsche Mehrebenensystem – nicht nur im Bereich Kultur – sind: Erstens war ungeklärt, welcher politische Akteur die nationale Umsetzung, die bei dieser Konvention mitentscheidend ist, gestalten und vor allem finanzieren würde. Damit hing zweitens auch eine gewisse Angst bei mehreren Akteuren zusammen, das sorgsam austarierte Verhältnis zwischen den Ländern und dem Bund im Bereich der Kulturpolitik aus dem Gleichgewicht zu bringen. Man befürchtete drittens in diesem Kontext einen erheblichen Koordinierungsbedarf zwischen den staatlichen Akteuren. Dies verzögerte – neben dem in weiten kulturpolitischen Kreisen bestehenden Desinteresse und den damals verbreiteten Missverständnissen, was die Konvention eigentlich anstrebt – eine rasche Ratifizierung. Das wird beispielhaft in einem von Eberhard/Letzner (2009: 10) zitierten Schreiben vom Mai 2007 deutlich, welches die beiden damaligen Sprecher der Arbeitsgruppe für Kultur und Medien der Regierungsfraktionen CDU/CSU, Wolfgang Börnsen, und SPD, Monika Griefahn, an den Staatsminister für Kultur und Medien, Bernd Neumann, sandten. Auf dieses Schreiben Börnsen/Griefahn habe es, wie Monika Griefahn den Autoren Eberhard und Letzner am 4. August 2008 mitteilte, vom BKM die Antwort gegeben, dass noch einige

„sehr grundlegende Fragen insbesondere hinsichtlich von Abgrenzungsschwierigkeiten zur UNESCO-Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt und seitens der Länder hinsichtlich der innerstaatlichen Umsetzung im Falle eines Beitritts zu klären [seien]. Im Moment findet eine ausführliche Überprüfung dieser und weiterer Fragen in Abstimmung mit den Ländern durch die Bundesregierung statt. Noch in diesem Jahr erwarten wir eine Einschätzung, auf deren Grundlage weitere Schritte zu überlegen sind.“

Die SPD-Fraktion im Bundestag fragte dann im November 2008 bei BKM einen neuen Sachstand ab (Dok. 3: BKM-Sachstand vom 21.11.2008). Hierin wurden mögliche Pro- und Contra-Argumente einer Ratifizierung durch Deutschland aufgelistet und gegeneinander abgewogen. BKM macht sich die Argumente nicht allesamt zu eigen, spricht sich am Ende des Sachstands aber doch deutlich gegen einen raschen Beitritt aus: Neben der (innen-)kulturpolitisch gewürdigten grundsätzlich unterstützten Zielsetzung der Konvention und dem konstatierten zunehmenden Interesse auf politischer und zivilgesellschaftlicher Ebene in Deutschland standen einige außenkulturpolitisch relevante Argumente auf der Pro-Seite: der Wunsch nach Mitwirkungs/-gestaltungsmöglichkeiten der Konvention, Solidaritätsbekundungen gegenüber Entwicklungsländern, die ihre Kultur durch die Welterbe-Konvention nicht ausreichend gewürdigt sahen, der generelle Wunsch, nicht wie bei der UNESCO-Konvention zum Kulturgüterschutz (1970) 30 Jahre mit der Ratifizierung zu warten, und eine erhebliche Anzahl von EU-Mitgliedstaaten und weiteren europäischen Partnern, die der Konvention zu diesem Zeitpunkt bereits beigetreten waren. Dem standen auf der Contra-Seite vor allem die oben bereits zitierten Ängste, was die Umsetzung an gesellschaftspolitischen Folgen mit sich bringen könnte, gegenüber. (vgl. Dok. 3: BKM-Sachstand vom 21.11.2008: 1–4) Ausdrücklich zitiert BKM die Sondervoten der FDP aus dem Enquete-Bericht „Kultur in Deutschland“, wie etwa die Wahrnehmung, dass mit der Umsetzung der Konvention und ihren Mechanismen „unnötige Bürokratisierung“ verbunden sein und die „Zielsetzung der Konvention […] als Ausdruck eines rückwärtsgewandten, statischen Kulturverständnisses aufgefasst werden“ (Dok. 3: BKM-Sachstand vom 21.11.2008: 2) könnte. Insgesamt bewertet BKM die für einen Beitritt sprechenden Gründe seien „überwiegend nicht kulturpolitischer, sondern allgemein- bzw. außenpolitischer Art“ (Dok. 3: BKM-Sachstand vom 21.11.2008: 3). Abschließend wird empfohlen

„in Zusammenarbeit mit den Ländern, anderen Bundesressorts (Auswärtiges Amt, Bundesministerium der Justiz, Bundesministerium des Innern) und (Völkerrechts-)Wissenschaftlern die möglichen Konsequenzen eines deutschen Beitritts und einer Ratifizierung umfassend zu erörtern“ (Dok. 3: BKM-Sachstand vom 21.11.2008: 4).

Die Einschätzung aus diesem Sachstand ist zwiespältig: Man liest deutlich heraus, dass es gesellschaftliche Interessengruppen gab, die den Beitritt wünschten, aber besonders intensiv war der Druck zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Zugleich musste auch vielen Bedenken(-trägern) Rechnung getragen werden. Undeutlich bleibt zudem, warum man die für eine Ratifizierung sprechenden Gründe nicht als „kulturpolitisch“ einstuft, mithin also bleibt für den Lesenden unklar, welche Definition von Kulturpolitik BKM hier zugrunde legt. Je nach der angewandten Definition, Kultur als Kunst bzw. Kultur als Lebensart, die die meisten Formen Immateriellen Kulturerbes ausschließen, oder Kulturen im Plural bzw. Kultur als Gegensatz zur (unberührten) Natur (vgl. Abschnitt 3.3.1.), die inklusiver wären, ist diese Schlussfolgerung kritisch zu hinterfragen.

Im Juni 2009 befand die Bundesregierung – federführend das Auswärtige Amt – in Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion aus der außenpolitischen Perspektive argumentierend, dass „keine außenpolitischen Gründe für einen raschen Beitritt zur Konvention“ (Dok. 5: BT-Drs. 16/13343 vom 11.06.2009: 2) sprächen, kulturpolitische Gründe aber noch geprüft würden. Man könnte aus diesen widersprüchlichen Antworten von BKM und AA schließen, dass die beiden Institutionen ein unterschiedliches Kulturverständnis zugrunde legen. Allerdings könnte es auch ein für die Politik ebenfalls nicht untypisches ‚Schwarzer-Peter‘-Spiel gewesen sein, bei dem die Verantwortung für Verzögerungen und Stillstand jeweils einem anderen Akteur zugeschoben wird. In einem internen Vermerk desselben Jahres wurde vom AA u. a. angeführt, dass die Vielfalt immaterieller kultureller Ausdrucksformen in Deutschland es verdiene, auch auf internationaler Ebene widergespiegelt zu werden. Zudem sei ein internationaler Vergleich der Best Practices von Erhaltungsmaßnahmen sinnvoll. Die Bundesregierung betonte öffentlich allerdings erneut, „dass vor einer Entscheidung über eine mögliche Ratifizierung […] weiterer Abstimmungsbedarf auf Bundes- und Länderebene“ (Dok. 5: BT-Drs. 16/13343 vom 11.06.2009: 2) bestehe und dass Vor- und Nachteile einer Ratifizierung sorgfältig geprüft werden müssten. Die Länder, vertreten in Persona durch die Beauftragte für das UNESCO-Welterbe, Dr. Birgitta Ringbeck, gaben 2010 aber immerhin eine Machbarkeitsstudie zur Umsetzung der Konvention in Deutschland in Auftrag (vgl. Albert/Disko 2011: 2 ff.). Im Bayerischen Landtag hatten die Freien Wähler im Sommer 2010 auch einen Dringlichkeitsantrag eingebracht, der die Staatsregierung zur „Stärkung der bayerischen Kultur und ihrer charakteristischen überlieferten Eigenschaften, insbesondere im musikalischen und darstellerischen Bereich sowie im Bereich des Brauchtums“ (Dringlichkeitsantrag „Bayerische Kultur als UNESCO immaterielles Weltkulturerbe“ vom 13.07.2010, Drs. 16/5477) zum Engagement für eine Unterzeichnung der UNESCO-Konvention auffordert.

In der Zeit vor dem Beitritt, insbesondere während der anlaufenden internationalen Umsetzung der Konvention mit den ersten UNESCO-Listen-Eintragungen, die in die Jahre 2008 und 2009 fielen, wurden in den Medien, zum Teil vielleicht bewusst, zum Teil unbewusst, Fehl- und Falschinformationen über das Übereinkommen und seine Gegenstände sowie das Verhältnis zur Welterbe-Konvention verbreitet – mit Schlagzeilen wie zum Beispiel „Artenschutz für den Tango“ (Die WELT, 01.10.2009) oder Behauptungen wie, es gehe um „Sitten von Urvölkern und ethnischen Minderheiten“ (dpa, 18.11.2010). „In der allgemeinen Öffentlichkeit war das Thema ja teils auch so ein bisschen mit Vorbehalten belegt, […] dass man aus einem Unwissen, ‚Was ist das überhaupt?‘ dann auch so ein bisschen ironisiert hat. Und es gab […] einige […] hämische Zeitungsbeiträge.“ (E2, Interview am 25.10.2018) So erinnert sich Prof. Dr. Gertraud Koch, Professorin für Volkskunde/Kulturanthropologie an der Universität Hamburg und ab 2013 stellvertretende Vorsitzende des DUK-Expertenkomitees Immaterielles Kulturerbe. Nachdem es im Jahr 2005 einen gut recherchierten und fundiert berichtenden Beitrag in der ZEIT unter dem Titel „Nicht zu fassen“ (20.06.2005) gab, schenkte das deutsche Feuilleton der Konvention lange keine Beachtung mehr. Erst 2009 mit den ersten neuen UNESCO-Einträgen nach den ‚Meisterwerken‘ entdeckten die deutschen Medien das Thema wieder. Die kritisierende bis hämische Lesart dominierte. Sie bezog sich etwa auch auf eine Initiative des Thüringer Kloßmuseums, den Kartoffelkloß als Immaterielles Kulturerbe anerkennen zu lassen, was z. B. in der Frankfurter Rundschau vom 10.11.2011 verhöhnt wurde, nachdem die Mediterrane Küchen- und Esskultur sowie das Französische Gastmahl 2010 den UNESCO-Status auf der Repräsentativen Liste erlangt hatten. Hierzu hieß es beispielsweise „Tartenschutz. Warum ehrt die UNESCO das Essen der Franzosen?“ (FAZ vom 18.11.2010) oder „Die Welt als Museum. Die UNESCO schützt jetzt auch noch die französische Küche. Vielleicht sollte unser Leben insgesamt Weltkulturerbe werden?“ (Die ZEIT vom 25.11.2010). „Wenn belgische Fritten, die spanische Paella oder gar thüringische Kartoffelklöße mit dem Prädikat Kulturerbe versehen werden sollen, dann erregt dies hierzulande neben Sympathie wohl in erster Linie kritisch-zögerliches Staunen.“ (Tauschek 2013: 116) Die Medienberichterstattung ist in ihrer Wirkung tatsächlich nicht zu unterschätzen, denn die Ländervertreterin Susanne Bieler-Seelhoff etwa meint hierzu rückblickend:

„Das war ja durchaus auch ein Bedenkens- und Hinderungsgrund für einen sofortigen Beitritt, als das französische Baguette [eigentlich das Französische Gastmahl, Anm. d. Verf.] auf die Liste des Immateriellen Kulturerbes, und ähnliche, ich nenne es einmal, aus meiner Sicht doch schräge Vorschläge, kamen. Weil dieses dann auch in der öffentlichen Berichterstattung verballhornt wurde im Zusammenhang mit UNESCO; worum kümmert sich die UNESCO noch und brauchen wir noch eine Konvention?“ (L, Interview am 15.11.2018)

Eine längere Passage eines Kommentars unter dem Titel „Gyros als Weltkulturerbe“ exemplifiziert die seinerzeitige Tendenz des deutschen Feuilletons, dem Grundgedanken der Konvention und des Immateriellen Kulturerbes „sehr oberflächlich und herabsetzend gegenüber“ (Letzner 2013: 62) stehend, eindrücklich:

„Mit der Unesco verhält es sich wie mit der Fastfoodkette McDonald’s: Wo man auch hingeht, ist sie schon da. […] Es wäre […] konsequent, gleich die ganze Erde zum Weltkulturerbe zu erklären […]. Die Türkei möchte […] das türkische Öl-Wrestling berücksichtigt wissen, bei dem sich halbnackte Männer mit Öl übergießen, um sich dann mit gekonnten Griffen an und auch in die knappe Lederhose zu Boden zu reißen – unbedingt schützenswert, wie wir meinen. Noch öliger als die türkischen Öl-Wrestler ist nur noch die griechische Küche, die ebenfalls auf die Liste drängt. [Überall], wo es ein Weltkulturerbe gibt, gleich neben der McDonald's-Filiale gewissermaßen, ist der nächste Gyros-Pita-Stand nicht weit. [… Die Stadt Dresden] hat ihre Chance verspielt und wird es sich irgendwann als Alleinstellungsmerkmal anrechnen lassen können, nicht Weltkulturerbe zu sein.“ (Die WELT, 20.11.2010)

Nicht nur die polemische Lesart, sondern auch die bewusste Vermischung mit dem materiellen Kulturerbe ist für die Zeit durchaus typisch. Albert/Disko (2011: 5) zitieren in ihrer Machbarkeitsstudie zur möglichen Umsetzung der Konvention in Deutschland ebenfalls eine Reihe von Artikeln aus dem Jahr 2010, die gut zum Ausdruck bringen, welche Stimmung in den Medien herrschte. Die Folge war auch in der politischen Öffentlichkeit eine Reihe von Missverständnissen in Bezug auf die Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes, die – so wurde in der Studie eindringlich angemahnt – es vor und parallel zu einem deutschen Beitritt durch gezielte Informationen und Bewusstseinsbildung zu beseitigen gelten würde. (vgl. Albert/Disko 2011: 2, 5) Diese Kommunikationsarbeit wurde später tatsächlich eine der vier Kernaufgaben der Geschäftsstelle bei der Deutschen UNESCO-Kommission.

6.1.2 Platzierung auf der kulturpolitischen Agenda

Im Rahmen einer Politikfeldanalyse anhand des Policy-Cycles stellt sich dann natürlich die Frage, wie das Thema trotz der beschriebenen Bedenken und Hürden auf die kulturpolitische Agenda kam. Die Berichterstatterin der Länder im KMK-Kulturausschuss für das Thema Immaterielles Kulturerbe, Susanne Bieler-Seelhoff, Abteilungsleiterin Kultur in Schleswig-Holstein, meint, es war

„ein lange schlummerndes Thema (…) zwischen dem Bund und den Ländern: Will man dieser UNESCO-Konvention beitreten, ja oder nein? Und unter welchen Bedingungen würde man das machen? Und so weiter. Ich glaube, der Druck auf Deutschland ist dann einfach größer geworden, nachdem fast alle europäischen Nachbarn drin waren und wir so die letzten waren, als europäischer Musterschüler dieses aber natürlich eigentlich nicht stehen lassen wollten.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Dass das Thema ab etwa 2008 und verstärkt 2011/12 auf die politische Agenda kam, kann man wie Christoph Wulf dem „berühmte[n] Zeitgeist, der schwer zu greifen ist, der aber dennoch eine wichtige Kategorie ist für die Beurteilung kultureller Phänomene“ (E1, Interview am 15.10.2018) zuschreiben. Dass sich das „Window of opportunity“, also das Möglichkeits- bzw. Policy-Fenster (vgl. Jann/Wegrich 2003: 85) öffnete, war sicherlich auf die weitgehend positiv ausgefallene Machbarkeitsstudie der BTU Cottbus (Albert/Disko 2011) mit „praktikable[n] Vorschläge[n] für eine nationale Umsetzung der Konvention“ (Dok. 4: BT-Drs. 17/6314 vom 29.06.2011: 2) wie auch auf die kontinuierliche Informationsarbeit der Deutschen UNESCO-Kommission zurückzuführen. Der Fachausschuss Kultur der DUK und das Nominierungskomitee „Memory of the World“ hatten seit 2004 Optionen der deutschen Mitarbeit am Immateriellen Kulturerbe beraten (vgl. Albert/Disko 2011: 18). Mit einer Fachtagung im Februar 2006 in Bonn und der Zusammenstellung eines auf den Ergebnissen dieser Tagung basierenden Memorandums sowie der Veröffentlichung eines Themenhefts der Zeitschrift „UNESCO Heute“ im Jahr 2007 hat die DUK das Thema des Immateriellen Kulturerbes bereits zur Zeit des Inkrafttretens der UNESCO-Konvention und deutlich vor dem deutschen Beitritt fachlich begleitet. In dem Memorandum hat sich die DUK im Namen der synthetisierten Experteneinschätzungen dafür ausgesprochen, dass sich Deutschland „mit einem Beitritt zu dem Übereinkommen aktiv an der europäischen und internationalen Kooperation“ (DUK 2007: 20) beteiligen sollte. 2009 und 2011 fanden Anhörungen im Deutschen Bundestag statt, die die DUK jeweils direkt oder indirekt durch inhaltliche Zuarbeit im Vorfeld und durch die Benennung von Experten aus dem In- und Ausland unterstützt hat. Hierbei kam es insbesondere zu einer engen Zusammenarbeit mit den für Kultur zuständigen Mitarbeitern der Fraktionen von SPD und CDU/CSU, deren Rolle in der Vorstrukturierung von Themen und Debatten sowie in der Kontaktpflege zu Fachpartnern außerhalb des Bundestags für die parlamentarische Demokratie nicht zu unterschätzen ist. Ferner gab es persönliche Gespräche von Präsidiumsmitgliedern der DUK mit Entscheidungsträgern in Bund und Ländern. Dadurch sowie durch die Mitwirkung an öffentlichen Positionierungen von Politik und Zivilgesellschaft hat die DUK dafür gesorgt, dass das Wissen und die Kenntnisse über die UNESCO-Konvention von 2003 in den relevanten Fach- und Politikkreisen zugenommen haben, was womöglich eine wesentliche Rolle für den in den Jahren 2012/13 gelungenen Beitritt gespielt hat (vgl. Eberhard/Letzner 2009: 12). Die vorgebrachten Argumente gegen eine Ratifizierung im in Abschnitt 6.1.1. bereits gewürdigten BKM-Sachstand von 2008 (vgl. Dok. 3: BKM-Sachstand vom 21.11.2008) versuchte die DUK z. B. im Juli 2010 argumentativ zu entkräften (vgl. Dok. 6: Einschätzung der DUK zum BKM-Sachstand vom Juli 2010). Es ist

„ein Stückchen auch Verdienst sicherlich unserer Arbeit als Deutsche UNESCO-Kommission, die dafür geworben hat. Und die das auch deutlich gemacht hat, den Politikern, dass das etwas ist, was da ist. Und eine Realität und man mit dem produktiv umgehen muss und nicht das einfach an die Seite schieben oder verschweigen darf“ (E1, Interview am 15.10.2018),

meint der DUK-Vizepräsident Christoph Wulf.

Auch in den Medien wandelte sich die Wahrnehmung der potenziellen Sinnhaftigkeit der neuen UNESCO-Kulturerbe-Konvention mit der Zeit. Ende 2011 hieß es anlässlich der UNESCO-Neuaufnahmen in einer Überschrift der Stuttgarter Zeitung zu einer dpa-Meldung nun anders als in den Vorjahren eher positiv bzw. wertneutral gestimmt „Bräuche jetzt auch Kulturerbe“ (26.11.2011) und bei der WELT in einem gut informierten Artikel „Unesco zeichnet Musik aus Mexiko und Portugal aus“ (28.11.2011). Ende 2012 ging es mit der positiven Erwähnung beachtenswerter UNESCO-Listungen weiter: In den DeutschlandRadio-Kulturnachrichten hieß es etwa „Unesco erklärt italienische Geigenbaukunst und ‚Schemenlauf‘ in Österreich zum immateriellen Kulturerbe“ (06.12.2012) sowie „UNESCO kürt ‚Fiesta de los Patios‘ zum Immateriellen Weltkulturerbe“ (07.12.2012). Während bis 2010 die als abwegig bis absurd wahrgenommenen Einträge auf den UNESCO-Listen in den Medienberichten dominant thematisiert wurden (siehe Abschnitt 6.1.1.), war 2011/2012 überwiegend eine Würdigung interessanter, auch in der Perspektive des deutschen Feuilletons lohnender, Anerkennungen zu konstatieren. In beiden Jahren wurde anlässlich der UNESCO-Listungen auch in vielen Berichten, u. a. der Nachrichtenagentur dpa, die von vielen Medien übernommen werden, darauf hingewiesen, dass Deutschland noch kein Vertragsstaat sei und daher nichts nominieren könne.

Die sechs Eigenschaften eines Themas (siehe auch Abschnitt 5.2.3.1. dieser Arbeit), welche nach Schneider/Janning (2006: 56) entscheiden, ob ein solches auf die Agenda der Politik kommt, wurden in den für dieses Forschungsvorhaben geführten Interviews bei den Experten abgefragt und werden im Folgenden im Einzelnen erörtert:

(1) In Bezug auf den Punkt Konkretheit und Klarheit bzw. Eindeutigkeit vs. Mehrdeutigkeit des Themas galt es selbst noch in der späteren Phase der beginnenden Umsetzung der UNESCO-Konvention – und teilweise noch bis heute – durch die handelnden Akteure immer wieder deutlich zu machen, dass es beim Immateriellen Kulturerbe nicht um das materielle UNESCO-Welterbe geht. Nicht nur in den Medien war dies auffällig (siehe oben), selbst in einer Pressemitteilung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom August 2012, die sich explizit auf den anstehenden deutschen Beitritt zur 2003er-UNESCO-Konvention bezieht, heißt es im Titel „Welterbe der Kulturtraditionen“ und im Text „Damit kann Deutschland 2012 das 144. Welterbe-Beitrittsland werden.“ (Dok. 17: Pressemitteilung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 06.08.2012) Neben den Abgrenzungsschwierigkeiten gab es anfangs häufig Verwechslungen (vgl. u. a. Dok. 3: BKM-Sachstand vom 21.11.2008: 3), u. a. auch mit der 2005er-Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen (siehe Abschnitt 6.1.1., Brief BKM an Börnsen/Griefahn). Eine feste Definition des Begriffs ‚Immaterielles Kulturerbe‘ ist ebenfalls schwierig – daraus folgend fürchtete man u. a. eine Banalisierung bzw. Anwendung auf alles und jedes (vgl. Eberhard/Letzner 2009: 7). Auch Rechtswissenschaftler (wie u. a. Germelmann 2013: 652 f.) wiesen kritisch darauf hin, dass Grenzziehungen fehlen. Zudem fürchtete man in der Bundesregierung, wie oben bereits erwähnt, dass „Forderungen zur Unterstützung und Bewahrung von Bräuchen etc., die im Widerspruch zur deutschen Werteordnung stehen; Risiken im Bereich Migration / Minderheitenschutz und inländischer Gruppierungen (z. B. Rechtextremisten, Sekten etc.)“ (Dok. 3: BKM-Sachstand vom 21.11.2008: 3) entstünden. All dies spricht für eine Mehrdeutigkeit; das heißt es spricht gegen eine Platzierung auf der politischen Agenda. Hinzu kommt ferner, dass das Ziel der Konvention häufig missverstanden wird: Es geht nicht um Konservierung und Schutz im Sinne von Abwehrrechten, aber auch nicht um Bewahrung durch Inventarisierung, wie BKM 2008 als Interpretation wagte (vgl. Dok. 3: BKM-Sachstand vom 21.11.2008: 3). Das Ziel, Erhaltung der Lebendigkeit von traditionellen kulturellen Ausdrucksformen durch jeweils geeignete Maßnahmen, wurde weithin nicht unmittelbar verstanden. Die FDP-Fraktion hatte in ihrem Sondervotum zum Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ (vgl. Deutscher Bundestag 2007: 429) in fälschlicher Interpretation des Konventionstextes und insbesondere des englischen Terminus ‚safeguarding‘ gemeint, dieser könne als Ausdruck eines rückwärtsgewandten und statischen Kulturverständnisses aufgefasst werden (vgl. Dok. 3: BKM-Sachstand vom 21.11.2008: 2). Was genau Immaterielles Kulturerbe ist und wie Erhaltung verstanden wird, war also insbesondere zu Beginn der Umsetzung der Konvention in Deutschland, ohne konkrete Ausdrucksformen inventarisiert zu haben, alles andere als klar (vgl. u. a. Albert/Disko 2011: 31). „Immaterielles Kulturerbe ist [selbst] in der Fach-Community erst mal nicht der Begriff gewesen.“ (E2, Interview am 25.10.2018), bestätigt auch Gertraud Koch rückblickend. Die Begriffe der Konvention an sich waren definitorisch unklar und schwer zu fassen. Durch das weit verbreitet vage Verständnis, was sich dahinter verbirgt, kann man von einer Mehrdeutigkeit des Themas ausgehen, was einer Platzierung auf der politischen Agenda entgegensteht.

(2) Für die gesellschaftliche Relevanz des Themas – also den Punkt starke vs. marginale soziale Betroffenheit nach Schneider/Janning (2006: 56) – spricht, dass Gruppen, die kulturelle Ausdrucksformen im Sinne des Immateriellen Kulturerbes praktizieren, sich in der Kulturpolitik bis dato zum Teil unterrepräsentiert fühlten, wie in den Fallbeispielen der erfolgreichen Einträge ins Bundesweite Verzeichnis (siehe Abschnitt 4.2.) deutlich wurde. Dies ist auch belegt zum Beispiel für Akteure im Handwerk, die sich als Kunsthandwerker gegenüber anderen Kulturschaffenden häufig ungerecht behandelt fühlten, etwa: „Wir jubeln über die Leistungen der Orchester und bedenken nicht die Kunst des Instrumentenbaus“ (Ax/Horchler 2007: 50). Das Ziel kulturelle Teilhabe möglichst vieler Menschen zu ermöglichen, wird aber eindeutig als gesellschaftlich relevant erachtet. Die Einschätzung eines tatsächlich politisch geäußerten Bedürfnisses aus jenem Ausschnitt der Gesellschaft, der sich kulturpolitisch unterrepräsentiert fühlte, ist im Nachhinein allerdings unter den Zeitzeugen umstritten:

„Also ich habe nicht den Eindruck gewonnen damals, dass sehr viele nachhaltig dem Staat sozusagen unterstellt haben, er sei spät dran oder er müsste jetzt einmal tätig werden. Ich glaube in der Tat, dass sich das in der deutschen Öffentlichkeit, und dazu gehören ja auch die Verbände und die Zivilgesellschaft, noch nicht so richtig herumgesprochen hatte. Das ist ja auch gar kein Wunder, weil die Konvention ja eigentlich grundsätzlich erst einmal für andere Erdteile gedacht war und tatsächlich das gefährdete Immaterielle Kulturerbe ja in den Mittelpunkt gerückt hat. Und das war auch doch eine inhaltliche Diskussion: Brauchen wir so etwas eigentlich?“ (L, Interview am 15.11.2018),

rekapituliert Ländervertreterin Susanne Bieler-Seelhoff. Auch Eberhard/Letzner (2009: 10) konstatierten dies zumindest mit Stand des Jahres 2009. Birgitta Ringbeck, Welterbe-Beauftragte der Länder und ab 2012 im Auswärtigen Amt tätig, meint dagegen: „Die Schausteller wollten das. Die Bäcker wollten das mit der Brotkultur. Die haben richtig Wind gemacht. Und ich weiß auch, ich glaube, die Falkner. […] 2010, 2011 haben die Druck gemacht, damit wir auch da reinkommen.“ (B, Interview am 05.11.2018) Ein Blick in die Akten der Deutschen UNESCO-Kommission und des Auswärtigen Amts ergibt ebenfalls, dass interessierte Kulturträgergruppen, wie die Schausteller, die Handwerksbäcker oder die Narren der Schwäbisch-Alemannischen Fastnacht sowie Genossenschaftsverbände, und übergreifende Interessengruppe und Verbände, wie der Bund Heimat und Umwelt (BHU), die Sektion Deutschland des CIOFF und der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH), entscheidende Treiber des Beitritts und damit der Einführung einer Politik zugunsten des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland gewesen sind. Die genannten Gruppen hatten den Beitritt mit Stellungnahmen und Initiativen gegenüber der Politik – zum Teil auch öffentlich – relativ hartnäckig gefordert (vgl. u. a. Albert/Disko 2011: 2 sowie Dok. 11: BHU-Resolution vom 03.07.2011) und waren dann auch zu den Fachgesprächen im Deutschen Bundestag eingeladen worden. Im letztlich erfolgreichen Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP im Deutschen Bundestag wird der BHU explizit genannt und zudem festgehalten „auch andere große Verbände und gesellschaftliche Gruppen [hätten sich] für einen Beitritt Deutschlands zur Konvention eingesetzt“ (Dok. 4: BT-Drs. 17/6314 vom 29.06.2011: 2). Die Deutsche UNESCO-Kommission war bei der Erstellung der Verbandsstellungnahmen und der Konzeption der Bundestags-Fachgespräche ein wichtiger Fachpartner. Ausgehend von den Ankündigungen der Aktivitäten des Zentralverbands des Deutschen Bäckerhandwerks hinsichtlich einer Bewerbung für die Brotkultur in Deutschland gab es zwischen Februar und Mai 2011 zudem eine Reihe von Medienberichten, u. a. in der FAZ und auf Deutschlandfunk Wissen, die insgesamt positiver gestimmt waren als die dominante mediale Lesart zuvor. Bundesverbraucherschutz- und Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner erklärte zudem öffentlich, dass sie sich dafür einsetzen wolle, das traditionelle Brot als Kulturerbe anerkennen zu lassen (vgl. Tauschek 2013: 136). Im April 2013 anlässlich der Hinterlegung der deutschen Beitrittsurkunde bei der UNESCO rekapitulierte die Redaktion der 3sat-Kulturzeit, dass bereits „im Vorfeld […] Verbände für die Anerkennung von deutschen Traditionen wie dem Oktoberfest und Thüringer Klößen, Kneipps Naturheilkunde, Grimms Märchen sowie dem deutschen Chorgesang geworben“ (3sat-Kulturzeit-News vom 12.04.2013) hatten. Im Juni 2011 beantwortete die Bundesregierung zudem eine Kleine Anfrage der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag zur Lage des Schaustellergewerbes (BT-Drs. 17/6148 vom 09.06.2011), bei der die Option einer Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe und der dafür notwendige Beitritt Deutschlands zur UNESCO-Konvention ebenfalls thematisiert wurden. Eine Episode aus München verweist allerdings auch auf Vorbehalte: Der Münchener Stadtrat hat sich eindeutig und mehrfach ausdrücklich gegen eine Anerkennung des Oktoberfests als Immaterielles Kulturerbe ausgesprochen. Ein weiteres Argument für die gesellschaftliche Relevanz des Themas, das allerdings zunächst nur in bestimmten Fachkreisen, wie etwa dem ZDH, erkannt wurde, war, dass „dieses neue Instrument die Chance [bietet], die Bedeutung der auch in Deutschland vorhandenen Fülle volkstümlicher Traditionen und ihre Anbindung an zeitgenössische Formen von Kreativität neu zu entdecken“ (Bernecker 2007: 19). Der Punkt gesellschaftliche Relevanz kann als Kriterium für die Platzierung auf der Agenda der deutschen Kulturpolitik folglich nach Einschätzung des Autors dieser Arbeit alles in allem als erfüllt angenommen werden.

(3) Eine absolute Dringlichkeit der Umsetzung – dritter Punkt der Listung nach Schneider/Janning (2006: 56) lautet temporale Relevanz (absolut dringend vs. verschiebbar) – war zwar bei einem Binnenblick auf das deutsche Kulturpolitikfeld nicht unbedingt zu erkennen. BKM konstatierte 2008 zurecht, dass es eines staatlichen bzw. öffentlichen und völkerrechtlich normierten Engagements zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes nicht zwingend bedürfe, da die zivilgesellschaftlichen Akteure mit entsprechenden Absichten zweifelsohne auch eigenständig tätig werden könnten (vgl. Dok. 3: BKM-Sachstand vom 21.11.2008: 2). Die geäußerte Wahrnehmung, dass „der Bedarf an einem Schutz- und Bewahrungssystem für immaterielles Kulturerbe in Deutschland […] geringer als z. B. in Afrika“ (Dok. 3: BKM-Sachstand vom 21.11.2008: 3) sei, da Kulturerbe in Deutschland überwiegend materialisiert sei, ist schon weniger stichhaltig, da man ignoriert, dass es für diese Dimension bis dato einfach an Aufmerksamkeit gefehlt haben und vieles quasi unter dem Radar der Kulturpolitik verloren gehen könnte. Der folgende Hinweis, dass es in Europa für bestimmte Teilbereiche der Konvention zudem andere Schutzmechanismen, wie etwa Europaratskonventionen zum Schutz von Minderheitenrechten, gebe, ist noch weniger überzeugend, da dies genauso für das Welterbe zutrifft, mit der Landschaftskonvention des Europarats beispielsweise. Um auf die Dringlichkeit im engeren Sinne zurückzukommen: Im Jahr 2008 konnte man beim BKM eine „drohende ‚kulturpolitische Isolation‘ Deutschlands aufgrund Nichtratifizierung“ (Dok. 3: BKM-Sachstand vom 21.11.2008: 3) noch nicht erkennen. 2010/11 unter dem Eindruck weiterer Beitritte, gerade auch von europäischen Nachbar- und Partnerländern, war das sicherlich schon anders. „Man wartet auf Deutschland“ hatte DUK-Generalsekretär Dr. Roland Bernecker anlässlich einer Anhörung im Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestags bereits im Frühjahr 2009 gesagt (vgl. Dok. 4: heute im Bundestag vom 26.03.2009). „[I]m Sinne einer auf langfristige Vertrauensbildung angelegten Außenpolitik [ist es] wichtig, auch die Sorgen und Prioritäten einer großen Zahl anderer Staaten ernst zu nehmen, die dem drohenden Verlust wichtiger Elemente ihres überlieferten Kulturerbes entgegenarbeiten wollen“ (Bernecker 2007: 19), hatte der für das Auswärtige Amt an den Verhandlungen der Konvention Beteiligte und spätere langjährige DUK-Generalsekretär bereits zwei Jahre zuvor ausgeführt. Auch wenn man die Umsetzung des Übereinkommens international mitbestimmen bzw. -gestalten wollte, musste Deutschland seine Passivität aufgeben (vgl. Albert/Disko 2011: 2). Die Ständige Vertretung Deutschlands bei der UNESCO hat laut Protokoll einer Bund-Länder-Besprechung, aus dem Albert/Disko (2011: 4) zitieren,

„für Deutschland die Gefahr [gesehen], den Anschluss und wichtige Einflussmöglichkeiten sowohl im UNESCO-Kreis als auch im Rahmen der Konvention selber zu verlieren. Die Konvention [sei] eine der wichtigen Kulturkonventionen der UNESCO, die zusammenwachsen und deren Zusammenspiel nur dann mitbestimmt werden [könne], wenn Deutschland auch diese Kulturkonvention ratifiziert.“

Birgitta Ringbeck, die im Auswärtigen Amt den deutschen Beitritt maßgeblich orchestriert hat, erinnert sich:

„Ich hatte Kontakt gehabt mit den Kollegen im Welterbe-Zentrum von der UNESCO, aber vor allen Dingen mit den verschiedenen Staatenvertretern. Und die haben gesagt, also das ist unverständlich, dass wir dieser Konvention nicht beitreten. Und dann bin ich irgendwann in die KMK zurückgegangen und habe gesagt: […] Wir müssen sie zeichnen. Wir können nicht zu den letzten Ländern gehören, die diese Konvention unterzeichnen. Ob das so bei uns umgesetzt wird, ist dann eine ganz andere Frage, aber zeichnen sollten wir sie. Wir sollten dabei sein.‘ Das gebietet einfach, ich sage mal, die Achtung vor der kulturellen Vielfalt in anderen Ländern. Und wir haben ja gerade gesehen, wie das angenommen wurde, dieses Instrument.“ (B, Interview am 05.11.2018)

Da eine kritische Masse an Ratifizierungen erreicht war und nahezu alle Nachbarstaaten Deutschlands bereits beigetreten waren, konnte man sich der 2003er-UNESCO-Konvention also offenbar nicht mehr verweigern (vgl. E2, Interview am 25.10.2018). Auch der BHU wies in einer Resolution vom Juli 2011 auf eine drohende internationale Isolierung Deutschlands hin, die es neben den Vorteilen für die Bewusstseinsförderung und die Erhaltung von immateriellen Kulturformen in Deutschland auch außenpolitisch erforderlich mache, den Beitritt schnell zu vollziehen (vgl. Dok. 11: BHU-Resolution vom 03.07.2011). Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ließ im August 2012 per Pressemitteilung MdB Wolfgang Börnsen (vgl. Dok. 17: Pressemitteilung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 06.08.2012) verlauten, dass die Ratifizierung nun endlich zügig zum Abschluss gebracht werden solle. Die Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes wird in dieser Mitteilung auch deshalb als bedeutend dargestellt, weil 143 Staaten bereits Mitglied der Konvention seien und Deutschland hier hinterherhinke. Daher könne es noch immer seine Handwerkstraditionen und Bräuche nicht auf die UNESCO-Listen setzen lassen. Andere Staaten hätten „das UNESCO-Siegel bereits weidlich zur Verbreitung ihres kulturellen Erbes genutzt“ (Dok. 17: Pressemitteilung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 06.08.2012). Dieser Wettbewerbsgedanke wurde selten so offen geäußert, spielt aber bei vielen Akteuren mit Blick auf das Selbstverständnis Deutschlands als Kulturnation und der prominenten Stellung im Rahmen der 1972er-Welterbe-Konvention auch eine Rolle. Angesichts der dann schon mehr als 150 Staaten, die der UNESCO-Konvention 2013 beigetreten waren, herrschte in internationaler Perspektive also Handlungsdruck auf Deutschland. Andererseits: Durch die verbreitete weitgehende Unkenntnis, was Immaterielles Kulturerbe überhaupt ist – siehe der erste Punkt Konkretheit und Klarheit bzw. Eindeutigkeit vs. Mehrdeutigkeit –, entstand aus der Breite der Gesellschaft heraus im Grunde wenig Handlungsdruck. Viele Akteure waren der Meinung, es genüge, der UNESCO-Welterbe-Konvention (1972) bzw. auch der UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt (2005) beigetreten zu sein (vgl. Eberhard/Letzner 2009: 11). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine weitere Diagnose aus der Arbeit von Eberhard/Letzner (2009: 11) mit Stand des Jahres 2009:

„Bei denjenigen, die über das immaterielle Kulturerbe genau informiert sind, überwiegen die Bedenken zur praktikablen Umsetzung und da, siehe oben, kein politischer Handlungsdruck besteht, wird das Thema als ‚interessant, aber eindeutig nicht prioritär‘ eingestuft. Allerdings wurde auch deutlich, dass das Interesse an einer Ratifizierung zunimmt, je informierter die Gesprächspartner und je näher sie an den lokalen Gegebenheiten interessiert sind.“ (Eberhard/Letzner 2009: 11)

Birgitta Ringbeck erwähnt noch eine interessante zeitliche Parallelität mit der deutschen Kandidatur für das UNESCO-Welterbekomitee (Mitgliedschaft 2012–2015), die ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben könnte:

„Es war die Frage, wie sind die ‚committed‘ zur UNESCO? Wenn man ein Staat ist, der sich für eine der großen Konventionen als Komitee-Mitglied bewirbt, und stellt dann fest, wir haben zwei Konventionen noch gar nicht gezeichnet – das sind eben die 2003er und die 2001erFootnote 1. Da war das klar schon im Vorfeld, also da müssen wir was tun. Da müssen wir sagen, wir wollen dabei sein.“ (B, Interview am 05.11.2018)

In der Gesamtschau kann die zeitliche Dringlichkeit demnach als erfüllter Punkt für die Platzierung auf der kulturpolitischen Agenda gewertet werden.

(4) Das Thema des Immateriellen Kulturerbes und eine Wertschätzung herzustellen für die einzelnen darunter gefassten Kulturformen und ihre Trägergruppen, mag in der Dimension Komplexität (einfach vs. komplex) nicht zu den am kompliziertesten zu lösenden Problemen der Zeit in Deutschland gehören – einfach ist der Umgang damit aber, allein angesichts der speziellen deutschen Geschichte und weil es zudem bis dato kaum explizit im Rahmen von Kulturpolitik zum Ausdruck gebrachte Wertschätzung für überliefertes Wissen und Können gab, dennoch nicht. Der Umgang mit dem Thema ist also in vielerlei Hinsicht – siehe die erwähnten vielfältigen Bedenken gegen eine Ratifizierung – komplex (vgl. u. a. Eberhard/Letzner 2009: 8). Weiterhin gilt die Konvention an sich als komplex (vgl. Dok. 3: BKM-Sachstand vom 21.11.2008: 3). Allein von der Spannbreite der Formen, die als Immaterielles Kulturerbe anerkannt werden können, ist das Thema auch eher als vielschichtig denn als einfach zu sehen. Hinzu kommt schließlich das Mehrebenensystem von Kulturpolitik in Deutschland, welches eine Herausforderung in der Einigung auf eine gangbare nationale Umsetzung der Konvention darstellte (siehe Abschnitt 6.1.1.). Dieser Punkt spricht also, wie schon die Klarheit des Problems bzw. des Themas, auch deutlich gegen eine Platzierung auf der kulturpolitischen Agenda.

(5) Handelte es sich bei der Einführung des Themas des Immateriellen Kulturerbes in die deutsche Kulturpolitik um eine Neuerung? Dies interessiert in Punkt fünf der Eigenschaften des Themas nach Schneider/Janning (2006: 56): Novität (Routineangelegenheit vs. Novum). Mit Immateriellem Kulturerbe oder auch, was sich unter Vorläuferbegriffen wie Folklore, zeitgenössische Alltagskultur usw. verbirgt, hatte sich die Kulturpolitik in Deutschland (siehe Kapitel 3) in strukturierter und differenzierter Art und Weise zuvor nicht beschäftigt (vgl. Dok. 6: Einschätzung der DUK zum BKM-Sachstand vom Juli 2010: 3). Die Heimatschutzbewegung um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert kann zwar als ein früher historischer Vorläufer des zivilgesellschaftlichen Engagements für Sitten, Gebräuche und Feste interpretiert werden. Aufgrund der missbräuchlichen Verwendung von Volkskultur in der NS-Zeit hat es allerdings keine Kontinuität in der Befassung von Kulturpolitik mit diesem Bereich nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben, denn die Kulturpolitik hatte sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor allem mit der Restauration der unstrittigen kulturellen Leistungen Deutschlands vor der Nazi-Zeit befassen wollen. (vgl. Tauschek 2013: 47 ff. und Abschnitt 3.2.2.) Folgende Ausgangssituation ist daher bei einer Betrachtung der Akteursebene im Jahr 2013, als Deutschland der UNESCO-Konvention beitrat, gegeben: Durch die Umsetzung der Konvention können zusätzliche Akteure in die Arena der Kulturpolitik treten. (siehe auch Abschnitt 6.3.2.1.) Trotz der vielfachen Betonung des weiten Kulturbegriffs der UNESCO stehen bisher nämlich, wie in Kapitel 3 erläutert, die Künste nach wie vor im Mittelpunkt von kulturpolitischem Denken und Handeln (vgl. Fuchs 2003: 17). Das Immaterielle Kulturerbe aber umfasst laut Definition der UNESCO-Konvention Bereiche, die zum Teil nicht zu den traditionellen Beschäftigungsbereichen von Kulturpolitik gehören: 1. rein mündlich überlieferte Traditionen und Ausdrucksformen; 2. darstellende Künste, auch der Volks- bzw. Popularkultur; 3. Bräuche, Rituale und Feste; 4. Wissen und Bräuche in Bezug auf die Natur und das Universum sowie 5. traditionelle Handwerkstechniken. Viele der damit ins Visier rückenden Trägergruppen von kulturellen Ausdrucksformen waren bisher nicht auf dem Radar der Kulturpolitik. Konkrete Beispiele sind etwa die Kulturträgergruppen des Reetdachdeckens, der Flößerei, der Morsetelegrafen, aber auch jene des Spitzenklöppelns oder des Poetry Slam. Auf einen weiteren Novitätsaspekt weist Birgitta Ringbeck, die von der Berufsbiografie her aus dem Bereich Denkmalschutz kommend das Thema Immaterielles Kulturerbe betrachtet, hin:

„Denkmalschutz, Denkmalpflege, greift ja schon ins 19. Jahrhundert zurück, in die erste Hälfte […]. Da hat man ja damals schon angefangen, […] ein Denkmal-Verzeichnis [zu erstellen]. Das resultiert aus der Zeit, dass man also überhaupt mal aufschreibt: Was hat man an Kulturgütern? Das hat man im immateriellen Bereich ja nie gemacht. Und deshalb finde ich ganz wichtig, dass das jetzt überhaupt erst mal aufgeschrieben wird im Bundesweiten Verzeichnis, das ich viel wichtiger finde als die internationale Liste; […] praktisch, dass für den immateriellen Bereich das nachgeholt wird, was für den materiellen Bereich schon seit mehr als 150 Jahren Usus ist, dass man Inventare […] anlegt. […] Denn nur, wenn ich weiß, was ich habe, kann ich auch einschätzen, was mir verlorengeht.“ (B, Interview am 05.11.2018)

Der Novitätsaspekt spricht demnach für eine Platzierung auf der kulturpolitischen Agenda.

(6) Kaum bestreiten kann man schließlich auch die hohe Wertgeladenheit und große symbolische Bedeutung – der sechste Punkt der Eigenschaften eines Themas, die man nach Schneider/Janning (2006: 56) betrachten kann, um zu analysieren, ob sie gute Chancen haben auf die Agenda des politischen Geschäfts zu kommen. Das Immaterielle Kulturerbe als Anerkennung von kultureller Traditionspflege und bürgerschaftlichem Engagement, aber auch als Marker von Identitäten, erfüllt dieses Kriterium. Nach übereinstimmenden Aussagen der befragten Experten spielte zudem die Reputation der UNESCO „sicherlich eine Rolle, weil in Deutschland die UNESCO doch ein ziemlich hohes Ansehen hat“ (E1, Interview am 15.10.2018). „Von da kommen gute Sachen, das weiß die Politik auch.“ (E2, Interview am 25.10.2018) Jedoch führt, wie die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ in ihrem Abschlussbericht festhielt,

„[d]as Selbstverständnis der UNESCO als Denkfabrik für bildungs- und kulturpolitische Fragen […] dazu, dass ihre Diskussionen und Positionen in Fachkreisen wahrgenommen und intensiv reflektiert werden, die politische Umsetzung aber hinterherhinkt. Das liegt zum Teil daran, dass die Arbeit der UNESCO sich im Spannungsfeld von internationalen Diskursen – und hier speziell dem Nord-Süd-Dialog – sowie den konkreten kulturpolitischen Entscheidungen vor Ort befindet.“ (Deutscher Bundestag 2007: 428 f.)

Die Umsetzung von UNESCO-Konventionen sorgt allerdings für eine erhöhte Sichtbarkeit von Kulturpolitik im Allgemeinen, sie lädt ihren Wert gewissermaßen auf, und bietet damit für nahezu alle Kulturakteure Anreize. I. d. R. gehört Kulturpolitik bekanntermaßen nicht zu den Politikfeldern, die in der deutschen Öffentlichkeit stark diskutiert werden. Ist jedoch von der UNESCO die Rede, gibt es häufig eine größere Aufmerksamkeit für kulturpolitische Themen. Insofern kann die Arbeit und Umsetzung von Kulturpolitik im Rahmen von UNESCO-Instrumenten perspektivisch – so zumindest die Hoffnung jener, die ein Interesse daran haben – zu einer größeren öffentlichen Wirkung der entsprechenden Maßnahmen führen. (vgl. Hanke 2016: 86)

Die internationale Politikdiffusion nach Schneider/Janning (2006: 54) brauchte allerdings seine Zeit. „Dass wir dem jetzt Aufmerksamkeit zuwenden, hat natürlich etwas mit dieser Konvention zu tun. Und das ist, wenn man so will, eine Anregung von außerhalb. Die kommt nicht von uns. Und plötzlich sehen wir, das ist ja ein ganz wichtiger Bereich. Das ist der Vorteil von […] Multilateralismus.“ (E1, Interview am 15.10.2018) – so die Einschätzung von Christoph Wulf. Insofern spielt hier Politisches Lernen (siehe Abschnitt 5.2.4.) eine Rolle. Es „hat sicherlich auch zu tun mit den Modellen in anderen Ländern, dass das in Österreich und in der Schweiz wirklich sehr gut funktioniert hat“ (E1, Interview am 15.10.2018), führt Wulf seine Einschätzung weiter aus. Im Deutschen Bundestag beim Fachgespräch im Ausschuss für Kultur und Medien sowie im Auswärtigen Amt hat man insbesondere auf die Erfahrungen der deutschsprachigen Nachbarländer zurückgegriffen: „Wir haben damals mehrere Workshops gemacht. […] Haben wir hier im Auswärtigen Amt gemacht und haben uns einfach Erfahrungsberichte geben lassen, wie die anderen das gemacht haben“ (B, Interview am 05.11.2018), erinnert sich Birgitta Ringbeck. Die erwähnte Expertenbesprechung mit Teilnehmern der KMK, aus dem AA, von BKM, aber auch des BMJ und des BMELV fand am 08.02.2011 statt. Als Gäste waren Vertreter aus Österreich und der Schweiz sowie von der DUK zugegen. (vgl. Dok. 4: Protokoll des Auswärtigen Amts vom 28.02.2011 der Expertenbesprechung am 08.02.2011: 1)

Die deutschen Medien nahmen den Beginn der Inventarisierung des Immateriellen Kulturerbes insbesondere in Österreich recht interessiert auf: Ende 2011 kam es in verschiedenen öffentlich-rechtlichen Medien (BR2, WDR3) und in der Zeitung Die WELT zu Berichten. Dies hatte den Vorteil und kommunikativen Charme, dass die deutsche Öffentlichkeit durch die Beispiele aus dem Deutsch sprechenden Nachbarland erstmals erahnen konnte, welche Kulturformen für ein Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland in Frage kommen könnten. Im Laufe des Jahres 2012 werden daraufhin bereits eine Reihe von Ideen in den Medien ventiliert – von Grünkohl(-fahrten) (NWZ, 16.03.2012) über den Kölner Karneval (DeutschlandRadio, 29.11.2012) bis zur Deutschen Theater- und Orchesterlandschaft – letzteres immerhin vom damaligen Kulturstaatsminister Bernd Neumann (dapd-Meldung, 04.05.2012). Es gab nun erstmals durchaus sehr reflektierte Berichte z. B. in den Stuttgarter Nachrichten vom 26.05.2012 unter dem Titel „Bewerber um das Unesco-Gütesiegel stehen Schlange. Über die Schwierigkeit, eine Liste wichtiger Bräuche aufzustellen“. Die Länderparlamente von Niedersachsen (am 15. Oktober 2012, u. a. mit einem Vortrag von Wolfgang Schneider) und Nordrhein-Westfalen (am 19. September 2013, u. a. mit einem Vortrag von DUK-Generalsekretär Roland Bernecker) hatten das Thema des Immateriellen Kulturerbes in der Frühphase der deutschen Umsetzung mit Ausschussanhörungen, bei denen die Exploration, was in der Region zu den lebendigen Traditionen zählen könnte, im Vordergrund stand, gewürdigt.

Zusammengefasst sind also vier von sechs Punkten aus der Checkliste von Schneider/Janning (2006: 56) als erfüllt anzusehen. Hinzu kamen als gute Bedingungen für eine Platzierung auf der kulturpolitischen Agenda positive strukturelle Gegebenheiten der Ausbreitung von Ideen bzw. Innovationen über nationale Grenzen hinweg (vgl. Kern/Jörgens/Jänicke 2000), begleitet von einer zunehmend konstruktiveren Medienberichterstattung, die insgesamt dazu führten, dass das Immaterielle Kulturerbe in Deutschland zwischen 2011 und 2013 in den Aufmerksamkeitsfokus der entsprechenden Akteure kam.

6.1.3 Ingangsetzung des Beitrittsprozesses zur Konvention

Der Fahrplan zur Umsetzung des deutschen Beitritts zur UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes war recht klar: Es „bedarf entsprechender Bund-Länder-Gespräche und muss letztlich als politische Willensäußerung seitens des Bundestags in einer Regierungsaktivität enden“ (Eberhard/Letzner 2009: 10). Entsprechend Artikel 59 des Grundgesetzes bedürfen völkerrechtliche Verträge, die Gegenstände der Bundesgesetzgebung berühren, der Zustimmung und Mitwirkung von Bundestag und Bundesrat. I. d. R. wird dazu ein sog. Vertragsgesetz verabschiedet. Daher musste die Bundesregierung zunächst prüfen, ob durch den Beitritt zur UNESCO-Konvention Bundesgesetze im Sinne des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes tangiert sind. Dazu zählt auch die Bindung des Haushaltsgesetzgebers über einen regelmäßigen Pflichtbeitrag zu internationalen Institutionen. Im nächsten Schritt wäre ein Umsetzungs- bzw. Ausführungsgesetz zu prüfen. (vgl. Dok. 5: BT-Drs. 16/13343 vom 11.06.2009: 3)

Ernsthafte Bund-Länder-Gespräche zum Thema des deutschen Beitritts zur 2003er-UNESCO-Konvention gab es ab 2010 (siehe Tabelle 6.1). Albert/Disko (2011: 4, 15) zitieren aus einem Protokoll der entsprechenden Runde am 29.09.2010 im Auswärtigen Amt in Berlin: Die Bundesregierung (BMI und BMJ) hatte zu diesem Zeitpunkt bereits im oben genannten Sinne geprüft, dass ein Vertragsgesetz, abhängig von der konkreten Ausgestaltung des innerstaatlichen Verfahrens, nicht zwingend erforderlich sei, da

„die im Konventionstext enthaltenen Pflichten der Vertragsstaaten zur Erhaltung und zum Schutz des immateriellen Kulturerbes keine konkreten Umsetzungspflichten beinhalten sondern lediglich als Bemühenspflichten ausgestalten seien [...] Deutschland würde sich daher im Falle einer Ratifizierung in keiner Weise verpflichten, ganz bestimmte Mechanismen oder Maßnahmen zum Schutz und Erhalt des immateriellen Kulturerbes zu ergreifen“ (zitiert nach Albert/Disko 2011: 15).

Letztere Aussage ist zwar korrekt, jedoch lässt sie die verbindliche Pflicht der Vertragsstaaten eines oder mehrere Verzeichnisse des Immateriellen Kulturerbes zu erstellen außer Acht. Diese Verpflichtung sah man offenbar seitens der Bundesregierung aufgrund der ‚Kulturhoheit‘ bei den Ländern. Diese hatten damals jedoch

„ihre Meinungsbildung zur Frage einer Ratifizierung des UNESCO-Übereinkommens… noch nicht abgeschlossen. Sie sehen weiterhin keine Dringlichkeit einer Ratifizierung und nehmen eine kritische und beobachtende Haltung ein. Diese begründet sich u.a. in der schwierigen Definition des Schutzgegenstandes… und in dem zu klärenden Verfahren zur Umsetzung des Übereinkommens“ (Albert/Disko 2011: 4).

Die Länder sahen auch noch Klärungsbedarf „hinsichtlich der Zuständigkeiten und der Kosten, die sich aus der innerstaatlichen Wahrnehmung der durch die Konvention entstehenden Aufgaben […] ergeben werden“, sowie der „noch nicht beantworteten Frage eines Mehrwerts der Konvention für Deutschland“ (Albert/Disko 2011: 4). Birgitta Ringbeck, seit 2012 im Auswärtigen Amt für den deutschen Beitritt zur UNESCO-Konvention von 2003 zuständig, resümiert die Stimmung rückblickend wie folgt: „Die Länder haben gesagt: ‚Was bringt uns das? Die Welterbe-Konvention ist so ein tolles Instrument. Und das Ganze wird nur verwässert, wenn wir jetzt noch eine Konvention zeichnen.‘“ (B, Interview am 05.11.2018)

Folgende Wegmarken des Beitrittsverfahrens von 2009 bis 2014 können festgehalten werden:

Tabelle 6.1 wichtige Wegmarken des Beitrittsverfahrens 2009 bis 2014

Wichtiger Inhalt der Bund-Länder-Gespräche bzw. Ressortbesprechungen unter Beteiligung der Länder und, zum Teil direkt, zum Teil indirekt, auch der DUK war zunächst die Entkräftung der Argumente, die bis dato gegen einen deutschen Beitritt vorgebracht worden waren (siehe Abschnitt 6.1.1.). Im nächsten Schritt bzw. parallel dazu, um einige der Bedenken zu entkräften, wurde ein nationales Umsetzungsverfahren erarbeitet und vereinbart. Im Jahr 2008 hatte BKM festgestellt, dass kein Bundesressort die Ratifizierung aktiv unterstütze (vgl. Dok. 3: BKM-Sachstand vom 21.11.2008: 3). Dies suggeriert Einigkeit unter den handelnden staatlichen Akteuren, allerdings zog man zwischen den Bundesressorts sowie im Zusammenspiel mit den Ländern in verschiedenen Phasen nicht immer an einem Strang – MdB Wolfgang Börnsen jedenfalls begrüßte im August 2012 ausdrücklich, dass nunmehr alle Verantwortlichen gemeinsam agieren würden (vgl. Dok. 17: Pressemitteilung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 06.08.2012). Die verschiedenen Auffassungen von BKM und AA zu den für den Beitritt sprechenden Argumenten sind in Abschnitt 6.1.1. bereits dargelegt worden. Die Länder sahen angesichts der im Kulturbereich weit verbreitet knappen und sogar vor Kürzungen stehenden Haushalte in der Zeit der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrisen sowie der diskutierten Einführung von Schuldenbremsen keine Spielräume für die Übernahme weiterer finanzieller Verpflichtungen. Eine kulturpolitische Argumentation oder Strategie der Länder war vor diesem Hintergrund kaum erkennbar. Der Deutsche Bundestag war es, der das Thema mit verschiedenen Initiativen – Fachgesprächen, parlamentarischen Anfragen und schließlich Anträgen sowie einem Beschluss (im Detail dazu im Weiteren unten) – auf der politischen Agenda platzierte und damit die Exekutive auf Trab hielt.

Die verschiedenen Interessen innerhalb der Exekutive waren nach dem Protokoll der Expertenbesprechung Anfang 2011 (vgl. Dok. 4: Protokoll der Expertenbesprechung am 08.02.2011: 3 f.) wie folgt gelagert: Das Auswärtige Amt betonte den außenpolitischen Nutzen einer Ratifizierung. Durch die konstant steigende Anzahl der Vertragsstaaten, darunter bereits 20 EU-Staaten, berge eine abwartende Haltung die Gefahr der Isolation. Insbesondere die Ständige Vertretung Deutschlands bei der UNESCO in Paris hatte dies bereits seit 2006 immer wieder gegenüber der Zentrale gemeldet, auch unter Hinweis auf den sich abzeichnenden globalen Konsens, der sich in der hohen Zahl von Ratifizierung zeigte, sowie auf das sich abzeichnende Zusammenwachsen der UNESCO-Kulturkonventionen. Begleitet wurde diese Positionierung allerdings meist von dem etwas irreführenden Argument, die Konvention sei ein Instrument für Entwicklungsländer als reine Ergänzung zur bzw. Kompensation der europäischen Dominanz in der Welterbe-Konvention von 1972. Auch BKM folgte in den Jahren 2007–2009 immer wieder der Argumentationsfigur, dass Europa anders als Entwicklungs- und Schwellenländer kein großes Interesse an der Erhaltung von Fähigkeiten und Kenntnissen, die in den Wirkungsbereich der UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe fallen, habe (vgl. Dok. 2: Dokumentation ZDH-Workshop 9./10. April 2008: 4). Dieses Argument erweist sich allein beim Blick auf die 90 zwischen 2001 und 2005 als ‚Meisterwerke‘ ausgezeichneten Kulturformen, die als erste Elemente in die Repräsentative Liste der UNESCO-Konvention aufgenommen wurden, als falsch, denn alle hierbei gewürdigten Staaten hatten schon damals auch mindestens eine Welterbe-Stätte. Von Seiten der Deutschen UNESCO-Kommission hieß es bereits Mitte 2010:

„Viele Partner äußern auf Arbeitsebene informell zunehmend ein gewisses Unverständnis, dass Deutschland mit seiner reichen und vielfältigen Kulturtradition sich mit diesem UNESCO-Übereinkommen so schwer tut. Ein erhöhter kulturpolitischer Erklärungsbedarf ist aus diesen Gründen bereits heute zu konstatieren.“ (Dok. 6: Einschätzung der DUK zum BKM-Sachstand vom Juli 2010: 6).

Auch BKM sprach sich laut dem Protokoll der Sitzung vom 8. Februar 2011 inzwischen für eine schnelle Ratifizierung der Konvention aus – Staatsminister Bernd Neumann sagte seine Unterstützung gegenüber seiner AA-Kollegin Cornelia Pieper in einem gemeinsamen Termin Anfang April 2011 dann auch persönlich zu (vgl. Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 3) – und bat das AA, in einer Synopse für die Ressorts und Länder – auch auf Basis der Machbarkeitsstudie der Länder und der Expertenanhörung – die Umsetzungsszenarien und weiteren Verfahrensschritte aufzuzeigen. Dabei wollte BKM aber ein Umsetzungsgesetz für die Konvention oder ein Organisationsgesetz für ein einzusetzendes Nominierungskomitee in jedem Fall verhindern, vor allem, weil man fürchtete so Rechtsansprüche „durch die Hintertür“ einzuführen, aber auch um sich bei der Förderung einer Geschäftsstelle (bei der DUK) haushaltsrechtlich nicht dauerhaft zu binden. Da nicht alle Ressorts bei der Anhörung vom 8. Februar 2011 vertreten waren und zuvor mehrfach kritische Stimmen bezüglich einer Ratifizierung geäußert worden waren, wollte das AA zusammen mit einem konkreten Umsetzungsszenario in der Folge eine formale Abfrage zur Position der Ressorts und der Länder zur Ratifizierung durchführen. (vgl. Dok. 4: Protokoll der Expertenbesprechung am 08.02.2011: 4) Erfolgt ist diese Abfrage per E-Mail Ende Juni 2011. Während das AA und BKM nach den früheren Vorbehalten nun eine Ratifizierung klar befürworteten, aber die Finanzierung des Mitgliedsbeitrags und einer Koordinierungsstelle zur Bedingung einer sinnvollen Mitwirkung machten, waren BMI und BMJ im Ergebnis der Ressortabfrage zwar grundsätzlich positiv gegenüber einem deutschen Beitritt eingestellt, aber aufgrund des aus ihrer Sicht noch immer unklaren Verfahrens der innerdeutschen Umsetzung nach wie vor zögerlich in der Bewertung der Frage, ob in diesem konkreten Fall Vertrags-/Umsetzungsgesetze notwendig werden und forderten daher eine weitere Konkretisierung als Vorbehalt ihrer Zustimmung. Die Haltung der Länder hatte sich ebenfalls bereits Anfang 2011 in „vorsichtig-positiv bezüglich einer Ratifizierung“ (Dok. 4: Protokoll der Expertenbesprechung am 08.02.2011: 3) gewandelt. Der KMK-Kulturausschuss im Oktober 2010 hatte eine grundsätzliche Offenheit für die Ratifizierung gezeigt, allerdings unter dem Vorbehalt, dass dadurch keine finanziellen Verpflichtungen bzw. Folgekosten für die Länder entstehen dürften. Außerdem sei das innerstaatliche Verfahren einer Umsetzung, insbesondere organisatorische und finanzielle Aspekte sowie Zuständigkeiten, vorab mit dem Bund zu klären. Auf dem folgenden KMK-Kulturausschuss am 24./25.02.2011 sollte das Immaterielle Kulturerbe erneut Thema sein, und auch die Machbarkeitsstudie zur Umsetzung in Deutschland vorgestellt werden. Es wurde bereits angekündigt, dass abschließend „länderseitig in jedem Fall die politische Ebene […] der Kultusministerkonferenz zur Frage der Ratifizierung entscheiden“ (Dok. 4: Protokoll der Expertenbesprechung am 08.02.2011: 4) müsse. Dies geschah im ersten Schritt im Dezember 2011, als die Länder sich offiziell für eine Ratifizierung der Konvention durch Deutschland aussprachen – erneut unter dem Vorbehalt, „dass vor einer Ratifizierung das innerstaatliche Umsetzungsverfahren und damit alle rechtlichen Fragen (z. B. eines Vertrags- und/oder Ausführungsgesetzes) und die noch offenen Finanzierungsfragen zu einem deutschen Beitritt mit dem Bund geklärt sind“ (Dok. 13: KMK-Beschluss vom 08.12.2011: 2).

Der Deutsche Bundestag war, wie bereits erwähnt, bei der Ingangsetzung des Beitrittsverfahrens ein wichtiger Akteur, nicht nur, weil er die Finanzierung für die innerstaatliche Umsetzung sowie den Beitrag zur Konvention bewilligen musste: Nach einem Fachgespräch mit internationalen Gästen im Ausschuss für Kultur und Medien am 25. März 2009, bei dem die eingeladenen Sachverständigen zum großen Teil die positiven Potenziale der Konventionsumsetzung betonten und damals vor allem die Länder noch ihre zurückhaltende Haltung bekräftigten (vgl. Dok. 4: heute im Bundestag vom 26.03.2009), kam es Mitte 2011 zu zwei fast zeitgleichen Anträgen der Fraktionen des Deutschen Bundestags: der Antrag der Fraktionen der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen (Dok. 9: BT-Drs. 17/6301 vom 28.06.2011) und der Antrag der Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP (Dok. 10: BT-Drs. 17/6314 vom 29.06.2011).

Der Oppositionsantrag beruft sich wie schon die Kleine Anfrage der FDP von 2009 (vgl. Dok. 5: BT-Drs. 16/13343 vom 11.06.2009: 1) auf die Ratifizierungs-Empfehlung der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“. Als kultur- und gesellschaftspolitische Chance sahen die beiden Fraktionen der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen, dass das Immaterielle Kulturerbe und

„vor allem die innergesellschaftliche Diskussion und Verständigung darüber, was auf Basis der Begriffsbestimmungen des UNESCO-Übereinkommens dazu gehört, […] wesentlich dazu beitragen [können], ein umfassendes und zugleich dynamisches Kulturverständnis, aufgeschlossen für Werthaltungen und Kreativität, zu ermöglichen“. Mit der Ratifizierung „wäre für Deutschland u. a. die Möglichkeit verbunden, den immateriellen Hintergrund und Kontext der vielfältigen materiellen Kultur in Deutschland zu einem Teil des international anerkannten Kulturerbes zu machen und damit zur interkulturellen Vielfalt der Staatengemeinschaft beizutragen. Zudem kann besonderes Engagement für die Bewahrung und Verbreitung eines immateriellen Kulturguts öffentlich anerkannt werden.“ (Dok. 9: BT-Drs. 17/6301 vom 28.06.2011: 2).

Die Argumentation bewegt sich damit zwischen international und interkulturell orientierter Kulturpolitik und der Würdigung bürgerschaftlichen Engagements sowie der Wertgeladenheit des Themas. Der Antrag forderte die Regierung auf, den Ratifizierungsprozess bereits bis Ende 2012 abzuschließen und sich dabei sowohl mit Ländern als auch Kommunen hinsichtlich der Qualitätssicherung abzustimmen. Er enthielt auch die Forderung nach einem Konzept für einen angemessenen Schutz der für Deutschland ausgewählten immateriellen Kulturgüter. (vgl. Dok. 9: BT-Drs. 17/6301 vom 28.06.2011: 2 f.)

Der Antrag der Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP meint, das Immaterielle Kulturerbe sei „die logische Ergänzung zu den Welterbestätten“ (Dok. 4: BT-Drs. 17/6314 vom 29.06.2011: 1). Man gibt noch einmal die Gründe an, warum Deutschland trotzdem bisher mit der Ratifizierung gezögert habe: Zum einen sei „die Unklarheit darüber, nach welchen Kriterien immaterielle Kulturgüter ausgewählt werden sollten“ (Dok. 4: BT-Drs. 17/6314 vom 29.06.2011: 2) dafür verantwortlich. Damit im Zusammenhang sei von Experten die Problematik angeführt worden, dass es aufgrund der fehlenden Kriterien zu Missbrauch durch ökonomische, politische oder ideologische Interessen kommen könnte. Schließlich sei zum anderen vor neuen Rechtsansprüchen gewarnt worden, die durch Ratifizierung der Konvention entstehen könnten. (vgl. Dok. 4: BT-Drs. 17/6314 vom 29.06.2011: 2) Durch die Umsetzungspraxis anderer Länder hätten diese Bedenken aber weitgehend ausgeräumt werden können.

„Besonders die Erfahrungen unserer Nachbarländer Österreich und der Schweiz haben gezeigt, wie den Bedenken Rechnung getragen werden kann und wie man eine nationale Vorschlagsliste immaterieller Kulturgüter erstellt. Auch bei der Umsetzung in Deutschland sollten sie berücksichtigt werden.“ (Dok. 4: BT-Drs. 17/6314 vom 29.06.2011: 2)

Letztlich berief sich der Antrag auch auf die Machbarkeitsstudie (Albert/Disko 2011), die die Länder in Auftrag gegeben hatten.

Die beiden Anträge wurden in einer Plenarsitzung am 30. Juni 2011 erstmals debattiert. Alle Fraktionen ergriffen mit jeweils einem Sprecher das Wort und plädierten entsprechend der Antragsinhalte für den Beitritt. Dabei wurde seitens der CDU/CSU u. a. auf die Bereitschaft zum Engagement bei den Verbänden BHU, ZDH, Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks, Deutscher Schaustellerbund und dem Deutschen Brauerbund hingewiesen. Die Sprecherinnen der SPD-Fraktion und der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen hoben die Chancen eines partizipativen und politikfernen Verfahrens der Inventarisierung gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern, Organisationen und Interessensverbänden hervor. (vgl. BT-Plenarprotokoll 17/117: 13534 ff.) Die CDU/CSU-Fraktion veranstaltete im Vorfeld der Ausschussberatungen am 5. September 2011 auf Initiative von MdB Wolfgang Börnsen noch einmal ein eigenes Fachgespräch zum Thema „Nationale Umsetzung der UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe“ mit Gästen aus Politik (u. a. Staatsminister BKM Bernd Neumann, Staatsministerin im AA Cornelia Pieper, Dr. Enoch Lemcke, Berichterstatter der KMK für das Thema Immaterielles Kulturerbe aus Mecklenburg-Vorpommern) und zivilgesellschaftlichen Verbänden (DUK, ZDH, Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks, Deutscher Schaustellerbund, Heimatbund Thüringen). Laut Einladung waren wichtige Fragen, wie man das Bewusstsein in der Bevölkerung für das Immaterielle Kulturerbe schärfen könne und wie man bei der Inventarisierung vorgehen solle. (vgl. Dok. 12: Einladung zum Fachgespräch der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag 05.09.2011) Aus den folgenden Antragsberatungen in den mitberatenden Ausschüssen Auswärtiger Ausschuss, Rechtsausschuss, Haushaltsausschuss, Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz sowie Ausschuss für Tourismus im Oktober und November 2011 sowie im federführenden Ausschuss für Kultur und Medien am 30. November 2011 ergab sich eine Empfehlung, den Regierungsantrag anzunehmen und den Oppositionsantrag abzulehnen (vgl. Dok. 14: BT-Drs. 17/8121 vom 13.12.2011: 3 ff.). Man war sich fraktionsübergreifend einig, dass das Immaterielle Kulturerbe von Bedeutung sei und der Beitritt zur UNESCO-Konvention schnellstmöglich erfolgen sollte – umstritten war technisch lediglich, ob man dafür von Seiten des Parlaments konkrete Fristen und Umsetzungsschritte festsetzen sollte (vgl. Dok. 14: BT-Drs. 17/8121 vom 13.12.2011: 5). Nuancen in der Begründung des deutschen Engagements auf dem kulturpolitischen Feld sind aber daneben, wie oben erläutert, auch inhaltlich zu unterscheiden. Als am 15. Dezember 2011 der Deutsche Bundestag, gegen das Votum von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linksfraktion, den Regierungsantrag, mit dem die Bundesregierung aufgefordert wird, die Ratifizierung der Konvention zum immateriellen Kulturerbe voranzutreiben, merkte Wolfgang Börnsen von der CDU-Fraktion u. a. an, dass sich Deutschland schwertue, sich für einen umfassenden Kulturbegriff zu öffnen, der mehr als Musik und Literatur umfasse. Auch auf die Vorbehalte gegen eine Ratifizierung ging er ein – von den befürchteten Kosten über Bedenken, wie man mit kuriosen Anträgen umgehen soll, über die noch unklaren Kompetenzen zwischen Bund und Ländern in diesem Bereich bis hin zur Diktaturvergangenheit in Deutschland. Er deutet das Immaterielle Kulturerbe aber als potenziell positiven Faktor des interkulturellen Austauschs und der Möglichkeit der Integration von Migranten. (vgl. BT-Plenarprotokoll 17/149: 17897 f.) Die Vertreterin der Grünen, Agnes Krumwiede, wünschte sich ein mit der Schweiz (vgl. Abschnitt 4.4.2.2.) vergleichbares Verfahren der Integration der Zivilgesellschaft in die Erstellung des Verzeichnisses, warnte vor einer Auswahlkategorie „typisch deutsch“ (BT-Plenarprotokoll 17/149: 17901) und fordert von der Bundesregierung die Entwicklung von konkreten Schutzmaßnahmen für ausgewählte Kulturformen. Das Parlament unterstützte mit dem Beschluss formal die Anstrengungen der Bundesregierung, obwohl es, wie oben erörtert, wohl eher umgekehrt vor allem die Legislative zusammen mit gesellschaftlichen Verbänden waren, die durch beharrliches Drängen die Exekutive zu diesem Punkt geführt hatte, dass eine Ratifizierung in greifbare Nähe rückte. Die Regierung sollte die diesbezüglichen Gespräche mit den Ländern fortführen und bei diesen um Zustimmung zu dem Übereinkommen werben. Ferner sollte zeitnah ein Forum „Immaterielles Kulturerbe“ veranstaltet werden, das Verbände und Organisationen einbezieht. Zudem sollten Maßnahmen ergriffen werden, die zum Verständnis und zur Zustimmung für die Konvention in der breiten Öffentlichkeit beitragen können. Das formelle Ratifizierungsverfahren sollte zügig in Gang gesetzt werden. (vgl. Dok. 4: BT-Drs. 17/6314 vom 29.06.2011: 3)

Auf Basis des beschlossenen Parlamentsantrags wurden im AA die weiteren notwendigen Schritte eingeleitet und in den Folgemonaten erneut mehrere Ressortbesprechungen und Bund-Länder-Gespräche im Format einer informellen Arbeitsgruppe aus AA, BKM und KMK geführt. „Im Jahr 2012 sind die Pflöcke eingehauen worden. Alles davor war mehr oder weniger nur Geplänkel“ (B, Interview am 05.11.2018), meint Birgitta Ringbeck. Vor allem das BKM wollte nach dem Bundestagsbeschluss und der bewilligten Summe für die Einrichtung einer Geschäftsstelle bei der DUK nun zügig zu einem Ergebnis kommen, da man zunehmend Anfragen aus der Zivilgesellschaft und dem parlamentarischen Bereich erhielt. Das entscheidende Einvernehmen wurde im Nachgang einer Besprechung im Auswärtigen Amt am 5. Juni 2012 erzielt (siehe hierzu ausführlicher Abschnitt 6.2.1.). Im Ergebnis der im Laufe des Jahres 2012 erfolgten Abstimmungen zwischen Bund und Ländern stand im Dezember des Jahres die Kabinettsvorlage durch den damaligen Bundesminister des Auswärtigen Guido Westerwelle: Vor dem simplen Beschlussvorschlag „Die Bundesregierung stimmt dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum UNESCO-Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes zu.“ (Dok. 21: Kabinettsache Datenblatt 17/05067; Anlage 1) wurde in der Begründung der Vorlage auf die fraktionsübergreifende Einigkeit für eine Einleitung des Beitrittsverfahrens vom Dezember 2011 verwiesen. Auch wenn die Mitwirkung von BKM, BMI, BMJ und der KMK an der Vorbereitung erwähnt und ihre Zustimmung zum Vorhaben belegt wird, dominiert doch die Lesart des Auswärtigen Amts in der Begründung des Schrittes: „Mit dem Beitritt zum UNESCO-Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes ist eine aktive Wertschätzung der immateriellen Kulturformen und -schätze auch in anderen Ländern und Weltregionen verbunden.“ (Dok. 21: Kabinettsache Datenblatt 17/05067: 2) Die vordringlichste Begründung war also nicht eine kulturpolitisch nach innen motivierte Zielrichtung, sondern die äußere und außenpolitische Wirkung des deutschen Beitritts. Es wird unmittelbar auf die Bezüge zur 1972er-Konvention der UNESCO verwiesen, wenn es im Weiteren heißt: „Neben der UNESCO-Welterbekonvention, die das materielle Kultur- und Naturerbe schützt, ist das Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes eine wichtige Säule zur Bewahrung und Vermittlung der kulturellen Vielfalt.“ (Dok. 21: Kabinettsache Datenblatt 17/05067: 2) Auch im Grußwort von Bundesminister Westerwelle für eine DUK-Publikation heißt es im Verständnis der Bedeutung des Immateriellen Kulturerbes tendenziell limitierend, da funktionalistisch aufeinander bezogen:

„Zwischen dem immateriellen Erbe und den Welterbestätten […] gibt es oft wechselseitige Beziehungen. In die Welterbeliste eingeschriebene Stätten dokumentieren weit mehr als architektonische Kunst oder bauhistorische Entwicklungen. Sie lenken über sich hinaus den Blick auf Kulturräume und Kulturlandschaften mit materiellen und immateriellen Aspekten. Die Verknüpfung der beiden Konventionen, ihre Gemeinsamkeiten und die ihnen eigenen Besonderheiten können für die eigene Standortbestimmung und den internationalen Dialog ausgesprochen fruchtbar sein. Damit wird eine weitere Grundlage für die internationale Zusammenarbeit und die gegenseitige Wertschätzung von Kulturen und Gesellschaften geschaffen.“ (Deutsche UNESCO-Kommission 2013: 7)

Der Beschluss des Bundeskabinetts erfolgte am 12. Dezember 2012 ohne Aussprache (vgl. Dok. 21: Kabinettsache Datenblatt 17/05067; Anschreiben). Bereits zuvor eingeleitet (vgl. Dok. 21: Kabinettsache Datenblatt 17/05067: 3), kam es gemäß Art. 3 der Lindauer Absprache in äußerst kurzer Zeit – binnen drei Monaten – zur Zustimmung der 16 Länder zum Beitritt. Die Ständige Vertragskommission hatte bereits vor dem Kabinettsbeschluss empfohlen, dass die Länder den Beitritt mittragen und einzeln unterzeichnen. (vgl. B, Interview am 05.11.2018)

Die Urkunde des deutschen Beitritts wurde in Paris am Hauptsitz der UNESCO am 10. April 2013 hinterlegt. Drei Monate darauf, also am 10. Juli 2013, war die Mitgliedschaft Deutschlands rechtskräftig. Am 23. Juli 2013 wurde das Übereinkommen im Bundesgesetzblatt veröffentlicht und damit das Inkrafttreten offiziell verkündet.

Die politischen und administrativen Schritte dieser Phase der Ingangsetzung des Beitrittsprozesses fanden bis Dezember 2012 medial und damit auch in der allgemeinen Öffentlichkeit kaum Aufmerksamkeit – weder den Fachgesprächen im Bundestag noch dem Bundestagsbeschluss oder den folgenden intensivierten Bund-Länder-Gespräche wurde größeres öffentliches Interesse zuteil. Erst der vom Bundeskabinett beschlossene Beitritt zur Konvention im Dezember 2012 fand von dpa über Spiegel Online und der WELT bis zu zahlreichen öffentlich-rechtlichen Medien und der FAZ (alle 12./13./14.12.2012) beachtliche Publizität.

Der Deutsche Bundestag widmete sich im Untersuchungszeitraum (bis einschließlich 2016) nur im Januar 2013, kurz nach dem vom Bundeskabinett beschlossenen Beitritt, noch einmal dem Thema des Immateriellen Kulturerbes. Am 30. Januar gab es eine nichtöffentliche Anhörung, bei der drei der an der Verfassung des DUK-Arbeitspapiers „Das lebendige Kulturerbe kennenlernen und wertschätzen!“ (Dok. 18) beteiligte Experten (Prof. Dr. Christoph Wulf, Prof. Dr. Viola König, Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba) in den Bundestags-Ausschuss für Kultur und Medien eingeladen wurden, um über die anstehende Umsetzung in Deutschland, insbesondere Chancen und Herausforderungen der Arbeit mit dem UNESCO-Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes, zu beraten. In den Debatten unter Leitung der damaligen Vorsitzenden des Ausschusses Monika Grütters (CDU/CSU), die sich neugierig zeigte, was die Experten und auch die Politik mit dem Instrument vorhätten, zwischen den Berichterstattern der Fraktionen (Wolfgang Börnsen für die CDU/CSU-Fraktion, Wolfgang Thierse für die SPD, Rainer Deutschmann für die FDP, Luc Jochimsen für Die LINKE und Claudia Roth für Bündnis 90/Grüne) und den Experten der DUK ging es insbesondere um die Natur des nationalen Verzeichnisses des Immateriellen Kulturerbes. Eine wichtige Erkenntnis war, dass das Verzeichnis „keine Bibel, sondern Börse“ (Aussage von Wolfgang Börnsen, aufgegriffen von Wolfgang Thierse; dies und im Folgenden alles nach eigenen Notizen des Autors dieser Arbeit vom 30.01.2013) sein werde. MdB Börnsen hielt die Umsetzung der Konvention zudem für eine Chance für eine „Demokratisierung der Kultur“ und für die Beschäftigung mit der Frage, was Kultur sei und wie wir Kultur für die Zukunft definieren. MdB Deutschmann mahnte eine gute Öffentlichkeitsarbeit an, damit aus den Ländern „bessere Vorschläge als Volkstümelei“ kommen und verwies darauf, dass die Bäcker und Schausteller bereits mit den Hufen scharren, sich zu bewerben. MdB Thierse empfand die Begeisterung der vortragenden Experten als ansteckend und freute sich, dass der Begriff ‚Volkskultur‘ mit Umsetzung der Konvention die Chance habe, nicht für alle Zeiten verbrannt zu sein. Die MdBs Jochimsen und Roth freuten sich über die sichtbare Aufhebung des Unterschieds zwischen Hoch- und Breitenkultur sowie das kreative Potenzial, das sichtbar gemacht werde. Die Bewertung der Bundespolitiker fiel also durchweg positiv aus, was insgesamt nicht verwundert, weil die Fraktionen in der laufenden Legislaturperiode (2009–2013) schließlich mit ihren Anträgen (Doks. 9 und 10) bzw. dem Ende 2011 mehrheitlich gefassten Beschluss des Antrags der Regierungsfraktionen (Dok. 14) die Ratifizierung vehement gefordert hatten.

6.2 Gestaltung einer Politik zum Immateriellen Kulturerbe: Kulturförderung ohne bewusste Absicht?

Welche Maßnahmen zur Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes in Deutschland konzipiert wurden und auf welcher Basis die entsprechenden Beschlüsse gefasst wurden, gehört zu den zentralen Fragen dieser Arbeit, die mit dem verfolgten Forschungsansatz untersucht werden können. Zunächst interessieren die genauen Modalitäten des deutschen Beitritts zur Konvention (Abschnitt 6.2.1.). Blickt man auf die Architektur der Konventionsumsetzung, erachtet man den Prozess der Inventarisierung mit dem greifbaren Ergebnis eines Verzeichnisses des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland (Abschnitt 6.2.2.) als vorrangige und sichtbarste Maßnahme, auf deren Ausgestaltung sich das Hauptaugenmerk im Prozess der Formulierung einer Politik zum Immateriellen Kulturerbe gerichtet hat. Dieses wird sowohl von den befragten Experten wie auch von den Trägergruppen der Formen Immateriellen Kulturerbes und der Öffentlichkeit in ihrer Bedeutung als herausgehoben wahrgenommen. Zu den weiteren Maßnahmen, die zum Teil eine Bedingung für das Gelingen dieses Inventarisierungsprozesses sind und auch in dem Stufen-Verfahren (Abschnitt 6.2.2.2.), auf das man sich zwischen Bund, Ländern und DUK verständigte, erwähnt sind, die aber auch darüber hinaus Wirksamkeit entfalten und mit weiteren Projekten, Programmen und Strategien der Umsetzung verbunden sind (siehe Abschnitt 6.3.1.), gehören die Einrichtung einer Fachstelle (Abschnitt 6.2.3.) und eines Fachgremiums (Abschnitt 6.2.4.). Auch die Einrichtung von Strukturen auf Länderebene (Abschnitt 6.2.5.) – von der Benennung von Ansprechpersonen über konkrete Unterstützung der Trägergruppen aus den für Kultur zuständigen Länderministerien oder speziellen Beratungsstellen bis hin zur Einrichtung von Länderverzeichnissen – gehören zu der Inventarisierungsarchitektur. Die relevanten konzeptionellen Grundlagen der Projekte, Programme und Strategien der weiteren, i. d. R. nichtstaatlichen, Akteure für eine Politik zum Immateriellen Kulturerbe in Deutschland werden in Abschnitt 6.2.6. vorgestellt.

Als zu untersuchende Kategorien für die Phase der Politikformulierung wurden vier Punkte definiert (siehe Abschnitt 5.3.4.): erstens Verfahrensfragen, wie es zur Politikformulierung in der beschriebenen Weise kam – hierzu gibt Tabelle 6.1 im vorangegangenen Abschnitt einen chronologischen Überblick über wichtige Wegmarken im Zeitraum 2009 bis 2014 –, zweitens ein Blick auf die Interessen der beteiligten Akteure, die nach dem Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus maßgebend auch für diese Phase des Policy-Cycle sind, drittens eine Betrachtung, welche Anleihen bzw. Adaptionen anderer Modelle, die sich als Faktor des politischen Lernens ausgewirkt haben, vorgenommen wurden, und viertens eine Betrachtung, ob die Akteure, nach allem was man rückblickend beurteilen kann, eher das Ziel kulturelle Teilhabe zu erhöhen und/oder das Ziel der Würdigung zivilgesellschaftlichen Engagements geleitet hat.

Zur letzten Kategorie noch einige Gedanken hinsichtlich der Differenzierung, da hier durchaus weitere Abstufungen im Vergleich zu dieser binären Darstellung möglich sind: Als mögliche Ziele der Politikformulierung im Kontext der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe, insbesondere mit Blick auf die Inventarisierung, sollen hier fünf Punkte bzw. Qualitäten unterschieden werden. Diese können in aufsteigender Komplexität sowie kulturpolitischer Aktivität und Bereitschaft zur aktiven politischen Intervention der Akteure kategorisiert werden: Erstens kann die Inventarisierung eine neutrale Bestandsaufnahme im Sinne von reiner Wissensorganisation, welche immateriellen Kulturformen es in Deutschland gibt, sein. Etwas wertender kann es zweitens um eine allgemeine Sensibilisierung für die Bedeutung der Formen des Immateriellen Kulturerbes gehen. Noch qualifizierender und mit mehr kulturpolitischer Intervention verbunden wäre drittens die aktive Würdigung und positive Wertschätzung bürgerschaftlichen Engagements im kulturellen Bereich durch die dezidierte Anerkennung von Kulturformen und ihrer Trägergruppen als Immaterielles Kulturerbe bzw. als dessen Trägerschaften. Alternativ oder ergänzend dazu kann es viertens um eine explizite Auszeichnung von Kulturformen und Kulturträgergruppen aufgrund ihrer besonders qualifizierten Kulturleistungen gehen. Dies kann argumentativ und in der Außendarstellung bis hin zur Aufstellung einer wettbewerbsähnlichen „Hitliste“ des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland auf Basis eines kompetitiven Auswahlprozesses reichen. Und fünftens, konzeptionell am umfassendsten, wäre die politische Absicht, durch die Umsetzung der Konvention die kulturelle Teilhabe in Deutschland zu steigern. Welcher dieser konzeptionellen Ansätze von welchen Akteuren verfolgt wurde, soll in diesem und dem folgenden Abschnitt deutlich werden. Dies dient der expliziten Sichtbarmachung der mit der Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes verbundenen kulturpolitischen Strategien, die selten offensiv formuliert wurden. Als Schwierigkeit zeigt sich dabei, dass sich diese Strategien nicht unbedingt widersprechen bzw. ausschließen und die Abstufungen graduell sein können. Es muss also individuell bewertet werden, welche Perspektive jeweils dominant erscheint.

In diesem Kontext sei darauf hingewiesen, dass, wenn in der vorliegenden Arbeit von einer Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe oder als Trägergruppe einer Kulturform gesprochen wird, dies in weitgehend wissenschaftlich-neutraler Form gemeint ist und damit nicht einer der o. g. Interpretationen vorgegriffen werden soll. Nichtsdestotrotz verweist der häufige und gewohnheitsmäßige Gebrauch dieses Terminus durch die Beteiligten im Kontext der nationalen Umsetzung darauf, dass dies eine der dominanten Interpretationen im o. g. Sinne ist.

6.2.1 Modalitäten des Beitritts

Das Auswärtige Amt hatte 2011/2012 das Ziel vor Augen, in keinem Fall der letzte europäische Staat zu sein, der die Konvention zum Immateriellen Kulturerbe ratifiziert. Darüber hinaus ging man aber seitens AA und auch seitens BKM weitgehend ohne große Leidenschaft oder ein kulturpolitisches Konzept in die nationalen Beratungen über einen Beitritt zur UNESCO-Konvention. „Wir wollten das Rad nicht neu erfinden, sondern relativ schnell zum Zuge kommen.“ (B, Interview am 05.11.2018), erinnert sich die verantwortliche Mitarbeiterin im AA. Eher pflichtschuldig wies BKM später in der Begründung des Bundesinteresses im Rahmen der Abstimmung des Förderbescheids der DUK-Geschäftsstelle darauf hin, dass man „Steuerungs- und kulturpolitische Gestaltungskompetenz wahrnehmen“ (Dok. 16: BKM-Vermerk zum Antrag auf Gewährung einer Bundeszuwendung vom 02.04.2012: 2) müsse. Der damalige Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle, äußerte in einem Grußwort zur Publikation der Vertragstexte der Konvention ebenfalls sehr defensiv, er wünsche sich, „dass der Beitritt Deutschlands zu dieser Konvention eine lebhafte Debatte über die Bedeutung des immateriellen Kulturerbes für unsere eigene Identität und die anderer Kulturen auslöst“ (Deutsche UNESCO-Kommission 2013: 7). Denkbar wäre an beiden Stellen gewesen, kulturinnen- oder -außenpolitisch offensiver aufzutreten und zum Beispiel eine Schwerpunktsetzung mittels finanzieller Unterstützung an nationale Trägergruppen bzw. zum Fonds der Konvention, etwa für Capacity Building in Entwicklungsländern, wie es die fast zeitgleich beitretenden Niederlande oder Norwegen getan haben oder wie es die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ vorgeschlagen hatte, zu signalisieren. Diese Option wurde Anfang 2011 offenbar kurz erwogen: „AA prüft die Möglichkeit eines AA-Beitrags für den internationalen Fonds.“ (Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 4) heißt es zumindest in einem informellen Arbeitspapier. Innen(-kultur-)politisch wäre eine finanzielle Förderung für ausgewählte als Immaterielles Kulturerbe anerkannte Kulturpraktiken, argumentativ beispielsweise gut begründet mit der Anerkennung, dass sie die kulturelle Teilhabe erweitern würden, denkbar gewesen. Allerdings standen, wie bereits erwähnt, finanzielle Bedenken solchen konzeptionellen Überlegungen wohl frühzeitig entgegen. Deutschland legte „aus haushaltsrechtlichen Gründen“ (Dok. 19: Ergebnisvermerk zu den Bund-Länder-Absprachen vom 29.10.2012: 1) mit dem Beitritt gar einen Vorbehalt gegen Art. 26 Abs. 1 der UNESCO-Konvention, die Zahlung eines regelmäßigen Pflichtbeitrags, ein. Dies ist nach Art. 26 Abs. 2 möglich. So werden von Deutschland statt des regulären an den UNESCO-Beitrag gekoppelten Pflichtbeitrags freiwillige Beiträge gezahlt, die im Einzelplan 05 des Bundeshaushalts etatisiert sind. (vgl. Dok. 21: Kabinettsache Datenblatt 17/05067: 3) Tatsächlich zog sich durch die Beratungen der Beitrittsmodalitäten, dass kein staatlicher Akteur den Mehraufwand, der mit dem Beitritt verbunden war, bezahlen wollte: Das Auswärtige Amt wollte über den regelmäßigen Beitrag zum Fonds – man rechnete mit bis zu 250.000 Euro im Biennium – hinaus keine Struktur für die nationale Umsetzung finanzieren; zumal man auf den „beachtlichen administrativen Beitrag zur erfolgreichen Umsetzung“ (Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 3) der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der UNESCO in Paris verwies. Auch BKM war wichtig, „[d]ie Kosten und de[n] organisatorische[n] Aufwand […] zu minimieren“ (Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 3). Die Länder zeigten ebenfalls wenig Begeisterung über eine zusätzliche Aufgabe, die zudem noch der Koordination zwischen ihnen bedurfte. Anfang 2011, als die in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie (Albert/Disko 2011) erschienen war, betonte man ebenfalls wiederholt, dass der organisatorische Aufwand für die Umsetzung des Übereinkommens unbedingt zu minimieren sei und keine Folgekosten für die Länder entstehen dürften (vgl. u. a. Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 1). Im KMK-Beschluss von Dezember 2011 hieß es dann deutlich: „Eine Beteiligung der Länder an den Kosten der nationalen Koordinierungsstelle und am deutschen Mitgliedsbeitrag zum Übereinkommen wird aufgrund des eigenen administrativen Beitrags ausgeschlossen.“ (Dok. 13: KMK-Beschluss vom 08.12.2011: 2) Gleichzeitig war die KMK der Auffassung, dass nur durch eine aktive Rolle und finanzielle Unterstützung der Bundesregierung bei der Einrichtung einer Geschäftsstelle bei der DUK die Option eines bundesweit einheitlichen Verzeichnisses realisierbar wäre (vgl. Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 3). Man befürchtete öffentliche Kontroversen angesichts der weitgehend negativen und abwertenden Medienberichterstattung der Zeit (siehe Abschnitt 6.1.1.) und sah hier eine wichtige Aufgabe der Geschäftsstelle. In den Ressortbesprechungen unter Beteiligung der Länder fand man schließlich die Einigung, dass BKM zunächst für eine Pilotphase in den Haushaltsjahren 2012 und 2013 (vgl. Dok. 19: Ergebnisvermerk zu den Bund-Länder-Absprachen vom 29.10.2012: 4) 100.000 Euro aus dem Bundeshaushalt, Einzelplan 04, bekommen und als Zuwendung an die DUK geben sollte. Zudem einigte man sich auf ein gemeinsam getragenes Verfahren der innerstaatlichen Umsetzung zur Erstellung eines Verzeichnisses des Immateriellen Kulturerbes und darauf basierender UNESCO-Nominierungen (siehe Abschnitt 6.2.2.). Noch bevor dies offiziell in allen Details vereinbart war und der Beitritt verkündet werden konnte, veröffentlichte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit ihrem kultur- und medienpolitischen Sprecher MdB Wolfgang Börnsen bereits die gefundene Lösung:

„Die Kultusministerkonferenz hat ein Szenario zur Umsetzung des Übereinkommens erarbeitet. Dies enthält die Erstellung einer Liste des immateriellen Kulturerbes auf nationaler Ebene sowie die Berufung eines Expertenkomitees, das Nominierungsvorschläge für die UNESCO-Liste machen soll. Das Auswärtige Amt hat den bei Beitritt fälligen Betrag für den Haushalt 2013 beantragt. Der Kulturstaatsminister hat 100.000 Euro für die einzurichtende Geschäftsstelle bei der Deutschen UNESCO-Kommission bewilligt.“ (Dok. 17: Pressemitteilung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 06.08.2012)

Wie oben gezeigt, hätte entsprechend des Zeitgeistes, der Haushaltsdisziplin und Sparen als oberste Ziele auferlegte, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch die Bundesregierung lieber vermieden, für Kosten zur nationalen Umsetzung der Konvention aufzukommen. Da die Länder im Inventarisierungsverfahren eine gewichtige Rolle beanspruchten, hätte man sich seitens des Bundes durchaus auf das Konnexitätsprinzip zurückziehen können, welches im Staatsrecht besagt, dass Aufgaben- und Finanzverantwortung zusammengehören. Dies ist in Art. 104a Abs. 1 des Grundgesetzes verankert und bestimmt insbesondere das Verhältnis zwischen Ländern und dem Bund, sowie außerdem mittelbar auch jenes zwischen Kommunen und Ländern. Das hätte allerdings, wie durch den deutlichen KMK-Beschluss von Ende 2011 deutlich wurde, zu einem weiteren Patt geführt, dem der Bundestagsbeschluss von Ende 2011, zügig zu einer Ratifizierung des Übereinkommens zu kommen, entgegenstand. Inhaltlich begründen könnte man die Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern im Rahmen der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes durchaus aus dem von Müller/Singer (2004) mehrfach erwähnten informellen Eckpunktepapier zur Systematisierung der Kulturförderung von Bund und Ländern, in dem das Thema Weltkulturerbe als übergreifende internationale Verpflichtung benannt wurde, weshalb der Bund unstrittig Kompetenzen in diesem Bereich habe (vgl. Müller/Singer 2004: 34 f.). Nun ist Immaterielles Kulturerbe zwar nicht mit dem UNESCO-Welterbe gleichzusetzen, aber da das Papier bereits 2003 besprochen (und niemals formal verabschiedet) wurde, konnte man die Entwicklung mit einer Verbreiterung des Erbe-Verständnisses im UNESCO-Kontext und insbesondere die Bedeutung, die Immaterielles Kulturerbe erlangen würde, noch nicht absehen. Hier Parallelen zu ziehen, liegt aus innerstaatlicher Perspektive und dem Horizont der meisten an den Verhandlungen beteiligten Akteure also nah. Zu guten Teilen ist eine solche Parallelisierung mit der nationalen Umsetzung der Welterbe-Konvention aber nicht berechtigt, weil der nationale Umsetzungsauftrag beim Immateriellen Kulturerbe ein gänzlich anderer ist als bei der 1972er-UNESCO-Konvention. Ein großer Unterschied ist etwa, dass beim Immateriellen Kulturerbe anders als beim Welterbe keine vorherigen Bestandsaufnahmen existieren: Während auf Ebene der 16 Länder Denkmallisten bestehen, die für die Identifizierung von Kultur- und Naturerbe herangezogen werden können, war beim Immateriellen Kulturerbe zunächst Basisarbeit in den Ländern bei der Identifikation des Grundbestands an Kulturformen zu leisten. Mit dem Beitritt zur 2003er-UNESCO-Konvention handelt es sich zwar auch um eine internationale Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, es gibt aber keinen internationalen Schutzauftrag, weil der außergewöhnliche universelle Wert (der sogenannte OUV = outstanding universal value) im Gegensatz zum Welterbe beim Immateriellen Kulturerbe keine Rolle spielt. Der Unterschied zur Umsetzung der Welterbe-Konvention drückt sich auch in dem gemeinsamen Bestätigungsrecht von KMK und BKM bezüglich der Empfehlungen des DUK-Expertenkomitees beim Immateriellen Kulturerbe aus (siehe Abschnitt 6.2.2.). Während bei der 1972er-UNESCO-Konvention die Länder über die KMK einseitig die Tentativliste künftig anstehender Nominierungen – eine Verpflichtung aus der Konvention – erstellen, ist die Verantwortung zwischen Bund (BKM) und Ländern (KMK bzw. Kultur-MK) bei der 2003er-Konvention und der Anerkennung von Einträgen ins Bundesweite Verzeichnis also geteilt. Dies ist, zumindest implizit, ein Zugeständnis der Länder, dass der Bund beim Immateriellen Kulturerbe auch kulturpolitisch ein Gewicht hat – und zwar über die Rolle des Auswärtigen Amts im Rahmen der Auswärtigen Kulturpolitik hinaus, die das AA bei den beiden Kulturerbe-Konventionen gleichermaßen hat. 1976, als Deutschland der Welterbe-Konvention beitrat, existierte das BKM noch gar nicht, weshalb die Länder hier historisch eine Zuständigkeit beanspruchen können. Bis heute haben sie bei diesem Übereinkommen in der nationalen Umsetzung im Grunde keine Kompetenzen an den Bund abgegeben, auch wenn das zitierte Papier dem Bund hier Mitwirkungsrechte zugesteht und das BKM inzwischen auch ein entsprechendes Referat unterhält. Bei der Konvention zum Immateriellen Kulturerbe hat sich der Bund durch die Finanzierung der DUK-Geschäftsstelle von Anfang an Einfluss auf die Ausgestaltung gesichert. Die jährliche Zahlung von Beiträgen zum Fonds der 2003er-Konvention wurde ebenso wie jener zum Fonds der 1972er-Konvention im Haushalt des AA festgesetzt.

Die politischen Entscheidungsträger in Deutschland suchten zur Zeit des Beitritts zur Konvention nach geeigneten Modellen der nationalen Umsetzung und fanden sie in den europäischen Partnerländern, insbesondere in Österreich und der Schweiz (vgl. E1, Interview am 15.10.2018), die beide der Konvention schon einige Jahre früher (2009 bzw. 2008) beigetreten waren. Beide Nachbarstaaten standen mit ihren Modellen der nationalen Umsetzung der Konvention Pate für eine Adaption bzw. alles in allem für eine Hybridbildung oder Synthese zweier Modelle. Aus den Erkenntnissen, die man aus der nationalen Umsetzung in diesen beiden Ländern (siehe Abschnitt 4.4.) zog, entwickelten die verantwortlichen politischen Akteure dann ein an die konkreten Erfordernisse in Deutschland angepasstes eigenes Modell (siehe Abschnitt 6.4.1.), welches seitdem selbst weiterentwickelt wurde (siehe Abschnitt 6.4.2.) und wiederum – ganz im Sinne des politischen Lernens – seinerseits wieder die Umsetzung in anderen Ländern, zum Beispiel in Österreich oder in Frankreich und Finnland, beeinflusst (siehe Abschnitt 6.4.3.). (vgl. Blum/Schubert 2009: 157 ff.)

Die Inventarisierung des Immateriellen Kulturerbes, also die Erstellung eines Verzeichnisses der hierzulande vorhandenen lebendigen Traditionen, wie auch der Beitritt Deutschlands zur Konvention basieren beide auf keinem Gesetz. Dass Deutschland auf die Formulierung eines Vertragsgesetzes verzichten konnte, war unter anderem dem beim deutschen Beitritt geäußerten Vorbehalt nach Art. 26 Abs. 2 der Konvention, keine Verpflichtung zur Zahlung von Beiträgen zur Konvention zu übernehmen, zu verdanken. Damit ergab sich nämlich durch den Beitritt keine Bindung des Haushaltsgesetzgebers, also des Deutschen Bundestags. Auf diese Lösung hatte man sich in den Ressortabsprachen und mit den Ländern im Zuge der Vorbereitungen des Beitritts verständigt (vgl. Dok. 19: Ergebnisvermerk zu den Bund-Länder-Absprachen vom 29.10.2012: 1 f.). Während des Beitrittsprozesses musste, wie im Abschnitt 6.1.3. bereits erwähnt, dann ferner geklärt werden, ob es ein sogenanntes Ausführungsgesetz braucht, also ein Gesetz, dass die UNESCO-Konvention als völkerrechtliches Dokument auf den deutschen Rechtsrahmen herunterbricht und Einzelheiten zu ihrer Anwendung in Deutschland enthält. Dies wurde von den beteiligten Stellen – AA, BKM, BMI, BMJ und den Ländern – nach mehreren Konsultationsrunden und einer definitiven Einigung auf den Prozess der innerstaatlichen Umsetzung bei der Erstellung eines Verzeichnisses des Immateriellen Kulturerbes, der einzigen konkreten Verpflichtung, die ein Staat nach Art. 11 und 12 der Konvention mit seinem Beitritt eingeht, gemeinsam verneint. Wichtig war in diesem Kontext die aus dem Konventionstext und aus der Praxis der Umsetzung in anderen Staaten abgeleitete Erkenntnis, dass ein Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes

„rein deklaratorischer Natur [sein] und […] keine Rechtswirkung entfalten [würde]. Bestehende Rechte und Pflichten, insbesondere im Bereich des geistigen Eigentums, blieben unberührt und müssten beachtet werden. Aus einer Aufnahme eines Elements […] könnten keine Ansprüche abgeleitet werden (beispielsweise auf finanzielle Förderung von Bewahrungsmaßnahmen).“ (Albert/Disko 2011: 29)

Weil man im Laufe des Jahres 2012 also in den Bund-Länder-Gesprächen gemeinsam zu dem Schluss kam, dass es weder eines Vertrags- noch eines Ausführungsgesetzes zum Beitritt und zur nationalen Umsetzung der Konvention bedurfte, einigte man sich zur Feststellung dieses Ergebnisses unter Beteiligung der Deutschen UNESCO-Kommission auf ein gemeinsames Kommuniqué (Dok. 19: Ergebnisvermerk zu den Bund-Länder-Absprachen vom 29.10.2012), in dem die Grundlinien der Umsetzung der Konvention in Deutschland festgelegt sind. Dieses vierseitige Papier ist seitdem wesentliche Grundlage des gemeinsamen Vorgehens. Die Grundzüge des Ergebnisvermerks sind auch in der Kabinettsvorlage zum Beitritt vom 12. Dezember 2012 (vgl. Dok. 21: Kabinettsache Datenblatt 17/05067: 2) erläutert.

Die beteiligten staatlichen Vertreter betonten als zentrale Aspekte dieser Einigung folgende:

„Es war für uns einfach ein relativ großes Anliegen, das so schlank wie möglich zu halten. Das heißt, kein Gesetz […]. Dafür wollten wir aber unabhängige Expertisen. Dieses Konstrukt, dass bei der DUK ein Expertenbeirat angesiedelt wird, dessen Urteil dann bestätigt wird – das mussten wir haben, das wollte das Innenministerium – das ist dann erdacht worden“ (B, Interview am 05.11.2018),

so Birgitta Ringbeck. Susanne Bieler-Seelhoff hatte schon 2011 stellvertretend für den KMK-Kulturausschuss betont, dass es eines bundesweit einheitlichen Auswahlverfahrens mit qualitativen Leitlinien und eines klaren Kriterienkatalogs für die Erstellung des Verzeichnisses bedürfe (vgl. L, Interview am 15.11.2018), dass die Verantwortung für das Verfahren aber grundsätzlich bei den Ländern verbleiben müsse (vgl. Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 1). Sophie Lenski vertritt demgegenüber die Position, dass der Rückgriff auf die sogenannte „Kulturhoheit der Länder“ nicht schlüssig sei, da es sich bei der innerstaatlichen Umsetzung der UNESCO-Konvention weder um Gesetzgebung noch um Gesetzesvollzug handele. Da die verwaltende Tätigkeit der konkreten Umsetzung zentrale Bezüge zur Auswärtigen Kulturpolitik habe, sei eine ausschließliche Zuständigkeit der Länder keineswegs offensichtlich. (vgl. Lenski 2014: 102 Fn 271) Letztlich ist dies eine Frage der Perspektive: Sieht man eine UNESCO-Listung als Ziel der Inventarisierung, wie dies Lenski als Kulturvölkerrechtsforscherin als gegeben annimmt, ist ihre Position nachvollziehbar. Sieht man aber die Inventarisierung vordergründig als von der UNESCO inspirierte nationale Umsetzungsmaßnahme mit vorwiegend innerstaatlicher Wirkung, kann die KMK-Position geteilt werden. Politisch – da sind sich die befragten Experten weitgehend einig – war eine andere Form der Umsetzung als die nachfolgend skizzierte, jedenfalls im gegebenen Zeitraum kaum realistisch durchzusetzen.

6.2.2 Erstellung eines Verzeichnisses des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland

6.2.2.1 Konzeptionelle Vorüberlegungen

In Bezug auf das Verzeichnis bzw. den Prozess der Inventarisierung Immateriellen Kulturerbes in Deutschland gab es zunächst vielfältige Bedenken der maßgeblichen Akteure (vgl. u. a. Dok. 3: BKM-Sachstand vom 21.11.2008: 2 f.). Der Befürchtung eines Konflikt- und Missbrauchspotenzials der Inventarisierung begegnete die DUK bereits 2010 mit der Argumentation, dass das Übereinkommen „jedem Vertragsstaat einen großen Ermessens- und Gestaltungsspielraum für die Erarbeitung dieser Bestandsaufnahme“ einräume. Sie stellte zudem die Vorzüge in den Vordergrund: „Eine einheitliche Bestandsaufnahme wesentlicher Formen des immateriellen Kulturerbes hat den Vorteil, dass sie einen systematisch-kritischen Überblick erlaubt und die notwendige demokratische Entscheidungsfindung auf eine fachlich gesicherte Basis stellt.“ (Dok. 6: Einschätzung der DUK zum BKM-Sachstand vom Juli 2010: 2) Auch wurde das Missverständnis aufgeklärt, dass die Einstufung einer Kulturform als Immaterielles Kulturerbe allein den Gruppen, Gemeinschaften und Einzelpersonen, die es praktizieren, gebühre und damit der Staat außen vor sei: Die Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe und Aufnahme in ein Verzeichnis obliegt, wenn gewünscht, durchaus dem Staat. Die Formulierung in Art. 2.1 des Übereinkommens („Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten […], die Gemeinschaften, Gruppen und gegebenenfalls Einzelpersonen als Bestandteil ihres Kulturerbes ansehen“) bezieht sich ausschließlich auf die Definition, was als Immaterielles Kulturerbe in Frage kommt. Gemeint ist damit vor allem, dass die Formen Immateriellen Kulturerbes nicht für eine gesamte Nation, sondern für die jeweilige Gemeinschaft identitätsstiftend sein müssen (vgl. Dok. 6: Einschätzung der DUK zum BKM-Sachstand vom Juli 2010: 2). Die Modalitäten der Inventarisierung inklusive des Grades der staatlichen Mitwirkung und Verantwortung dabei ist dagegen den Vertragsstaaten der Konvention weitgehend selbst überlassen (siehe näher dazu Abschnitt 4.4.2.).

Bezüglich der richtungsweisenden Entscheidung, ob in Deutschland mehrere Verzeichnisse, wie etwa in den föderalistischen Staaten Spanien oder Belgien (siehe Abschnitt 4.4.2.3.), oder ein gesamtstaatliches Verzeichnis wie in der Schweiz (siehe Abschnitt 4.4.2.2.), der man mindestens einen ähnlichen Föderalisierungsgrad wie den beiden genannten bescheinigen kann, erstellt werden sollte, wog die von den Ländern in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie die Vorzüge und Nachteile umfassend ab:

„Für die Einrichtung einer nationalen Liste [in der später eingeführten Terminologie: eines bundeseinheitlichen Verzeichnisses, Anm. d. Verf.] spräche u.a. die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, durch die das allgemeine Bewusstsein für die Bedeutung immateriellen Kulturerbes gesteigert werden könnte. Eine nationale Liste wäre zudem ein Mechanismus, um den Dialog und die Vernetzung zwischen Regierungen, Verwaltungen, Fachebene und Trägern immateriellen Kulturerbes zu fördern und so Voraussetzungen für gemeinsames Handeln zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes zu schaffen. Für die Träger des in die nationale Liste aufgenommenen Kulturerbes könnte die gesteigerte Wahrnehmung und Wertschätzung verschiedene positive Auswirkungen haben. In praktischer Hinsicht böte eine nationale Liste eine Grundlage für die Auswahl von Elementen für die internationalen Listen.“ (Albert/Disko 2011: 27, Fußnote 55)

Dies spricht in Summe alles für die Lösung, keine einzelnen Verzeichnisse des Immateriellen Kulturerbes in den Bundesländern ohne einen nationalen Überbau zu erstellen. Die in der Machbarkeitsstudie auch aufgeführten Gründe gegen ein nationales, also bundesweites, Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes sprechen bei näherer Betrachtung umgekehrt nicht unbedingt für Verzeichnisse der einzelnen deutschen Länder, da damit ähnliche Sorgen verbunden werden müssten:

„Gegen die Einrichtung einer nationalen Liste könnten u. a. die zusätzliche Bürokratisierung und die damit verbundenen Kosten sprechen. Im schlimmsten Fall könnte die Einschreibung und damit verbundene gesteigerte Wahrnehmung auch negative Auswirkungen auf das betreffende Kulturerbe selbst haben (z. B. Gefahr der Kommerzialisierung oder ‚Eventisierung‘, Gefahr der Musealisierung und des Verlusts der Eigendynamik). Auch könnte eine nationale Liste zu einer ‚Hierarchisierung‘ immateriellen Kulturerbes führen bzw. als wertende Auszeichnung missverstanden werden, insbesondere im Falle der Einrichtung einer repräsentativen nationalen Liste.“ (Albert/Disko 2011: 27, Fußnote 55)

In der Machbarkeitsstudie war also explizit von einer Hierarchisierung und Hitliste bzw. einer wertenden Auszeichnung durch die Verzeichniserstellung abgeraten worden. Entsprechend ist davon auszugehen, dass das Verständnis einer neutralen Bestandsaufnahme mit Aspekten der Sensibilisierung für die Bedeutung des Immateriellen Kulturerbes in der Lesart dominierte bzw. zumindest den Auftraggebern, also den Ländern, nahegelegt wurde.

Frühzeitig hatte man jedenfalls die Option, gar kein Bundesverzeichnis zu erstellen, sondern dass sich anstelle dessen das nationale Verzeichnis als Summe von Länderverzeichnissen darstellen könnte, verworfen. Als Gründe wurden benannt, dass es keinerlei Abstimmungsmechanismen gegeben hätte, um Dopplungen oder gar Widersprüche bei Ländergrenzen überschreitenden Formen Immateriellen Kulturerbes zu vermeiden; zudem sah man die Gefahr einer zu starken lokalen Ausrichtung ohne echte kulturpolitische Relevanz – die man also anzustreben schien – der Einträge und damit auch mangelhafter Qualität. (vgl. Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 2). Nordrhein-Westfalen und Bayern entschieden sich übrigens recht bald nach dem Beginn der deutschlandweiten Inventarisierung, eigene Verzeichnisse des Immateriellen Kulturerbes ergänzend zum Bundesweiten Verzeichnis zu erstellen (hierzu mehr in den Abschnitten 6.2.5. und 6.4.2.). Dies war von allen beteiligten politischen Akteuren ausdrücklich nicht ausgeschlossen worden.

6.2.2.2 Das Vier-Stufen-Verfahren

Das Verfahren, auf das sich die Länder, die beteiligten Bundesministerien und die Deutsche UNESCO-Kommission schließlich für die bundesweite Bestandsaufnahme verständigt haben, ist vierstufig: Zunächst kann jede Gemeinschaft und Gruppe, die der Auffassung ist, eine Form Immateriellen Kulturerbes zu praktizieren, nach dem bottom-up-Prinzip eine Bewerbung für das Verzeichnis einreichen. Hierfür sind regelmäßige feste Bewerbungszeiträume von – mittlerweile etablierten – jeweils sieben bis acht Monaten alle zwei Jahre mit bundesweit einheitlichen Bewerbungsunterlagen vereinbart. Vorschläge kann laut dem Merkblatt mit Hinweisen zur Bewerbung jede Gruppe einreichen, die mit der Pflege und Erhaltung Immateriellen Kulturerbes nicht vorwiegend kommerzielle Interessen verfolgt. Es ist egal, ob es sich um eine örtlich definierte Gemeinschaft, also zum Beispiel im Falle eines städtischen oder dörflichen Brauchs, oder um ein örtlich unzusammenhängendes Interessennetzwerk, wie zum Beispiel beim Blaudruck, handelt. Die Bewerbungen werden im jeweiligen Bundesland, wo die Gruppe ihr Immaterielles Kulturerbe pflegt bzw. wo sie ihren Sitz hat, wenn es sich um weiter verbreitete Kulturformen handelt, eingereicht. Mit Unterschrift und Einreichung der Bewerbung wird bestätigt, dass eine möglichst breite Beteiligung der gesamten Trägerschaft erfolgt ist und diese das Vorhaben der Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe ebenso mitträgt und unterstützt. Zusätzlich sind jeder Bewerbung zehn Fotos und zwei Empfehlungsschreiben (später „fachliche Begleitschreiben“ genannt, siehe Abschnitt 6.4.2.) beizulegen.

In der zweiten Stufe sortieren die Länder die bei ihnen eingegangenen Bewerbungen vor – es geht hierbei neben der Wahrnehmung der Länderhoheit im Kulturbereich (vgl. Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 3) auch um eine Filterfunktion, damit keine Vorschläge, die im Widerspruch zur deutschen Rechtsordnung stehen, weitere Berücksichtigung finden. Sie wählen jeweils bis zu vier (im ersten Verfahren zwei) Bewerbungen zur Weiterleitung an das Sekretariat der KMK aus. Von dort geht die gesamte Vorschlagsliste der bis zu 64 Bewerbungen an die Deutsche UNESCO-Kommission.

In Stufe drei des Verfahrens begutachten die, zunächst 16 (Pilotphase 2013/14), dann 21 (2015–2018), ad personam benannten Mitglieder des Expertenkomitees Immaterielles Kulturerbe der DUK (siehe näher dazu Abschnitt 6.2.4.) die bis zu 64 Dossiers pro Bewerbungsrunde. Im ersten Schritt übernimmt dies jedes Mitglied individuell und im zweiten Schritt formulieren die Experten auf einer gemeinsamen Sitzung jeweils Empfehlungen zur Aufnahme oder Nicht-Aufnahme der Kulturformen ins Bundesweite Verzeichnis. Leitend sind hierbei die Kriterien der UNESCO-Konvention sowie zusätzlich spezifisch daraus abgeleitete Grundsätze, die, von der Praxis im österreichischen Fachbeirat inspiriert, auf den deutschen Kontext der Umsetzung der Konvention heruntergebrochen und in einem internen Papier des Expertenkomitees festgehalten sind.

Die Auswahlempfehlungen erfahren von der Kultusministerkonferenz der Länder in der vierten Stufe des Verfahrens im Benehmen mit der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien eine offizielle staatliche Bestätigung. Dadurch erfolgt die offizielle Aufnahme von Kulturformen und Gute Praxis-Beispielen ins Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes. Sie werden dann auf der Webseite der Deutschen UNESCO-Kommission als Verzeichniseinträge mit Text und Bildern sowie ggf. Audio-/Videoaufnahmen gleichberechtigt nebeneinander dargestellt.

Nach den Expertenvoten, die zum Teil auf der zweiten, vor allem aber auf der dritten Verfahrensstufe Wirkung entfalten, kommt im letzten Schritt die Steuerungs- und Entscheidungsbefugnis von Bund und Ländern wie bereits auf der zweiten Stufe wieder zum Tragen (siehe Abschnitt 6.3.2.5.). Trotzdem ist das Verfahren im Feld der Kulturpolitik insgesamt ein vergleichsweise stark beteiligungsorientiertes Bottom-up-Verfahren. Die Inventarisierung erfolge nicht als „Auswahl solcher Dinge von oben runter aus dem Ministerium […], sondern das ist ein Teil, sagen wir mal, der Demokratisierung in Deutschland, auch in der Weise, wie das gehandhabt wird. Und damit der Ermächtigung der Zivilgesellschaft“ (E1, Interview am 15.10.2018), so Christoph Wulf in Abgrenzung vom damaligen französischen Verfahren (siehe Abschnitt 4.4.2.4.). Vorschläge für Immaterielles Kulturerbe kommen weder von den staatlichen Stellen noch von den beteiligten Experten. Nur die Trägergruppen selbst können Vorschläge einreichen. Aus staatlicher Sicht dient das mehrstufige Verfahren zum einen der ihren verfassungsgemäßen Rollen angemessenen Beteiligung der Stellen in Bund und Ländern und zum anderen war das Interesse an genau dessen Einführung, das lange als bedrohlich wahrgenommene Missbrauchspotenzial des Immateriellen Kulturerbes zu reduzieren und die Qualität der Arbeit zu sichern. Dies sollte zum einen über eine bundesweite Einheitlichkeit erreicht werden und zum anderen über die Filter- bzw. Selektionsstufen mit Experteneinschätzungen. Insbesondere BKM war bereits frühzeitig wichtig, dass es ein klares Selektionsverfahren zur Qualitätssicherung gibt. (vgl. Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 1) Susanne Bieler-Seelhoff, die als Vertreterin der Länder an der Politikformulierung zur Verzeichniserstellung beteiligt war, würdigt die gefundene Lösung folgendermaßen:

„Ich bin der Meinung, dass das Verfahren, was wir gemeinschaftlich erarbeitet haben in der KMK, also unter den Ländern, […] ein einmaliges ist. Weil es ja tatsächlich erstmals gelungen ist, die Formalia über alle Länder zu legen und dieses gestufte Bewerbungsverfahren, die Interpretation der Konvention, die reinen Dokumente, die man braucht und so weiter, zu einigen und tatsächlich auf einen Nenner zu bringen. Und das hat, glaube ich, geholfen, dieses Thema zu betrachten und auch zu bearbeiten und zwar bei allen Beteiligten: bei der Zivilgesellschaft vielleicht am Anfang noch etwas schwieriger als bei uns [den staatlichen Akteuren, d. Verf.], aber auch dort haben wir Übersetzungsmöglichkeiten geschaffen, Hilfemöglichkeiten, Brückenbauer, um das vielleicht immer noch für Außenstehende sperrige Anmeldeverfahren doch mehr und mehr den zivilgesellschaftlichen Gruppen nicht nur schmackhaft zu machen, sondern ihnen auch Hilfestellung zu geben, sich daran zu beteiligen.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Die Modelle der Umsetzung der Konvention in europäischen Nachbarländern standen, wie bereits erwähnt, in mehreren Aspekten Pate für das deutsche Stufenverfahren (siehe ausführlicher Abschnitt 6.4.1.). Man kann das Verfahren insgesamt mit gewissem Recht als sehr bürokratisch und schwer zu durchdringen bewerten, wie es insbesondere einige Wissenschaftler nicht nur hinter vorgehaltener Hand tun, und die dadurch implizit aufgestellten Hürden für potenzielle Trägergruppen von anerkennungswürdigen Kulturformen kritisieren – oder gar postulieren, dass die nationale Umsetzung bei der Inventarisierung die Ziele der Konvention aus dem Blick verloren habe (vgl. Schönberger 2017: 1 ff.). Die Kritik, dass die Form der Inventarisierung stark an den „Autonomieinteressen der Bundesländer orientiert [ist], indem sie Restriktionen der Anzahl an Listungen an der politischen Größe der Ländergrenzen orientiert, ohne einen Bezug zur von der Konvention eigentlich in den Blick genommenen soziokulturellen Größe der Gemeinschaften innerhalb eines Hoheitsgebietes herzustellen“ (Lenski 2014: 102) hat ihre Berechtigung, doch muss in Rechnung gestellt werden, dass hier eine Lösung für eine typische politische Mehrebenenproblematik (siehe Abschnitt 5.1.4.) gefunden werden und dies zudem mit dem Anspruch eines partizipativen Verfahrens, das zugleich vor Missbrauch geschützt werden sollte, in Einklang gebracht werden musste.

6.2.2.3 Interessen und kulturpolitische Strategien der Akteure

Das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes ist als Bestandsaufnahme der in Deutschland verbreiteten Formen Immateriellen Kulturerbes konzipiert. Ausgehend von den Vorarbeiten der DUK und der Machbarkeitsstudie (Albert/Disko 2011) wurde in der Politikformulierungsphase entsprechend der Lesarten Bestandsaufnahme und Sensibilisierung für die Breite des Immateriellen Kulturerbes, um dem Wettbewerbsgedanken jede Spitze zu nehmen, bewusst keine Höchstzahl von Einträgen festgelegt, die insgesamt in das Verzeichnis aufgenommen werden kann – dies sei in Replik auf die Kritik von Sophie Lenski (2014) noch angemerkt (s. o.). Eine faktische Begrenzung pro Bewerbungsrunde ergibt sich jedoch aus den Quoten, auf die sich die Länder verständigt bzw. auf die sie sich auch mit dem Expertenkomitee der DUK, das diese in ehrenamtlicher Arbeit evaluiert, geeinigt haben.

In einem Arbeitspapier der DUK von 2012 wird von dem Ziel einer Dokumentation der Tradierungs- und Organisationsformen hierzulande sowie des Spektrums der Vielfalt gesprochen (vgl. Dok. 18: DUK-Arbeitspapier 2012: 2). Eine solche eher neutrale Auffassung der Inventarisierung mit Anklängen an den Wunsch, eine gewisse Begeisterung für die Bedeutung Immateriellen Kulturerbes zu entfachen, ergibt sich nicht nur logisch aus der genauen Textexegese der Konvention, sondern war für die Experten, die die DUK mit dem Thema befasste, offenbar aus voller Überzeugung handlungsleitende Maxime der Arbeit mit dem Immateriellen Kulturerbe. Das bedeutet, dass eine Auszeichnung oder Würdigung des Engagements konkreter Trägergruppen von dieser Seite zumindest zunächst nicht vorrangig als Ziel der Konventionsumsetzung benannt wurde. Mit zunehmender Kenntnis, welche Vorschläge ihnen zur Bewertung vorgelegt wurden, und den entsprechenden reflektierenden Debatten im Expertengremium, rückte bei den von der DUK berufenen Experten aber die Würdigung ehrenamtlichen zivilgesellschaftlichen Engagements für die Kulturerbepflege als Motiv der Inventarisierung nahezu gleichberechtigt neben die reine Bestandsaufnahme. Ein wichtiges Interesse der staatlichen Stellen war es durch das vereinbarte Vorschlags- und Entscheidungsverfahren über Einträge ins Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes, neben den fein austarierten Governance- und Glaubwürdigkeits- bzw. Qualitätsfragen, weitgehend auszuschließen, dass die Entscheidung über Eintragungen und Nominierungen von wirtschaftlichen und/oder politischen Interessen dominiert werden. Da die inhaltlichen Entscheidungen bei den Experten liegen, war die Hoffnung, dass sich die Regierungen und Verwaltungen dem Druck von Lobbyisten weitgehend entziehen können. (vgl. Albert/Disko 2011: 33) Den von der DUK involvierten Experten lag die Anerkennung ehrenamtlichen Tuns tatsächlich viel mehr am Herzen. Christoph Wulf formuliert stellvertretend:

„Ich glaube, […] dass die Anerkennung ein ganz wichtiger Punkt ist. Denn wir haben ja heute oft die Klage, dass Menschen nicht genügend anerkannt werden aufgrund ihrer Arbeit, aufgrund ihres Engagements […]. Und dieser ganze Bereich ist ja ehrenamtlich. Da kommen natürlich auch manchmal gewisse ökonomische Interessen mit hinein, das ist klar, aber die sind nicht im Vordergrund. Sondern es geht hier wirklich um ehrenamtliche Aktivitäten in sehr vielen Bereichen.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Eine Argumentation, die diese Würdigung von ehrenamtlichen Kulturakteuren in den Kontext der Erhöhung kultureller Teilhabe stellt, war allerdings von der DUK nicht zu vernehmen.

Den engagierten zivilgesellschaftlichen Verbänden, wie etwa dem Bund Heimat und Umwelt, ging es darum, „das Bewusstsein für die Bedeutung dieses besonderen Kulturerbes in der Bevölkerung zu stärken“ (Dok. 11: BHU-Resolution vom 03.07.2011), da es leichter vergessen und verloren gehen könne. Der ZDH argumentierte mit Fokus auf das Handwerk ähnlich. Hier dominiert also die Sichtweise, dass eine Inventarisierung für die Rolle des Immateriellen Kulturerbes in unserer Gesellschaft sensibilisieren kann. Selbstverständlich hatten beide Verbände aber auch eine Auszeichnung von Trägergruppen aus ihrem Dunstkreis im Sinn. Ähnlich war es bei der deutschen Sektion der CIOFF, die sich zwar zum einen im Allgemeinen für die Popularisierung der UNESCO-Konvention stark machte, aber zum anderen auch die Würdigung von als besonders wertvoll angesehenen Kulturformen aus ihrem Umfeld fördern wollte.

Bei den staatlichen Stellen war die Neigung von einer Auszeichnung oder Anerkennung zu sprechen – wahrscheinlich aus Gewohnheit im Umgang mit dem materiellen UNESCO-Welterbe, und weniger als tatsächliche politische Strategie angelegt (vgl. B, Interview am 05.11.2018) –, von Anfang an deutlich stärker als bei der DUK und in der Zivilgesellschaft. Die Verantwortlichen der DUK wiederholten dieser Auffassung gegenüber mehrfach, dass es sich bei der Inventarisierung nicht um einen Wettbewerb handeln sollte (vgl. u. a. Dok. 18: DUK-Arbeitspapier 2012: 2), aber angesichts der festgelegten Quoten wurde dies bisweilen auch von außen immer wieder unterstellt (vgl. z. B. Letzner 2013: 62). Christoph Wulf meint besonders mit Blick auf die Länder sowie die Trägergruppen:

„Viele haben natürlich ein Interesse an der Sichtbarkeit ihrer Lokalität, ihrer Region oder ihrer kulturellen Praxis. […] Und das ist ja auch Sinn der Konvention, dass man das anerkennt […]. Das Interesse ist eben symbolisches Kapital. Man will anerkannt werden für das, was man tut. Und man möchte möglichst sozusagen etwas geadelt werden durch den Namen UNESCO. Das ist eine moderne Form der Sakralisierung, völlig klar. Aber das ist etwas, was notwendig in allen Gesellschaften vorhanden ist und auch ohne was Gesellschaft gar nicht funktionieren würde.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Gertraud Koch mutmaßt bezüglich der Ziele der politischen Akteure:

„Das war vielleicht so eine Nolens-volens-Entwicklung, die man eingegangen ist, und ja auch relativ zögerlich dann überlegt hat: ‚Wie kann man es machen?‘ mit der Komplexität, die wir ja über das föderale System haben. Und dann [kam] aber letztendlich, glaube ich, auch relativ schnell doch die Einsicht, wie wichtig die [Konvention] ist und was für Gestaltungsmöglichkeiten kulturpolitischer Art darüber auch erwachsen.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Dass anfangs keine kulturpolitische Gestaltung im Blick der handelnden Akteure vorhanden war, bestätigt Birgitta Ringbeck:

„Also ich sage jetzt einmal, in der KMK, von denen, die die Länder vertreten haben, hat keiner das konzeptionell mitgedacht. Die haben gesagt: ‚Machen wir mal und dann gucken wir mal.‘ Also da steht auch keine kulturpolitische Strategie dahinter, sondern es war wirklich vorrangig aus der internationalen Perspektive. Und dann hat sich das hier entwickelt.“ (B, Interview am 05.11.2018)

Ringbeck selbst hatte als Verantwortliche im AA eine grundlegende Bestandsaufnahme im Sinn. Dies kommt auch in der Pressemitteilung von Staatsministerin Cornelia Pieper, mit der die Hinterlegung der Beitrittsurkunde in Paris im April 2013 verkündet wurde, zum Ausdruck, denn, neben der Wertschätzung, den man nun dem Immateriellen Kulturerbe weltweit entgegenbringe, hieß es dort:

„Auch in Deutschland gibt es viele regionale Traditionen. Von der kulturellen Vielfalt zeugen nicht nur Denkmäler und archäologische Stätten. Tanz, Theater und Sprachen prägen die kulturelle Identität der Menschen noch weitaus stärker. Gruppen und Vereine sind wichtige Partner bei der Umsetzung des Übereinkommens. ‚Sie sollen‘, so Staatsministerin Pieper, ‚auf nationaler Ebene bei der Inventarisierung, Bestandsaufnahme und Dokumentation des immateriellen Kulturerbes und bei der Revitalisierung von in ihrem Bestand gefährdeten kulturellen Ausdrucksformen mitwirken.‘“ (Dok. 23: Pressemitteilung des Auswärtigen Amts, 11.04.2013)

Ländervertreterin Susanne Bieler-Seelhoff erinnert die Lage im Jahr 2012 wie folgt:

„Es stand auf der Agenda und die Bundesregierung hatte sich verständigt, wie ein Beitrittsverfahren zu regeln sei. Also welche Rechtstermini man dort beachten musste und letztlich auch die Mittel, die man braucht, um dieser Konvention beizutreten. Und hat den Spielball dann in das Spielfeld der Länder gegeben, [sie] haben gesagt: ‚Aber ihr müsst es ausfüllen.‘ Und dann haben wir tatsächlich in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe des Auswärtigen Amtes mit den Ländern überlegt, wie wir ein Verfahren hinkriegen, das a) den Staat entlastet und zwar auf allen Ebenen, b) aber ein Qualitäts-Controlling sicherstellen kann. Und sind, auch das ist, glaube ich, doch ein relativ einmaliges Verfahren damals gewesen, auf die Idee gekommen, ein Expertenkomitee einzusetzen, was, zunächst war gedacht, abschließend entscheidet. Dagegen sprachen dann aber juristische Bedenken des Auswärtigen Amts und des Innenministeriums, weil tatsächlich die Entscheidung bei den staatlichen Stellen liegen muss. […] Und, ich glaube, als wir dieses Verfahren ausgearbeitet hatten inklusive aller Vorgänge, Anmeldeverfahren und letztlich auch einer zuständigen Stelle bei der Deutschen UNESCO-Kommission, die wir zusammen mit der Bundesregierung dann eingeworben und ausgehandelt hatten, war der Weg eigentlich frei tatsächlich dieser Konvention beizutreten und sie mit Leben zu füllen.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Wohl nicht ohne Grund kommt in dieser Gesamtbetrachtung ein Hinweis auf kulturpolitische Ambitionen im Zusammenhang mit dem Beitritt nicht vor. Keiner der an den damaligen Prozessen der Politikformulierung beteiligten Befragten erinnert sich an oder hat rückblickend ein geschlossenes kulturpolitisches Konzept oder gar eine bewusste Form der Kulturförderung von unterrepräsentierten Gruppen erkannt, das bzw. die man mit dem deutschen Beitritt verband. Es war – wie bereits gezeigt (siehe Abschnitt 6.1.2./6.3.) – eher der Druck aus einigen politisch gut vernetzten Verbänden, der über den Deutschen Bundestag für Nachdruck in Richtung Beitritt sorgte und zudem der Wunsch, nicht als letzter europäischer Staat der Konvention beizutreten, als dass politische Akteure eine Strategie entwarfen, warum man der Konvention beitreten sollte. Nur Vertreter des BKM äußerten im April 2011 – allerdings im Kontext der mit der Umsetzung verbundenen befürchteten Kosten –, dass

„die Erwartungshaltung für staatliche Förderung seitens der Bewerber minimiert bzw. sogar umgekehrt werden [sollte]: Die Aufnahme in die Inventarliste wäre damit nicht Grundlage für Forderungen an den Staat, sondern vielmehr Auszeichnung für besonderes Engagement zur Bewahrung und Verbreitung eines immateriellen Kulturguts seitens der Bewerber“ (Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 1).

Auch wenn davon auszugehen ist, dass es sich hierbei vordergründig um ein Abwehrargument gegen potenzielle Förderanfragen finanzieller Art handelte, werden hiermit doch zumindest gewisse Grundzüge einer kulturpolitischen Konzeption der staatlichen Akteure, die mit der Umsetzung der Konvention in Deutschland verfolgt werden könnten, erkennbar. Auch die meisten Repräsentanten der Länder sind ab ihrer Befassung mit der nationalen Umsetzung der Konvention von Auszeichnungen bzw. qualitativen Anerkennungen der Kulturformen ausgegangen, die mit der Aufnahme ins Bundesweite Verzeichnis erfolgen. Es gab dazu in den Länderrunden 2013 teils Kontroversen, da einige Ländervertreter die Rechts- und Finanzfolgen von ‚Anträgen auf Anerkennung‘ fürchteten, weswegen in den offiziellen Unterlagen denn auch stets von „Bewerbungen zur Aufnahme ins Verzeichnis“ die Rede war. Wegen der skeptischen Stimmung gerade in den Medien habe man allerdings unbedingt ein qualitativ gutes Auswahlverfahren mit qualitativen Leitlinien und einem klaren Kriterienkatalog aufstellen wollen (vgl. L, Interview am 15.11.2018). Auch diese Absicht mag die Waagschale zunehmend von einer reinen Bestandsaufnahme ohne qualitative Wertung in Richtung einer aktiven, positiven Würdigung der Kulturformen und ihrer Trägergruppen ausschlagen lassen haben. Die Perspektive der Inventarisierung als reine Bestandsaufnahme, wie sie die DUK zunächst verfolgte, konnte sich im Kreis der Länder und bei den verantwortlichen Stellen im Bund langfristig kaum durchsetzen. Die Wahrnehmung als ein Prozess der Auszeichnung und öffentlichen Würdigung von besonders qualifizierten Kulturformen dominierte zusehends. Dem verweigerte sich die DUK im Laufe der Umsetzung dann immer weniger – die Geschäftsstelle bezeichnete die Veranstaltung anlässlich der Erstaufnahmen ins Verzeichnis im März 2015 etwa bereits als Auszeichnungsveranstaltung, was man wiederum aus Österreich adaptiert hatte. Wie es im Bereich Kulturelles Erbe üblich ist, bezog und bezieht sich diese Auszeichnung und Anerkennung aus staatlicher Perspektive stärker auf die Kulturformen an sich als auf deren Trägergruppen. Man könnte also, etwas zugespitzt, von einer „Kulturförderung en passant“ ohne bewusste dahinterstehende Absicht sprechen, was die Kulturakteure angeht.

Eine der leitenden Fragen der vorliegenden Untersuchung ist, ob die Zielsetzung, Teilhabe an Kunst und Kultur zu ermöglichen als prägendes Ziel von Kulturpolitik in Deutschland spätestens mit der „Neuen Kulturpolitik“ seit den 1970er Jahren (siehe Abschnitt 3.2.3.), auch eine Rolle spielte bzw. mit eine Überlegung der handelnden Akteure war, die Konvention zum Immateriellen Kulturerbe in Deutschland umzusetzen: „Ich glaube, dass das erst mal eine Bedingung ist dafür, dass die Sache funktioniert. Und gleichzeitig wird natürlich diese Haltung der Partizipation der Zivilgesellschaft, die Verantwortung übernimmt, auch gestärkt durch diese Möglichkeiten“ (E1, Interview am 15.10.2018) der Anerkennung im Rahmen der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention, meint Christoph Wulf. Dies klingt allerdings nicht so, als wenn diese Absicht aktiv mit der Konventionsumsetzung verfolgt wurde. Gertraud Koch sieht rückblickend eine synthetische Verbindung, die das Immaterielle Kulturerbe schaffe:

„Also ich glaube, da sind unterschiedliche Bewegungsrichtungen drin. Dieses ‚Kultur für alle‘, Hilmar Hoffmann hat das ja sehr propagiert und wurde dann auch sehr viel aufgegriffen, und auch diese ganze Heimatmuseumsbewegung würde ich in den Zusammenhang einordnen. Das waren auch kulturpolitische Ansätze, aber die sehr viel stärker regional, lokal orientiert waren. Das Immaterielle Kulturerbe bringt jetzt die verschiedenen Ebenen tatsächlich zusammen. Immaterielles Kulturerbe ist immer noch lokal, hat da seine Bedeutung für die Menschen. Aber die Bedeutung wird jetzt eben doch noch mal stärker auf unterschiedlichen Ebenen auch thematisiert und wahrgenommen. Insofern das würde ich als einen ganz großen Unterschied auch ansehen. ‚Kultur für alle‘ hat auch so ein bisschen mehr Förderpolitiken im Blick gehabt, wo man heute diskutiert, inwieweit die tatsächlich auch produktiv waren oder ob man nicht so einen Klientelismus und so ein Gießkannenprinzip etabliert hat.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Susanne Bieler-Seelhoff, Abteilungsleiterin Kultur in der Landesregierung Schleswig-Holstein, präzisiert die Unterschiede noch einmal:

„Da würde man jetzt auch Äpfel mit Birnen vergleichen, weil das war nicht ‚Kulturpolitik für alle‘, sondern ‚Kultur für alle‘. Und da ging es ja um einen niedrigschwelligen und möglichst barrierefreien, in allen Punkten barrierefreien, Zugang. Ich meine das jetzt gar nicht auf die Behindertenrechtskonventionen [bezogen], sondern tatsächlich eine bezahlbare Kultur, eine, die niedrigschwellige Angebote machte. Das war die Entstehungszeit der Soziokultur, die Generationen zusammenbrachte und verschiedene Künstler hervorbrachte.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Zweifelsohne belebte die Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes aber die Debatte um den Kulturbegriff, der in Deutschland Verwendung findet, neu. „Kultur für alle“ als Chiffre der Neuen Kulturpolitik steht für einen erweiterten Kulturbegriff, aber, wie Susanne Bieler-Seelhoff korrekt anführt, ging es in diesem Zuge vor allem um die Ausweitung von Kulturangeboten. Es handelte sich damit um eine angebotsorientierte Ausweitung von kulturpolitischen Maßnahmen – nach von Beyme (1998) also eine (re-)distributive Strategie von Kulturpolitik. Mit dem Immateriellen Kulturerbe ist ebenfalls ein erweiterter Kulturbegriff, im Sinne der Definition der UNESCO-Konferenz in Mexiko-Stadt 1982, verbunden. Hierbei geht es in der praktischen Umsetzung des Konzepts allerdings viel mehr um die Ausweitung kulturpolitischer Würdigung eines bereits vorhandenen, tradierten, jedoch bisher zumindest in Deutschland wenig beachteten Zweigs von Kulturpraxis, also letztlich die Schaffung eines öffentlichen Diskurses – nach Wimmer (2011) ein weiteres Mittel von Kulturpolitik –, und die Würdigung einer größeren Zahl von Akteuren als Kulturakteure, die dies zum Teil eingefordert hatten. Man kann diesen kulturpolitischen Ansatz daher auch als nachfrageorientierten Ausbau einer kulturpolitischen Anerkennung bezeichnen.

Jörg Freese, der Vertreter der Kommunalen Spitzenverbände im Expertenkomitee der DUK, meint ebenfalls, die Konvention trage dazu bei, die Teilhabe an Kunst und Kultur zu fördern,

„weil das ja im besten Sinne Volkskultur ist. Also jetzt nicht in so einem dumpfen Sinne, sondern […] da geht es wirklich um breites Interesse. […] Chorgesang war auch in vielfältigsten Formen [im Bundesweiten Verzeichnis] drin. Und ich glaube, da haben wir ja nun wirklich eine Vielfalt und Breite, das ist ja unglaublich. […] Und das sind nun wirklich ganz normale Menschen, die normalerweise ihrem Beruf nachgehen und die abends einmal die Woche oder dreimal die Woche singen. Also, das ist für mich […] eine wichtige Form, gar keine Frage. Eine wichtige Form auch der, ja, auch ein Stück weit Anerkennung und auch der Sicherung dieser Traditionen.“ (K, Interview am 01.11.2018)

Birgitta Ringbeck macht für das Auswärtige Amt deutlich, dass ihrer Einschätzung nach die Teilhabefrage keine Rolle in den Überlegungen zur Umsetzung der Konvention in Deutschland gespielt habe: „Nein, überhaupt nicht. […] Also wir vom Auswärtigen Amt und ich hatten einfach nur die internationale Perspektive. Ich glaube, keiner hat so richtig geahnt, was dabei rauskommt.“ (B, Interview am 05.11.2018) Zumindest war noch im Zuge der Politikformulierung vielen Beteiligten offenbar kaum bewusst, welche Chancen und Möglichkeiten die Umsetzung der Konvention im Sinne einer Weiterentwicklung des Konzepts „Kultur für alle“ durch das Immaterielle Kulturerbe böte. Christian Höppner, Generalsekretär des Deutschen Musikrats und von 2013 bis 2019 Präsident des Deutschen Kulturrats, meint etwa:

„Aber diese Verbindungslinie, die ist eigentlich fast sehr schlüssig, finde ich. [Aber es] fehlt im Grunde genommen, diese Zusammenhänge herzustellen. Das wäre auch eine Aufgabe von Zivilgesellschaft und Politik. Das stimmt. Es ist zu sehr die Fokussierung auf den Augenblick. Manchmal wird noch ein Rückbezug gefunden, aber meist dann auch nur punktuell. […] Es ist ja nicht so, dass es vorher keine Kulturpolitik gab.“ (V, Interview am 06.11.2018)

Höppner sieht retrospektiv also eine konsequente Verbindung von Teilhabefragen und der Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes in Deutschland, zumindest dürfte die genaue Art und Weise der Inventarisierung – die Sammlung von Vorschlägen aus der Zivilgesellschaft in einem klassischen Bottom-up-Verfahren – von den Entwicklungen der Neuen Kulturpolitik inspiriert gewesen sein.

6.2.3 Einrichtung einer Fachstelle: Die Geschäftsstelle Immaterielles Kulturerbe der Deutschen UNESCO-Kommission

Mit der Einrichtung der Geschäftsstelle Immaterielles Kulturerbe bei der Deutschen UNESCO-Kommission erfüllt Deutschland Art. 13 b der Konvention – die Benennung einer Fachstelle zum Immateriellen Kulturerbe. Es wäre auch möglich gewesen, mehrere solcher Fachstellen zu benennen und dies hätte nicht zwingend mit nennenswerten Kosten verbunden sein müssen, wenn man dafür bereits bestehende Institutionen benannt oder diese im staatlichen Raum verortet hätte. Dann hätte man ein nationales Verzeichnis auch direkt durch die KMK bzw. eines ihrer Gremien erstellen lassen können, ganz ähnlich wie es mit der Tentativliste der Welterbe-Konvention geschieht. Allerdings sahen die verantwortlichen staatlichen Akteure die Notwendigkeit ein „übergreifendes Verständnis von und Interesse für das Übereinkommen-IKE“ (Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 2) zu schaffen. Zudem hätte es bei einer Erstellung des Verzeichnisses durch die KMK, wie eben beim Welterbe, keine nennenswerten Mitwirkungsmöglichkeiten der Bundesressorts am innerstaatlichen Verfahren gegeben – dies war also nicht im Interesse von BKM und AA. Eine Geschäftsstelle bei der DUK wiederum war weder beim Bund noch bei den Ländern – also gewissermaßen auf neutralem Grund – angesiedelt und konnte zudem die gewünschte zivilgesellschaftliche Expertise strukturiert und relativ problemlos einbinden, wie die DUK in anderen Themenfeldern, z. B. Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) oder Memory of the World (MoW), bewiesen hatte. Als Vorteil sahen die staatlichen Stellen zudem, dass bei der DUK zum einen auf Strukturen der Öffentlichkeitsarbeit wie der Webseite unesco.de und Fachexpertise sowohl zu MoW wie auch zum Welterbe aufgebaut werden konnte und zum anderen der internationale Austausch gut möglich wäre. (vgl. Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 2 f.)

Die Aufgaben der ab 2012 operativ tätigen Geschäftsstelle haben Albert/Disko bereits in ihrer 2011 erschienenen Machbarkeitsstudie weitgehend vorgezeichnet: Neben der Koordination der gesamten Umsetzung der Konvention in Deutschland und als

„Bindeglied zwischen der UNESCO, anderen Vertragsstaaten und den deutschen Bundesländern […] sollte sie als nationale Kontaktstelle für Träger immateriellen Kulturerbes, Fachinstitutionen und die Zivilgesellschaft dienen und als Plattform für den interdisziplinären Dialog. [… Zudem] könnte eine solche Institution [...] eine Hauptrolle bei der Zusammenstellung bzw. Führung der nationalen Liste spielen.“ Auch eine „zentrale Rolle bei der Auswahl von deutschen Nominierungen für die internationalen Listen“ (Albert/Disko 2011: 17)

wurde ihr zugedacht. Für die konkrete Ausgestaltung einer zuständigen Stelle zur institutionellen Ausgestaltung der Umsetzung der Konvention in Deutschland wurden in der Machbarkeitsstudie von 2011 (vgl. Albert/Disko 2011: 17–23) zwei Optionen der Kombination aus Expertengremium und Fachstelle vorgeschlagen: Zum einen war das eine Orientierung an der Geschäftsstelle des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz als „ebenenübergreifender, multidisziplinärer Interessensverband […], dem Vertreter des Bundes und der Länder, Vertreter gesellschaftlich relevanter Gruppen sowie Experten und Expertinnen angehören“ (Albert/Disko 2011: 20). Zum anderen war es die Orientierung am Deutschen Nominierungskomitee für das UNESCO-Programm „Memory of the World“ (MoW) der DUK mit weniger umfassenden Aufgaben als bei Option 1, also im Grunde sehr fokussiert auf die Behandlung von Nominierungen. Die DUK sollte in dieser Konstellation neben der Sekretariatsfunktion für die Aufgaben Öffentlichkeitsarbeit, Entwicklung von Kommunikationsstrategien, Koordination, Beratung, die Funktion als nationale Kontaktstelle, Berichterstattung usw. erfüllen. Man hat sich, nachdem die Länder bereits unmittelbar nach Fertigstellung der Machbarkeitsstudie dafür plädiert hatten (vgl. Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 1), für die zweite Option entschieden und eine sehr schlanke Geschäftsstelle mit einer Personalstelle bei der DUK eingerichtet. Die DUK sollte zudem ein Expertenkomitee Immaterielles Kulturerbe berufen, das wie das Nominierungskomitee MoW als beratender Ausschuss fungiert (siehe Abschnitt 6.2.4.). Bei der Gestaltung der Aufgaben der Geschäftsstelle hat man sich stark am Beispiel der Nationalagentur für das Immaterielle Kulturerbe bei der Österreichischen UNESCO-Kommission und ihrer Zusammenarbeit mit dem für die Bewertung von Bewerbungen zuständigen Fachbeirat orientiert. (vgl. Albert/Disko 2011: 24)

Die Geschäftsstelle bei der DUK hat vier Aufgaben: Informations- und Öffentlichkeitsarbeit zum Immateriellen Kulturerbe betreiben inklusive der Beratung von Bewerbergruppen, die Koordinierung des innerstaatlichen Auswahlverfahrens für das Bundesweite Verzeichnis und für UNESCO-Listen, die fortlaufende Erstellung, Aktualisierung und Bekanntmachung des Bundesweiten Verzeichnisses des Immateriellen Kulturerbes sowie die Einrichtung und Koordinierung eines Expertenkomitees. Diese Aufgaben waren, wie bereits angedeutet, als Substrat aus der Machbarkeitsstudie und den nachgehenden Abstimmungen zwischen Bund und Ländern festgelegt worden (vgl. Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 2).

Die Förderung der Geschäftsstelle wurde der DUK erstmals für das Jahr 2012, mit der Inaussichtstellung einer Pilotphase von zwei Jahren (vgl. Dok. 19: Ergebnisvermerk zu den Bund-Länder-Absprachen vom 29.10.2012: 4), in Höhe von 100.000 Euro für Personal- und Sachkosten als Projektzuwendung gewährt. Die Zuwendungshöhe ergab sich auf Basis einer Schätzung des AA (vgl. Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 2), die wiederum vermutlich aus der Summe, die die Nationalagentur für das Immaterielle Kulturerbe in Österreich nach Auskunft der dortigen Verantwortlichen für ihre Arbeit erhielt, herrührte. Die Finanzierung erfolgt also ausschließlich aus dem Bundeshaushalt. Unstrittig war zwar, dass die innerdeutsche Umsetzung dem Bund und den Ländern gemeinsam obliegt. Die in der Machbarkeitsstudie vorgeschlagene Lösung, dass die „Kosten [… für die Geschäftsstelle] zur Hälfte vom Bund, zur anderen Hälfte von den Ländern getragen werden, wobei die Anteile der einzelnen Länder nach dem Königsteiner Schlüssel ermittelt werden könnten“ (Albert/Disko 2011: 24) wurde frühzeitig verworfen, weil die Länder auf ihre Verpflichtungen und finanzielle Belastungen in den Stufen 1 und 2 des Verfahrens (siehe Abschnitt 6.2.1.) verwiesen. Erinnert sei daran, dass die KMK-Ministerrunde im Dezember 2011 beschlossen hatte: „Eine Beteiligung der Länder an den Kosten der nationalen Koordinierungsstelle und am deutschen Mitgliedsbeitrag zum Übereinkommen wird aufgrund des eigenen administrativen Beitrags ausgeschlossen.“ (Dok. 13: KMK-Beschluss vom 08.12.2011: 2) Die Summe für die Geschäftsstelle wurde im BKM-Haushalt eingestellt. Dass man sich auf eine Zuständigkeit von BKM verständigte, ergab sich ebenfalls im Laufe der Bund-Länder-Beratungen. Das AA hat sich nach Aussage von damals Beteiligten nicht um die Zusatzaufgabe der Finanzierung der Geschäftsstelle gerissen. Aus der Logik von Zuwendungen des Bundes heraus wäre die Übernahme der Finanzierung aus dem AA-Haushalt zwar folgerichtig gewesen, da das Auswärtige Amt die Arbeit der DUK insgesamt institutionell fördert. Birgitta Ringbeck meint dazu allerdings: „Bei uns haben sie gesagt, das wollen wir nicht. Heute fragen mich alle, warum wir das nicht gemacht haben. Wir wollten keine 100.000 Euro abzwacken. Das wird, glaube ich, heute anders gesehen.“ (B, Interview am 05.11.2018) So kam es zu der Aufgabenteilung, dass das Auswärtige Amt den regelmäßigen Beitrag zum Fonds in seinem Haushalt einstellte und BKM die Finanzierung der Geschäftsstelle zur Koordination der Umsetzung im nationalen Rahmen übernahm.

Man startete mit der Einrichtung der Geschäftsstelle bei der DUK, personell ab Mai 2012 mit einem Referenten besetzt, und der ersten Berufung eines Expertenkomitees durch den DUK-Vorstand im Dezember 2012 die bereits in der Machbarkeitsstudie vorgeschlagene „Pilotphase“, die „dazu dienen [sollte], die Öffentlichkeit über den Zweck der Konvention und ihre Umsetzung in Deutschland mit dem Ziel zu informieren, ein positives Bild der Konvention zu schaffen sowie bestehenden Missverständnissen, Kritikpunkten und Bedenken entgegenzuwirken“ (Albert/Disko 2011: 30). Die Geschäftsstelle erarbeitete im Jahr 2012 parallel zur finalen Politikformulierung von Bund und Ländern in enger Konsultation mit den Ländern neben den genauen Details des einheitlichen Bewerbungsformulars ein Merkblatt zum Ausfüllen der Formulare, das die aus der Konvention operationalisierten Kriterien für die Aufnahme enthält, sowie ein Hinweisblatt für die Verfasser von Empfehlungsschreiben – auch diese Hilfestellungen waren von der österreichischen Praxis inspiriert (siehe Abschnitt 6.4.1.). Die DUK stärkte in dieser Phase, in der sie bereits eine Geschäftsstelle einrichten konnte, Deutschland der Konvention aber noch nicht beigetreten war, zudem ihre Expertenkompetenz. Sie bat im Frühjahr 2012 verschiedene Fachleute, die entweder bereits an der Fachtagung im Februar 2006 in Bonn beteiligt waren oder im weiteren Verlauf Beiträge zur Entwicklung des Verständnisses für Immaterielles Kulturerbe in Deutschland geleistet hatten, u. a. „Qualitätskriterien für ein lebendiges, modernes, kritisches, pfiffiges Umgehen mit diesem Thema (‚auf der Höhe der Zeit und der heutigen Kommunikationskulturen‘)“ zu formulieren und „Zielvorstellungen der ersten fünf Jahre einer erfolgreichen Implementierung in und durch Deutschland“ (Dok. 15: Konzeption Interner Beratungsworkshop am 14.03.2012) zu entwickeln. Ergebnis einer Konsultation am 14. März 2012 in Bonn war das programmatische Arbeitspapier „Das lebendige Kulturerbe kennenlernen und wertschätzen!“ (Dok. 18), das die Arbeit der Deutschen UNESCO-Kommission und seines Expertenkomitees in den Folgejahren leiten sollte. Wie man auch in der Auswärtigen Kulturpolitik seit geraumer Zeit nicht mehr von „deutscher Kultur“, sondern von „Kultur aus Deutschland“ sprach (vgl. von Beyme 2010: 274), so legten die an der Verfassung des Arbeitspapiers beteiligten Experten, später fast alle auch Mitglieder des Expertenkomitees der DUK, früh fest, dass man sich nicht auf die Suche nach „deutschem Immateriellen Kulturerbe“, sondern nach „Immateriellem Kulturerbe in und aus Deutschland“ machen solle:

„Es handelt sich also nicht um eine Bestandsaufnahme des ‚deutschen Erbes‘ im ethnischen Sinn, sondern vielmehr der kulturellen Traditionen in Deutschland insgesamt. Gesucht sind vielfältige, bunte, innovative Formen – durchaus auch solche, die überraschen und vor allem jene, die zur Bewältigung von gesellschaftlichen Herausforderungen beitragen können.“ (Dok. 28: Botschaften an potentielle Zielgruppen: 1).

Ganz ähnlich wie in einer Publikation des Schweizer Bundesamts für Kultur (2010: 10) formuliert, die darauf hinwies, dass lebendige Traditionen „aufgrund der Mobilität ihrer Träger sowie des elektronischen Informationsaustauschs nicht zwingend eine geographisch gebundene Kontinuität“ haben, und dass eine „lebendige Tradition einer Gruppe mit Migrationshintergrund […], sofern diese in der Schweiz seit mehreren Generationen belegt ist, in die [Liste der lebendigen Traditionen] aufgenommen“ werden kann, betonten die DUK und die von ihr identifizierten Experten wiederholt, dass das Verzeichnis „die gesellschaftliche Realität der in Deutschland lebenden Menschen […] und damit die Vielfalt und Bandbreite der von ihnen hier praktizierten kulturellen Ausdrucksformen“ (Dok. 28: Botschaften an potentielle Zielgruppen: 1) abbilden solle. Hier wurde also sehr bewusst ein progressives Kulturpraxen- und Kulturträgerverständnis propagiert, um vorbeugend der Gefahr entgegenzuwirken, dass die Pflege Immateriellen Kulturerbes in Deutschland zu rückwärtsgewandt gedacht wird. Die Schweiz mit einem ähnlich progressiven Vorgehen (siehe Abschnitt 4.4.2.2.) war hier in vielfacher Hinsicht Vorbild.

Die Expertenrunde, die das Arbeitspapier (Dok. 18) erdacht hatte, traf sich noch einmal am 17. Oktober 2012 in Berlin u. a. zur Vergabe von explorierenden Rechercheaufträgen zu international interessanten und tragfähigen Nominierungsvorschlägen aus Deutschland (siehe auch Abschnitt 6.3.1.3.). Bereits in der Machbarkeitsstudie waren „Screening-Studien“ (vgl. Albert/Disko 2011: 30) angedacht. In etwas fokussierterer Variante wurden von der DUK-Geschäftsstelle nun Stoffsammlungen und Systematisierungen von bereits existierenden Dokumentationen, wissenschaftlichen Arbeiten unter besonderer Berücksichtigung laufender Forschungsvorhaben und medialer Aufarbeitung von Themen Immateriellen Kulturerbes in Auftrag gegeben, um durch eine Analyse der Forschungslandschaft und der internationalen Umsetzungspraxis Erkenntnisse zu fachlichen Kriterien für das Bundesweite Verzeichnis und für den internationalen Einreichungsprozess für die UNESCO-Listen des Immateriellen Kulturerbes zu gewinnen. Die Themen der beiden Arbeiten waren zum einen „Explorierung relevanter Praxis und Dokumentation überzeugender Beispiele immaterieller kultureller Ausdrucksformen in und aus Deutschland“ und zum anderen „Systematische Sichtung der internationalen UNESCO-IKE-Listen mit Fokus auf Mehrländernominierungen / serielle Nominierungen und mögliche Anknüpfungspunkte für Deutschland“. Beide Recherche-Arbeiten hatten eine Materialsammlung zum Ergebnis, welche die aktuelle Forschung und mediale Aufarbeitung des Immateriellen Kulturerbes zum damaligen Zeitpunkt gleichermaßen berücksichtigten.

Die Richtlinien zur Durchführung der Konvention, ein wichtiger normativer Text zur Umsetzung gerade auch im nationalen Rahmen, wurden in Kooperation mit dem Sprachendienst des Auswärtigen Amts zwischen August 2012 und Januar 2013 in amtlicher Form übersetzt und hernach zusammen mit dem Konventionstext von der DUK publiziert. In dieser Zeit erarbeitete die DUK für ihre eigene Kommunikation, aber auch für die nun immer intensivere Zusammenarbeit mit Experten ein Glossar zur Definition der wichtigsten Konventionsbegriffe bzw. der im Geiste der Konvention günstigsten deutschen Übersetzung. Dies sollte der Sicherung der sprachlichen Kohärenz und Qualität dienen und war letztlich eine Übersicht der empfohlenen deutschsprachigen Terminologie.

Die Geschäftsstelle erarbeitete zudem 2012 ein Kommunikationskonzept und veranstaltete ein Journalisten-Hintergrundgespräch mit der Vorsitzenden des Bundestags-Ausschusses für Kultur und Medien, Monika Grütters, und Christoph Wulf anlässlich der UNESCO-Komitee-Sitzung im November 2012 und des bevorstehenden deutschen Beitritts zur UNESCO-Konvention. Insbesondere die internationalen Einschreibungen hatten in den Vorjahren immer wieder für kritische bis negative Berichterstattung über das Immaterielle Kulturerbe gesorgt; dem sollte offensiv begegnet werden. Im Ergebnis standen fachlich korrekte und informative Berichte zu den Neueinschreibungen etwa im DeutschlandRadio (03., 06. und 07.12.2012) und auf 3sat (06.12.2012) sowie zum Kabinettsbeschluss des deutschen Beitritts zur Konvention auf Spiegel Online (12.12.2012), auf SWR2 (13.12.2012), in der FAZ (14.12.2012) und der WELT (13.12.2012) sowie in Folge einer dpa-Meldung (12.12.2012) in zahlreichen weiteren Medien.

6.2.4 Einrichtung eines Fachgremiums: Das Expertenkomitee bei der Deutschen UNESCO-Kommission

Die Einrichtung eines Fachgremiums zum Immateriellen Kulturerbe wird den Vertragsstaaten der UNESCO-Konvention von 2003 in Nummer 80 der Richtlinien zur Durchführung des Übereinkommens empfohlen. Danach soll ein beratendes Gremium oder ein Koordinierungsmechanismus eingerichtet werden, um die Beteiligung von Trägern des Immateriellen Kulturerbes, sowie von Experten, Fachzentren und Forschungseinrichtungen zu unterstützen, insbesondere bei der Ermittlung und Beschreibung von Elementen Immateriellen Kulturerbes, der Erstellung von Verzeichnissen, der Vorbereitung von Nominierungen für die internationalen Listen und der Erarbeitung und Umsetzung von Programmen und Projekten sicherzustellen. (vgl. Albert/Disko 2011: 17) Die Einrichtung eines unabhängigen Expertenkomitees geht auch auf die Machbarkeitsstudie der BTU Cottbus (Albert/Disko 2011) und die Diskussionen in den Ressortrunden mit den Ländern zurück. Zum Beispiel hieß es im Ergebnis eines Treffens von Vertretern von KMK, BKM und AA im April 2011, dass ein „unabhängiges Nominierungskomitee […] das notwendige Expertenwissen zur Ernennung der nationalen Einträge liefern“ und „eine Auswahl nach objektiven und sachlichen Kriterien“ (Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 1) sicherstellen kann. Aus dieser Passage liest man eine bewusste Abgrenzung gegen reine (Länder-)Proporzerwägungen ohne ausreichende bzw. einheitliche Qualitätsprüfung bei der Inventarisierung. Das Expertenkomitee ist in der Kabinettsvorlage zum Beitritt dann als fester Bestandteil der Umsetzung erwähnt (vgl. Dok. 21: Kabinettsache Datenblatt 17/05067: 2). Hier wurde auch bereits festgeschrieben, dass die Geschäftsordnung dieses Komitees zwischen KMK, BKM, AA und DUK abgestimmt werden solle. Die Geschäftsstelle der DUK hat zu Arbeitsweise, Aufgaben und Zusammensetzung des Expertenkomitees einen Vorschlag erarbeitet und am 29. Mai 2012 dem BKM, dem AA und dem KMK-Sekretariat übermittelt. Der Entwurf der Geschäftsordnung des Gremiums wurde in der Folge in Zusammenarbeit mit den beteiligten Ressorts und dem KMK-Sekretariat weiterentwickelt. In dieser sicherten sich die drei staatlichen Stellen relativ spät noch ein gesondertes Vorschlagsrecht für die Mitglieder, die vom satzungsgemäßen Vorstand des Vereins DUK berufen werden. Stellenweise ist gar die Rede davon, das Komitee sei „im Auftrag von BKM und KMK“ (Dok. 19: Ergebnisvermerk zu den Bund-Länder-Absprachen vom 29.10.2012: 3) tätig. Allerdings erhielten die Behördenvertreter (AA, BKM, KMK) kein Stimmrecht – dies war zunächst 2011 noch vorgesehen (vgl. Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 2), im Kommuniqué vom Oktober 2012, wurde es vor allem auf Initiative der Länder ausdrücklich so formuliert, dass die Behördenvertreter kein Stimmrecht haben sollten (vgl. Dok. 19: Ergebnisvermerk zu den Bund-Länder-Absprachen vom 29.10.2012: 3). Allerdings wurde es bei der Erstellung der Geschäftsordnung versäumt, die Nicht-Stimmberechtigung ausdrücklich festzuhalten. Dies wurde auf Bitten der staatlichen Vertreter im Oktober 2014 vom DUK-Vorstand korrigiert und auch auf den Vertreter der kommunalen Spitzenverbände ausgeweitet. Im Expertenkomitee sind die Länder mit zwei Vertretern, der Bund ebenfalls mit zwei Sitzen, und zwar je ein Repräsentant von AA und BKM, des Weiteren die kommunalen Spitzenverbände sowie der Bund Heimat und Umwelt als institutionelle Mitglieder mit je einem Sitz vertreten. Sie alle entscheiden selbst, wen sie in das Komitee schicken. Die Länder waren zunächst in der Pilotphase 2013/14 durch Schleswig-Holstein und das KMK-Sekretariat vertreten, ab 2015 durch Schleswig-Holstein und Sachsen. Das AA schickt seit Beginn der Arbeit des Expertenkomitees die Beauftragte für das Welterbe, Birgitta Ringbeck, die im für UNESCO-Fragen zuständigen Referat 603–9 angesiedelt ist. Die Vertretung der BKM hat mehrfach durch die Abteilungen und Referate gewechselt: Erst nach der Untersuchungsperiode dieser Arbeit hat das für die Finanzierung der Geschäftsstelle zuständige Referat K34 strategisch konsistent auch die Vertretung im Expertenkomitee übernommen. Die kommunalen Spitzenverbände wurden im Untersuchungszeitraum durch den für Kultur zuständigen Referenten des Deutschen Landkreistags vertreten. Nach dem Untersuchungszeitraum wechselte die Vertretung zum Deutschen Städtetag. Der Generalsekretär der DUK ist ferner seit Anbeginn geborenes Mitglied des Komitees. Darüber hinaus aber besteht das Gremium aus Fachexperten, die ehrenamtlich tätig sind; sie werden durch die Behördenvertreter nur – so die Formulierung aus dem Kommuniqué vom 29.10.2012 – flankiert (vgl. Dok. 19: Ergebnisvermerk zu den Bund-Länder-Absprachen vom 29.10.2012: 3). Der Vorsitzende und die ad personam benannten Mitglieder werden vom DUK-Vorstand für jeweils vier Jahre berufen – Ausnahme war bei der Erstberufung im Dezember 2012 bzw. März 2013 eine zweijährige Pilotphase 2013/14. Das Komitee soll laut Geschäftsordnung insgesamt nicht mehr als 25 Mitglieder haben.

Neben den im Rahmen des vierstufigen Auswahlverfahrens für die nationale Inventarisierung zugewiesenen Bewertungsaufgaben soll das Expertenkomitee ferner auch Auswahlempfehlungen für deutsche UNESCO-Nominierungen treffen. Das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes ist dafür das Reservoir. Auch diese Auswahlempfehlungen müssen staatliche Bestätigung durch die Länder und BKM erfahren.

Die Ansiedelung dieses Expertenkomitees bei der Deutschen UNESCO-Kommission und nicht in direkter Anbindung an eine staatliche Institution hat den entscheidenden Vorteil, dass die DUK ein privatrechtlich organisierter Verein ist, sodass ein Umsetzungsgesetz zur gesetzlichen Regelung des Auswahlverfahrens bzw. der nationalen Umsetzung allgemein vermieden werden konnte und zugleich kein Akteur der staatlichen Stellen sich hinsichtlich der getroffenen Beschlüsse juristisch und politisch angreifbar macht. Als Vorteil benannten die staatlichen Stellen nämlich, dass Komitee sei „Träger fachlicher Legitimität, die auch Negativentscheidungen an die Bewerber vermitteln kann“ (Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 2). Dass es sich bei den Beschlüssen des Expertenkomitees um „Empfehlungen“ und nicht etwa um „Entscheidungen“ handelt, ist dem Umstand geschuldet, dass die DUK prinzipiell zwar auch als privatrechtliche Organisation staatliche Aufgaben gegenüber der Zivilgesellschaft wahrnehmen könnte, dies jedoch wiederum bei direkten rechtlichen oder wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Entscheidungen ein Umsetzungsgesetz erforderlich gemacht hätte, da sonst die demokratische Legitimation fehlen würde. Dies wollten die staatlichen Stellen, wie mehrfach gezeigt, vermeiden. Bei „stärkeren“ Formulierungen fürchteten BMI und BMJ in der Phase der Politikformulierung, dass unabhängig von der Ansiedelung des Gremiums, es im Streitfall als Quasi-Behörde aufgefasst werden könnte, die eine Rechtsgrundlage eines „Organisationsgesetzes“ zur rechtlichen Verankerung des Nominierungskomitees benötigt hätte. Dadurch, dass die eigentliche Auswahlentscheidung mit der Zustimmung im Benehmen zwischen Ländern und BKM zu den Auswahlempfehlungen in staatlicher Verantwortung liegt, ist der demokratischen Legitimation Genüge getan. (vgl. Dok. 19: Ergebnisvermerk zu den Bund-Länder-Absprachen vom 29.10.2012: 2)

Warum aber entschied man sich überhaupt für ein Expertengremium, das die Vorschläge bewerten sollte? Denkbar wäre schließlich auch eine Art Wiki-Inventar gewesen, das jeder befüllen könnte, wenn es bei der Inventarisierung nach zunächst vorherrschender Meinung doch vornehmlich um eine Bestandsaufnahme des Immateriellen Kulturerbes gehen sollte (siehe Abschnitt 6.2.2.3.). War möglicherweise doch ein kulturpolitischer Gestaltungswille mit der Inventarisierung verbunden? Einen unbürokratischen Weg der Bestandsaufnahme von Bräuchen und Ritualen via Internet schlug beispielsweise die Kulturwissenschaftlerin Eva-Maria Seng in einem Interview unter dem Titel „Die Bürger zum Kulturerbe fragen“ (Stuttgarter Nachrichten, 26.05.2012) vor. Finnland, das fast zeitglich mit Deutschland der Konvention beitrat, ging diesen Weg mit durchaus guten Erfahrungen. Gertraud Koch hielt es ebenfalls für einen interessanten Ansatz, „erst in der nachgelagerten Ebene mit den Expertenkomitees [zu] arbeiten und tatsächlich auch Plattformen zur Verfügung [zu] stellen, wo dann noch stärker bottom-up, Immaterielles Kulturerbe, propagiert werden kann“ (E2, Interview am 25.10.2018). Wichtig war der deutschen Bundesregierung, dass das Verfahren Garantien bietet, dass „[rechtswidrige] Praktiken (z. B. Genitalverstümmelung, menschenverachtende Formen der Bestrafung oder das öffentlich Führen von NS-Symbolen)“ (Dok. 5: BT-Drs. 16/13343 vom 11.06.2009: 4) im deutschen Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes keinen Platz finden. Ein Wiki-Inventar mit problematischen Einträgen hätte hier womöglich ein schlechtes Licht auf das Verfahren geworfen. Daher musste vor Veröffentlichung eine durch Experten vorgenommene Prüfung der Vorschläge erfolgen. Hinzu kommt, dass die UNESCO-Konvention wie viele völkerrechtliche Instrumente durchaus unbestimmte Rechtsbegriffe, wie ‚Immaterielles Kulturerbe‘ und ‚Erhaltung‘, verwendet (vgl. Dok. 5: BT-Drs. 16/13343 vom 11.06.2009: 5): Diese bedürfen einer Auslegung, im besten Fall durch kundige Personen. Der Antrag der Fraktionen von SPD und Grünen im Bundestag betonte wie auch der beschlossene Antrag der Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP die Notwendigkeit einer qualitätssichernden Methodik zur Erstellung der Bestandsaufnahmen des Immateriellen Kulturerbes (vgl. Dok. 9: BT-Drs. 17/6301 vom 28.06.2011: 2), so dass es parteipolitisch in dieser Frage in Deutschland einen Konsens gab. Des Weiteren sichert ein Expertenkomitee, dass alle relevanten Entscheidungsträger und Akteure ein gemeinsames Forum des Austausches haben und in den Prozess auf der Stufe der Bewertung der Bewerbungsdossiers eingebunden sind (vgl. Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 2).

Um die Berufung des vorgesehenen Expertenkomitees vorzubereiten, orientierte sich die DUK einerseits an den Abläufen des Nominierungskomitees für das Memory of the World-Programm zum Dokumentenerbe in Deutschland und zum anderen am österreichischen Fachbeirat Immaterielles Kulturerbe. Wie bereits festgestellt, war Deutschlands Politikformulierung zur nationalen Umsetzung der Konvention von der bereits etablierten Praxis von Nachbarländern, insbesondere Österreich und Schweiz, inspiriert. Der Referent der DUK-Geschäftsstelle nahm im März 2013 – vor der Konstituierung des Gremiums in Deutschland – an einer Sitzung des österreichischen Gremiums in Wien teil. Die Österreichische UNESCO-Kommission teilte in diesem Rahmen, wie bereits im Beitrittsprozess, ihre Erfahrungen und überließ der DUK auch Schriftsätze, die entscheidende Orientierung für die Arbeit des DUK-Expertenkomitees boten (siehe ausführlicher Abschnitt 6.4.1.).

Das Expertenkomitee konstituierte sich am 5. Juli 2013 und hat seit seiner Einsetzung die Umsetzung der Konvention in Deutschland aktiv mitgestaltet. Ein weiteres Mal kam das Gremium Ende Oktober 2013 zusammen. In beiden Sitzungen wurde zunächst Grundsätzliches wie die Geschäftsordnung besprochen und darüber hinaus ein Kodex der Zusammenarbeit, der detaillierter Regelungen zu den Abläufen des Bewertungsprozesses und bei Befangenheit sowie zu öffentlichen Äußerungen über die Arbeit des Expertenkomitees enthält, verabschiedet. Einer der ersten Beschlüsse war zudem die „Übersetzung“ des Begriffs ‚Immaterielles Kulturerbe‘ in den Dreiklang „Wissen. Können. Weitergeben.“. Susanne Bieler-Seelhoff glaubt,

„dass der Begriff des Immateriellen Kulturerbes immer noch einer ist, der überwiegend der Fachöffentlichkeit bekannt ist. Wenn man von ‚gelebten Traditionen‘ redet, dann ist das etwas, womit die Menschen und die zivilgesellschaftlichen Gruppen mehr anfangen können. Und ich denke, das, was wir dann gemeinschaftlich entwickelt haben, ‚Wissen. Können. Weitergeben.“, ist ein wunderbares Synonym dafür, worum es eigentlich geht.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Der Vorsitzende Christoph Wulf fasst die Grundsätze, die die Arbeit des Komitees und seine aktivierende Rolle prägten und bis heute bestimmen, prägnant zusammen:

„Und dann haben wir hier die Idee, dass [… die Verzeichniserstellung] eine Bottom-up-Bewegung ist. Und das sind Bedingungen, die wir, glaube ich, schon in eigener Weise gestaltet haben. Auch mit dieser Idee, dass es um Wissen, Können und eine Weitergabe geht, was ja bedeutet, dass es hier auch um große Bereiche des impliziten Wissens, des kulturellen Wissens, des schweigenden Wissens geht, die sich auch schwer sprachlich vollständig fassen lassen. Und die aber wichtig sind für die Sinnfindung von Menschen. Dass sie in ihren Praktiken Freude haben, Sinn finden, Gemeinschaft erzeugen.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Die Einrichtung eines Fachgremiums bei der DUK, das Empfehlungen für die Eintragungen im Bundesweiten Verzeichnis und für deutsche UNESCO-Nominierungen ausspricht, war ein probates Mittel der Politik, um Fachlichkeit und Glaubwürdigkeit der abschließenden staatlichen Entscheidungen zu garantieren und zugleich einen wichtigen Teil der anstehenden Aufgabe der Inventarisierung auf ehrenamtliche Experten und die DUK als Mittlerorganisation der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik zu delegieren. Damit war aber keine erkennbare Entscheidung verbunden, ob ein kulturpolitisches Ziel mit der Umsetzung der Konvention verfolgt wird, wie etwa die Teilhabe an Kunst und Kultur zu stärken.

6.2.5 Einrichtung von Strukturen auf Länderebene

Die Länder benannten in Vorbereitung der ersten Bewerbungsrunde der Inventarisierung in ihren für die Kultur zuständigen Ministerien um den Jahreswechsel 2012/2013 herum jeweils eine Person als Kontaktstelle für das Thema Immaterielles Kulturerbe. Diese Focal Points der Länder sollten die Aufgabe übernehmen, für Bewerbergruppen Ansprechpartner zu sein und Bewerbungen entgegenzunehmen. Angesiedelt waren sie in verschiedenen Fachzusammenhängen, denn die bisherigen bzw. weitergeführten Fachzuständigkeiten der verantwortlichen Referenten reichten von Kulturelle Grundsatzangelegenheiten (Berlin) bis zu eher musealen, denkmalschutzrechtlichen und archivarischen Zusammenhängen, wie z. B. Museen, Denkmalschutz und Denkmalpflege, Erinnerungskultur (Brandenburg) und Museen, Archive, Denkmalschutz, Kulturgutschutz (Bremen) oder Denkmalschutz und -pflege, Unesco-Welterbe, Kulturgutschutz, Archive, Bibliotheken (Thüringen). Als die genauen Aufgaben deutlicher wurden, wechselten die Zuständigkeiten häufig noch einmal. Die meisten Länderkulturministerien gliederten das Thema Immaterielles Kulturerbe tatsächlich zuerst den zuständigen Referenten für den Denkmalschutz an. In Hessen war das Immaterielle Kulturerbe zwischenzeitlich gar dem Landesamt für Denkmalpflege zugeordnet. Im Laufe der Zeit übernahmen dann zunehmend für Heimatkultur und Heimatpflege oder Soziokultur zuständige Referate bzw. Referenten diese Verantwortung (siehe Abschnitt 6.4.2.). In großen Ländern wie Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen oder Bayern übernahmen auch Ansprechpartner auf regionaler Ebene, wie die Landschaftsverbände oder Bezirksheimatpfleger, gewisse wissenschaftlich-praktische Beratungsfunktionen.

Die Runde der Länderministerialansprechpartner des Immateriellen Kulturerbes traf sich erstmals als Ad hoc-AG am 12. Februar 2013 im KMK-Sekretariat in Berlin und kam dort im für die Etablierung grundsätzlicher Strukturen auf Länderebene entscheidenden Jahr erneut am 18. April 2013 und am 18. September 2013 zusammen. Diese Treffen dienten dem Austausch der länderseitig mit dem Umsetzungsprozess beauftragten Ministerialen untereinander sowie mit der DUK-Geschäftsstelle über die großen Linien, aber auch über zahlreiche Detailfragen des neuen Bewerbungsverfahrens. In der Ad hoc-AG wurden wichtige Absprachen auf Arbeitsebene getroffen und Entscheidungen des KMK-Kulturausschusses bezüglich der Verfahren zur Erstellung des Bundesweiten Verzeichnisses vorbereitet. Am 17. Oktober 2013 nahmen zudem der Vorsitzende Christoph Wulf und zwei weitere Mitglieder des DUK-Expertenkomitees auf Einladung an einem Fachgespräch des KMK-Kulturausschusses zum Thema Immaterielles Kulturerbe teil.

Schon im Mai 2013 – also noch vor dem rechtswirksamen Beitritt Deutschlands zur Konvention im Juli – begann die erste Bewerbungsphase für das Bundesweite Verzeichnis. Der damalige Präsident der KMK, Minister Stephan Dorgerloh aus Sachsen-Anhalt, lud in einer gemeinsamen Pressemitteilung mit Staatsminister BKM Bernd Neumann, AA-Staatsministerin Cornelia Pieper und DUK-Vizepräsident Christoph Wulf alle, die Formen Immateriellen Kulturerbes pflegen, ein, sich zu bewerben. Einige Länder richteten zusätzlich zum Bundesverzeichnis, das nun im Entstehen begriffen war, sogar zum Teil zeitlich noch vor den ersten Eintragungen in dieses, eigene Länderverzeichnisse des Immateriellen Kulturerbes ein. Dies waren Nordrhein-Westfalen, Bayern – mit jeweils eigenen Logos – Sachsen und Sachsen-Anhalt. Diese Länder schufen – bis auf Sachsen – auch darüberhinausgehend Strukturen, die sich vornehmlich an Bewerbergruppen, in zweiter Linie aber auch an Trägergruppen, deren Kulturformen Anerkennung gefunden hatten, richteten: Beratungsstellen zum Immateriellen Kulturerbe. Diese übernahmen vor Ort Aufgaben der Geschäftsstelle der DUK, die diese mit ihrer Ausstattung nicht in der ganzen Fläche Deutschlands, insbesondere nicht so umfangreich in Ländern, die sich beim Immateriellen Kulturerbe stark engagieren, leisten konnte. Zwischen diesen Beratungsstellen wie auch individuell mit der DUK-Geschäftsstelle kam es zu regelmäßigen engen Abstimmungen.

Die meisten Länder beriefen zudem für ihre Aufgabe der Vorauswahl von Bewerbungen zur Weiterleitung ans KMK-Sekretariat in Stufe 2 des Bewerbungsverfahrens eine Jury mit Experten des Immateriellen Kulturerbes auf Landesebene ein. Diese sollten das jeweilige Votum über die – zunächst zwei, später vier – möglichen Plätze pro Land fachlich absichern. Die Modalitäten waren hier recht verschieden: Während etwa Bayern, Berlin und Nordrhein-Westfalen feste Jurys einrichteten, beriefen manche Länder diese nur jeweils ad hoc für den einzelnen Begutachtungszeitraum ein oder verzichteten ganz auf eine Juryentscheidung, wenn es etwa weniger Bewerbungen als zur Verfügung stehende Plätze im jeweiligen Land gab.

Bei den Ländern ist hinsichtlich der Frage, ob bewusste kulturpolitische Strategien die Politikformulierung leiteten, zu differenzieren. In den größeren Ländern wie Bayern und Nordrhein-Westfalen war dies nach anfänglichem Zögern sicherlich schon der Fall, wenn eine Förderung der jeweiligen Heimat- oder Regionalkultur auch nicht konsequent und stets im Zusammenhang mit dem Immateriellen Kulturerbe kommuniziert wurde. Auch kleinere Länder, wie Mecklenburg-Vorpommern, entwickelten eine Art (Förder-)Politik zum Immateriellen Kulturerbe. In der Mehrzahl der Länder aber startete die Umsetzung eher konzeptlos bzw. orientierte sich stark an den bundesweiten Vorgaben der KMK und der DUK und setzte kaum eigene Akzente (siehe im Weiteren Abschnitt 6.3.2.3.).

6.2.6 Weitere Akteure und ihre Ansätze

Zu Politikformulierungen weiterer Akteure, i. d. R. der Zivilgesellschaft, hinsichtlich Maßnahmen der Umsetzung der Konvention kam es teilweise bereits vor dem deutschen Beitritt zur Konvention. Sie erfolgten zum Teil aber auch erst nach den bisher beschriebenen Aktivitäten der staatlichen Akteure sowie der DUK bzw. bezogen sich erst darauf. Trotzdem zählen sie noch in diese Phase des Policy-Cycle, da sie erst einmal grundsätzliche Positionsbestimmungen bzw. Orientierungen der Akteure umfassen. Insgesamt ist daran zu erinnern, dass die Phase Politikformulierung im Policy-Cycle nicht zwingend endet, wenn die Politikimplementierung anfängt.

Über eine Anerkennung bzw. Listung von bestimmten kulturellen Ausdrucksformen als Immaterielles Kulturerbe hinaus kann die nationale Umsetzung der UNESCO-Konvention auch grundsätzlich zu den Zielen des Völkerrechtsinstruments (siehe Kapitel 4) beitragen: eine Inwertsetzung von Kulturformen, durchaus unabhängig von Anerkennung oder Listung, kann die Trägergruppen etwa stärken. In dieser Hinsicht wirkte zum Beispiel das von der Europäischen Union über das Interreg-Programm geförderte „Cultural Capital Counts“-Projekt, an dem die BTU Cottbus mit dem Lehrstuhl von Marie-Theres Albert von 2011 bis 2014 beteiligt war. Hierbei wurde das Zusammenwirken von Immateriellem Kulturerbe und nachhaltiger Entwicklung in praktischen Kontexten von Regionalentwicklung auf der Basis von traditionellen kulturellen Ausdrucksformen untersucht. (vgl. Meißner 2020: 7 f.) Zu den weiteren Maßnahmen, die im Rahmen der nationalen Umsetzung der Konvention ergriffen werden können und entsprechend der Empfehlungen der Richtlinien zur Durchführung des Übereinkommens auch sollten, gehören Ausbildungsaktivitäten, die Dokumentation von Immateriellem Kulturerbe, z. B. in Museen, die Integration von Immateriellem Kulturerbe in Strategien anderer Politikfelder, aber auch wissenschaftliche, technische und künstlerische Studien sowie Maßnahmen der Informationsverbreitung und Bildungsprogramme.

Einige nichtstaatliche Institutionen formulierten in der Vor- und Frühphase der Umsetzung der Konvention in Deutschland bereits eine eigene Position bzw. Politik zum Immateriellen Kulturerbe: Der Bund Heimat und Umwelt (BHU) hat etwa frühzeitig zugesagt sich mit seinen Landesverbänden an der Umsetzung der Konvention in Deutschland zu beteiligen (vgl. Dok. 11: BHU-Resolution vom 03.07.2011) und es öffentlich als empfundene Verpflichtung kommuniziert, „zu Pflege und Bewahrung des immateriellen Kulturerbes beizutragen“ (Dok. 22: BHU-Stellungnahme im Dezember 2012). Dazu gehörte auch die Bereitschaft als Verband im DUK-Expertenkomitee mitzuwirken. Ebenso verhielt es sich beim Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH). Wie bei einer Einsichtnahme in die Akten des ZDH deutlich wurde, beschäftigte sich dieser bereits ab 2007 mit der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes. Das Ziel war, das Thema Handwerk in Gesellschaft und Politik stärker mit dem Thema Kultur zu verbinden. Dazu wurden Positionspapiere verfasst und der Kontakt mit politischen Entscheidungsträgern und Experten gesucht. Eine konkrete Idee des ZDH war, ein „Archiv des praktischen Wissens“ (Dok. 2: Dokumentation ZDH-Workshop 9./10. April 2008: 3) zu schaffen, womit handwerkliches Wissen und praktisches Tun dokumentiert und nutzbar gemacht werden soll. Vor allem sah man in der Konvention aber die Möglichkeit sich eines „kulturpolitische[n] Sprachrohr[s]“ zu bedienen und „das Handwerk als kulturellen Faktor im öffentlichen Bewusstsein zu verankern“ (Dok. 2: Dokumentation ZDH-Workshop 9./10. April 2008: 6). Angedacht wurde 2008 dafür eine Zusammenarbeit mit Museen, Schulen und Wissenschaft (vgl. Dok. 2: Dokumentation ZDH-Workshop 9./10. April 2008: 6). Auf Bundesebene befasste sich ein Spezialgremium des Deutschen Handwerkskammertags, die Planungsgruppe Kultur, mindestens einmal im Jahr mit den neuen Entwicklungen rund um die UNESCO-Konvention in Deutschland. Als der Beitritt konkret zu werden versprach, meldete auch der ZDH sein Interesse an einer Mitarbeit im Expertenkomitee an. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks stand zu dieser Zeit bereits mit Partnern aus dem universitären Bereich (Universität Göttingen, Fachhochschule Köln) sowie der Dokumentarfilmszene in Kontakt, um ein größeres Forschungsprojekt zum Handwerkswissen umzusetzen. Daraus entstand schließlich über mehrere Zwischenschritte das OMAHETI-Projekt (Objekte der Könner. Materialisierungen handwerklichen Erfahrungswissen zwischen Tradition und Innovation), das von 2015 bis 2019 unter Federführung der Universität Göttingen lief (siehe Abschnitt 6.3.1.4.). In Bayern u. a. mobilisierten von Anfang der nationalen Umsetzung an auch die Handwerkskammern ihre Mitglieder im Bereich Immaterielles Kulturerbe.

Bereits zum Zeitpunkt des deutschen Beitritts war die internationale NGO SAVE (Sicherung der landwirtschaftlichen Artenvielfalt in Europa) mit Sitz in Deutschland auf eigene Initiative zur Beratung des Zwischenstaatlichen Ausschusses des Übereinkommens akkreditiert worden. Die deutsche Sektion der internationalen NGO CIOFF, die ebenfalls in genannter Rolle akkreditiert war und ist, hatte sich früh für die Umsetzung der Konvention auch durch Deutschland eingesetzt. CIOFF Deutschland sagte denn auch frühzeitig seine Unterstützung bei der Informationsverbreitung über die Inhalte der Konvention und bei der Unterstützung der internationalen Vernetzung zu und tauschte sich diesbezüglich regelmäßig mit der DUK aus.

Im Museumsbereich gehören Schutz, Dokumentation und Vermittlung des Immateriellen Kulturerbes schon seit 2004 zu den Zielen des Internationalen Museumsrats ICOM. Dessen deutsche Sektion hat sich dem Thema zunächst zögerlich, aber dann auf maßgebliches Betreiben von Präsidiumsmitglied Elisabeth Tietmeyer, die auch Mitglied des DUK-Expertenkomitees war, zunehmend genähert. Es passte gut in die museumsweltinterne Debatte rund um mehr Beteiligung der Menschen an der Arbeit von Museen und die Gegenwartsorientierung von Museen und anderen Ausstellungsinstitutionen (vgl. Koslowski 2015b: 42). Der Museumsverband in Mecklenburg-Vorpommern e. V. war ein Vorreiter, denn er initiierte 2015 in Folge einer Fachkonferenz vom Oktober 2014 einen Arbeitskreis zum Immateriellen Kulturerbe. Durch dessen Treffen mit mehreren thematischen Workshops jährlich wurden zum einen die am Thema interessierten Beschäftigten aus den kleinen und größeren Museen des Landes regelmäßig zusammengeführt, zum anderen waren aber auch Aktive aus den Bereichen Volkskunde, Tourismus, Bildung und Medien an diesem Austausch immer wieder beteiligt. (vgl. Wulf 2017)

Ein weiterer wichtiger Partner bei der Umsetzung im nationalen Rahmen ist die Wissenschaft. Die deutschen Universitäten haben sich anfangs recht zurückhaltend gezeigt, das Thema des Immateriellen Kulturerbes in den entsprechenden Studiengängen und ihrer Forschung aufzugreifen. Ähnlich wie die damaligen Akteure im politischen Raum versuchten die Volkskundler, Europäischen Ethnologen usw. in Deutschland die Konvention zunächst zu ignorieren oder ihre Bedeutung herunterzuspielen (vgl. Jacobs 2014: 268). Es dominierte eine kritische Lesart des Völkerrechtsdokuments. Bei aller Vorsicht, sich nachträglich dazu ein Urteil zu bilden, kann man doch mit ziemlicher Sicherheit konstatieren, dass sich Wissenschaft und Politik langezeit gegenseitig nicht besonders inspiriert und motiviert haben, hinsichtlich eines Beitritts zur Konvention aktiver zu werden. Bereits aus der Zeit vor dem deutschen Beitritt stammt allerdings ein größeres von der DFG gefördertes Forschungsprojekt der Universität Göttingen bzw. einer interdisziplinären Forschungsgruppe zu Cultural Property (in zwei Phasen, zunächst 2008 bis 2011, dann noch einmal von 2011 bis 2014 gefördert), in dem die UNESCO einen besonders wichtigen und dabei auch das Immaterielle Kulturerbe einen gewissen Raum einnahm. Tourismuswissenschaftler Volker Letzner von der Hochschule München befasste sich ebenfalls bereits ab etwa 2008 mit den Potenzialen des Immateriellen Kulturerbes und erforschte hartnäckig, warum sich Deutschland nicht zu einer Ratifizierung durchringen konnte. Nach dem erfolgten Beitritt nahm er auch die deutsche Umsetzung des Inventarisierungsverfahrens noch 2013 kritisch unter die Lupe (vgl. Letzner 2013). Im selben Jahr gab er u. a. konkrete Inspiration zur Bewerbung des Peter-und-Paul-Fests Bretten für das Bundesweite Verzeichnis (siehe Abschnitt 4.2.3.). An der Universität Paderborn wurden 2006 bereits ein Lehrstuhl für Materielles und Immaterielles Kulturerbe und ein Masterstudiengang Kulturerbe eingerichtet. Lehrstuhlinhaberin Eva-Maria Seng engagierte sich ab dem deutschen Beitritt u. a. in der Landesjury NRW, etablierte mit Landesförderung eine Beratungsstelle zum Immateriellen Kulturerbe und wirkte an der nationalen und später auch UNESCO-Nominierung des Bauhüttenwesens als Erhaltungsprogramm Immateriellen Kulturerbes mit. Der UNESCO-Lehrstuhl von Marie-Theres Albert an der BTU Cottbus-Senftenberg zeichnete für die von den Ländern in Auftrag gegebene, einflussreiche Machbarkeitsstudie (Albert/Disko 2011) zu den Optionen der nationalen Mitwirkung Deutschlands im Rahmen der UNESCO-Konvention verantwortlich. Am Lehrstuhl entstanden in den Folgejahren auch eine Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten zum Immateriellen Kulturerbe.

Auch die Medien, die über Kulturpolitik berichten, reagierten auf die in Deutschland neue Konvention: Der Anfang des Jahres 2013 – kurz nach dem Bundeskabinettsbeschluss zum Beitritt – inspirierte einige öffentlich-rechtliche Rundfunksender zu Sendungen, in denen sie in Kombination aus Expertengesprächen und Hörer-Anrufen nach Ideen für die Inventarisierung Immateriellen Kulturerbes fragten, z. B. WDR 5 am 02.01.2013 und SWR 2 am 18.01.2013. Als es im Frühjahr 2013 auch offiziell mit der Inventarisierung losging, unterstützen die Medien dies, indem sie die Möglichkeit, Vorschläge einzureichen, bekanntmachten und erklärten (z. B. Die WELT 18.03.2013, DeutschlandRadio Wissen am 11.04.2013 oder 3sat-Kulturzeit-News vom 12.04.2013). Weitere die Zivilgesellschaft ermunternde Berichte gab es in den Qualitätsmedien während der ersten Monate der deutschen Umsetzung, etwa am 01.05.2013 im Deutschlandfunk, am 09.07.2013 im DeutschlandRadio Kultur, am 13.08.2013 auf MDR Thüringen oder am 17.08.2013 in der FAZ.

Die Ziele der sehr verschiedenen Akteure des sog. Dritten Sektors im Hinblick auf die Umsetzung der Konvention in Deutschland sind schwer auf einen Nenner zu bringen. Letztlich waren innerhalb dieser Gruppe von der rein wissenschaftlichem Interesse dienenden Bestandsaufnahme über die Sensibilisierung für die Bedeutung des Immateriellen Kulturerbes bis hin zu einer Aufwertung und einer Anerkennung des eigenen Tuns im zivilgesellschaftlichen Engagement im kulturellen Bereich bis hin zum Ziel der Erhöhung kultureller Teilhabe in unserem Land alle Ansätze vertreten.

6.3 Die Implementierung der Politik zur Umsetzung der Konvention in Deutschland: Kulturelle Teilhabe unbewusst erweitert

Nach der Skizze der Überlegungen, die die Struktur der Umsetzung der Konvention in Deutschland geprägt haben, und der Darstellung der sich daraus direkt ergebenen ersten Schritte (Abschnitt 6.2.), werden im Folgenden aus verschiedenen Perspektiven die weiteren Umsetzungsprojekte, -programme und -strategien der am Prozess beteiligten politischen Akteure präsentiert: zunächst in Form der Maßnahmen bzw. Instrumente (Abschnitt 6.3.1.), dann unter Betrachtung der Akteursverhältnisse sowie der Wirkung der Konvention auf die Diskurse und die Interessenwahrnehmung der Akteure (6.3.2.). Anschließend wird die kulturwissenschaftliche Perspektive eingenommen (6.3.3.) und abschließend wird die Wechselwirkung zwischen internationaler und nationaler Umsetzung der Konvention betrachtet (6.3.4.).

6.3.1 Projekte, Programme und Strategien der Umsetzung in Deutschland

Das Haupterhaltungsinstrument der Konvention und sichtbarster Ausdruck ihrer Umsetzung in den meisten Mitgliedsstaaten der Konvention und auch in Deutschland ist die Würdigung der Kulturformen in einem Verzeichnis (vgl. Lenski 2014: 73 f.). Allerdings ist

„[i]n der Summe noch mehr passiert als […] mit der Listung. Also allein die Einrichtung der Stellen bei den Ländern in unterschiedlicher Art und Weise […]. Dann die Länderlisten, […] die Veranstaltungen, die die Deutsche UNESCO-Kommissionen gemacht hat, um das Thema zu vermitteln. Aber natürlich dann auch der ganze politische Prozess, der nachgelagert ist […] dem Expertenkomitee, wenn wir uns da ausgetauscht haben oder wo das Expertenkomitee ja mit eingebaut ist: die Befassung des Kulturausschusses, der Kultusministerkonferenz. All diese politischen Austauschprozesse sind zentral. Und dann natürlich auch die Diskussionsprozesse mit den Trägergruppen, die stattfinden. Die Arbeit bei der Deutschen UNESCO-Kommission jenseits dieser Veranstaltungen, auch im Dialog mit den einzelnen Trägergruppen, die sich über Antragsstellungen Gedanken machen. […] Kulturpolitisch ist das eine unglaubliche Menge an verschiedenen kleinen Einzelaktivitäten. Und das wirkt natürlich ins kulturelle Leben auch ziemlich rein.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Die zur nationalen Umsetzung der Konvention in Deutschland ergriffenen Projekte, Programme und Strategien – d. h. die Policy-Outputs (siehe Abschnitt 5.1.7.) der Politik zum Immateriellen Kulturerbe in Deutschland – werden in diesem Abschnitt jeweils in Verbindung mit den wichtigsten Akteuren, die an ihrer Umsetzung beteiligt waren bzw. sind, einzeln dargestellt. ‚Projekte‘ steht hierbei als neutraler Begriff für Vorhaben der einzelnen Akteure, während ‚Programme‘ und ‚Strategien‘ qualifizierter zu bewerten sind. Letztere werden aufgelegt bzw. formuliert, um bei definierten Adressaten sowie mit für die Durchführung Verantwortlichen bestimmte Handlungsziele zu erreichen (siehe Abschnitt 5.1.5.). Häufig sind diese Programm- und Strategieformulierungen allerdings implizit bzw. werden zumindest nicht veröffentlicht. Die Differenzierung ist allerdings nicht Hauptgegenstand der Untersuchung der vorliegenden Arbeit, zumal die Übergänge fließend sind. I. d. R. werden diese Bezeichnungen im Folgenden also synonym verwendet oder aber unter dem Begriff ‚Maßnahmen‘ zusammengefasst.

Spezifische Maßnahmen zur Förderung einzelner anerkannter Kulturformen, die man ebenfalls als Ergebnis der Umsetzung der Konvention in Deutschland werten kann, werden hier ausdrücklich nicht dargestellt. Es handelt sich im Folgenden nur um Maßnahmen, die im Allgemeinen der Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes im Sinne der UNESCO-Konvention dienen. Da häufig mehrere politische Akteure (siehe Abschnitt 5.1.2.) an diesen Maßnahmen beteiligt sind, werden diese zur besseren (Wieder-)Auffindbarkeit in den jeweiligen Unterkapiteln und in den Folgekapiteln durchnummeriert – mit einer hohen oder niedrigen Zahl ist hierbei keine Wertung verbunden, sondern diese ergibt sich aus der Position der Darstellung in der Gliederung. Übergreifende laufende Maßnahmen ohne klaren Zeitpunkt oder ohne klares Ergebnis, wie etwa die gezielte Verbreitung von Informationen, Beratungen, allgemeine Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie Medienberichte und Lehrveranstaltungen zum Immateriellen Kulturerbe oder interne, strukturierende Maßnahmen, wie die Erstellung eines Kommunikationskonzepts, werden zum Teil ebenfalls beschrieben, aber nicht als explizite Projekte, Programme und Strategien gewertet und entsprechend nicht nummeriert. Kooperationsprojekte mit Partnern im Ausland werden hier ebenfalls außenvorgelassen, da sie im Abschnitt 6.3.4. näher beleuchtet werden.

6.3.1.1 Bund

Die Aktivitäten der Bundesregierung im Rahmen der Umsetzung der Konvention sind überschaubar:

(1) Am Verfahren der Inventarisierung Immateriellen Kulturerbes in Deutschland, also der Erstellung des Bundesweiten Verzeichnisses (siehe Abschnitt 6.2.2.), beteiligte sich der Bund entsprechend der Verabredungen des gemeinsamen Bund-Länder-Kommuniqués von 2012 (Dok. 19: Ergebnisvermerk zu den Bund-Länder-Absprachen vom 29.10.2012): zum einen durch Mitgliedschaft je eines Vertreters des AA und von BKM in beratender Funktion, ohne Stimmrecht, im DUK-Expertenkomitee (2), zum anderen durch die gemeinsame staatliche Bestätigung der Auswahlempfehlungen dieses Expertenkomitees durch die Länder und BKM (7). Mit dieser Bestätigung achten die staatlichen Akteure die Aufgabenteilung zwischen Expertenarbeit und demokratischer Legitimation (siehe Abschnitt 6.3.2.5.), auch wenn nicht alle Expertenempfehlungen auf ungeteilte Zustimmung stießen, wie etwa an der zeitweisen Abstinenz der BKM bei der Verkündung der Entscheidungen an die Medien abzulesen war (siehe Abschnitt 6.3.2.3.).

(2) Bei der Besetzung des DUK-Expertenkomitees (siehe Abschnitt 6.2.4.) mit unabhängigen Experten haben AA und BKM ein gesondertes Vorschlagsrecht. Das AA beschränkte sich bei beiden Gelegenheiten im Berichtszeitraum auf die Benennung der gleichen (einen) Expertin, die besonders bewandert im Bereich Welterbe ist. Dies lässt auf eine (außen-)kulturpolitische Strategie der angestrebten Kohärenz zwischen den UNESCO-Instrumenten und ihrer Umsetzung in Deutschland schließen (siehe auch Abschnitt 6.3.2.3.). BKM nominierte für die Pilotphase der Arbeit des Expertenkomitees 2013/14 zunächst eine Person und für den ersten regulären Berufungszeitraum 2015–2018 zwei andere Personen. Hierbei spielte das Thema der Kulturellen Bildung eine besondere Rolle, denn zwei dieser drei Personen waren in diesem Feld tätig. BKM sah, wie durch Vertreter der Behörde mehrfach geäußert wurde, wichtige Schnittmengen der Kulturellen Bildung zum Immateriellen Kulturerbe. Dies ist insofern interessant, dass die Kulturelle Bildung stark auf das Ziel Kulturelle Teilhabe einzahlt (siehe auch Abschnitt 6.3.2.3.). Die unmittelbare Vertretung des Bundes im Expertenkomitee nahmen für das AA die Welterbe-Beauftragte Birgitta Ringbeck und für BKM wechselnde Referate wahr (siehe Abschnitt 6.2.4.).

(3) Ferner wirkt die Bundesregierung an den deutschen UNESCO-Nominierungen mit, die formal als Stufen 5 und 6 des vereinbarten Verfahrens (siehe Abschnitt 6.2.2.2.) gelten, de facto prozedural jedoch davon losgelöst funktionieren. Auch die UNESCO-Nominierungen werden auf Empfehlung des DUK-Expertenkomitees von BKM im Benehmen mit den Ländern formal beschlossen (7). Das AA hat nach der Erarbeitung der Nominierungsunterlagen durch die Kulturträgergruppen und die Geschäftsstelle der DUK die staatliche Federführung bei der offiziellen Einreichung der Dossiers bei der UNESCO bis hin zur späteren Präsentation während der Sitzung des Zwischenstaatlichen Ausschusses der UNESCO-Konvention, auf der die Entscheidung über eine Aufnahme erfolgt. Das sich erst im Laufe der Umsetzung herausschälende Verfahren der Erarbeitung und Einreichung wird in den Abschnitten 6.3.2.4. sowie 6.3.4.1. noch näher beschrieben. Zudem nimmt das AA nach einer erfolgreichen Aufnahme in die internationalen Listen die offiziellen Einschreibungsurkunden vom UNESCO-Sekretariat entgegen und verleiht sie i. d. R. in einem von den Trägergruppen selbst zu organisierenden Festakt.

(4) Die Bundesregierung finanziert die Geschäftsstelle Immaterielles Kulturerbe bei der Deutschen UNESCO-Kommission (siehe Abschnitt 6.2.3.). BKM wirkt über die Gewährung dieser Zuwendung und die Definition von Erfolgszielen auch inhaltlich an der Ausgestaltung der Konvention in Deutschland mit. Der Vizepräsident der DUK, Christoph Wulf, meint:

„Dass wir die [Geschäftsstelle bei der DUK] finanziert bekommen, ist ein ganz wesentlicher Beitrag der Politik. Denn das Ganze wäre nicht so gut entwickelt worden, wenn wir nicht diese Möglichkeiten gehabt hätten. […] Und die Politik hat das auch erkannt in der Bedeutung, hat das dann unterstützt, auch immer wieder durch Gelder Möglichkeit gegeben, mal Gruppen zusammenzuholen, einen anderen Austausch zu machen, zwischen den Länderjurys und der nationalen Jury, um zu sehen, wie man mit den Kriterien umgeht, um überhaupt sich über die Komplexität auszutauschen. Und sich klarzumachen, wie gehen wir damit um. Also ich glaube, dass insgesamt die Politik da hilfreich war.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Die im Zitat genannten Aktivitäten, die mit BKM-Unterstützung möglich waren, werden im Abschnitt 6.3.1.3. näher beschrieben.

(5) Aufgabe der Bundesregierung ist durch das AA schließlich die regelmäßige Zahlung eines Beitrags zum Fonds der UNESCO-Konvention, in den alle Vertragsstaaten einen Beitrag entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einzahlen.

Das AA übernahm des Weiteren bereits vor dem offiziellen Beitritt zur Konvention mit seinem Sprachendienst die Erstellung der offiziellen Übersetzungen des Textes der UNESCO-Konvention und der Richtlinien zur Durchführung des Übereinkommens ins Deutsche. Diese Texte wurden von der DUK 2012/13 auf dem Internetportal (17) und in Form einer Broschüre publiziert (18).

6.3.1.2 Länder und Kommunen

(6) Die 16 Länder der Bundesrepublik spielen im Rahmen der nationalen Umsetzung des UNESCO-Übereinkommens insbesondere auf der ersten und der zweiten Stufe des Bewerbungsverfahrens für das Bundesweite Verzeichnis (1) eine entscheidende Rolle (siehe Abschnitt 6.2.2.2.): Dafür haben sie zum Teil Expertenjurys berufen, in jedem Fall aber jeweils eine Ansprechperson benannt, an die sich interessierte Bewerbergruppen, die ihr Immaterielles Kulturerbe im jeweiligen Land pflegen oder dort ihren Sitz haben, wenden können und wo sie im Rahmen der offiziellen Bewerbungszeiträume auch ihre Bewerbungsdossiers einreichen können (siehe auch Abschnitt 6.2.5.). Die Gruppe dieser Ansprechpersonen war zunächst, u. a. aufgrund der sonstigen fachlichen Zuständigkeiten ihrer Mitglieder, aber auch der unklaren Ausgangslage zu Beginn, recht heterogen, hat aber im Untersuchungszeitraum durch einen regelmäßigen und von den KMK-Berichterstattern im Kulturausschuss sowie der DUK-Geschäftsstelle begleiteten strukturierten Austausch zu einer gut funktionierenden Arbeitsrunde gefunden, die allerdings unter häufigen personellen Wechseln litt. Die 16 Ansprechpersonen wirken unterschiedlich intensiv auf die Bewerbungsaktivitäten in ihren jeweiligen Ländern ein – zum Teil tun sie dies aktiv informierend durch Ansprache von möglicherweise geeigneten Akteuren und die Organisation von Informationsveranstaltungen (10), zum Teil gar durch regelrechte Aufforderungen, Bewerbungen zu verfassen, zum Teil aber auch recht zurückhaltend und nur auf Nachfrage von interessierten Akteuren handelnd. Auf dem ersten Evaluierungstreffen im Juli 2014 wurde von den Länderreferenten zusammen mit der DUK-Geschäftsstelle (2) eine Bilanz der Stärken und Schwächen des ersten Bewerbungsverfahrens gezogen. Die für die zweite Bewerbungsrunde vorbereiteten Beschlüsse des KMK-Kulturausschusses und schlussendlich der Länderminister können bereits als ein Lerneffekt des Policy-Cycle verstanden werden: Zum einen verständigte man sich, dass 2015 nach der Pilotphase ein weiteres Bewerbungsverfahren erfolgen sollte, das grundsätzlich nach den gleichen Modalitäten ablaufen sollte wie die erste Runde. Auch grundsätzlich stellte man bei dieser Gelegenheit einen zweijährigen Turnus für die kommenden Jahre in Aussicht, da man der Auffassung war, dies habe sich bewährt. Für das zweite Bewerbungsverfahren (2015/16) verständigten sich die Länder zum anderen auf neue Quoten der Weiterleitung ans KMK-Sekretariat (zu den Gründen siehe Abschnitt 6.4.2.): In die nun vier Vorschläge pro Land, die zum einen unabhängig davon zählen, ob diese länderspezifisch oder länderübergreifend sind, wurden zum anderen auch die Vorschläge für Beispiele Guter Praxis der Erhaltung Immateriellen Kulturerbes integriert. Die Quoten wurden allerdings im Laufe des Verfahrens zwischen den Ländern und nach Rücksprache mit den DUK-Experten dahingehend als flexibel vereinbart, dass Länder, die ihre Quote nicht ausschöpfen ihre Plätze an andere Länder, die nach ihrer Vorauswahl mehr als vier Vorschläge für aussichtsreich halten, weitergeben können. Dies hatte zur Folge, dass ein Land wie Bayern in der Umsetzungspraxis deutlich mehr als vier Vorschläge weiterleiten konnte, da Länder wie Bremen oder das Saarland ihr Kontingent kaum oder gar nicht ausnutzten und andere ihr Kontingent zumindest nicht voll ausschöpften.

Die Möglichkeit der Benennung von Experten für das DUK-Expertenkomitee (2), die den Ländern im Rahmen von dessen Geschäftsordnung eingeräumt wird, nahmen diese bei beiden Berufungen (2012/13 sowie 2014/15) im Zeitraum, den diese Arbeit betrachtet, in der Zahl sehr umfangreich, wahr, so dass jeweils nicht alle Vorschläge vom DUK-Vorstand berücksichtigt werden konnten. Die beiden direkt für die Ländervertreter vorgesehenen Sitze im Gremium wurden in der Pilotphase 2013/14 durch die Berichterstatterin des KMK-Kulturausschusses aus Schleswig-Holstein und eine Vertretung des KMK-Sekretariats wahrgenommen, ab 2015 übernahmen die beiden Berichterstatter aus Schleswig-Holstein und Sachsen die Vertretung gemeinsam.

(7) Neben der Zusammenführung der von den Ländern weitergeleiteten Bewerbungen (2. Stufe des vereinbarten Verfahrens) – eine Aufgabe, die so viel Aufwand verursacht, dass ab dem zweiten Bewerbungsverfahren 2015/16 dafür eine länderseitig finanzierte Hilfskraft für die Dauer von zwei bis drei Monaten eingestellt wird (vgl. Dok. 25: KMK-Beschluss vom 11.12.2014: 2) – sowie der Vorbereitung der Beschlussfassung der KMK-Gremien Kulturausschuss, Amtschefkonferenz und Ministerrunde obliegt dem KMK-Sekretariat im Umsetzungsszenario der Inventarisierung insbesondere die Organisation der Herstellung des Benehmens über die Bestätigung der Auswahlempfehlungen des DUK-Expertenkomitees durch einen taggleichen Notenwechsel mit BKM (4. Stufe des vereinbarten Verfahrens; siehe hierzu auch Abschnitt 6.3.2.5.). Dazu kommt in enger Kooperation mit der DUK die anschließende unmittelbare Kommunikation der Entscheidungen durch Information der Bewerbergruppen per individualisierten, vom KMK-Generalsekretär und dem Vorsitzenden des DUK-Expertenkomitees unterzeichneten Schreiben (vgl. Dok. 25: KMK-Beschluss vom 11.12.2014: 2) und die entsprechende Pressearbeit. An der gemeinsamen Pressearbeit zu den Entscheidungen beteiligte sich BKM zunächst als dritter Partner, später übte die Behörde der Kulturstaatsministerin hierbei Zurückhaltung und überließ die Verkündung häufig allein den Ländern und der DUK.

(8) Das erste informelle Austauschtreffen zwischen Mitgliedern der Länderjurys und des DUK-Expertenkomitees gab es bereits im Frühjahr 2014. Dabei ging es insbesondere um eine Verständigung über die jeweiligen Modalitäten bei der Bewertung von eingehenden Vorschlägen. Im September 2015 traf man sich in dieser Runde erneut zu einem Vertiefungsworkshop zur Qualitätssicherung bei der Erstellung des Bundesweiten Verzeichnisses. Dieses zunächst nicht explizit vorgesehene Austauschformat wurde auch im Weiteren in unregelmäßigen Abständen in Abstimmung zwischen Ländern und DUK wiederholt.

(9) Die Länder, sowie auch die Kommunen, übernahmen gemeinsam mit der DUK-Geschäftsstelle Verantwortung bei der Organisation von Veranstaltungen zur Auszeichnung der Trägergruppen anerkannter Kulturformen. Diesen wurden jeweils individuelle Urkunden, die mit dem Logo „Wissen. Können. Weitergeben.“ versehen sind, überreicht. Im Jahr 2015 wurde eine entsprechende Veranstaltung, die weder im vereinbarten Stufenverfahren noch im durch die Zuwendungsbescheide der BKM definierten Aufgabenportfolio der DUK-Geschäftsstelle vorgesehen waren, von der Landesvertretung Schleswig-Holsteins beim Bund in Verbindung mit einer Fachtagung (16) ausgerichtet. Mecklenburg-Vorpommern organisierte im Jahr 2017 in seiner Berliner Landesvertretung eine ähnliche Veranstaltung nach der zweiten Bewerbungsrunde für das Bundesweite Verzeichnis. Im Jahr 2016, als Urkunden an nur sieben Kulturformen und zwei Gute Praxis-Beispiele überreicht werden sollten, ging die DUK zum Zweck der Auszeichnungsveranstaltung eine Partnerschaft mit der Stadt Heidelberg, die kurz zuvor als UNESCO-Creative City für Literatur anerkannt wurde, ein. Die Auszeichnung fand im Rahmen einer städtischen Festveranstaltung anlässlich der Interkulturellen Wochen gegen Rassismus statt. 2018 bildete die DUK-Hauptversammlung in Bamberg den Rahmen für eine Auszeichnung, bei der erneut eine Stadt mit direktem UNESCO-Bezug – eine Welterbestätte und die nationale Anerkennung der Bamberger Gärtnerkultur als Immaterielles Kulturerbe stehen für die Stadt zu Buche – Verantwortung für eine Festveranstaltung mit Urkundenvergabe übernahm. Auch die Durchführung von Auszeichnungsveranstaltungen war ein Lerneffekt aus den Nachbarländern, wie z. B. Österreich, das diese Würdigung ein- bis zweimal jährlich für seine Neueinträge ins nationale Verzeichnis veranstaltet (vgl. Staatenbericht 2015: 7). Dass diese Art der öffentlichen Würdigung zunächst nicht vorgesehen war und dann 2014/15 für wichtig erachtet wurde, liegt vermutlich an der in diesen wenigen Monaten bereits gewandelten Wahrnehmung des Inventarisierungsverfahrens. Während man anfangs von einer Bestandsaufnahme ausging, waren die Aspekte der Auszeichnung und Wertschätzung für die aus dem Verfahren erfolgreich hervorgegangen Gruppen bzw. Kulturformen – der Wettbewerbscharakter ließ sich bei allen Beteiligten wohl doch nicht ganz verleugnen – zum Ende der ersten Bewerbungsphase bereits dominant (siehe Abschnitt 6.2.2.3.).

Die kommunale Ebene ist neben der oben beschriebenen Ausrichtung von Auszeichnungsveranstaltungen (9) auf weitere Weise an der Inventarisierung beteiligt: Am Auswahlprozess wirken die kommunalen Spitzenverbände durch Mitgliedschaft eines Vertreters im Expertenkomitee (2) mit – die Vertretung wurde im Untersuchungszeitraum vom Deutschen Landkreistag wahrgenommen (vgl. K, Interview am 01.11.2018). Der Deutsche Städtetag war zudem Partner der Fachtagung im März 2015 (16). Die Beteiligung von kommunalen (Selbst-)Verwaltungen – Bürgermeistern, Kulturdezernenten, Verwaltungsmitarbeitern, Lokalpolitikern – an Vorschlägen von lokal verankerten traditionellen kulturellen Ausdrucksformen für das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes (1) ist ein weiterer Aspekt der kommunalen Mitwirkung an der Konventionsumsetzung. Konkrete Beispiele für letzteres sind die in Abschnitt 4.2. dargestellten Kulturformen Lindenkirchweih Limmersdorf und das Peter-und-Paul-Fest in Bretten. Aber auch weitere Beispiele können hier noch angeführt werden:

„Also wir haben ja Kommunen, zum Beispiel eine Stadt, die ausgezeichnet werden wollte wegen des intensiven Schachspiels. Da ist es eine ganze Kommune, die da den Antrag gestellt hat. Und die konnte auch plausibel machen, dass das wirklich für diese Stadt und für diese Umgebung ein ganz zentrales Moment kultureller Aktivität ist.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Dabei bewegen sich die kommunalen Verantwortungsträger auf einem schmalen Grat. In bestimmten Fällen ist die Gemeinde durchaus die geeignete Trägerinstitution für eine Kulturform, in anderen kann eine zu starke Vereinnahmung schnell in den Verdacht einer politischen Einflussnahme geraten:

„Gemeinden, die sich interessieren, Bürgermeister, die etwas mit stützen wollen, bis hin zu Bundestagsabgeordneten, die darin ein gewisses politisches Interesse sehen, dass etwas anerkannt wird, als immaterielles kulturelles Erbe […]. Also das ist doch auch ein von der Politik durchaus durchtränktes Feld. Das ist nicht hohe Weltpolitik. Aber es ist eine Politik, die regional ist, die natürlich auch viel zu tun hat mit der Bedeutung, die die Parteien haben vor Ort.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

(10) Während im Jahr 2013 die DUK-Geschäftsstelle zum Auftakt der nationalen Konventionsumsetzung sechs Regionalforen zur Information von Interessierten über die UNESCO-Konvention und ihre Umsetzung in Deutschland insbesondere im Hinblick auf das Inventarisierungsverfahren organisierte und dafür jeweils Kooperationen mit den Ländern einging, übernahmen einige von diesen das Format von Infoveranstaltungen ab 2015 selbst. Besonders aktiv waren Bayern und Nordrhein-Westfalen, aber auch Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Berlin und Rheinland-Pfalz organisierten eigene Veranstaltungen. I. d. R. luden Sie Mitglieder des DUK-Expertenkomitees und/oder Mitarbeiter der DUK-Geschäftsstelle als Referenten dazu ein.

(11)/(12) In Bayern entwickelte sich dank der schon in der ersten Bewerbungsrunde zahlreichen Bewerbungen, durch die Einrichtung eines Landesverzeichnisses mit eigenem Logo und anschließend der Etablierung einer Beratungsstelle, zunächst beim Bayerischen Landesverein für Heimatpflege und später beim Institut für Volkskunde der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, eine große Dynamik rund ums Immaterielle Kulturerbe. Die staatlich geförderten Bezirksheimatpfleger und ehrenamtlichen Kreisheimatpfleger waren eine Struktur, auf der man hierbei gut aufbauen konnte. In Nordrhein-Westfalen entschied man sich ebenfalls früh dafür, ein Landesverzeichnis (11) mit eigenem Logo, das die aufgenommen Trägergruppen nutzen können, einzurichten. Weitere Landesverzeichnisse führen inzwischen Sachsen und Sachsen-Anhalt. Eine große Dynamik in die Bewerbungslage kam in NRW aber interessanterweise nicht durch das Landesverzeichnis, sondern 2016 mit der Einrichtung einer Beratungsstelle (12) an der Universität Paderborn. Beratungsstellen außerhalb der Landesverwaltung richteten auch Sachsen-Anhalt und Thüringen inzwischen ein.

6.3.1.3 Deutsche UNESCO-Kommission

Seit 2013 trifft sich das DUK-Expertenkomitee (2) zu zwei jährlichen Sitzungen, eine im Frühjahr und eine im Herbst. Die jeweilige Vor- und Nachbereitung liegt im Aufgabenbereich der DUK-Geschäftsstelle (4). Die Hauptaufgabe der Bewertungen von Dossiers im Rahmen des Inventarisierungsverfahrens erfolgt anhand der konkret eingegangenen Dossiers in Stufe 3 des Verfahrens (siehe Abschnitt 6.2.2.2.) jeweils über den Sommer in individueller Kapazität der Experten:

„Es sind 64 Projekte, die gelesen werden müssen. Das sind dann also doch über tausend Seiten, die da von jedem gelesen werden. Und natürlich die zehn [Bewerbungsdossiers], für die jeder verantwortlich ist im engeren Sinne und ein schriftliches Gutachten macht. Die müssen natürlich genauer gelesen werden.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Empfehlungen für Aufnahmen ins Bundesweite Verzeichnis werden dann auf der Herbstsitzung gemeinsam getroffen. Der Vertreter der Kommunen, Jörg Freese, äußert sich zur Sitzungsatmosphäre im Gremium wie folgt:

„Ich hatte den [...] wohltuenden Eindruck, dass die Leute da, gerade die Wissenschaftler da ihre Fachexpertise eingebracht haben und nicht so sehr auf irgendwas jetzt eingeschossen haben. Dass jeder so persönliche Vorlieben hat oder nicht, das ist normal. Das nicht; hatte ich auch den Eindruck bei dem einen oder anderen. Aber das war nie durchschlagend. Und auch die Länder, sind ja immer nur einige vertreten natürlich, können ja nicht 16 Länder immer am Tisch sitzen, auch da fand ich, war das Bemühen eigentlich erkennbar, dass die jetzt nicht sagen, so ich bin jetzt aus Schleswig-Holstein und jetzt muss ich aber das und das jetzt irgendwie unbedingt durchbringen.“ (K, Interview am 01.11.2018)

(13) Auch hinsichtlich der Bestimmung eines Logos für das Immaterielle Kulturerbe in Deutschland tauschte man sich im Expertenkomitee in dessen erstem Arbeitsjahr aus. Da die Experten ihre Rolle gegenüber Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft als eine aktivierende ansahen, sprachen sie sich für die Entwicklung eines eigenen Logos für das Bundesweite Verzeichnis aus. Die Erstellung wurde in einem öffentlichen, offenen Wettbewerb ausgeschrieben – hieran beteiligten sich 31 Personen mit 46 Vorschlägen. Den Zuschlag erhielt auf Votum des Expertenkomitees der Grafiker Ercan Tuna aus München.

Abbildung 6.1
figure 1

Logo Immaterielles Kulturerbe - Wissen. Können. Weitergeben. (Copyright: Deutsche UNESCO-Kommission)

Das Logo (vgl. Abbildung 6.1) wurde als eingetragene Marke beim Deutschen Patent- und Markenamt geschützt. Für die Logonutzung durch die Trägergruppen des Immateriellen Kulturerbes wurden seitens der DUK-Geschäftsstelle detaillierte Nutzungsbedingungen in einem Leitfaden formuliert. In einem weiteren Leitfaden werden die grafischen Nutzungsbedingungen erläutert. Die Trägergruppen sind in diesem Zusammenhang jährlich gebeten über die Nutzungen des Logos einen formlosen Bericht an die DUK-Geschäftsstelle zu erstatten. Die Kreation und Vergabe eines Logos wurde von kritischen Stimmen als Indiz für einen exklusiven Charakter des Bundesweiten Verzeichnisses des Immateriellen Kulturerbes, das damit Hierarchien und Ausschlüsse produziere, interpretiert (vgl. Schönberger 2017: 1). Zwar kann man diese Wirkung nicht ausschließen – „Kultur zu fördern heißt Ausschlüsse zu konstruieren“ hieß es in „Der Kulturinfarkt“ (Haselbach/Klein/Knüsel/Opitz 2012: 38) –, aus den Debatten im Expertenkomitee wurde aber deutlich, dass dies zumindest nicht der Beweggrund für die Kreation des Logos war. Tatsächlich ging es den Experten um eine bessere, leichter zugängliche Form der Kommunikation des Themas auf der einen und eine öffentlich sichtbare Anerkennung für die Trägerformen auf der anderen Seite. Da die kommerzielle Nutzung des Logos per Nutzungsleitfaden ausgeschlossen ist, kann dieses zumindest auch nicht als Teil einer direkten Inwertsetzungsstrategie interpretiert werden.

Gemeinsam mit den Ländern wurden von der DUK-Geschäftsstelle im Jahr 2013 begleitend zur ersten Bewerbungsrunde sechs Regionalforen (10), verteilt über das Bundesgebiet in Leipzig, Lübeck, Mainz, Osnabrück, Berlin und Augsburg, organisiert. Diese dienten der Information über die UNESCO-Konvention und den Prozess der Erstellung des Bundesweiten Verzeichnisses sowie der konkreten Beratung von möglichen Trägergruppen hinsichtlich der Möglichkeit der Bewerbung für Gruppen der Zivilgesellschaft. Insgesamt nahmen mehr als 300 Personen an den sechs Veranstaltungen teil. Die Reaktionen auf diese Form der Öffentlichkeitsarbeit für die Umsetzung der Konventionen waren überwiegend positiv. Der Wissenschaftler Volker Letzner, der das Forum in Augsburg am 15. Juli 2013 besuchte, lobte etwa die Offenheit für Anpassungen des Inventarisierungsverfahrens in künftigen Runden auf Basis von Vorschlägen der Teilnehmer (vgl. Letzner 2013: 60). Zwei Vorstandsmitglieder des Bundesverbands für Ethnolog*innen e. V., die in Mainz am 24. Mai 2013 und Leipzig am 3. Mai 2013 teilnahmen, begrüßten das Format ebenfalls (vgl. https://www.bundesverband-ethnologie.de/kunde/upload/all_files/Berichte/Besprechung--UNESCO-Rein-Lipp-28.05.2013.pdf; Zugriff am 13.12.2021).

(14) Im September 2013 wurde von der DUK-Geschäftsstelle in Berlin für einen Personenkreis, der mit der operativen Umsetzung der Konvention in Deutschland befasst war, also Mitglieder des DUK-Expertenkomitees, Verantwortliche in den Länder-Kulturministerien, Vertreter von relevanten NGOs; insgesamt 20 Personen; ein zweitägiger Vertiefungsworkshop organisiert. Den Workshop leitete ein vom UNESCO-Sekretariat vermittelter Trainer aus Serbien, der Mitglied des von der UNESCO weltweit aufgebauten Fortbildernetzwerks der Konvention ist. Als Arbeitsgrundlage wurde ein Handbuch genutzt, welches das UNESCO-Sekretariat im Rahmen seiner Capacity-Building-Strategie erstellt hatte, das die DUK-Geschäftsstelle ins Deutsche übertragen und drucken ließ. Diesen Vertiefungsworkshop führte die DUK in Kooperation mit der KMK, der Österreichischen UNESCO-Kommission sowie dem Schweizer Bundesamt für Kultur durch. Die Partner aus Österreich und der Schweiz entsendeten je einen Vertreter zum Workshop, was den Fachaustausch zwischen den drei Ländern förderte sowie für die kommenden Jahre weiter vertiefen half (siehe auch Abschnitt 6.3.4.3.).

(15) Im Oktober 2013 veranstaltete die DUK ebenfalls in Berlin in Fachkooperation mit der Kulturstiftung des Bundes, der Kulturstiftung der Länder und dem Japanischen Kulturinstitut Köln ein eintägiges Fachsymposium „Immaterielles Kulturerbe erhalten und wertschätzen“ mit Referenten aus Deutschland, Japan, Belgien, Lettland und Spanien sowie vom UNESCO-Sekretariat aus Paris. Anlass des Symposiums war das zehnjährige Jubiläum der Verabschiedung der Konvention und der im selben Jahr erfolgte deutsche Beitritt. Es kann als ein von mehreren Seiten gefordertes „Forum Immaterielles Kulturerbe“ unter Einbeziehung von Verbänden und interessierten Organisationen gewertet werden, wie es ähnlich zu Beginn der nationalen Umsetzung in der Schweiz stattgefunden hatte (siehe Abschnitt 4.4.2.2.). Rund 150 Teilnehmende – aus der Wissenschaft, potenzielle Träger Immateriellen Kulturerbes, politisch Verantwortliche, Medienvertreter usw. – erarbeiteten kollaborativ inhaltliche Anregungen für die Umsetzung der Konvention in und durch Deutschland. Grußworte hielten Monika Grütters, damals noch Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Medien im Deutschen Bundestag, und DUK-Vizepräsident Christoph Wulf. Die Veranstaltung wurde von einer Poster-Session begleitet, bei der 20 Plakate Projekte aus Praxis und Forschung zum Immateriellen Kulturerbe vorstellten. Diese wurden später online auf unesco.de (17) veröffentlicht. Das Fachsymposium wurde von einer Vorbereitungsphase, mit Lektüre-Angebot zum vertieften Einlesen, und einer Nachbereitungsphase, in der alle Teilnehmenden über Google Docs an der Entstehung des Ergebnispapiers beteiligt waren, begleitet. Das Ergebnispapier der Rundtisch-Diskussionen enthielt konkrete und zum Teil interessante Anregungen für die deutsche Umsetzung der UNESCO-Konvention, von denen in den folgenden Jahren einige umgesetzt werden konnten, andere aus Ressourcen- oder sonstigen Gründen aber aufgeschoben wurden.

(16) 2015 fand erneut eine größere Fachtagung mit ca. 180 Teilnehmenden unter dem Motto „Wissen. Können. Weitergeben.“ in Berlin in der Landesvertretung Schleswig-Holsteins beim Bund gemeinsam mit dem Deutschen Kulturrat und dem Deutschen Städtetag statt. Zusammen mit den Übergaben von Urkunden (9) an die Trägergemeinschaften der ersten Einträge im Bundesweiten Verzeichnis bot die Veranstaltung Trägergruppen und Experten die Gelegenheit, nach der ersten Bewerbungsrunde Erfahrungen auszutauschen und noch unerschlossene Potenziale im Bereich des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland zu identifizieren sowie eine moderne Praxis der Pflege zu diskutieren. Ein Abschlusspapier mit den dokumentierten Ergebnissen der vier Workshops enthielt erneut interessante Anregungen, die zum Teil in das weitere Arbeitsprogramm der DUK-Geschäftsstelle einflossen.

(17) Eine der ersten Maßnahmen der von BKM finanzierten DUK-Geschäftsstelle (4) war bereits ab 2012 die Erstellung eines umfassend informierenden Internetauftritts zum Immateriellen Kulturerbe auf der Seite www.unesco.de. Hier fanden sich die vom AA erstellten amtlichen Übersetzungen des Konventionstexts und der Richtlinien zur Durchführung des Übereinkommens sowie Meldungen zu aktuellen Aktivitäten zum Immateriellen Kulturerbe in Deutschland und weltweit mit Bezügen zur deutschen Umsetzungspraxis. Zudem etablierte die DUK eine Artikelserie zu den Einträgen im Register Guter Praxis-Beispiele der Erhaltung Immateriellen Kulturerbes der UNESCO und nahm Übersetzungen von relevanten Texten der Seite ich.unesco.org, zum Beispiel einer virtuellen Ausstellung zum Thema Immaterielles Kulturerbe und Nachhaltige Entwicklung, vor. Auch ein eigens produzierter Kurzfilm, der erklärte, was unter Immateriellem Kulturerbe zu verstehen ist, fand sich hier. Ab Beginn des Bewerbungsverfahrens für das Bundesweite Verzeichnis (1) waren hier auch stets das aktuell gültige Bewerbungsformular, die Hinweisblätter zur Erstellung einer Bewerbung, FAQs und die Kriterien mit näheren Erläuterungen und ab der zweiten Runde auch Beispieldossiers erfolgreicher und aussagekräftiger Bewerbungen zu finden. Ab Ende 2014 wurde zudem eine umfangreiche Online-Darstellung des Bundesweiten Verzeichnisses in Text (deutsch und englisch) und Bild, sowie wenn vorhanden Video- und Audiodateien, mit eigener Datenbank und Suchfunktion eingerichtet. Direkt zugänglich sind auf diesen Seiten damit alle Informationen zum deutschen Bewerbungsverfahren (1) und die Kontakte zu den einzelnen Ansprechpersonen in den Ländern (6). Damit wurde die Seite zum zentralen Portal für am Immateriellen Kulturerbe Interessierte, auf das die meisten Bundesländer sowie interessierte Kulturverbände von ihren Webseiten verlinkt haben.

(18) Im Jahr 2012 erarbeitete die DUK auch zwei Druckerzeugnisse: eine Broschüre mit den Vertragstexten der Konvention (Übereinkommen und Richtlinien zur Umsetzung) und einen Themenflyer zum Immateriellen Kulturerbe. Diese wurden in den Folgejahren an einen breiten Kreis von Multiplikatoren, an Länder- und Bundesministerien sowie NGOs und Interessierte verteilt. Im Dezember 2014 erschien zudem eine weitere Publikation: die Erstauflage einer Broschüre mit den Einträgen im Bundesweiten Verzeichnis. Diese betrug 3.000 Exemplare, davon 500 englischsprachig, um den internationalen Fachaustausch zu fördern. Die Broschüre wurde seitdem mehrfach ergänzt, thematisch um Inhalte der später durchgeführten Kampagne „Kulturtalente“ (22) erweitert, und nachgedruckt.

(19) Für Interessenten wurde ab 2012 ein separater elektronischer Newsletter etabliert, der etwa alle zwei Monate mit Neuigkeiten zum Immateriellen Kulturerbe erschien. Dieser ging im Jahr 2016 im DUK-Newsletter, der sich im etwa gleichen Turnus allen Themen rund um das Erbe der Menschheit widmete, auf.

(20) Um in der Kulturszene Aufmerksamkeit für die Möglichkeit der Bewerbung für das Bundesweite Verzeichnis (1) zu erzielen, wurden in Fachzeitschriften von der DUK auch Artikel platziert und Anzeigen geschaltet, z. B. in den Kulturpolitischen Mitteilungen, in der Zeitschrift „Soziokultur“ und in „Politik & Kultur“, Ausgabe September/Oktober V/2013. In der Folgeausgabe November/Dezember VI/2013 dieses Periodikums des Deutschen Kulturrats erschien dann ein ausführliches redaktionell gestaltetes Dossier zum Immateriellen Kulturerbe.

Mit der Einrichtung der Geschäftsstelle wurde auch die Pressearbeit der Deutschen UNESCO-Kommission zum Immateriellen Kulturerbe substantiiert. Regelmäßig gingen Pressemitteilungen an den Gesamt-DUK-Presseverteiler und einen spezifisch zusammengestellten Presseverteiler zum Immateriellen Kulturerbe.

(21) Zudem wurden spezifische Informationsprodukte für die Zielgruppe Journalisten erstellt, da man die als wichtig eingestufte Medienberichterstattung über das Immaterielle Kulturerbe positiv beeinflussen wollte: ein Hintergrundpapier für Journalisten mit FAQs, spezifischen Pressefragen sowie Daten & Fakten zur Konvention, das mehrere Jahre lang wiederholt aktualisiert wurde, sowie ein Online-Pressebereich zum Immateriellen Kulturerbe auf der Website der DUK. Ferner wurden von der Geschäftsstelle im Rahmen der gerade anfangs sehr wichtigen Kommunikationsarbeit den Ländern anlassbezogen Muster-Pressemitteilungen bzw. Mustertextbausteine für die Kommunikation gegenüber Öffentlichkeit und Medien angeboten. Das im ersten Förderjahr 2012 von BKM geforderte Kommunikationskonzept entwickelte die DUK-Geschäftsstelle in den beiden Folgejahren weiter und passte es jeweils an die veränderten Anforderungen der Öffentlichkeitsarbeit und zur Bewusstseinsbildung für die Bedeutung des Immateriellen Kulturerbes an. Es hatte zum Ziel, die Kommunikationsarbeit klar zu strukturieren und diese bewusst strategisch einzusetzen. Enthalten waren die Leitideen und Botschaften der Kommunikationsarbeit, eine Bestimmung der Zielgruppen der Informations- und Öffentlichkeitsarbeit, eine Zusammenfassung der Aktivitäten im jeweils vergangenen sowie eine Übersicht über die geplanten Aktivitäten im kommenden Jahr, außerdem nähere Informationen zur Durchführung der einzelnen Maßnahmen bzw. zur Nutzung der Instrumente der Ansprache.

(22) Nach Abschluss der Pilotphase holte die DUK-Geschäftsstelle 2015 zu Kernfragen strategischer Kommunikation des Themas Immaterielles Kulturerbe Beratung einer Agentur ein. Hintergrund war, dass das Immaterielle Kulturerbe durch das hohe Interesse, das es medial inzwischen erlangt hatte, neu zu einem von drei Schwerpunktthemen der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der DUK erkoren wurde. Ergebnis dieses Beratungsprozesses war insbesondere eine öffentliche Kampagne, die, wenn auch mit geringen finanziellen Mitteln ausgestattet, über die Sachinformationen hinaus Interesse und Emotionen wecken und damit eine andere Art der Aufmerksamkeit auf das Thema lenken sollte: Als „Kulturtalente“ wurden beispielhaft Persönlichkeiten aus den Trägergruppen von anerkannten Kulturformen in Interviews portraitiert und ihr Bild auf Postern verbreitet. Für die Kampagne selbst wurde mit Postkarten geworben.

(23) Die von der DUK ernannten Experten verstanden ihr Mandat stets auch als aktivierend im Verhältnis zur Zivilgesellschaft und besonders zu ihren als unterrepräsentiert wahrgenommenen Teilen: Potenzielle Trägergruppen wurden mit Unterstützung der DUK-Geschäftsstelle aktiv auf das Bewerbungsverfahren hingewiesen. Eine der Grundlagen für diese Aktivierung bildeten zwei wissenschaftliche Recherche-Aufträge, die bereits 2012 vergeben wurden und noch vor dem ersten Bewerbungsverfahren zum einen die „Träger-Landschaft“ in Deutschland und zum anderen mögliche Anknüpfungspunkte zu bereits erfolgten Einträgen in nationalen Verzeichnissen anderer Länder explorieren sollten (siehe Abschnitt 6.2.3.). Die beiden Forschungsarbeiten, deren Ergebnisse ein wichtiges Wissensreservoir für die weitere Facharbeit der Geschäftsstelle und des Expertenkomitees bildeten, wurden nach Abschluss des ersten Bewerbungsverfahrens Ende 2014 auch auf der DUK-Website (17) veröffentlicht.

(24) Weiterhin wurden 2015 zwei Kommunikationspapiere erstellt, die in der Folge Grundlage für das Werben und Argumentieren gegenüber potenziellen Trägergruppen auf Veranstaltungen oder in Beratungsgesprächen waren: „Immaterielles Kulturerbe in Deutschland gesucht – Botschaften an potentielle Zielgruppen (nicht nur) im urbanen Kontext“ (Dok. 28) sowie „Positive Effekte eines Bewerbungsprozesses als Immaterielles Kulturerbe in Deutschland“ (Dok. 29).

(25) Die DUK hat zudem im Rahmen des aktivierenden Werbens gegenüber möglichen weiteren Trägergruppen selbst jeweils eintägige, praxisorientierte Workshops zu den Themen urbanes und migrantisches Immaterielles Kulturerbe veranstaltet: im Juli 2015 in Hamburg und im März 2016 in Heidelberg. Veranstaltungsort war in Hamburg ein soziokulturelles Zentrum und in Heidelberg, zugleich Fachpartner der Veranstaltung, das städtisch getragene Interkulturelle Zentrum.

(26) Über die allgemeine Beratungstätigkeit der DUK-Geschäftsstelle hinaus wurde zur Unterstützung von insbesondere kleinen und nicht von Verbänden strukturierten Trägergruppen, die konkrete praktische Hilfe beim Erstellen von Bewerbungen für das Verzeichnis (1) benötigen, ab 2016 ein Mentoring-Programm entwickelt. Hierzu sollten Alumni des DUK-Freiwilligendienstes kulturweit von der DUK-Geschäftsstelle geschult werden, diese Aufgabe im direkten Kontext zu übernehmen. Die Umsetzung in die Praxis erfolgte ab dem Jahr 2017.

(27) Mit der Aufnahme ins Bundesweite Verzeichnis ist für die Kulturträgergruppen keine automatische finanzielle oder sonstige Unterstützung verbunden. Auf vielfache Nachfrage, welchen Vorteil anerkannte Trägergruppe hätten, wurde von der DUK-Geschäftsstelle ab dem Jahr 2015 ein Handbuch mit möglichen Fördermaßnahmen, die unabhängig von der Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe bestehen, erarbeitet, das auf der DUK-Website nach wie vor verfügbar ist (https://www.unesco.de/sites/default/files/2018-04/Handbuch_F%C3%B6rderma%C3%9Fnahmen_ImmateriellesKulturerbe.pdf; Zugriff am 13.12.2021). Ressourcen werden hierbei in einem breiten Sinne verstanden: Dazu zählen öffentliche Wertschätzung, ideelle bzw. Sachleistungen, z. B. kostenlose oder kostengünstige Zur-Verfügung-Stellung von Räumen, aber auch öffentliche Aufmerksamkeit, Anerkennung, Förderpolitik, Fundraising, Zugang zu Medien, personelle und finanzielle Ressourcen. Die Idee hinter dem Handbuch war, dass Trägergruppen sich selbst um entsprechende Förderung bemühen müssen und das Label des Immateriellen Kulturerbes als Argument nutzen könnten. Die 2016 veröffentlichte Publikation bietet eine exemplarische Zusammenstellung als Anregung zur Identifikation möglicher Unterstützungsquellen.

Zu einer weiteren Aufgabe der DUK-Geschäftsstelle, die ursprünglich gar nicht in ihrem Aufgabenportfolio explizit vorgesehen war, entwickelte sich die Federführung und Koordination bei der Erstellung von UNESCO-Nominierungen (3). In zum Teil äußert kurzer Zeit wurden gemeinsam mit Vertretern der jeweiligen Trägergruppen der Kulturformen Dossiers erstellt, die nach Abstimmung mit den verantwortlichen staatlichen Stellen für eine Listeneintragung bei der UNESCO eingereicht wurden. Im Berichtszeitraum war dies um die Jahreswende 2014/15 das Dossier zum Genossenschaftswesen und parallel das Mehrländerdossier zur Falknerei, um die Jahreswende 2015/16 die Nominierung Orgelbau und Orgelmusik und ab 2016 das Mehrländerdossier zum Blaudruck (siehe Abschnitt 6.3.4.1.).

(28) Die DUK-Geschäftsstelle bemühte sich zudem, mit sowohl internationaler als auch nationaler Perspektive, in Deutschland ansässige NGOs, die im Feld des Immateriellen Kulturerbes wirken, für die Mitwirkung an der Konventionsumsetzung zu aktivieren. Auf Basis einer Internet-Recherche sowie der Auswertung des OECKL wurden zunächst zu Beginn der Konventionsumsetzung mehr als 200 potenziell relevante NGOs identifiziert. Diese wurden im Februar 2013 per E-Mail und auf der DUK-Website gezielt auf Mitwirkungsmöglichkeiten im Rahmen der Umsetzung der UNESCO-Konvention hingewiesen.

Dass die Aktivitäten der DUK besonders vielfältig und zahlreich sind, liegt an ihrer zentralen Rolle in der Umsetzungsarchitektur und den der Geschäftsstelle übertragenen Aufgaben. Es ist nichtsdestotrotz zu konstatieren, dass die DUK eine beachtliche Aktivität entwickelt hat, die der Sichtbarkeit der Konvention gute Dienste erwiesen hat. Die KMK-Berichterstatterin für das Thema Immaterielles Kulturerbe Susanne Bieler-Seelhoff meinte hierzu etwa:

„Nichts ist so gut, dass es nicht verbessert werden kann, aber ich halte eigentlich für ganz entscheidend in der Zusammenarbeit unsere Koordinierungsstelle, die Geschäftsstelle bei der Deutschen UNESCO-Kommission. Weil Sie brauchen für eine gute Zusammenarbeit aller wirklich jemanden, der wie eine Spinne im Netz nicht nur die Formalia, sondern auch den Input gibt von den internationalen Konferenzen, der hilft, auch mit Themen zu setzen, der erkennt auch die Nachfragen der einzelnen Traditionen, wo könnte man noch nachschärfen und so weiter. Das halte ich für sehr gut aufgestellt mittlerweile bei uns und halte ich auch für einen Glücksfall, dass wir es so gemacht haben.“ (L, Interview am 15.11.2018)

6.3.1.4 Zivilgesellschaft und Expertenzentren

Im Bereich der zivilgesellschaftlichen Organisationen und Expertenzentren gibt es über die im Folgenden beschriebenen Maßnahmen hinaus in Verbindung mit konkreten Kulturformen des Immateriellen Kulturerbes noch zahlreiche weitere Projekte, Programme und Strategien der Umsetzung der Konvention. Hier wird sich auf allgemeine, der Erhaltung Immateriellen Kulturerbes dienende Maßnahmen beschränkt.

Während einigen der im Rahmen dieser Arbeit befragten Experten über die Inventarisierung und die Einrichtung von Fachstellen und -gremien keine relevanten weiteren Maßnahmen der Umsetzung einfielen (vgl. etwa B, Interview am 05.11.2018), wies Gertraud Koch ganz bewusst auf vielfältige Aktivitäten vor allem nichtstaatlicher Akteure, insbesondere Museen, Universitäten und Forschungseinrichtungen, hin:

„Die Museen sind ja teilweise auch als Antragsteller [für Aufnahmen in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes, Anm. d. Verf.] aktiv. […] Es gibt Lehrveranstaltungen natürlich dazu, […] Vorlesungsreihen und so weiter. Da könnte vielleicht noch ein bisschen mehr passieren. Es spielt oft aber dann auch indirekt eine Rolle. Also wenn ich jetzt zum Beispiel das EU-Projekt angucke, was wir machen, wo es um Participatory Memory Practices geht. Das ist Immaterielles Kulturerbe, auch wenn es nicht draufsteht, aber natürlich auch. Ja, also insofern wird das Thema wichtiger, auch wenn nicht immer ‚Immaterielles Kulturerbe‘ draufsteht, ja.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Am Folgeprojekt des bereits im Abschnitt 6.2.6. vorgestellten EU-Projekts „Cultural Capital Counts“ namens ARTISTIC von 2017 bis 2020 hat, wie im Zitat angesprochen, die Universität Hamburg mit dem Lehrstuhl von Gertraud Koch mitgewirkt. (vgl. Meißner 2020: 49 f.)

(29) Mit mehreren Jahren Vorlauf konnte 2016 an der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar und der Friedrich-Schiller-Universität Jena auf Betreiben von Tiago de Oliveira Pinto ein UNESCO-Lehrstuhl im Kontext Immaterielles Kulturerbe eingerichtet werden. Das UNESCO-Chair-Programm vernetzt seit 1992 zu UNESCO-Themen forschende bzw. andere Beiträge leistende Lehrstühle weltweit. Denomination des UNESCO-Lehrstuhls in Weimar/Jena ist „Transkulturelle Musikforschung“ – inhaltlich geht es um die mit den jeweiligen Trägerschaften kollaborativ entwickelte Erforschung der soziokulturellen, historischen und globalen Kontexte musikalischer Darbietungen. Pinto war von Anbeginn 2013 Mitglied im DUK-Expertenkomitee zum Immateriellen Kulturerbe (2) und pflegte bereits vor der Anerkennung seines Lehrstuhls als UNESCO-Chair zahlreiche Partnerschaften mit Forschungseinrichtungen und Trägergruppen im globalen Süden. Eine noch stärkere Ausrichtung seiner Arbeit an der UNESCO-Konvention von 2003 war entsprechend gut vorbereitet und wird durch Forschungsvorhaben in den Bereichen Dokumentation, Analyse und Erforschung der Wirkung von Erhaltungsmaßnahmen auf den sozialen Kontext der Trägerschaften u. a. in Afghanistan, Äthiopien, Kolumbien, Brasilien, Israel und Deutschland, sowie Lehrveranstaltungen, Workshops und Konzerte zu den Themen Musik und Performance als Immaterielles Kulturerbe umgesetzt.

Durch Mitglieder des DUK-Expertenkomitees und von Landesjurys mit befördert, kam das Thema auch an der Universität Hamburg (Gertraud Koch), der Universität Freiburg (Markus Tauschek und Wolfgang Mezger), der BTU Cottbus-Senftenberg (Marie-Theres Albert), der Universität Paderborn (Eva-Maria Seng) und der Universität Regensburg (Daniel Drascek) voran.

„Ich denke, dass [Immaterielles Kulturerbe] heute ein Begriff ist und dass sehr stark er jetzt auch in dem Bereich der Heritage Studies mit aufgegriffen wird und verhandelt wird. Wobei natürlich sehr stark immer auch noch das Weltkulturerbe Thema ist. […] Ich würde sagen, es hat sich erst mal sehr stark verändert, dass darüber diskutiert wird überhaupt, und dass deutlich wird, wie viel Fachbezug tatsächlich dazu da ist. Ich habe vorher so spontan gesagt: ‚Das ist ja unser Metier.‘ [des Fachs Kulturanthropologie, Anm. d. Verf.] Ich glaube, die Einsicht hat sich erst nach und nach verfestigt, dass es unser Metier ist und sich auch verbreitet, und dass es auch ein Feld ist, in dem wir präsent sein sollen und müssen. Es wird auch kritisch diskutiert. Und das ist natürlich auch eine Qualität von Wissenschaft, dass es kritisch diskutiert wird und darüber auch weiterentwickelt werden kann. […] Und ich glaube, inzwischen ist allen klar, es ist eine sehr, sehr ernsthafte Konvention, die eine ganze Menge auch bewegen kann.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Soweit die Einschätzung von Gertraud Koch, die an der Universität Hamburg den Lehrstuhl für Volkskunde/Kulturanthropologie innehat. Auch Susanne Bieler-Seelhoff betont die insgesamt wichtige Rolle der Wissenschaft und die darüberhinausgehende Sensibilisierung der Zivilgesellschaft durch insbesondere in der Brauchpflege aktive Kulturverbände wie Heimatbünde (vgl. L, Interview am 15.11.2018)

Der Deutsche Kulturrat als bundesweiter Dachverband der Spartenkulturverbände hat sich für das Thema Immaterielles Kulturerbe und die Umsetzung in Deutschland erst interessiert als die erste Bewerbungsphase begann (vgl. V, Interview am 06.11.2018) und man eigene Mitgliedsverbände motivierte und zum Teil auch unterstützte, sich für das Bundesweite Verzeichnis (1) zu bewerben (vgl. Dok. 24: Stellungnahme des Deutschen Kulturrats vom 06.12.2013: 1). Nach den ersten Anerkennungen, u. a. der unterstützten Verbände des Chorwesens und der Theater- und Orchesterlandschaft, beteiligte sich der Deutsche Kulturrat gemeinsam mit dem Deutschen Städtetag an der o. g. Fachtagung im März 2015 in Berlin (16). Auch das Welttanzprogramm, das Amateurtheater, den Modernen Tanz und die Künstlerischen Drucktechniken unterstützte der Deutsche Kulturrat öffentlichkeitswirksam in seinem Periodikum „Politik & Kultur“ (Ausgabe 1/2014), da jeweils Mitgliedsverbände hinter diesen Bewerbungen standen. Der Deutsche Kulturrat appellierte im selben Zeitraum an das DUK-Expertenkomitee „auf einen angemessenen Ausgleich zwischen den Künsten, Folklore und Brauchtum zu achten. Der Deutsche Kulturrat sieht kein Erfordernis, Kulinaria in die Liste des immateriellen Kulturerbes aufzunehmen.“ (Dok. 24: Stellungnahme des Deutschen Kulturrats vom 06.12.2013: 2) Die hierbei deutlich zum Ausdruck kommende Skepsis gegenüber nicht mit den Künsten zu assoziierenden Kulturformen schlug sich in den folgenden Jahren wieder in einer weitgehend passiven Begleitung des deutschen Umsetzungsprozesses nieder.

(30) Der Bund Heimat und Umwelt, der auch als institutionelles Mitglied im DUK-Expertenkomitee (2) vertreten ist, ist international seit 2016 als Beratungsorganisation des Zwischenstaatlichen Ausschusses akkreditiert. Nach dem Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit kamen 2018 noch der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) und 2020 der Bayerische Verein für Heimatpflege hinzu, die zuvor durch Vertreter ebenfalls Erfahrung im DUK-Expertenkomitee (2) gesammelt hatten. Bemühungen zur Akkreditierung, die allerdings bis heute erfolglos blieben, gab es zudem seitens der in Deutschland ansässigen europäischen NGO ANME (Association of natural medecine in Europe).

(31) Der Bund Heimat und Umwelt gründete 2015 in Folge einer gemeinsamen Veranstaltung mit der DUK in Berlin, bei der Aktive aus dem Umfeld der Bürger- und Heimatverbände in den Ländern zusammenkamen, die beim Immateriellen Kulturerbe besonders engagiert und zum Teil auch in Jury-Arbeit auf Länder- und Bundesebene involviert waren, eine Fachgruppe Immaterielles Kulturerbe. Diese traf sich fortan zwei Mal jährlich und organisierte auch eigene Tagungen. Landesheimatbünde führten zudem eigene Schulungs- und andere Veranstaltungen zum Immateriellen Kulturerbe durch. Hauptziel des BHU und seiner Mitgliedsverbände war inhaltlich eine Stärkung der Komponente Naturwissen in der deutschen Umsetzung des Immateriellen Kulturerbes, insbesondere in der Länderjury-Arbeit, die Identifizierung interessanter Kulturformen in diesem Bereich und die Unterstützung kleinerer, nicht so lobby-starker Trägergruppen von lebendigen Traditionen.

(32) Aus einer Kombination der Aktivitäten des ZDH und der Universität Göttingen in Kooperation mit der Fachhochschule Köln entstand das OMAHETI-Projekt (Objekte der Könner. Materialisierungen handwerklichen Erfahrungswissen zwischen Tradition und Innovation) (siehe auch Abschnitt 6.2.6.). Im Rahmen des vom BMBF von 2015 bis 2019 geförderten Forschungsvorhabens wurden zwei Handwerkstechniken – der Orgelbau und der Lehmbau – auf ihr Innovationspotenzial und ihren Gehalt impliziten Wissens untersucht. Daraus entstanden u. a. zwei Lehrfilme, die die Erkenntnisse auf die Anwendungsfälle anwendeten, und eine sehenswerte Ausstellung, die das Wissen und Können im Handwerk in den Mittelpunkt stellte.

(33) Die deutsche Sektion der CIOFF verbreitete nicht nur Informationen über die deutsche Umsetzung der Konvention in ihren Fachkreisen und tauschte sich mit anderen Sektionen international aus. Im Jahr 2014 veranstaltete sie auch den CIOFF-Weltkongress in Bautzen und richtete dazu – unter UNESCO-Schirmherrschaft (34) – eine begleitende Fachtagung „Awareness of Intangible Cultural Heritage“ aus. Sie unterstützte ferner mit Fachkenntnissen auch konkret einige Trägergruppen im Bewerbungsprozess für das Bundesweite Verzeichnis (1) und für die UNESCO-Listen (3), u. a. die Blaudrucker.

(34) Für besonders sichtbare Aktivitäten können Schirmherrschaften der UNESCO und der DUK beantragt werden. Erfolgreich bemühten sich das TheaterFigurenMuseum Lübeck 2012 für eine Ausstellung zum chinesischen Schattentheater sowie zur Peking-Oper unter UNESCO-Schirmherrschaft, das Museum der Augsburger Puppenkiste „die kiste“ mit einer Ausstellung zum Thema Puppenspiel als weltweit verbreitetes und vielfältiges Kulturerbe 2015 unter Schirmherrschaft der DUK sowie, ebenfalls unter DUK-Schirmherrschaft, das Linden-Museum in Stuttgart 2015/16 mit ihrer Ausstellung „Die Welt des Schattentheaters“. Einige Museen in Deutschland entwarfen für Ausstellungen mit Inhalten des Immateriellen Kulturerbes auch neue Konzepte, vor allem die Ethnologischen Museen taten sich hervor. Im Jahr 2014 fand zudem unter DUK-Schirmherrschaft eine Sonderschau „Bark Cloth-Herstellung – ein Immaterielles Kulturerbe“ auf der Kölner Möbelmesse „Living Interiors“ statt – die Handfertigung eines vielseitig verwendbaren, aus Baumrinden gewonnenen Tuchs aus Uganda ist seit dem Jahr 2008 in die Repräsentative Liste der UNESCO eingetragen. Fertigung, Weiterverarbeitung und zeitgemäße Verwendung dieses ugandischen Rindentuchs in Architektur, Design und Kunst wurden auf der Sonderschau von einem ugandisch-deutschen Familienunternehmen präsentiert, das mit Unterstützung des BMZ auf Basis dieses Verfahrens insbesondere Wandbehänge produziert und damit nach eigenen Angaben 500 ugandischen Familien den Lebensunterhalt sichert.

(35) Aus der Gründung des Arbeitskreises Immaterielles Kulturerbe des Museumsverbands in Mecklenburg-Vorpommern e. V. – siehe für weitere Informationen Abschnitt 6.2.6. – entwickelten sich mehrere konkrete Vorschläge für das Bundesweite Verzeichnis (1). Der Arbeitskreis führte zudem Umfragen unter den Mitgliedern des Museumsverbands durch und fertigte daraus eine Überblicksstudie zur Situation des Immateriellen Kulturerbes im Land für das Landeskulturministerium an. Diese zivilgesellschaftliche Aktivität hatte entscheidende Wirkung auf die aktive Umsetzung der Konvention im Land bzw. entstanden daraus produktive Wechselwirkungen (siehe Abschnitt 6.3.2.3.).

6.3.1.5 Medien

Im Radioprogramm WDR 3 lief im Jahr 2015 eine kuratierte Programmreihe unter dem Titel „SoundWorld“, die sich den musikalischen Aspekten bei den 2014 anerkannten Formen Singen der Lieder der deutschen Arbeiterbewegung, Instrumentenbau im vogtländischen Musikwinkel um Markneukirchen, Rheinischer Karneval mit seinen lokalen Varianten, die Schwäbisch-Alemannische Fastnacht und den Passionsspielen Oberammergau widmete. Eine solche thematische Serie anhand von Formen des Immateriellen Kulturerbes blieb im Untersuchungszeitraum singulär, obwohl es weitere Kontakte der DUK-Geschäftsstelle in Richtung von Sendereihen gab, die im Ergebnis letztlich nicht zustande kamen. Zweifelsohne haben aber auch die Medien einen wichtigen Teil dazu beigetragen, dass die Konvention vergleichsweise sichtbar umgesetzt werden konnte,

„[e]infach, weil teilweise die Geschichten stimmten. Also Geschichten erzählen ist ja total wichtig. […] Ich meine, das ist ja eine Binsenweisheit, dass die Geschichten, die damit verbunden sind, und damit auch die Botschaften transportieren, dass das das A und O ist, mehr denn je in einer Gesellschaft, wo man immer mehr um Aufmerksamkeit kämpfen muss. Und vor allen Dingen, wo man versteht, mit dem Thema auch Emotionen anzusprechen.“ (V, Interview am 06.11.2018)

Im Verlauf der Jahre ist ein deutlicher Zuwachs der Medienberichte zu verzeichnen: Die Zahl der von der DUK-Geschäftsstelle dokumentierten Berichte, die sich mit dem Immateriellen Kulturerbe befassten, stieg von 39 im Jahr 2012 sprunghaft auf 437 im Jahr 2013 und 572 im Jahr 2014. 2015 erfolgte noch einmal nahezu eine Verdopplung auf dann 912 Berichte (Zahlen sind den unveröffentlichten jährlichen Verwendungsnachweisen der DUK an BKM entnommen). Jeweils zum Jahresende, wenn die internationalen und auch nationalen Neueinträge bekanntgegeben wurden, gab es nahezu täglich Berichte in den regionalen und überregionalen Medien. Ferner fanden zunehmend auch bereits Vorschläge für das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes großes Medieninteresse. Diese Meldungen wurden i. d. R. von den Trägergruppen und verbundenen Protagonisten lanciert. Auch auf qualitativer Ebene gab es Fortschritte gegenüber der vor dem deutschen Beitritt vorwiegend ambivalenten bis ausgesprochen kritischen Rezeption des Themas in der deutschen Öffentlichkeit und in den Medien. Der Tenor der Berichte drehte sich mit den konkreten Anerkennungen zunehmend in die positive Richtung. Missverständnisse hinsichtlich der Konventionsziele Erhaltung und Wertschätzung, hinsichtlich der Art der zu erhaltenden kulturellen Ausdrucksformen sowie die Vermengung der verschiedenen Kulturkonventionen der UNESCO und ihrer Schutzgegenstände bestanden jedoch im untersuchten Zeitraum zumindest teilweise kontinuierlich fort.

Einschränkend muss zudem hinzugefügt werden: Es „scheint jetzt die ganze große Fach- und auch Gesamtöffentlichkeit nicht gefunden zu haben. Oder vielleicht auch nicht zu finden; das weiß ich nicht. Muss man einfach sagen: Die Betroffenen finden das wichtig.“ (K, Interview am 01.11.2018) Die Einschätzung, dass das Thema Immaterielles Kulturerbe keinen überragenden öffentlichen Widerhall gefunden hat, kann man teilen. Selbst die internationalen Anerkennungen wurden nicht so groß gewürdigt wie es die Welterbe-Stätten regelmäßig erleben. „Nach wie vor, wenn der Naumburger Dom dann trotz aller Bedenken Weltkulturerbe wird, findet das eine andere Aufmerksamkeit, als wenn eine Handwerkergruppe, ein bestimmtes Handwerk, aufgenommen wird. Aber das macht nichts.“ (E1, Interview am 15.10.2018) Denn andererseits haben gerade die Medien auf lokaler und regionaler Ebene die einzelnen Aufnahmen von Kulturformen sehr ausführlich und teilweise mit großem Lokal- bzw. Regionalstolz gewürdigt. Und auch die Berichterstattung in den überregionalen Medien hat sich im Laufe der Jahre zum Positiven gewandelt. Am 08.08.2014 erschien zum Beispiel ein Interview mit dem DUK-Pressesprecher auf Spiegel Online unter dem Titel „Immaterielles Kulturerbe der Unesco. Mokka, Kimchi – und Fritten?“ Zu besonderen Anlässen, wie den Aufnahmen in die Verzeichnisse und Listen berichteten auch überregionale Medien, wie etwa bei der Verkündung der ersten Verzeichniseinträge am 12.12.2014 z. B. im Deutschlandradio Kultur mit einem Artikel „Erste Liste mit Deutschlands immateriellen Kulturerbe vorgestellt“ und einem Radiobeitrag im Deutschlandfunk in der Sendung „Kultur heute“. oder anlässlich der ersten Auszeichnungsveranstaltung am 16.03.2015 Deutschlandradio Kultur oder das ARD Nachtmagazin am 17.03.2015 mit einem Videobeitrag von 2:15 min.-Länge. Auch die Deutsche Welle würdigt das Immaterielle Kulturerbe regelmäßig, z. B. ebenfalls am 16.03.2015 mit dem Webseiten-Artikel „Auszeichnung für immaterielle Kulturgüter“. Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten unterstützten darüber hinaus auch die Bewerbungsaufrufe für das Bundesweite Verzeichnis, z. B. der WDR mit einer Meldung in seinem Internetangebot am 01.03.2015 unter dem Titel „Neue Chance für Traditionen: UNESCO ruft zu Bewerbungen für Kulturerbe auf“ oder das kulturradio des RBB am 01.09.2015 „UNESCO-Kommission wirbt um Bewerber für immaterielles Kulturerbe“.

Die Medien haben das Thema mit der Zeit offenbar als attraktives Sujet der Berichterstattung entdeckt, da in der Bevölkerung ein hohes Identifikationspotenzial mit den Formen des Immateriellen Kulturerbes verbunden ist und zudem die Erwähnung einer UNESCO-Auszeichnung, gerade im lokalen oder regionalen Kontext, als etwas besonders Positives und Berichtenswertes gesehen wird.

6.3.2 Wirkungen und Akteursverhältnisse

Bei der UNESCO-Konvention und ihrer als Policy-Transfer vollzogenen Übertragung in den nationalen Politikrahmen (siehe Abschnitt 5.2.4. sowie 6.4.) handelt es sich um eine neue Struktur, die neue Formen des Zusammenspiels zwischen etablierten Akteuren im Feld der Kulturpolitik und Gemeinschaften im Hinblick auf deren Immaterielles Kulturerbe zur Folge hat. (vgl. Blake 2019: 17 f.) Neue bzw. geänderte Akteursverhältnisse kann man als einen Output einer Programmumsetzung, treffender aber noch als Outcome, also eine Wirkung im Gesamtsystem (siehe Abschnitt 5.1.7.), interpretieren. In jedem Fall sorgen diese Beziehungen zwischen politischen Akteuren für neue Interaktionen, die wiederum ihrerseits Output, Impact und/oder Outcome produzieren können.

Wie sehen nun diese neuen Formen des Zusammenspiels zwischen den etablierten politischen Akteuren im Falle Deutschlands aus und wie entwickeln sich ihr Verhältnis und Zusammenwirken durch den neuen Faktor im Politikfeld? Und wie gestaltete sich die Interaktion mit den Trägergemeinschaften von Formen Immateriellen Kulturerbes sowie den Experten als neuen Akteuren in der Kulturpolitik? Das folgende Abschnitt 6.3.2.1. widmet sich daher der Konstituierung zweier neuen Akteursgruppen in der Kulturpolitik durch den bis hierhin vorgestellten Weg der Politikformulierung: der Trägergruppen Immateriellen Kulturerbes und der Experten des Immateriellen Kulturerbes. Im Abschnitt 6.3.2.2. wird darauf basierend die Konstituierung eines neuen Policy-Netzwerks rund um das Thema Immaterielles Kulturerbe beschrieben. Abschnitt 6.3.2.3. bilanziert die Handlungsorientierungen und Ziele der Akteure. Abschnitt 6.3.2.4. beschreibt einzelne interessante Akteursverhältnisse im Netzwerk und Abschnitt 6.3.2.5. fasst die Akteursinteraktionen zu vier voneinander abgrenzbaren Logiken zusammen.

Bei der Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes handelt es sich um eine Form der Mehrebenen-Governance, die globale, nationale, subnationale und lokale Elemente enthält. Auf globaler Ebene wird durch die Konvention ein Rahmen von Standards definiert. Auf nationaler und/oder subnationaler Ebene müssen Institutionen neu geschaffen oder zumindest neu benannt werden, um die erforderlichen Aufgaben zu übernehmen oder wenigstens zu delegieren. Als Institutionen, die im Rahmen des Untersuchungsgegenstands dieser Arbeit relevant sind, werden zum einen das Arrangement der Inventarisierung, wie es zwischen Bund, Ländern und der DUK vereinbart wurde (siehe Abschnitt 6.2.2.) als auch die beteiligten Organisationen, in bzw. mit denen die politischen Akteure agieren, verstanden (siehe Abschnitt 5.1.4.). Auf lokaler Ebene tragen die Trägerschaften der Kulturformen, die gelegentlich auch auf Unterstützung der hier verantwortlichen politischen Akteure angewiesen sind, ihren Teil zur Umsetzung der Konvention bei. Trotz der sehr partizipativen Orientierung dieser Konvention sind es die Staaten im System der UNESCO, in der als zwischenstaatliche Organisation die Politik die Summe bzw. der kleinste gemeinsame Nenner der politischen Interessen ihrer Mitgliedsstaaten ist, die die entscheidenden Hebel bedienen und im Innern Handlungsmacht verteilen. (vgl. Eggert/Peselmann 2015: 140 und Tauschek 2013: 100 ff.) Den lokalen Akteuren werden durch den vorgegebenen Rahmen „spezialisierte Fähigkeiten abverlangt, die wiederum ein großes Maß an Reflexivität voraussetzen“ (Tauschek 2013: 129). Im Netzwerk der Kulturpolitik zum Immateriellen Kulturerbe sind also staatliche, private und zivilgesellschaftliche Akteure vertreten. Trotzdem ist der Staat, also in diesem Fall die Bundesrepublik Deutschland, im gesamten Prozess der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes der wichtigste Akteur, der überwiegend eine moderierende, gelegentlich aber auch entscheidende, Rolle einnimmt. Dies trifft umso mehr zu, wenn man noch die weiteren Schritte nach der nationalen Inventarisierung (1) hin zu einer UNESCO-Nominierung (3) in Betracht zieht. In der nationalen Umsetzung der Konvention von 2003 werden zwar gewisse Aufgaben an Nichtregierungsorganisationen und Experten delegiert, die Entscheidungshoheit und Verantwortlichkeit gegenüber internationalen Partnern im Kulturvölkerrecht verbleibt aber beim Staat. Und die Souveränität der Trägergruppen im Umgang mit ihrem eigenen Kulturerbe bewegt sich, sobald sie – auf eigene Initiative – die „Arena“ des Immateriellen Kulturerbes betreten, im Wirkungsfeld, das staatlich definiert wurde. (vgl. Noyes 2015: 167 f.)

6.3.2.1 Konstituierung neuer Akteursgruppen: Träger Immateriellen Kulturerbes und Experten für Immaterielles Kulturerbe

Den handelnden Akteuren des Kulturpolitikfeldes war wohl bewusst, dass mit dem Schritt des Beitritts zur UNESCO-Konvention von 2003 und der konkreten nationalen Umsetzung neue Akteure, i. d. R. Gemeinschaften, also kollektive oder korporative Akteure, in das Feld der Kulturpolitik eintreten würden. In den zitierten Bundestagsdebatten und den Fachgesprächen im Auswärtigen Amt sowie im Deutschen Bundestag wurde dies zum Beispiel aus den inhaltlichen Beiträgen und auch den Teilnehmerlisten deutlich. Die Länder in erster Linie, die DUK ebenfalls und im weiteren Verlauf auch BKM und AA hatten durch die Ausgestaltung des Verfahrens der Inventarisierung mit ganz neuen Ansprechpersonen zu tun – die beispielhaft genannten Gruppen der Reetdachdecker, Flößer, Morsetelegrafen, Spitzenklöppeler und Poetry-Slammer wurden im Verlauf der vorliegenden Arbeit bereits erwähnt.

„[G]anz stark erkennbar ist tatsächlich das Handwerk. Was vielleicht natürlich auch durch die Tatsache, dass es professionell geführt ist, die Möglichkeiten gut erklärt, erläutert und dafür wirbt, [geprägt ist]. Aber wir haben auch zunehmend Akteure aus dem Bereich Naturschutz, aber auch […] der Bereich der Tradition, die im Einklang mit der Umwelt, aber eben auch im Umgang mit Tieren stehen, […], aber auch aus gesundheits- und naturkundlichen Berufen.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Aus dieser Aufzählung wird noch einmal deutlich, dass die Definition von Gruppen und Gemeinschaften, die die Trägergruppen des Immateriellen Kulturerbes ausmachen, „nicht nur territorial, sondern auch im Sinne von Interessengemeinschaften und Netzwerken verstanden“ (Dok. 18: DUK-Arbeitspapier 2012: 1) wird.

Das Verständnis bzw. der Begriff der Trägergruppen von Immateriellen Kulturformen wurde zum einen durch die Konvention selbst, aber auch durch die Rahmenbedingungen, die sich in Deutschland aus der Politikformulierung der staatlichen Akteure und der DUK ergaben, sehr weit gefasst. „Jeder kann sich anmelden, jeder kann um Rat fragen, jeder kann Hilfe suchen.“ (E1, Interview am 15.10.2018) war der Grundsatz. Durch die Verständigung auf ein Bottom-up-Verfahren der Inventarisierung wurde zunächst jeder Gruppe, und selbst Einzelpersonen, potenziell zugestanden, Trägergruppe Immateriellen Kulturerbes zu sein. Dies spricht für ein weites Verständnis von kultureller Teilhabe. Die von Christoph Wulf angedeuteten Hilfe bzw. Unterstützung der Trägergruppen im Bewerbungsverfahren leisten insbesondere die Geschäftsstelle Immaterielles Kulturerbe der DUK sowie die Ansprechpersonen und die Beratungsstellen der Länder. „Und damit, potenziell artikulieren sich Leute, immer mehr Gruppen, die Anträge stellen, die Frage, gehören wir denn dazu, können wir da etwas machen?“ (E1, Interview am 15.10.2018) Man kann dieses Verständnis aber auch als Laissez-faire, als „neoliberale Ideologie interpretieren […], die darauf baut, dass Interessierte selbst über die notwendigen Fähigkeiten und Ressourcen verfügen, einen entsprechend erfolgreichen Antrag zu stellen“ (Tauschek 2013: 135). Im Extremfall verhindert dies gar, dass eigentlich passende Vorschläge von Trägergruppen, die es nicht schaffen, eine Bewerbung zu erstellen, zu Einträgen im Verzeichnis werden. Dies wurde auch im DUK-Expertenkomitee durchaus (selbst-)kritisch diskutiert und die Erkenntnis führte später zur Initiative der DUK, Bewerbergruppen Mentoren für das Bewerbungsverfahren zu vermitteln (26).

Gemeinsam standen die die Umsetzung tragenden Akteure vor der Frage, wie man geeignete Gruppen identifiziert bzw. auf die UNESCO-Konvention und ihre Möglichkeiten aufmerksam machen sollte. Häufig braucht es auf Seiten der potenziellen Trägergruppen zunächst einmal die Erkenntnis, dass sie überhaupt etwas Besonderes machen, dass sie für eine Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe überhaupt in Frage kommen. Für viele Menschen in den Trägergruppen, insbesondere im ländlichen Raum, ist ihr kulturelles Engagement so selbstverständlich und „selbstverständlich ehrenamtlich“ (Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft 2015: 28), dass sie überrascht sind, wenn dieses als etwas so Besonderes wahrgenommen, also als potenzielles Immaterielles Kulturerbe identifiziert wird. Die Gruppen waren kulturpolitische Aufmerksamkeit bis dato häufig nicht gewöhnt und informierten sich umgekehrt also auch nicht in typischen „Kulturmedien“. Man musste sie daher über Multiplikatoren erreichen, die für kulturpolitische Akteure zugänglich waren (siehe Abschnitt 6.3.1.3.).

Für jene Gruppen, die sich selbst als Trägergruppen Immateriellen Kulturerbes sahen oder denen eine Bewerbung empfohlen wurde, stellte sich nach der grundsätzlichen Erkenntnis, dass sie sich am Verfahren beteiligen könnten, im nächsten Schritt dann häufig die Frage, was der Vorteil einer Bemühung um Eintragung ihrer Kulturform als Immaterielles Kulturerbe ist. Die DUK argumentierte insbesondere mit dem besseren bzw. leichteren Zugang zu Ressourcen – in einem breiten Sinne verstanden –, der sich aus der öffentlichen Aufmerksamkeit und Anerkennung ergibt. Auch der Bewerbungsprozess an sich wurde als bereichernde und hilfreiche Erfahrung für die Trägergruppen dargestellt. (vgl. Dok. 29: Positive Effekte eines Bewerbungsprozesses).

Für die Trägergruppen ist „heritage […] a tool of change“ (Hafstein 2007: 97); sie gewinnen durch den Eintritt in den Erbediskurs an Raum und Einfluss in der Kulturpolitik. In jedem Fall ist mit der Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe in mehrerlei Hinsicht eine Aufwertung der Kulturform und ihrer Trägergruppen verbunden, sowohl im Politikfeld unter den Akteuren selbst wie auch in der öffentlichen Wahrnehmung (vgl. Lembke 2017: 111). Der neue Status bietet vielfältige Möglichkeiten kulturelles Kapital finanzieller und ideeller Art zu akkumulieren. Man spricht in diesem Zuge auch von einer Inwertsetzung der Anerkennung; insbesondere in den Bereichen, die mit Handwerk und (Kultur-)Tourismus in Zusammenhang stehen, ist dies festzustellen, gilt aber bei einer geschickten Nutzung der Reichweite öffentlicher Aufmerksamkeit im Grunde für alle Formen.

Die Mitglieder des Expertenkomitees waren zum Teil regelrecht angesteckt von der Begeisterung, die aus den Bewerbungen für das Bundesweite Verzeichnis sprach: „Also man merkt ja, dass da Herzblut drinsteckt, wenn die sich bewerben.“ (K, Interview am 01.11.2018) Damit zu einer zweiten Gruppe, die sich im Kontext der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe allein auf Basis der Politikformulierung neu im Politikfeld konstituiert hat: die Expertencommunity für Immaterielles Kulturerbe. Um ein neues politisches Thema herum bildet sich zwangsläufig eine Gruppe von interessierten Fachleuten und Forschenden, die zum einen selbstlos ihre Expertise zur Verfügung stellen und damit im Gemeinwohlinteresse zu informierten Entscheidungsfindungen beitragen, die sich von dieser Rolle aber auch einen eigenen Vorteil versprechen. In der vorliegenden Konstellation, in der ein Expertengremium auf Bundesebene sowie mehrere Expertenfachgremien auf Länderebene maßgebliche Einschätzungen für den Fortgang des politischen Prozesses – hier insbesondere die Inventarisierung – liefern, ist der Einfluss dieser Personengruppe umso größer. Die Verlagerung von fachlichen Entscheidungen auf ein Expertengremium dient dazu erstens sachliche und vergleichsweise neutrale Empfehlungen einzuholen (vgl. Benz 2016: 52, 63 f.), zweitens Lösungen vorzubereiten – in diesem Fall die Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe in Deutschland – und drittens diese Lösungen aufgrund des Sachverstands der Experten mit Legitimation auszustatten (vgl. Kropp 2010: 26). Die ins DUK-Expertenkomitee berufenen Personen suchten auch den Austausch mit ihren Kollegen auf Länderebene, von denen die meisten ebenfalls eine, i. d. R. kleinere, Jury zur Vorauswahl aus den eingegangenen Bewerbungen einberiefen. Auch an einigen Universitäten, an Museen und in Verbänden entstanden unabhängig von den Expertengremien auf Länder- und Bundesebene erste Ansätze von Expertenstrukturen zum Thema Immaterielles Kulturerbe.

Um die Zivilgesellschaft, insbesondere die Gruppen, die Kulturformen pflegen, die der Definition Immateriellen Kulturerbe entsprechen, sich aber bisher nicht beworben hatten, zielgerichteter zu adressieren, hat die DUK nach der ersten absolvierten Bewerbungsrunde für das Bundesweite Verzeichnis im Hinblick auf die (vermuteten) Interessen der Trägergruppen an einer Anerkennung 2015 zwei Argumentationspapiere erstellt (24), die man als Fortschreibungen des DUK-Expertenpapiers „Das lebendige Kulturerbe kennen lernen und wertschätzen!“ (Dok. 18) aus dem August 2012 lesen kann: Im Papier „Immaterielles Kulturerbe in Deutschland gesucht – Botschaften an potentielle Zielgruppen (nicht nur) im urbanen Kontext“ (Dok. 28) wurde zuvorderst noch einmal deutlich gemacht, was genau das Immaterielle Kulturerbe eigentlich ist: „Immaterielles Kulturerbe ist gelebtes Kulturerbe. Es geht um überlieferte und zeitgenössische Kulturpraxis, lebendige Alltagskultur, die unmittelbar von menschlichem Wissen und Können getragen wird.“ (Dok. 28: Botschaften an potentielle Zielgruppen: 1; Punkt 1) Dies erschien notwendig, da 2015 bei interessierten Akteuren noch immer grundlegende Verständnisschwierigkeiten, insbesondere im Verhältnis zum UNESCO-Welterbe, bestanden. Direkt danach wurde in Punkt 2 von 11 betont, dass eine öffentliche Anerkennung der Kulturform im Vordergrund stehe:

„Das bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes ist eine öffentliche Anerkennung dieser kulturellen Ausdrucksformen. Die große öffentliche Wahrnehmung durch die Aufnahme kann für die Kulturträger-Gemeinschaften von Nutzen sein: Sie schafft einen Vorteil im Rahmen der ‚Ökonomie der Aufmerksamkeit‘.“ (Dok. 28: Botschaften an potentielle Zielgruppen: 1).

Betont wird neben anderen Punkten, die an weiteren Stellen dieser Arbeit eine Rolle spielen, schließlich die Wirkung des Immateriellen Kulturerbes als die eines gesellschaftlichen Diskurs- und Reflexionstreibers:

„Bei der Erstellung des bundesweiten Verzeichnisses des immateriellen Kulturerbes handelt es sich um ein Bottom-up-Verfahren mit der Einladung an zivilgesellschaftliche Gruppen, Gemeinschaften und Initiativen sich zu beteiligen. Menschen in Gruppen und Netzwerken mit gemeinsamen Interessen und dauerhaftem Einsatz für die von ihnen gepflegten Kulturformen sind zur Reflexion und Diskussion eingeladen, was Ihre Tradition ist – was sie definiert – wie sie gemeinsam aktiv sind – und was ihnen dabei wichtig ist.“ (Dok. 28: Botschaften an potentielle Zielgruppen: 2; Punkt 11)

Im zweiten Papier namens „Positive Effekte eines Bewerbungsprozesses als Immaterielles Kulturerbe in Deutschland“ (Dok. 29), das stärker darauf aufmerksam macht, dass schon der Weg zur Anerkennung, selbst wenn er letztlich nicht erfolgreich verlaufen sollte – denn diese Möglichkeit besteht natürlich immer und schreckte einige durchaus interessierte Gruppen angesichts des Aufwands und begrenzter Ressourcen gelegentlich ab –, einen Gewinn bzw. ein „lohnendes Unterfangen“ darstellt, hieß es in Punkt 2 von 6: „In einem intensiven Prozess der Gruppen-Selbstbefragung kann erörtert werden: Was ist uns gemeinsam wichtig? Was macht unsere Tradition aus? Was definiert uns? So kommt es zu einem Bewusstseinsprozess über das gemeinschaftliche Tun.“ (Dok. 29: Positive Effekte eines Bewerbungsprozesses: 1) Die Anerkennung und ihre Folgen werden damit, wie durch Aussagen der damals bereits anerkannten Kulturträgergruppen belegt war, als nicht alleinige Wirkung dargestellt, denn

„[o]ftmals wird bei der Reflexion über das gemeinsame aktive Tun sowie bei der konkreten Formulierung des Bewerbungsformulars erkannt, welche kulturellen Ressourcen in der Tradition – über das oberflächlich Sichtbare hinaus – noch stecken. Es entsteht auch der Boden für neue Kooperationen und Projekte.“ (Dok. 29 Positive Effekte eines Bewerbungsprozesses: 1; Punkt 3)

Gleichzeitig wird in Aussicht gestellt, dass „[j]e intensiver und gewissenhafter der Verständigungsprozess über die gemeinsame Bewerbung betrieben wird, desto erkenntnisreicher und erfolgversprechender ist der Bewerbungsprozess“ (Dok 29: 1; Punkt 4). Das vermutete höchste Interesse der Trägergruppen – Aufmerksamkeit zu erzielen und Nachwuchs für die Traditionspflege zu gewinnen – wird in Punkt 5 angesprochen:

„Der Schritt an die Öffentlichkeit in einem Bewerbungsprozess, zum Beispiel um alle Träger der Tradition zu erreichen bzw. zu informieren, führt in der Regel zu höherer Aufmerksamkeit. Zum Beispiel berichten Medien über die kulturelle Ausdrucksform und politische Entscheidungsträger schenken der Trägergruppe ihr Ohr. In Situationen von Nachwuchsmangel oder geringer gesellschaftlicher Aufmerksamkeit für die Tradition kann der Prozess der Inventarisierung so bereits Teil der Erhaltungsmaßnahmen sein.“ (Dok. 29: Positive Effekte eines Bewerbungsprozesses: 1)

Auf die häufig geäußerte Kritik, dass das Bewerbungsformular nicht ausreichend Platz biete, um die lebendige Tradition ausführlich darzustellen, geht der letzte Punkt dieses Papiers ein, indem er beides – Ausführlichkeit und präzise Kürze – an den richtige Stellen im Prozess für notwendig erklärt und die Vorzüge der knappen Formulierung herausstellt: „Während der Bewerbungsprozess ausschweifende Überlegungen zur eigenen kulturellen Ausdrucksform ermöglicht, führt die Wortzahlbeschränkung im Bewerbungsformular schließlich wieder zu einer Konzentration auf das Wesentliche. Dieses Kondensat des Prozesses kann für die weitere öffentliche Darstellung der lebendigen Tradition – etwa auf Flyern, Webseiten, gegenüber potenziellen Förderern usw. – hilfreich sein.“ (Dok. 29: Positive Effekte eines Bewerbungsprozesses: 1; Punkt 6) Die Interessen der Trägergruppen sowie die Wirkung der Konventionsumsetzung auf diese werden im Folgenden untersucht.

Deutlich wurde durch die praktische Umsetzung der Konvention, insbesondere durch die Inventarisierung (1), dass das Immaterielle Kulturerbe noch deutlich kontextabhängiger ist als das materielle (Welt-)Kulturerbe. Viele Trägergruppen betrachten daher auch nach einer Anerkennung ihrer Kulturform als Immaterielles Kulturerbe den eigenen kulturellen Kontext als überaus relevant, vielleicht sogar als noch wichtiger als zuvor. Einer positiven Stärkung des kulturellen Bewusstseins auf lokaler und/oder regionaler Ebene steht die Gefahr einer stärkeren Kulturpolitik der Differenz entgegen. Eine „Neukontextualisierung in Hinblick gerade auf ein gemeinsames Erbe der Menschheit“ (Lenski 2014: 95) ist zwar prinzipiell in der Logik der Konvention angelegt und mag bei Außenstehenden funktionieren, entsteht bei den Trägergruppen aber nicht automatisch, sondern bedarf zusätzlicher Sensibilisierung für die integrative Funktion oder zumindest das entsprechende Potenzial von Kultur, damit es nicht zu kontraproduktiven kulturellen Abgrenzungstendenzen kommt. Es besteht somit ein Spannungsfeld bei der Umsetzung der UNESCO-Konvention von 2003 zwischen der damit verbundenen Konstruktion (oder Rekonstruktion) kultureller Identitäten und dem internationalen Austausch mit dem Ziel von Verständigung und Versöhnung der Kulturen durch die Betonung des Gemeinsamen im Hinblick auf kulturelles Erbe. (vgl. Lenski 2014: 10 ff., 81 f.)

Aber wie nutzen nun die Kulturträgergruppen die Anerkennung? Einige konkrete Hinweise darauf können den in dieser Arbeit ausführlicher dargestellten Fallbeispielen entnommen werden (siehe Abschnitt 4.2.). Zweifellos wurde und wird „dort auch die Möglichkeit gesehen […], vielleicht für das eigene Tun und Wirken noch einmal ein Stück Marketing zu machen“ (L, Interview am 15.11.2018). Die DUK-Geschäftsstelle hat dies mit dem Handbuch zu Fördermaßnahmen (27) ja auch ganz konkret angeregt. Gut sichtbar in dieser Hinsicht ist auch die Logonutzung (13), die ausschließlich zu nicht-kommerziellen Zwecken und nur durch die Trägergruppe selbst erfolgen darf. Typische Arten der Logonutzung sind die Verwendung auf Briefköpfen, in E-Mail-Abbindern, auf bzw. in Publikationen sowie in Form von Plaketten an Vereinsheimen (vgl. Schönberger 2017: 6). Die Bestimmung, wer zur Trägergruppe gehört, ist gelegentlich nicht ganz einfach im Kontext der Logoverwendung. Hier gilt es dann zwischen der DUK-Geschäftsstelle und den Ansprechpersonen der Trägergruppen gute und für die jeweilige Kulturform passende Lösungen zu finden. Handlungsleitend ist dabei, was der Wahrnehmung des Immateriellen Kulturerbes in der Öffentlichkeit guttut.

6.3.2.2 Konstituierung eines neuen Policy-Netzwerks

Als zentrale politische Akteure im Politikfeld Kultur, die im Kontext der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung immateriellen Kulturerbes ein Policy-Netzwerk (siehe Abschnitt 5.1.2.) bilden, sind zu verstehen: die Kulturverwaltungen der Länder, die zuständigen Verwaltungen von BKM und AA im Bund, die DUK mit ihrer Geschäftsstelle und dem Expertenkomitee, die einzelnen Experten und Kompetenzzentren (NGOs, Verbände, Universitäten, Museen etc.), die Trägergruppen Immateriellen Kulturerbes und – etwas außerhalb des engen Kerns – Kulturpolitiker auf kommunaler, auf Länder- und auf Bundesebene sowie die Medien.

Die geteilte Überzeugung der Mitglieder des Politiknetzwerkes zum Immateriellen Kulturerbe ist, dass durch die Identifizierung von Kulturformen und deren Anerkennung sowie die Auszeichnung von Trägergruppen zum einen ein Beitrag zur Erhaltung von überliefertem Wissen und Können geleistet und zum anderen öffentliche Aufmerksamkeit generiert wird. (vgl. Dok. 27: Rede Brunhild Kurth am 16.03.2015) Das Bezugssystem dieses Netzwerks ist leicht abweichend vom gesamten Politikfeld: Während für die Kulturpolitik grundsätzlich Art. 5 GG wichtigster Bezugspunkt ist und zudem Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik, mit dem Anspruch kulturelle Teilhabe auszubauen, gilt (siehe Abschnitt 3.5.1.), ist in diesem Fall die UNESCO-Konvention – mit ihrem allerdings ebenfalls partizipativen Grundgedanken – der zentrale Bezugspunkt.

Wenn wir die Konstituierung eines Policy-Netzwerks (siehe Abschnitt 5.1.2.) rund um die Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes konstatieren, ist davon auszugehen, dass sich die beteiligten Akteure einen Vorteil aus der Kooperation in diesem Netzwerk versprechen und diesen auch erlangen, denn sonst würden sie ihre Mitgliedschaft früher oder später beenden (vgl. Blum/Schubert 2009: 62 f.): Die Trägergruppen des Immateriellen Kulturerbes erlangen neue Aufmerksamkeit für ihr Tun, ebenfalls die beteiligten Experten und Fachstellen wie die DUK, aber auch Verbände, Museen und Forschungsinstitutionen, die damit die Relevanz ihrer Arbeit steigern (siehe Abschnitt 6.2.6. und 6.3.3.). Politiker, die die Entscheidungen verkünden können oder zumindest an ihnen beteiligt sind, versprechen sich von ihrer Mitwirkung an der Identifizierung und, einer als solche wahrgenommenen, Auszeichnung Immateriellen Kulturerbes ein positives Image und dadurch letztlich Wählerzuspruch. Politische Amtsträger, speziell in den Kommunen, haben im Verlauf der ersten Jahre der Umsetzung der Konvention in Deutschland ganz allmählich erkannt, dass

„das ein ganz wichtiger Bereich ist auch für sie, wo sich das Verhältnis, also etwa der Parteien zu den Menschen gestaltet. Also wenn der Bürgermeister eine Rede hält oder Stadtrat, der eine Gruppe besucht, also der Anerkennung ausdrückt. Und gleichzeitig setzt das natürlich voraus, dass man selber davon überzeugt ist. Ich glaube, […] das ist gewachsen, sehr stark in den letzten Jahren. Dass die Politik auch sieht, das ist ein wichtiger Bereich, das ist den Menschen wichtig. Und Politik heißt natürlich auch Vertretung des Gemeinwesens. Also von dem, was die Menschen wirklich mögen und was sie tun. In dem Sinne, glaube ich, entdeckt die Politik und das wird noch zunehmen, allmählich auch diesen Bereich als einen, wo sie wirken kann und wo sie auch Menschen gewinnen kann, auch für andere Dinge.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Zwar blieben die Parlamente in der Implementierung der Politik zum Immateriellen Kulturerbe – anders als in der Ratifizierungsphase – nachrangige Akteure, aber nachdem die ersten Eintragungen ins Bundesweite Verzeichnis erfolgt waren, machten auch einzelne Mitglieder des Deutschen Bundestags das Immaterielle Kulturerbe als interessantes Feld aus, i. d. R. vor dem Hintergrund konkreter Bewerbungsabsichten oder -erfolge aus ihrem Wahlkreis – auf diese Weise entstanden punktuell neue Kontakte zwischen der DUK und Parlamentariern. Wenn ein positiver Imagetransfer durch die Inventarisierung Immateriellen Kulturerbes (1) und ggf. andere Maßnahmen zur Umsetzung der Konvention (siehe Abschnitt 6.3.1.) gelingt, ist von fortdauernder politischer Unterstützung des Programms auszugehen. Damit erneut zu den Vorteilen, die sich die am Prozess beteiligten Akteure von der Mitwirkung im Policy-Netzwerk versprechen: Die genaue Ausgestaltung der Umsetzung liegt bei der Verwaltung. Der Staat als korporativer Akteur hat auf den Ebenen der Länder und des Bundes Einfluss gewonnen, einen Bereich der Kultur, in dem er sich bisher weitgehend zurückgehalten hatte, zu regulieren (vgl. Mißling 2010: 96 f.). Einzelne Mitglieder der staatlichen Hierarchien können das Thema zudem nutzen, um sich intern zu profilieren, weil es – allein schon durch den Bezug auf die UNESCO – eine gewisse Aufmerksamkeit erhält.

„Je nach Interessenlage, Zielen, Expertise, zur Verfügung stehenden Ressourcen (wie beispielsweise persönliche Netzwerke) und Handlungsmacht haben diese staatlichen AkteurInnen – die in der Regel BeamtInnen sind und nicht immer auch ExpertInnen im Bereich des kulturellen Erbes – die Möglichkeit, mehr oder weniger machtvoll in die Kulturerbepolitik einzugreifen und diese mit zu bestimmen.“ (Eggert/Mißling 2015: 70)

6.3.2.3 Handlungsorientierungen und Ziele der Akteure

Die Frage nach der Wirkung der Konventionsumsetzung stellt sich auch im Hinblick auf die von den beteiligten politischen Akteuren erhofften oder real beobachteten Effekte für die Durchsetzung ihrer Handlungsorientierungen bzw. Präferenzen. Dazu wird in der folgenden Betrachtung auch das als übergreifendes Ziel von Kulturpolitik verstandene Steigern kultureller Teilhabe gezählt, wobei untersucht wird, ob dieses Ziel den jeweiligen Akteur tatsächlich leitet.

Die kommunale Ebene ist nach Auffassung aller im Rahmen dieser Arbeit befragten Experten jene Ebene, auf der die Wirkung der Umsetzung der UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe in Deutschland am deutlichsten spürbar wird. Insbesondere trifft das dort zu, wo die Trägergruppen lokal oder regional organisiert sind. Der Vertreter der kommunalen Familie im DUK-Expertenkomitee, Jörg Freese, etwa meint: „Man darf sich nicht kleinreden, weil es da Auswirkungen [gibt], die eben im Mikrokosmos einer Region sozusagen eine Rolle spielen.“ (K, Interview am 01.11.2018) Das Interesse an einer Steigerung von kultureller Teilhabe durch eine Bewerbung für das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes hat auf dieser Ebene vermutlich keine große Rolle gespielt, da diese Zielsetzung, insbesondere in kleineren Kommunen, nicht unbedingt handlungsleitend ist und Kultur meist zu den wenig beachteten Politikfeldern zählt. Die Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes kann aber zum einen für die Trägergruppen selbst, darüber hinaus jedoch auch in den Kommunen und Regionen, wo sie angesiedelt sind, eine durchaus spürbare Wirkung erzielen. Dies betrifft neben der Stärkung von Identitäts- und Heimatgefühl der Bevölkerung die durchaus sehr wichtigen Politikfelder Tourismus, Regionalentwicklung und Wirtschaft. Nur recht wenige Kommunen haben das Ziel, die lebendige Tradition vor Ort in Wert zu setzen, zu Beginn der Konventionsumsetzung strategisch verfolgt. Jene, wie Bretten und Limmersdorf (siehe Abschnitt 4.2.), möglicherweise zum Beispiel auch Malchow in Mecklenburg-Vorpommern, die dies taten, konnten mit den dahingehend beabsichtigten Wirkungen aber zufrieden sein. Der Deutsche Städtetag, der für die kommunale Kulturpolitik wichtigste Akteur, erwähnt in seinem Positionspapier „Kulturpolitik als Stadtpolitik“ aus dem Jahr 2015 – zum ersten Mal in einer solchen Stellungnahme – das ‚immaterielle Erbe‘ als eine Form des Kulturerbes, die mitbestimmend für „das unverwechselbare kulturelle Erscheinungsbild einer Kommune“ (Deutscher Städtetag 2015: 14) sei. Diese Wirkung ist mittel- bis langfristig nicht zu unterschätzen, weil die Kulturpolitik vor Ort, die die Menschen am direktesten erreicht, bekanntlich maßgeblich von den Kommunen geprägt wird. In den beiden darauffolgenden Absätzen des Städtetags-Papiers sind die Zuschreibungen und Interpretationen hinsichtlich des Immateriellen Kulturerbes zwar etwas gewagt oder gar abseitig, v. a. werden mit dem (materiellen) Welterbe der UNESCO tendenziell zu viele Gemeinsamkeiten gesehen, die in Wirklichkeit nicht existieren – z. B. Authentizität und Universalität der Trägerschaft von Kulturformen. Dies zeigt wiederum, dass es zwischen den Kreisen der Experten des Immateriellen Kulturerbes, den Ländern und den Verantwortlichen des Deutschen Städtetags bis dahin nur wenig Kontakte und Austausch gegeben hatte, weil die kommunale Ebene im Untersuchungszeitraum noch nicht so aktiv in die Umsetzung involviert war. „Ja, also wir haben es in Gremien einmal befasst und haben festgestellt, dass das Interesse, über den Deutschen Landkreistag sich damit zu befassen, sich in sehr engen Grenzen hielt.“ (K, Interview am 01.11.2018) Die im Rahmen dieser Arbeit befragte Ländervertreterin konstatiert kritisch bzw. auch selbstkritisch:

„Ich würde mir in Teilen wünschen, dass die Kommunen noch viel stärker ihre aktivierende Rolle einnehmen, weil sie einfach am besten wissen, was in ihrer Region passiert, also Kommunen, Gemeinden und so weiter, klar. […] Vielleicht wäre das auch wirklich noch einmal ein anderer Wert, dass wir die kommunale Familie noch gar nicht genügend informiert haben, mitgenommen haben und so weiter. Das wäre, glaube ich, auch noch einmal eine gute Sache dafür zu werben.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Bestätigung findet die Wahrnehmung, dass sich die Kommunen in den ersten Jahren der Konventionsumsetzung nicht genügend gewürdigt gefühlt haben, ferner durch eine Aussage des Vertreters des Deutschen Landkreistags im DUK-Expertenkomitee:

„Und da wurde irgendwann beschlossen, wir haben kein Stimmrecht mehr. Kann ich nachvollziehen, weil man sagt, so richtig Experte bin ich nicht. Und egal wer kommt, Kollegen vom Städtetag auch, wir sind alle da keine Experten. Gut, damit sind sie [die DUK bzw. das Expertenkomitee, Anm. d. Verf.] sozusagen auf der Aufmerksamkeitsliste von den Terminen, die man so wahrnimmt, natürlich ganz nach unten gerutscht. […] Also, das halte ich auch für ungeschickt, das so zu regeln. […] Dann müsste man sagen, okay, wir machen das auf wackliger Schiene. Die Länder müssen eh dabei sein, klar. Und auf Kommunalos können wir eigentlich verzichten. Das wäre dann konsequent.“ (K, Interview am 01.11.2018)

Auch wenn diese Reaktion gegebenenfalls als etwas überzogen bewertet werden kann, muss man konstatieren, dass die kommunale Ebene sich mit der Umsetzung der UNESCO-Konvention in Deutschland zumindest bis 2016 nicht wirklich abgeholt fühlte.

Des Weiteren lohnt ein differenzierter Blick auf die Politik zum Immateriellen Kulturerbe in den einzelnen Ländern der Bundesrepublik. Zweifellos gab es von Anfang solche, die das beschriebene vielfältige Potenzial einer Identitätspolitik und Inwertsetzung erkannt und beim Immateriellen Kulturerbe darum auch aktiver als andere waren, und somit zumindest schrittweise auch kulturpolitisch strategischer vorgingen.

„Gerade die großen Flächenländer, ich nenne jetzt einmal Bayern, ich nenne aber auch Nordrhein-Westfalen und Sachsen, nutzen das Thema mehr und mehr, um tatsächlich Zivilgesellschaft und Politik miteinander ins Gespräch zu kriegen – und in den Regionen Flagge zu zeigen und den dort lebenden Menschen, und um die handelt es sich ja schließlich, um ihren Traditionen und ihrer Heimatverwurzelung auch mehr Wertschätzung entgegenzubringen. Also das beobachte ich ganz stark.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Andere Länder gewannen erst durch die bei ihnen eingereichten Bewerbungen, also letztlich durch die Akteure der Zivilgesellschaft, an Profil. Birgitta Ringbeck teilt die verbreitete Meinung, dass in Bayern „natürlich das traditionelle Brauchtum, sage ich mal, viel stärker verankert ist als in vielen anderen Bundesländern“ (B, Interview am 01.11.2018). Durch die vielfältigen Bewerbungen der zivilgesellschaftlichen Gruppen und aber auch die frühzeitig ergriffenen Aktivitäten des zuständigen Ministeriums (11, 12) entstand im südöstlichsten Bundesland zumindest der Eindruck, dass mit dem Immateriellen Kulturerbe strategische Ziele der Stärkung der Heimatpflege, wie in der Landesverfassung des Freistaats verankert, verfolgt werden. Nordrhein-Westfalen ist dieselben Schritte wie Bayern gegangen, allerdings etwas zögerlicher und zunächst weniger stringent – hier entstand der Eindruck, dass man die Konvention angesichts der existierenden Landschaftsverbände und ihrer volkskundlichen Stellen zunächst für einen Selbstläufer hielt. Nach anfänglich großem Interesse in der ersten Bewerbungsrunde flaute die Bewerberlage aber ab – erst die Etablierung einer Beratungsstelle (12) sorgte für neuen Schwung in der Umsetzung im nach Einwohnern größten deutschen Bundesland. In Mecklenburg-Vorpommern waren zum einen aufgrund der frühzeitigen Gründung eines thematischen Arbeitskreises im Museumsverband (35), der aktive Mitglieder in allen Landesteilen zu regelmäßigen Treffen versammelte und Trägergruppen aktiv zu Bewerbungen ermunterte, und zum anderen dank eines engagierten Referenten im Ministerium, ebenfalls von Beginn an viele Aktivitäten zum Immateriellen Kulturerbe zu verzeichnen. In Hessen, Sachsen, Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen gab es anfangs – und zum Teil kontinuierlich bis heute – sehr engagierte Mitarbeiter im Ministerium, die sich des Themas ebenfalls mit Tatendrang annahmen. In Sachsen-Anhalt kam dem Thema zusätzlich ein äußerst reger Landesheimatbund zugute, der das Immaterielle Kulturerbe ins Zentrum seiner Aktivitäten stellte und eine Mitarbeiterin mit der Beratung von Bewerbergruppen (12) betraute. Hier wurde nach einiger Zeit auch ein Landesverzeichnis eingerichtet (11). In Thüringen verlief der Umgang mit dem Thema Immaterielles Kulturerbe über die hier betrachteten Jahre mal engagiert, mal eher beiläufig – an diesem Beispiel wird gut sichtbar, dass es dem Land, wie vielen anderen, an einer nur ansatzweise formulierten kulturpolitischen Strategie im Umgang mit dem Immateriellen Kulturerbe fehlte. Bei personeller Diskontinuität in den Ministerien auf der Position der Ansprechperson fiel dies besonders deutlich auf. Ähnliches wie in Thüringen kann man nach einem Personalwechsel für Baden-Württemberg konstatieren und nach mehreren Personalwechseln auch für Hessen. Insgesamt kann festgehalten werden, dass personelle Kontinuität auf der Stelle der Verantwortlichkeit für das Thema Immaterielles Kulturerbe förderlich war, um eine gewisse strategische Verankerung des Immateriellen Kulturerbes in einem Land zu erreichen; dies gilt etwa für die sehr unaufgeregte, aber solide Arbeit in Niedersachsen. In Schleswig-Holstein wechselte zwar die konkrete Zuständigkeit im Laufe des hier betrachteten Untersuchungszeitraums auch, dem Thema kam aber zugute, dass die Abteilungsleiterin kontinuierlich Berichterstatterin des KMK-Kulturausschusses für Immaterielles Kulturerbe und damit auch im DUK-Expertenkomitee vertreten war. Ähnlich stark war die Stellung des Themas in der Landeskulturpolitik des Freistaats Sachsen; nicht erst mit Vertretung durch den Abteilungsleiter im Expertenkomitee ab 2015, ein Jahr nachdem dieser die Rolle des Co-Berichterstatters im KMK-Kulturausschuss von Mecklenburg-Vorpommern übernahm. Sachsen und Rheinland-Pfalz nahmen zudem, da die beiden hinter der Bewerbung stehenden Gesellschaften ihren Sitz in diesen beiden Ländern haben, auf Ministerebene an der Auszeichnungsveranstaltung anlässlich der 2016 erfolgten UNESCO-Anerkennung des Genossenschaftswesens (3) teil und würdigten die Bedeutung des Immateriellen Kulturerbes dadurch. Das Land Berlin verzeichnete ohne viel eigenes Zutun von Anfang an viele Bewerbungen für das Bundesweite Verzeichnis, da hier zahlreiche Bundesverbände ihren Sitz haben und darum Bewerbungen nach dem Sitzland-Prinzip einreichen. Die Mitarbeiterin in der Senatsverwaltung händelte dies professionell, ohne allerdings tatsächlich in der Stadtgesellschaft praktizierte lebendige Traditionen zu fördern bzw. fördern zu können. Nahezu keine Aktivitäten, sowohl von zivilgesellschaftlicher wie auch von staatlicher Seite, waren dagegen im Saarland und in Bremen zu registrieren. Auch in Hamburg und Brandenburg kam mit zwar engagierten Mitarbeiterinnen in den Kulturverwaltungen, aber wenig bis keinem politisch-strategischem Vorgehen, das Thema nicht wirklich in Schwung. Insgesamt ist bei den Bewerbungen für das Bundesweite Verzeichnis, selbst wenn Zahlen nicht alles über die Intensität von Aktivitäten zur Umsetzung der Konvention aussagen, ein Süd-Nord-Gefälle festzustellen. Hohe Bewerbungszahlen kann in beiden hier betrachteten Bewerbungsverfahren Bayern (33 im ersten Durchgang und 26 im zweiten) vorweisen; Baden-Württemberg (10 im ersten Bewerbungsdurchgang und 5 im zweiten) mit Abstrichen auch. In den nördlichen Bundesländern Hamburg (jeweils 1 in beiden Bewerbungsdurchgängen), Bremen (2 im ersten Durchgang, keine im zweiten), Schleswig-Holstein (4 im ersten Bewerbungsdurchgang und 3 im zweiten) und Brandenburg (4 im ersten Bewerbungsdurchgang und 2 im zweiten) blieben die Bewerberzahlen stets überschaubar (Zahlen entstammen einer internen Aufstellung der Geschäftsstelle Immaterielles Kulturerbe). Im KMK-Kulturausschuss wurde in Anwesenheit der stellvertretenden Vorsitzenden des DUK-Expertenkomitees Gertraud Koch Ende 2015 gar offen gemutmaßt, dass es bei der Quantität von lebendigen Traditionen ein natürliches Gefälle von Süden nach Norden gäbe:

„Und zwar nicht von dem Vorsitzenden, der aus Bayern kam zu dem Zeitpunkt, sondern von dem Berliner Mitglied, und dann sofort von der [… Vertreterin aus Baden-Württemberg] aufgegriffen wurde. Und es kam dann auch kein größerer Widerspruch. Also das ist, glaube ich, in der Politik sehr verankert. Und man sieht es natürlich auch in der Art und Weise, wie es umgesetzt wird, also Bayern, die eben dann, ja, sich noch mal die Wild Card in dieser Sitzung geholt haben [die Beibehaltung der Flexibilität der 4er-Quote mit zusätzlichen Kontingenten für Weiterleitungen aus Ländern mit vielen Bewerbungen, Anm. d. Verf.]. Aber wir sehen natürlich auch sehr offensiv Mecklenburg-Vorpommern, die jetzt in eine ähnliche Scharte hauen, sage ich mal, und wo dann Einreichungen auch in der Qualität vergleichbar sind. Aber da wird sich, glaube ich, einiges bewegen auch.“ (E2, Interview am 25.1.2018)

Schließlich darf nicht unerwähnt bleiben, dass bei den Bewerberzahlen natürlich auch Einwohnerzahl und Größe der Länder – siehe Bremen und das Saarland (jeweils eine Bewerbung in beiden Durchgängen) – eine Rolle spielen (siehe Abschnitt 6.3.2.3.) Anhand dieser Bewerberzahlen für das Bundesweite Verzeichnis in den einzelnen Ländern kann man deutlich ablesen, dass diese zwar zahlenmäßig durchaus sehr unterschiedlich sind, in den ersten beiden Bewerbungsrunden gab es aber aus jedem der 16 Bundesländer mindestens einen Vorschlag. In der Perspektive einer potenziellen Stärkung kultureller Teilhabe durch die Umsetzung der UNESCO-Konvention im nationalen Rahmen kann also eine geographisch breite Beteiligung konstatiert werden. Zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich überwiegend bisher außerhalb des Zirkels von Adressierungen kulturpolitischer Maßnahmen wiederfanden, sind so – mit der Bewerbung zumindest zeitweise – in die Sphäre des Politikfelds bzw. des gesellschaftlichen Teilsystems (siehe Abschnitt 5.1.3.) Kultur eingetreten. Für jene Gruppen, die Aufnahme ins Verzeichnis gefunden haben, ist damit sogar eine langfristige Verortung im Kulturbereich verbunden. Dies betrifft nicht nur kleine Gruppen, wie die Akteure der Limmersdorfer Lindenkirchweih, des Peter-und-Paul-Fests Bretten oder des Harzer Finkenmanövers (siehe Abschnitt 4.2.), sondern auch größere wie die Handwerkswandergesellen, Sternsinger und Handwerksbäcker oder sehr große Gruppen wie die Karnevalisten und Genossenschaftler. Hinzu kommen zudem jene, die bisher stärker im Umwelt- und Landwirtschaftsbereich Berücksichtigung fanden, wie die Falkner, Köhler oder Flößer, oder aber im Bereich Technik die Morsetelegrafen sowie im Bereich Wirtschaft hinsichtlich ihres Handwerks wie die Orgelbauer oder Reetdachdecker. Auch die Zuschauer und Teilnehmer etwa an Volksfesten, Karnevalsumzügen oder beim friesischen Biikebrennen zählen im Sinne der abgestuften Dimensionen kultureller Teilhabe (siehe Abschnitt 3.5.1.) zu den damit in das Kulturfeld integrierten Akteuren. Auch wenn kulturelle Teilhabe nicht das vorrangige Ziel der Länder mit der Umsetzung der UNESCO-Konvention gewesen ist, ist im Ergebnis durch die Bewerbungsverfahren und Anerkennungen eine beachtliche Ausweitung des Felds der Kulturakteure festzustellen.

In der Behörde der BKM entstand mit der Konventionsumsetzung eigentlich keine erkennbare Dynamik. Das Immaterielle Kulturerbe schien in der Verwaltung und bei der Hausspitze, wie bereits vor dem deutschen Beitritt, kaum größere Aufmerksamkeit zu erhalten. Das mag zunächst überraschen, da man doch seit 2012 die Finanzierung der DUK-Geschäftsstelle verantwortete. Zum einen lag dies vermutlich an der geteilten Zuständigkeit der Finanzierung der Geschäftsstelle (4) durch ein Referat und die Wahrnehmung der Vertretung im DUK-Expertenkomitee (2) durch ein anderes Referat, das im Betrachtungszeitraum auch noch einmal wechselte. Zum anderen nahm Kulturstaatsministerin Monika Grütters zwar die Auszeichnung der ersten Kulturform im März 2015 zusammen mit der damaligen KMK-Präsidentin Brunhild Kurth aus Sachsen noch persönlich vor, hatte in den Folgejahren erkennbar aber zunehmend ein abweichendes Interesse als jenes, dass sich bei der DUK und in vielen Ländern durchsetzte, nämlich das Instrument mittels Anerkennungspolitik für eine Verbreiterung der kulturellen Teilhabe und des Kulturbegriffs zu nutzen sowie kulturelles Wissen und praktisches Können als Erbe zu würdigen. Im BKM hätte man eine stärkere zahlenmäßige Beschränkung und Konzentration auf (hoch-)kulturell wertvolle Formen des Immateriellen Kulturerbes präferiert. Man fremdelte mit den sehr lokalen Formen und letztlich auch dem weiten UNESCO-Kulturbegriff. Dies drückte sich zum einen in eher zögerlichen Nominierungen von Personen für das DUK-Expertenkomitee, für die man ein gesondertes Vorschlagrecht erhalten hatte, und zum anderen in der mangelnden Begeisterung über die ersten vom Expertenkomitee ausgewählten UNESCO-Nominierungen, insbesondere die „hochkulturfernen“ Genossenschaftswesen (Auswahl 2014), Falknerei (2015) und Blaudruck (2016), aus. Zum Teil blieb das BKM in diesem Kontext der zuvor verabredeten gemeinsamen Pressearbeit mit DUK und KMK fern. Nur die Auswahl der Nominierung „Orgelbau und Orgelmusik“ im Jahr 2014, die 2015 noch einmal bestätigt wurde, hat BKM wohl goutiert: Im Jahr 2016 wurde ein spezielles Förderprogramm der BKM zur Förderung von Orgelsanierungen aufgelegt und ab 2018 in das allgemeine Denkmalschutz-Sonderprogramm des Bundes aufgenommen. Die Bezüge des Immateriellen Kulturerbes zum von BKM ebenfalls verfolgten Thema Kulturelle Bildung hob man zwar seitens der Behörde der Kulturstaatsministerin vereinzelt hervor, aber daraus folgten keine stringenten Aktivitäten, diese Verknüpfungen auch zu fördern.

Im AA herrschte im Betrachtungszeitraum ein ambivalentes Verhältnis zur 2003er-UNESCO-Konvention: Ins DUK-Expertenkomitee entsandte man mit Birgitta Ringbeck die ins Auswärtige Amt entsandte Länderkoordinatorin für das UNESCO-Welterbe, d. h. für die 1972er-Konvention. Ferner nominierte das AA darüber hinaus eine Expertin, die ebenfalls im Bereich UNESCO-Welterbe spezialisiert ist. Aus diesem Kontext kommend, der stets prioritär die UNESCO-Listungen sowie die weltweite Einzigartigkeit, die beim Welterbe entscheidend ist, im Blick hat, betrachteten beide die weitgehend ungesteuerte nationale Inventarisierung Immateriellen Kulturerbes mit einer gewissen Skepsis.

„Ich glaube, keiner hat so richtig geahnt, was dabei rauskommt. Muss ich auch sagen, manchmal habe ich mich erschrocken, was dabei rauskommt, also die vielen, vielen wirklich lokalen Initiativen […] Aber die Befürchtung halt, dass die Zeichnung dieser Konvention das Welterbe-Label beeinflusst, […] und nicht […] schwächt, die ist ganz klar eingetreten. Also kaum ein Journalist weiß zu unterscheiden zwischen Welterbe-Stätten, materiellem und immateriellen Kulturerbe.“ (B, Interview am 05.11.2018)

Im AA herrschte also lange eher ein Abwehrreflex gegen eine breite Lesart des Immateriellen Kulturerbes, da dies von den dort Verantwortlichen als Abwertung des Welterbes gefürchtet wurde. Zwar befürwortete das AA eine Bestandsaufnahme, aber die Ergebnisse waren den Verantwortlichen dann oftmals nicht ‚hochwertig‘ genug und zu lokal:

„Ich finde immer noch am wichtigsten, dass man im Land wirklich inventarisiert und mal aufnimmt und wahrnimmt: Was haben wir an wirklich traditionellen [Formen …], was eigentlich unter dem Radar der Kulturförderung untertaucht und nicht aufgenommen, von denen nicht wahrgenommen wird, weil es oft zu kleinteilig ist.“ (B, Interview am 05.11.2018)

Das Ziel, mit dieser neuen Konvention die kulturelle Teilhabe zu stärken, kam im AA keinem in den Sinn (vgl. B, Interview am 05.11.2018). Die Suche nach interessanten bzw. attraktiven Formen Immateriellen Kulturerbes, die man international gut darstellen, mit denen sich Deutschland schmücken können sollte, war die Triebfeder der Mitwirkung. Ab dem Zeitpunkt als das AA die Aufgabe übernahm, deutsche Nominierungen in die UNESCO-Gremien einzubringen, wuchs das Interesse und Engagement allerdings. Der im Botschafterrang tätige Ständige Vertreter Deutschlands bei der UNESCO in Paris, im Zeitraum der für die erste UNESCO-Eintragung des Genossenschaftswesens 2016 verantwortliche Stefan Krawielicki, setzte gemeinsam mit dem zuständigen Referat 603–9 großes argumentatives und persönliches Kapital für die erfolgreiche Einschreibung ein. Mit diesem Erfolg konnte sich das AA im Politiknetzwerk des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland tatsächlich schmücken, denn es hatte seine Rolle als Repräsentant der Auswärtigen Kulturpolitik nach innen betont. Ein Scheitern mit der ersten eigenen Nominierung hätte für die öffentliche Wahrnehmung der Umsetzung in Deutschland wahrscheinlich negative Folgen gehabt. Dies konnte abgewendet werden. Das allerdings von den internationalen Partnern als forsch und nicht ganz regeltreu wahrgenommene Vorgehen bei der Komitee-Sitzung in Addis Abeba Ende 2016 (siehe Abschnitt 6.3.4.1.) blieb nicht ohne Folgen für Deutschlands Rolle in der UNESCO im Verhältnis zu den anderen Staaten. In den Folgejahren mussten sich die deutschen Vertreter in verschiedenen Kontexten unter Verweis auf die letztlich erfolgreichen Anstrengungen, die negative Expertenvorbewertung in eine Einschreibung der Kulturform zu überführen, immer wieder anhören, dass auch Deutschland es mit den Regeln ja nicht immer so genau nähme (vgl. Hintergrundgespräche mit verschiedenen Vertretern des AA).

Dass die DUK eine sehr starke Stellung im Rahmen der nationalen Konventionsumsetzung bekam, so dass sie quasi in allen damit zusammenhängenden Prozessen involviert war, war, wie man am Beispiel der Welterbe-Konvention erkennen kann, nicht selbstverständlich. Dies entsprach aber natürlich den Handlungsorientierungen der DUK, denn ihr eigener satzungsgemäßer Anspruch ist es, in den Prozessen, die die UNESCO-Themen betreffen, ein wichtiger Mittler zwischen allen Beteiligten zu sein. Dies begünstigte in jedem Fall auch den internationalen Austausch mit Partnern in den Nachbarländern und darüber hinaus (siehe Abschnitt 6.3.4.3.). Die internationale Kooperation wurde von den DUK-Experten bereits 2012 als wichtiges Ziel benannt: „Bereits jetzt signalisieren Kolleginnen und Kollegen u. a. aus den Regionen Asien-Pazifik, Lateinamerika und Europa ihre Vorfreude auf interessante Beiträge aus Deutschland und eine vertiefte Zusammenarbeit.“ (Dok. 18, DUK-Arbeitspapier 2012: 1) Innerhalb der DUK wurde das Immaterielle Kulturerbe im Laufe des hier betrachteten Zeitraums von einem Randthema zu einem der drei zentralen Themen – neben dem Welterbe und globalen Trends in Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation –, zumindest in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Die DUK fühlte sich dem Kulturbegriff der UNESCO von Mexiko-Stadt 1982 verpflichtet, das heißt ein breiteres Verständnis von Kultur und Kulturakteuren als dies in Deutschland bis dato dominierte (siehe Abschnitt 6.3.3.1.).

In jenem Ausschnitt der Zivilgesellschaft, der in Verbänden organisiert ist und hier in Punkto einer Wirkung der Konventionsumsetzung wegen des Bezugs zum Thema vorrangig interessiert, hat das Immaterielle Kulturerbe zwischen 2013 und 2016 an Gewicht deutlich gewonnen. Verbände von Kulturformen, die sich für die Aufnahme ins Bundesweite Verzeichnis beworben haben, und jene, die allgemein im Bereich Heimatpflege (BHU, CIOFF) oder Handwerk (ZDH) tätig sind, haben durch den Bewerbungsprozess vielfach eine Reflexion des eigenen Gegenstands und Handelns durchgeführt und mit der Einbettung in ein neues Akteursfeld sowie durch die Popularisierung des Konzepts Immaterielles Kulturerbe in größeren Teilen der Gesellschaft Beiträge zum Gelingen der Umsetzung geleistet. Damit haben auch sie auf das – so wohl von ihnen nicht formulierte Ziel – der kulturellen Teilhabe eingezahlt. Für die bundesweit spartenübergreifend tätigen Kulturverbände, den Deutschen Kulturrat, wiewohl dieser eine stärkere Berücksichtigung in der kulturpolitischen Debatte gefordert hatte (vgl. Dok. 24: Stellungnahme des Deutschen Kulturrats vom 06.12.2013: 2), und auch für die Kulturpolitische Gesellschaft (KuPoGe), zählte das Immaterielle Kulturerbe im Untersuchungszeitraum dagegen nicht zu den Schwerpunkten der Beschäftigung. Die KuPoGe spielt auch im Bereich der Kulturpolitikforschung eine wichtige Rolle. In den „Kulturpolitischen Mitteilungen“ dominierte eine eher spöttische bis kritische Lesart, z. B. in Ausgabe 149 im Mai 2015 mit dem Artikel „Die Katze lässt das Morsen nicht“ von Wolfgang HippeFootnote 2. Dass beide Verbände sich dem Immateriellen Kulturerbe nicht sonderlich interessiert gegenüber zeigten, hatte letztlich sicherlich mit Einfluss darauf, dass es sich in größeren kulturpolitischen Debatten in Deutschland nicht wirklich niederschlug.

6.3.2.4 Einzelne Akteursverhältnisse unter der Lupe

Dadurch, dass vergleichsweise viele Akteure am Prozess der Inventarisierung Immateriellen Kulturerbes (1) und weiterer Maßnahmen (siehe Abschnitt 6.3.1.) beteiligt sind, besteht grundsätzlich die Gefahr von Kommunikationsdefiziten, Reibungsverlusten und Spannungen in ihrem Verhältnis zueinander. Die DUK relativierte allerdings 2011 bereits damals bestehende Ängste der staatlichen Stellen, dass es bei der Aushandlung über Aufnahmen in ein Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland zu besonders folgenreichen Spannungen zwischen den kulturpolitischen Akteuren kommen könne:

„Bei demokratisch-pluralistischen Arbeitsprozessen ist es üblich, dass unterschiedliche Sichtweisen und fachliche Kriterien zu Gehör kommen und schrittweise daraus Konsensus entsteht. Fallweise mag dies auch Konfliktstoff beinhalten. Insofern unterscheidet sich die Erarbeitung von Inventaren nicht grundsätzlich von sonstiger kultureller Zusammenarbeit im Bereich der Kulturpolitik und der Kulturerbepflege, wie z. B. der Erstellung von Gutachten für mögliche deutsche Nominierungen für die UNESCO-Welterbeliste.“ (Dok. 6: Einschätzung der DUK zum BKM-Sachstand vom Juli 2010: 7)

Entgegen der Befürchtungen gab es im Untersuchungszeitraum zwischen den Experten sowie den beteiligten staatlichen Stellen kaum Reibungspunkte. „Ich muss sagen, bisher ist der [Dreiklang] sehr, sehr gelungen, es ist fast ein Modell der Zusammenarbeit. […] In Deutschland ist das bisher sehr konsensuell.“ (E1, Interview am 15.10.2018) Gertraud Koch stimmt Christoph Wulf grundsätzlich zu, weist aber auf einen Aspekt hin, der bei der, typischerweise Institutionen in den Fokus nehmenden Betrachtung des akteurzentrierten Institutionalismus nicht außen vorgelassen werden darf: „Ich finde das eigentlich gut gelungen, mit der Kultusministerkonferenz und mit dem BKM. Es hängt aber sehr stark auch an den Personen, die das vorantreiben. Aber das wird es wahrscheinlich immer. Im Grundtenor hat das ganz gut geklappt.“ (E2, Interview am 25.10.2018) Nicht nur der Vorsitzende und die stellvertretende Vorsitzende des Expertenkomitees sehen eine gelingende Zusammenarbeit der Akteure im deutschen Mehrebenensystem, auch Birgitta Ringbeck, die qua ihrer Funktion als Welterbe-Beauftragte der Länder im Auswärtigen Amt sowohl die Länder- als auch die Bundesperspektive hat, meint: Es gelingt auf jeden Fall. […] Es funktioniert, mit Schwerpunkten da, wo ein besonderes Interesse ist. Und das wird dann von den Landesregierungen gesteuert, denke ich.“ (B, Interview am 05.11.2018)

An dieser Stelle sollen ausgewählte Akteursverhältnisse der wichtigsten Akteure untereinander etwas genauer unter die Lupe genommen werden:

Die Trägergruppen Immateriellen Kulturerbes kamen im Bewerbungsverfahren für das Bundesweite Verzeichnis (1) zunächst i. d. R. mit den Ländern, d. h. den dortigen Ansprechpersonen für das Thema Immaterielles Kulturerbe (6), in Kontakt. Zum Teil waren dies erstmalige Kontakte. (vgl. L, Interview am 15.11.2018) Mit der Deutschen UNESCO-Kommission war der Kontakt für die Trägergruppen häufig ebenfalls eine neue Beziehung, zum Teil bereits vor bzw. im Bewerbungsprozess, zum Teil auch erst später im Zuge der erfolgten Aufnahme ins Verzeichnis. Bereits durch diese beiden neuen Kontaktbeziehungen ins kulturpolitische Feld, die von den Trägergruppen i. d. R. als sehr kooperativ und wertschätzend beschrieben wurden, fühlten sich diese häufig in ihrem kulturellen Tun aufgewertet. Die Auszeichnungsveranstaltungen (9), an denen darüber hinaus auch der Bund – stets BKM, zum Teil auch das AA – beteiligt waren, waren wichtige Anlässe, die eine diesbezügliche kulturpolitische Würdigung zum Ausdruck brachten; die Vergabe des Logos (13) ebenso. (siehe auch Abschnitt 4.2.) Da nicht alle Gruppen mit ihren Vorschlägen erfolgreich waren bzw. jene, denen zwar die Aufnahme ins Bundesweite Verzeichnis gelungen war, die aber nicht für eine UNESCO-Nominierung (3) berücksichtigt wurden, sind im Verhältnis Trägergruppen zur DUK durchaus auch Misstöne aufgetreten (siehe auch Abschnitt 6.3.3.1.). Ähnliches mag für das Verhältnis zur Länderebene gelten. Dies ist angesichts solcher neuen Akteursbeziehungen, die durch verschiedene Erwartungshaltungen geprägt und sich zunächst durch die Praxis etablieren mussten, nicht verwunderlich. Einige Trägergruppen waren auch frustriert über das komplexe und mit langen Fristen verbundene Verfahren. Nicht allen war stets klar, wer innerhalb des vom Mehrebenensystem und verschränkten Zuständigkeiten geprägten Inventarisierungsverfahrens für was Verantwortung trägt und warum so lange auf Entscheidungen gewartet werden muss. Auf den darüber hinaus formulierten Bedarf der erfolgreichen Trägergruppen, dass wenig klar sei, was eigentlich aus einer Anerkennung folge bzw. folgen könne, reagierte die DUK zum einen mit einer Schärfung der Argumentation, was mit einer Bewerbung erreicht werden könne (24), und zum anderen mit der Erstellung eines Handbuchs mit möglichen Fördermaßnahmen nach der Anerkennung (27). Ein Akteursverhältnis, das sich über die Auszeichnungsveranstaltungen (9) hinaus kaum entwickelte, war jenes zwischen Trägergruppen einerseits und der Verwaltung sowie der Politik im Bund andererseits. Wenn die Beziehungen nicht aufgrund der spezifischen Kulturform (z. B. Chorwesen, Theater- und Orchesterlandschaft usw.) vorher bereits bestanden hatten oder es zu einer UNESCO-Nominierung (3) kam, entstand hier wenig Anlass, in Interaktion zu treten. Die neue kulturpolitische Würdigung der Trägergruppen geschah also eher auf Ebene der Länder sowie durch die DUK-Geschäftsstelle. Mit den Beratungsstellen der Länder (12) hatten Bewerbergruppen erst ab dem zweiten Bewerbungsverfahren (2015/16) zu tun. Da in der vorliegenden Arbeit keine der in diesem Zug zur Anerkennung gelangten Traditionen näher untersucht wurden, kann zu diesem Akteursverhältnis keine fundierte Aussage getroffen werden. Bereits anerkannte Kulturformen hatten nach Kenntnis des Autors dieser Arbeit nur im Zuge von Informationsveranstaltungen (10) Kontakte zu den Beratungsstellen. Ein produktives Verhältnis entstand dagegen an vielen Stellen zwischen Trägergruppen und Experten. Letztere standen ersteren in vielen Fällen mit Anregungen zur Seite, was die Aufarbeitung der Historie, die nationale und internationale Vernetzung oder eine zukunftsgewandte Form der Traditionspflege und Kommunikation anbelangt. Für die Experten waren die Kulturformen teilweise spannende Neuentdeckungen, die sie zu vertieften Forschungen (29, 32) (siehe beispielhaft Abschnitt 4.2.2.), Ausstellungen (34) und neuen Vernetzungen (31, 35) inspirierten.

Die bei der DUK eingerichtete Fachstelle (4) erhielt für ihre Arbeit überwiegend großes Lob von allen Seiten (vgl. L, Interview am 15.11.2018). Die Berichterstatter des KMK-Kulturausschusses und die BKM- sowie AA-Vertreter verlassen sich im Hinblick auf den Überblick über die laufenden, zum Teil sehr komplexen, Verfahren – Bewerbungsverfahren, Rückstellungen, UNESCO-Nominierungen, Berichterstattungen für verschiedene Gremien laufen zum Beispiel stets parallel –, die politisch zur Entscheidung per demokratischer Legitimation anstehen, stark auf die Geschäftsstelle der DUK. Die Länder und die DUK kooperieren etwa auch hinsichtlich der Verkündung der Entscheidungen der Bewerbungsverfahren sehr eng: Über das KMK-Sekretariat werden im Vorfeld des taggleichen Notenwechsels KMK-BKM gemeinsame Schreiben von KMK und DUK zur Information der Bewerbergruppen vorbereitet und die Pressearbeit abgestimmt. Die DUK hat durch ihre Arbeit im Bereich Immaterielles Kulturerbe ihre Position und ihr Arbeitsverhältnis zu den Ländern im Kulturpolitikfeld deutlich verbessern können. Die Arbeitskontakte zum KMK-Sekretariat sowie zu den Länderverwaltungen liefen nahezu reibungslos. Auch politisch kam etwas in Bewegung: Eine Teilnahme von DUK-Vertretern an den Sitzungen des KMK-Kulturausschuss war zuvor etwa selten, entwickelte sich aber seit der Umsetzung der UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe zu einer wiederkehrenden Angelegenheit. Selbst in der Ministerrunde waren DUK-Vertreter nun gelegentlich als Gäste geladen. Ausdrücklich wurde seitens der Länder der DUK und dem Expertenkomitee wiederholt öffentlich für ihre Arbeit im Feld des Immateriellen Kulturerbes gedankt. Nicht zuletzt durch die positiven Erfahrungen, die die Länder in der Zusammenarbeit mit der DUK in diesem Themenbereich gemacht haben, wurde auch die Arbeitsbeziehung im Rahmen der UNESCO-Konvention zur Kulturellen Vielfalt (2005) intensiviert. Auch im Bereich Welterbe konnte die DUK ihre Position gegenüber bzw. im Zusammenspiel mit Bund und Ländern in den Folgejahren stärken. Inwiefern dies ursächlich mit der guten Zusammenarbeit bei der 2003er-Konvention zu tun hat oder noch andere Faktoren hier eine Rolle spielten, kann an dieser Stelle nicht weiter untersucht werden und könnte Ziel weiterer Arbeiten sein.

Das Verhältnis der DUK zu den Institutionen des Bundes ist vielschichtig. Das Auswärtige Amt ist der Zuwendungsgeber der institutionellen Förderung der DUK. Das Projekt „Geschäftsstelle Immaterielles Kulturerbe“ (4) wurde aber von BKM finanziert. Die Behörde der Kulturstaatsministerin zeigte allerdings in den Anfangsjahren dieser Förderung eher schwaches Interesse an der Arbeit der DUK-Geschäftsstelle, u. a. wohl auch wegen wechselnder Zuständigkeiten (siehe Abschnitt 6.2.4. und 6.3.2.3.). Im Zuge der UNESCO-Nominierungen (3) wurden der Austausch und die Zusammenarbeit im Dreieck zwischen der DUK, den betroffenen Trägergruppen und dem AA dagegen intensiver. Dabei wurden die Vorbereitungen der deutschen und der multinationalen UNESCO-Nominierungen bis zur Einreichung allerdings kaum vom AA begleitet oder gesteuert. Hier ergab sich, denn so recht wurde dies vorab in der Phase der Politikformulierung nicht besprochen, dass nach staatlicher Bestätigung der Auswahlempfehlungen des Expertenkomitees die DUK mit ihrer Geschäftsstelle Verantwortung übernahm (siehe Abschnitt 6.3.4.1. und 6.4.2.). Die DUK konnte dadurch, dass sie in dieses Vakuum stieß, ihre Position im Themenfeld auch gegenüber dem AA stärken.

Insgesamt waren AA und BKM mit der Arbeit der DUK zufrieden. Beide Akteure fremdelten allerdings deutlich stärker mit dem weiten Kulturbegriff, der der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes zugrunde liegt, als dies die meisten der Länder taten. Dies sorgte im Verhältnis von AA und BKM zur DUK und den Experten, die dieses Verständnis hochhielten, gelegentlich für Schwierigkeiten.

„Da sind viele Schnittstellen der Zusammenarbeit notwendig, damit das Ganze tatsächlich funktioniert und viele Austauschprozesse eingebaut, die für mich den Wert auch des deutschen Modus der Umsetzung ausmachen, weil man darüber tatsächlich ja auch an dem Verständnis dessen arbeitet, was Immaterielles Kulturerbe ist und was es beiträgt und warum es relevant ist. Und natürlich sind in diesem Mehrebenensystem dann auch bestimmte Schwierigkeiten drin. […] Da ist sicherlich auch noch viel Vermittlungsarbeit notwendig, damit […] eben gerade das zum Beispiel auch so zivilgesellschaftliche, naturbezogene Kulturerbe tatsächlich als Kultur wahrgenommen wird. Also diese Arbeit am nicht-elitären Kulturbegriff, da wird noch ein bisschen Wasser die Elbe runterfließen.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Von Expertin Gertraud Koch wird in diesem Zitat die Komplexität bzw. die vielen notwendigen Kommunikationsprozesse als Wert gesehen, der zum Ziel der kulturellen Teilhabe beitrage, weil man dadurch das Kulturverständnis diskursiv neu bestimmen könne (siehe auch Abschnitt 6.3.3.1.).

Gegenüber der (Fach-)Öffentlichkeit investierte die DUK sehr viel in die Kommunikation des Themas Immaterielles Kulturerbe: Eine ganze Reihe von Maßnahmen (15, 16, 17, 18, 19, 20, 22, 24) wurden basierend auf den mit BKM abgestimmten Kommunikationskonzepten ergriffen. Mit der Expertenlandschaft zum Immateriellen Kulturerbe baute die DUK anfangs zunächst neue Kontakte auf bzw. reaktivierte die bereits bestehenden aus der Arbeit der Phase vor dem deutschen Beitritt (siehe Abschnitt 6.1.2.) und pflegte diese Beziehungen auch im weiteren Verlauf der Umsetzung kontinuierlich. Besonders intensiv war selbstredend die Kooperation mit den Mitgliedern des DUK-Expertenkomitees (2); auch über die engere Arbeit der Bewertungen von Bewerbungen hinaus wurden gemeinsame Projekte wie Fachtagungen (15, 16) und thematische Workshops (25) angestoßen und umgesetzt (des Weiteren: 23, 29, 31, 32). Mit den Experten auf Länderebene gab es von Seiten der DUK i. d. R. keine direkten Kontakte mit Ausnahme der Austauschtreffen auf Expertenebene (8) und bei Informationsveranstaltungen (10). Zudem unterstützte die DUK-Geschäftsstelle bei der Akkreditierung von NGOs beim Zwischenstaatlichen Ausschuss der Konvention (30).

Die Experten erlangten zum einen eine einflussreiche Stellung gegenüber den staatlichen Akteuren von Bund und Ländern, weil sie anders als diese und Verbandsvertreter autonom agieren können (vgl. Benz 2004: 133) und zum anderen, weil sie als neue Akteursgruppe im Feld der Kulturpolitik gerade in der Anfangsphase der nationalen Umsetzung der Konvention viel Gestaltungsspielraum der Interpretation von Konzepten und Fachbegriffen hatten, zu einem Zeitpunkt, als sich die anderen Akteure noch mit dem neuen Thema und den Entscheidungsstrukturen zurechtfinden mussten. Die DUK hat dies als Institution, die mit der Bündelung von Expertise Erfahrung hat, kanalisiert und in Form von Expertenstellungnahmen, wie zum Beispiel dem Arbeitspapier von 2012 (Dok. 18) oder eines Begriffsglossars, unterstützt und auch in Form der Abschlusspapiere der Fachtagungen von 2013 (15) und 2015 (16) übersetzt. Dass sich mit den Experten des Immateriellen Kulturerbes eine neue Akteursgruppe konstituiert hat, wurde bereits in Abschnitt 6.2.5. näher erläutert. Sie traten durch die Umsetzung der Konvention in Beziehung zu den etablierten Akteuren des Politikfelds.

„Das Thema war auch verortet natürlich in den ethnologischen Fachbereichen [der Universitäten], früher Volkskunde genannt und so weiter. Mit denen, glaube ich, viele von uns als Ländervertreter auch als erstes einmal Kontakt aufgenommen haben, um diese Lücke zu schließen, diesen Überblick zu bekommen, zu sagen: ‚Mensch, was gibt es an gewachsenen Traditionen und so weiter, was zeichnet uns aus?‘ […] Und insofern sind das sicherlich geborene Partner gewesen. Es gibt da, glaube ich, auch viel Kontakte zu den Länder-Jurys und so weiter, auf diese Expertise zurückzugreifen. Und letztlich war das ja auch ein Großteil der Expertise, die wir dann zusammengetragen haben für unser Expertenkomitee, für unser bundesweites.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Das Verhältnis der Experten zu Bund und Ländern gestaltete sich insgesamt entsprechend der Erwartungen und dadurch sehr produktiv und für alle Seiten zufriedenstellend: Die politischen Stellen erhielten vom DUK-Expertenkomitee (2) eine fachliche Bewertung, der sie folgen konnten, was sie im Untersuchungszeitraum ohne Ausnahme taten. „Also bisher ist [… die Arbeit des Expertenkomitees der DUK] von der KMK und BKM und Auswärtigem Amt auch alles als eine sehr engagierte Arbeit wertgeschätzt worden.“ (E1, Interview am 15.10.2018) Die mit der abschließenden staatlichen Bestätigung im gemeinsamen Benehmen verbundene Vetodrohung in der politikverflochtenen Architektur des Inventarisierungsverfahrens war den Experten bei ihren Auswahlempfehlungen natürlich durchaus bewusst, zumal die Länder und der Bund auch mit jeweils zwei Vertretern mit Beobachterstatus im DUK-Expertenkomitee vertreten sind. Wie genau der Einfluss dieses Vetopotenzials auf die Auswahl ist, ist aber schwer abzuschätzen. Möglicherweise führt diese Konstellation gerade zu für alle beteiligten Akteure akzeptablen Ergebnissen, denn Bedenken können so bereits im Gremium frühzeitig angesprochen werden, bevor es zu einem öffentlichen Veto kommen muss. Das DUK-Expertenkomitee erfuhr von den beteiligten staatlichen Stellen für seine Arbeit wiederum ganz überwiegend hohe Zustimmung und Wertschätzung (vgl. E1, Interview am 15.10.2018). Die in den Auswahlprozess involvierten staatlichen Akteure gaben zum Teil freimütig zu, dass erst im Laufe des Verfahrens in Interaktion mit den Experten bei ihnen die Erkenntnis gereift sei, welche Bedeutung der Prozess der Inventarisierung eigentlich habe:

„Dann leuchtet es eigentlich ein, wenn man sagt, […] die Alemannische Fastnacht oder den Rheinischen Karneval […] auf die Liste zu schreiben […]. Der ist so vital, das erlebe ich […] jedes Jahr wieder mit […]. Und ich denke, wow, in jedem Dorf ist da irgendwas. Tausend Seelen und ein Riesenumzug. Wahnsinn.“ (K, Interview am 01.11.2018)

Die Experten untereinander etablierten einen lebendigen Fachaustausch über das Immaterielle Kulturerbe in Deutschland, zum einen in den Sitzungen des Expertenkomitees (2), zum anderen im Austausch mit ihren Kollegen auf Länderebene (8), im Rahmen und am Rande von Informations- und Fachveranstaltungen (10, 14, 15, 16) sowie in Fachgruppen (31) bzw. Facharbeitskreisen (35). Teilweise war in der Gruppe der Experten eine regelrechte Euphorie zu spüren, dass das Thema Immaterielles Kulturerbe nun eine solch breite Aufmerksamkeit erhielt.

Das Verhältnis der beiden Akteure im Bund – BKM und AA – ist grundsätzlich kein einfaches, da die Zuständigkeit für Auswärtige Kulturpolitik eigentlich beim AA liegt, das BKM aber in den vergangenen Jahren sich zusehends auch in diesem Gebiet betätigt (z. B. Provenienzdebatten, Kulturpolitik in Europa usw.). Im Bereich Immaterielles Kulturerbe zeigten sich diese Probleme aber kaum, da die Zuständigkeiten – BKM für die Finanzierung der Geschäftsstelle (2), AA für die Finanzierung des Konventionsbeitrags (5), BKM für die Bestätigung der Auswahlempfehlungen des Expertenkomitees (7) und das AA für die internationalen Nominierungen (3) – klar geregelt waren. Hier erwies sich das 2012 beschlossene Kommuniqué als gute Basis. Die Rolle von BKM im Zusammenwirken mit den Ländern bei der Herstellung des Benehmens zur staatlichen Bestätigung der Auswahlempfehlungen des DUK-Expertenkomitees zeigt eine typische Ausprägung des deutschen Mehrebenensystems: Die Entscheidung wird auf mehrere Schultern auf mehreren staatlichen Ebenen verteilt („joint decision making“). Die Kabinettsvorlage von 2012, mit der der deutsche Konventionsbeitritt bundesseitig beschlossen wurde, spricht von „zustimmende[r] Kenntnisnahme der Kultusministerkonferenz und des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien“ (Dok. 21: Kabinettsache Datenblatt 17/05067: 2). Dies klingt nach recht voneinander unabhängigen Verfahren. Ein Blick in die Aktenbestände des AA und der DUK zeigt allerdings, dass der Begriff ‚Benehmen‘ im Kommuniqué (Dok. 19: Ergebnisvermerk zu den Bund-Länder-Absprachen vom 29.10.2012) sehr sorgfältig gewählt wurde. Den Ländern war die gemeinsame Verantwortung von KMK und BKM zur staatlichen Legitimation der Auswahlempfehlungen wichtig. So heißt es offiziell im KMK-Beschluss vom Dezember 2012, dass

„die Kultusministerkonferenz einer staatlichen Legitimierung der Auswahlempfehlungen des Expertenkomitees Immaterielles Kulturerbe bei der Deutschen UNESCO-Kommission durch die Kultusministerkonferenz im Benehmen mit dem BKM [zustimmt]. Die abschließende staatliche Bestätigung der Auswahlempfehlungen des Expertenkomitees wird seitens der Kultusministerkonferenz im Benehmen mit dem BKM erfolgen. Diese Verfahrensweise wird spätestens nach fünf Jahren durch die Länder geprüft.“ (Dok. 20: KMK-Beschluss vom 06.12.2012: 2)

Mit dieser Politikverflechtung sind bzw. wären auch Vetomöglichkeiten verbunden, für jedes einzelne Land in der KMK, dann aber auch für den Bund gegenüber einer einhelligen KMK-Position. Ein solches Veto aber tatsächlich auszuüben, würde einen doppelten, unausgesprochenen Konsens aufkündigen, nämlich erstens die Experten nicht zu desavouieren und zweitens das solidarische und bundesfreundliche Verhalten vermissen zu lassen. Daher ist dieses Drohpotenzial vergleichsweise schwach und die Konstellation sorgt in der Praxis eher für einen großen Einigungsdruck. In der Praxis läuft das Herstellen des Benehmens so ab, dass die Länder ihre Position zu den Auswahlempfehlungen des DUK-Expertenkomitees in einer Sitzung der KMK/Kultur-MK bestimmen und dies vom KMK-Sekretariat der BKM per Note mitteilen lassen. Das BKM übermittelt dann seinerseits taggleich eine Note, dass das Benehmen in dieser Frage hergestellt ist. Das manchmal problematische Verhältnis zwischen Bund und Ländern im Bereich der Kultur und der entsprechenden Kompetenzen schlägt beim Immateriellen Kulturerbe kaum durch. Mit der (Fach-)Öffentlichkeit kommunizieren Bund und Länder übrigens im Grunde nur einseitig anlässlich der Ankündigung von Bewerbungsverfahren (1) und den Entscheidungen über Verzeichnis- und Listenaufnahmen (7, 11) im Zusammenhang mit der Herstellung des Benehmens.

Die Länder untereinander haben durch die Austauschrunden der Verantwortlichen in den Verwaltungen (6) gelegentlich intensiver, wenn länderübergreifende Anträge im Bewerbungsverfahren miteinander abzustimmen waren (vgl. Dok. 25: KMK-Beschluss vom 11.12.2014: 2), sowie durch die anlässlich der Umsetzung der UNESCO-Konvention wiederkehrende Thematisierung im KMK-Kulturausschuss und der KMK-Ministerrunde eine regelmäßige Kommunikation gepflegt. Entsprechende Kontakte zwischen denselben Personen bestanden zum Teil in anderen Feldern über die KMK schon zuvor. Zwar hat sich zwischen den Bundesländern eine gewisse Konkurrenz im Hinblick auf die Umsetzung der Konvention vor Ort gezeigt – eher aber ausgedrückt als positiver Wettbewerb um die besten Lösungen durch ein Ausschöpfen der Möglichkeiten der Einrichtung von Länderverzeichnissen (11) mit eigenen Auszeichnungszeremonien und Beratungsstellen (12) sowie eine Ausrichtung von bundesweiten Auszeichnungsveranstaltungen (9) oder die Durchführung von Informationsveranstaltungen (10) als durch einen tendenziell negativen, ausschließlich auf eine Maximalzahl von Einträgen zielenden Wettstreit. Die in einzelnen Ländern bei der Umsetzung von Projekten, Programmen und Strategien gesammelten Erfahrungen wurden in den erwähnten Austauschrunden besprochen und in der Folge von anderen Ländern adaptiert. Bayern und Nordrhein-Westfalen oder auch Mecklenburg-Vorpommern gaben mit ihrer vergleichsweise offensiven Politik zum Immateriellen Kulturerbe (siehe Abschnitt 6.2.5. und 6.3.2.3.) zum Beispiel anderen Ländern Orientierung. Eine besondere Form der kooperativen Interaktion zwischen den Ländern war zudem der Umgang mit den Quoten der pro Bewerbungsrunde zur Weiterleitung an die Bundesebene möglichen Bewerbungen für das Bundesweite Verzeichnis. Hier verständigten sich die Länder nach Rücksprache mit den DUK-Experten darauf, dass diese auch flexibel von anderen Ländern genutzt werden können, wenn ein Land sein Kontingent nicht ausschöpfen kann.

Im beschriebenen Policy-Netzwerk stehen so gut wie alle genannten Akteure miteinander im Kontakt. Ohne eine eingehende Netzwerkanalyse, die den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, ist es nicht möglich, mit letzter Sicherheit festzustellen, wer dabei über eine zentrale Stellung und möglicherweise singuläre Machtposition in diesem Netzwerk verfügt (vgl. Lembke 2017: 173). Aus den hier vorgenommenen Analysen kann aber Folgendes abgeleitet werden: Trotz der vergleichsweise starken Stellung der Trägergruppen der Kulturformen im Netzwerk, einer in Punkto Informationsvorsprung zentralen Stellung der DUK, einer starken Position der Experten und prinzipiell zwischen allen wichtigen Akteuren gleichrangig vorhandenen Kommunikations- und Beziehungsstrukturen sind die staatlichen Stellen – die Länder und der Bund – im Binnen- wie im Außenverhältnis des Netzwerks durch die Gestaltung der Verfahren und ihre, demokratisch legitimierte, Machtposition bei den Letztentscheidungen doch die entscheidenden Akteure im Feld. Zwar setzt der Staat mit seinem Inventarisierungsverfahren stark auf einvernehmliche Zusammenarbeit der verschiedenen staatlichen Ebenen sowie mit gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen (vgl. Jann/Wegrich 2003: 74) – schließlich stellt er selbst auch keine Leistung im engeren Sinne bereit, sondern gibt einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess einen Rahmen; viele Merkmale der Steuerungsstruktur entsprechen einer selbst-regulativen Politik. Die staatliche Kontrolle ist marginal, aber doch stets präsent und wird durch eine abschließende Legitimation der wichtigsten Entscheidungen (Verzeichniseinträge, UNESCO-Nominierungen) auch sichtbar gemacht. (vgl. Schubert 1991: 61 ff., Windhoff-Héritier 1987: 41)

6.3.2.5 Vier Logiken der Akteursinteraktion

Renate Mayntz hatte vorgeschlagen zwischen den „formal vorgesehen, den faktischen und den in funktioneller Hinsicht optimalen Beziehungen“ (Mayntz 1980: 9, Hervorhebungen im Original) zu unterscheiden. Die formal vorgesehenen Verfahren und damit verbundenen Akteursbeziehungen der Inventarisierung als Hauptmaßnahme der Konventionsumsetzung sind in Abschnitt 6.2.2. beschrieben worden. Die Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes in Deutschland orientiert sich faktisch an vier verschiedenen Logiken der Beteiligung und Steuerung des Zusammenwirkens von Akteursgruppen, die gelegentlich durchaus konfligieren: Dies sind erstens Kulturelle Teilhabe, zweitens der (Kultur-)Föderalismus, drittens eine Qualitätsauswahl und viertens eine demokratische Legitimation. Dies wird beispielhaft besonders an der sichtbarsten Maßnahme der Umsetzung, der deutschlandweit einheitlichen Inventarisierung von Kulturformen im Bundesweiten Verzeichnis (1), deutlich: Die erste Stufe ist als partizipatives Bottom-up-Vorschlagsverfahren gestaltet. Während sich dies an der die Kulturpolitik in Deutschland insgesamt prägenden Prämisse und Logik der Verbreiterung von Teilhabe an Kultur durch die Aktivierung von immer mehr Kulturakteuren und -interessierten ausrichtet, ist die Vorauswahl von Kulturformen durch die Länder nach einheitlichen Quoten in der zweiten Stufe des Verfahrens vor allem von der Logik des Föderalismus, die jedem Land eine gleiche Zahl von Nominierungen zuspricht, geprägt – deutlicher jedenfalls als von der Selektion nach Qualitätskriterien, die hier bezogen auf das Gesamtverfahren, selbst wenn eine Jury an der Auswahl mitwirkt, als nachrangig gewertet werden muss, da eine strikte Quotenregel pro Land herrscht. Die Qualitätsauswahl erfolgt hauptsächlich in der dritten Stufe des Verfahrens durch das DUK-Expertenkomitee, das Auswahlempfehlungen ausspricht. In der vierten Stufe greift die Logik der demokratischen Legitimation der Auswahlempfehlungen durch eine Überführung in staatliche Entscheidungen durch Bund und Länder.

Zu den einzelnen Logiken ließe sich jeweils eine Menge sagen – im Folgenden soll fokussiert noch einmal deren jeweilige Wirkung auf die Akteursverhältnisse im Politikfeld beschrieben werden:

Kulturelle Teilhabe, eine Demokratisierung nicht nur des Zugangs zu Kultur, sondern der aktiven Teilnahme am kulturellen Leben und dessen Mitgestaltung (siehe Abschnitt 3.5.1.) prägen den Geist der UNESCO-Konvention und der deutschen Kulturpolitik gleichermaßen. Daher verwundert es grundsätzlich nicht, dass diese Logik auf das offene Vorschlagsverfahren für das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes mit einem breiten Aufruf, sich mit Vorschlägen an der Bestandsaufnahme zu beteiligen, übertragen wurde. In dieser Hinsicht kann man die Umsetzung der Konvention in Deutschland also durchaus als eine Stärkung des Aspekts der kulturellen Teilhabe werten – nicht so sehr im gebräuchlichen Verständnis, dass Vermittlungszugänge zu bestehenden Kulturangeboten geschaffen werden, sondern in dem Sinne, dass weitere Formen kulturellen Ausdrucks tatsächlich als Kulturformen anerkannt werden und ihre Praktizierenden damit zu Kulturakteuren werden sowie die mehr oder weniger passiv an den Kulturformen Beteiligte zu Kulturkonsumenten werden. Dies führte in der Praxis der Akteursverhältnisse ganz konkret dazu, dass Kulturabteilungen der Länder mit den dort identifizierten Ansprechpersonen (6), zum Teil unterstützt von Beratungsstellen (12), Kontakte zu potenziellen Trägergruppen etablieren und sich im Rahmen der Bewerbungsverfahren an den Umgang mit Akteuren gewöhnen mussten, die teilweise bisher nicht zu ihrer klassischen Klientel gehörten:

„Das Interessante ist natürlich, dass auch Kulturabteilungen mit zivilgesellschaftlichen Gruppierungen in Kontakt kommen, die bisher, ich nenne es einmal, einfach so nicht in ihrem Fokus standen und sie vielleicht auch formal gar nicht in ihrem Portfolio hatten. Das ist sicherlich unterschiedlich, aber wir reden ja auch von einem Bereich der Heimatkultur und wir reden natürlich auch über das direkte Kulturerbe hinaus über Handwerkstechniken, für die wir originär zunächst erst einmal nicht zuständig sind, es sei denn, sie haben auch einen kunsthandwerklichen Aspekt. Okay, dann gibt es teilweise die Zuständigkeit. Wir reden auch über den Umgang mit Praktiken in Natur und Umwelt. Das heißt, unser Horizont, in den dafür verantwortlichen Kulturministerien wurde erst einmal erweitert. Und zwar in vielen Fällen sehr positiv erweitert und in anderen Fällen war es mühselig. Weil wir dafür auch nicht die Expertise hatten, um zu erkennen, entspricht das nun, über die formalen Anmeldeverfahren hinaus, tatsächlich dieser Konvention. […] Also es gibt da ein neues Klientel, mit dem man sich auseinandersetzt und mit dem man kommuniziert und das man vielleicht neu entdeckt für sich.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Dabei wurden auch Verbandsstrukturen zum Teil neu entdeckt oder aber noch aktiver ins kulturpolitische Feld eingebunden:

„[… A]ber es gibt ja auch verbandliche Strukturen, nehmen wir einmal den Heimatbund, nennen wir einmal große andere: Volkstanz, Trachten, auch andere Verbände, also ich habe ja das Kunsthandwerk schon genannt. Also das sind sicherlich alles Multiplikatorengruppen, die wir auch versucht haben, weil wir ja die einzelnen Akteure gar nicht kannten, zunächst auf diese neue Konvention aufmerksam zu machen, auf das neue Verfahren und sie ja auch aufgerufen haben, in kleinen Länderkonferenzen sich zu beteiligen.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Auch die DUK baute neue Kontakte auf zu NGOs (28) sowie im Zuge der bottom-up-orientierten Vorschlagsverfahren zu potenziellen Trägergruppen, denen sie mit Einrichtung der Geschäftsstelle (4) ein aktives Beratungsangebot (10) machen konnte. Außerdem aktivierte sie, um das partizipative Verfahren bekannt zu machen, bestehende Kontakte zur Kulturfachpresse (20) und zu Kulturjournalisten (21). Das Bewusstsein, das man neue Zielgruppen ansprechen muss, war also bei den Ländern und der DUK von Anfang an vorhanden. Die DUK stellte sich etwa im Arbeitspapier von 2012 als eine der wichtigsten Fragen „Wie organisieren sich die das immaterielle Kulturerbe tragenden Gemeinschaften und Gruppen?“ (Dok. 18: DUK-Arbeitspapier 2012: 2) Trotzdem spricht, so muss man konstatieren, auch aus diesem Papier insgesamt mehr Interesse und Begeisterung für die Kulturformen als für die Trägergruppen.

Zur Betrachtung des Kulturföderalismus, der zweiten Logik des Zusammenwirkens von Akteuren im Rahmen der nationalen Umsetzung der Konvention zum Immateriellen Kulturerbe, soll zunächst auf einige in unserem Mehrebenensystem typische Kritikpunkte an dieser Logik und dann aber auch auf die Vorteile eingegangen werden. Ein häufiger Kritikpunkt ist die Gleichbehandlung ungleicher Subjekte – also der 16 zum Teil sehr unterschiedlichen Länder:

„Wir haben ja bei solchen Geschichten immer auch noch das Problem, dass […] diese Länder, die dafür Verantwortung tragen, eben zwischen der Halbmillionenstadt Bremen und Nordrhein-Westfalen mit 18 Millionen Einwohnern auch rein von der Größenordnung her total unterschiedlich sind. Und dass […] es also normal ist, wenn aus NRW ein Vielfaches an Vorschlägen kommt als aus Bremen. Oder aus Mecklenburg-Vorpommern oder Hamburg. Und das macht es ja vom Verfahren her schon schwierig, weil […] man kann ja nicht alle gleichbehandeln.“ (K, Interview am 01.11.2018)

Die Gleichbehandlung der Länder sorgt zusammen mit dem Ansinnen eine Überbelastung der ehrenamtlich tätigen Experten zu verhindern für die strenge zahlenmäßige Beschränkung (vgl. Schönberger 2017: 3) in den Vorschlagsverfahren für das Bundesweite Verzeichnis (1), die so aus Österreich oder der Schweiz etwa nicht bekannt ist. Die Gleichbehandlung der politischen Subjekte führt aber zu einer Ungleichbehandlung der in diesen Ländern lebenden Menschen – siehe den im Zitat angeführten Vergleich zwischen den Einwohnern von Bremen und Nordrhein-Westfalen. Gerade beim Immateriellen Kulturerbe, das auf die Ausübung durch Menschen angewiesen ist und die zentrale Rolle der Träger für die Erhaltung betont, ist dies ein empfindlicher Punkt. Hinzu kommt noch, dass so in einigen Ländern zwischen den Bewerbergruppen um die Anerkennung ein ziemlicher Wettbewerb, den man eigentlich verhindern will, mit ungleichen Voraussetzungen entsteht.

„Die Anwendung der aus dem politischen Kontext wohlbekannten föderalen Proporzlogik führt hier dazu, dass die verschiedenen Gruppen mit dem von ihnen ausgeübten immateriellen Erbe in einen erheblichen Konkurrenzdruck gezwungen werden, der sowohl zwischen den Gemeinschaften innerhalb eines Bundeslandes als auch indirekt zwischen den Bundesländern wirkt.“ (Lenski 2014: 102)

Hinzu kommt, dass sich dieses Ungleichgewicht zwischen den Bewohnern der Länder über die Jahre mit den Vorschlagsrunden tendenziell sogar noch verstärkt. (vgl. Letzner 2013: 62) Abgemildert werden kann dies allenfalls über die Länderverzeichnisse des Immateriellen Kulturerbes (11), die tatsächlich ja zuerst in den bevölkerungsreichen Ländern Nordrhein-Westfalen und Bayern eingeführt wurden. Die im Rahmen des Bewerbungsverfahrens zum Immateriellen Kulturerbe gefundene Lösung des Kulturföderalismus mit festen Quoten der Länder, die aber recht flexibel, wenn in Ländern Plätze frei bleiben auch von jenen Ländern belegt werden können, die mehr aussichtsreiche Vorschläge als zustehenden Plätze verzeichnen (siehe Abschnitt 6.3.1.2. und 6.3.2.4.), ist ebenfalls ein gutes Beispiel für den erfolgreich kooperierenden und sich dynamisch an veränderte Bedingungen anpassenden mehrgliedrigen Staat. Statt Konfliktbeziehungen kommt es somit zu einer Kooperation auf der horizontalen Ebene. Ein expliziter Vorzug des Föderalismusprinzips ist zudem das Potenzial unter ähnlichen, wenn nicht gar gleichen Bedingungen einen Wettstreit um adäquate (vgl. Hildebrandt/Wolf 2008: 369) Problemlösungen und gute sowie innovative Politik (vgl. u. a. Benz 2009: 75 ff., 219) zu führen. In einem solchen Leistungswettbewerb wird hinsichtlich Strukturen und Politikinhalten sowie Innovationen „wechselseitiges Lernen über beste Praktiken zwischen den Gebietskörperschaften“ (Benz 2009: 219) gefördert. Im besten Falle kommen die Länder durch die Umsetzung der Konvention also in produktiven Austausch miteinander, auf den die zahlreichen Austauschrunden der Länderreferenten und Expertenjurys (8, 14) sowie Fachtagungen (15, 16) hindeuten, und adaptieren dadurch erfolgreiche Modelle – man kann vermuten, dass sich dieser Austausch etwa auf die Einführung von Länderverzeichnissen (11) und Beratungsstellen (12), die Durchführung von Informationsveranstaltungen (10), die Erstellung von Publikationen, Webauftritten usw. durchaus positiv ausgewirkt hat. Das Handeln der Akteure ist bei der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes auf vertikaler wie auch auf horizontaler Ebene vor allem von kooperativen Motiven geprägt – nicht zuletzt, weil der Parteienwettbewerb in diesem Politikfeld und auch bei diesem speziellen Thema schwach ausgeprägt ist und es beim Immateriellen Kulturerbe im Grunde keine ernsthaften Verteilungsprobleme zwischen den Ländern gibt (vgl. Benz 2016: 35 ff., 39 f.). Nicht einmal bei den sehr limitierten Möglichkeiten UNESCO-Bewerbungen (3) einzureichen, sind diese bisher aufgetreten. Dies ist allerdings wohl darauf zurückzuführen, dass das DUK-Expertenkomitee bisher stets für deutschlandweit verbreitete Kulturformen votierte. Dies kann als eine Art vorauseilende Konfliktvermeidungsstrategie gelesen werden. Seitens der DUK und ihrer Experten wurde versucht, eine allzu starke Durchdringung des Verfahrens nach der Föderalismuslogik zu vermeiden. (siehe auch Abschnitt 6.3.4.1.) Der Vorsitzende des Expertenkomitees betonte wiederholt, etwa in der KMK; dass jede Bewerbung unabhängig von den anderen bewertet werde, man beim Expertenurteil strikt nach Qualität und nicht nach Länderproporz bzw. -wettbewerb gehe (vgl. Dok. 18: DUK-Arbeitspapier 2012: 2).

Eben dieses angesprochene Qualitätsurteil – die dritte Logik der Interaktionen im Rahmen der bundesweiten Inventarisierung Immateriellen Kulturerbes (1) – bezieht sich in der ursprünglichen Konzeption des Verfahrens (siehe Abschnitt 6.2.2.) insbesondere auf die Identifizierung von nicht geeigneten Vorschlägen für das Verzeichnis, also vor allem solche, die nicht die Menschenrechte achten oder nicht mit nachhaltiger Entwicklung in Einklang stehen. Allenfalls eine grobe Prüfung, ob der Vorschlag unter die Definition des Art. 2 der Konvention passt, war vorgesehen, also eine negative Auswahl im Sinne einer Verhinderung von nicht adäquaten Vorschlägen im Verzeichnis. Dies entspricht der Konventionslogik, die es nach Art. 2 des Übereinkommens den Trägergruppen selbst überlässt, zu bestimmen, was ihr Immaterielles Kulturerbe ist. Auf die Diskrepanz dieser Bestimmung zu einem staatlich bzw. von Experten formulierten Qualitätsurteil nach z. B. Einzigartigkeit und Authentizität wie beim UNESCO-Welterbe ist bereits an anderen Stellen hingewiesen worden (siehe Abschnitt 4.1., 6.1.1. und 6.2.2.). Stattdessen entwickelte sich die Praxis in Kombination mit der zahlenmäßigen Beschränkung der möglichen Vorschläge auf Ebene der Länder und der dortigen Übertragung der Vorauswahl auf Jurys (6), und infolgedessen auch einer Limitierung pro Bewerbungsrunde für ganz Deutschland, zu einer positiven Auswahl im Sinne einer Auszeichnung. (vgl. Letzner 2013: 62) Die DUK versperrte sich dieser Lesart, anders als zu Beginn, im Laufe der Umsetzung nicht mehr: Ein Argument, mit dem man für die Bewerbung und mögliche Eintragung ins Verzeichnis warb (24), war, dass dies Vorteile im Rahmen der „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (Dok. 28: Botschaften an potentielle Zielgruppen: 1) bringe, denn die Erstellung des Verzeichnisses trage schließlich dazu bei, dass die Öffentlichkeit auf Formen des lebendigen Kulturerbes aufmerksam würde.

Die Einholung einer Expertenbewertung über Förderentscheidungen ist ein typisches Vorgehen von Kulturverwaltungen, um nicht in den Verdacht zu kommen, dass Politik und Verwaltung zu stark auf Qualitätsentscheidungen Einfluss nehmen. Trotzdem ist eine Politisierung auch in dieser Form nie ganz auszuschließen und wie die Erfahrung zeigte, ist das auch bei der Inventarisierung Immateriellen Kulturerbes der Fall (siehe Abschnitt 6.3.3.1.). Zum Qualitätsurteil durch die Experten ist zu bedenken:

„Da es sich ja im weitesten Sinne um Kunst handelt, also im alten Sinne von artes oder technae, wo Kunst und Handwerk ja auch ganz eng verbunden ist, ist natürlich auch die Frage nach dem Urteil, eine, die was mit Geschmack zu tun hat. Das ist ja die alte These aus dem 18./19. Jahrhundert, dass die Schwierigkeiten des ästhetischen Urteils darin liegen, dass es eben nicht eindeutig zu machen ist, sprachlich zu fassen. Sondern es ist etwas Diffuses, das ist wieder der Geschmack. Und da kann man nun noch viel zu sagen, aber das ist natürlich etwas, mit dem wir auch konfrontiert sind, dass das ein weiches Feld ist. Es ist nicht ein großes Gebäude, was so bleibt alle Zeit. Sondern es ist eine Einschätzung, wie sich Dinge entwickeln, wie die Dynamiken sind.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Ein weiterer interessanter Aspekt in der Logik von Qualitätsurteilen ist, dass beim UNESCO-Kulturerbe, zumindest unbewusst, bei Experten immer der Gedanke an das Welterbe mit seinem Auswahlkriterium ‚einzigartiger universeller Wert‘ eine Rolle spielt. In den Debatten im DUK-Expertenkomitee tauchte dies zumindest wiederholt auf, entweder als positive Orientierung oder aber als negative Abgrenzung von diesem Auswahlmaßstab. Der Aspekt Wettbewerb spielt intuitiv sicher in dem Fall in den Köpfen der Beteiligten mit, denn

„Inventare sind langweilig, nur Wettbewerbe und deren ‚Leuchttürme‘ wecken Aufmerksamkeit und in deren Licht möchten sich die Verantwortlichen gerne sonnen, wenn sie denn […] goldene Plaketten o.Ä. verteilen dürfen! So jedenfalls erscheint dem Außenstehenden die Logik des vorliegenden Implementierungsprozesses, der de facto, wenn auch nicht de jure, als Wettbewerb konzipiert ist.“ (Letzner 2013: 62)

Bei Qualitätsurteilen und einer aktiven Auswahl aus einer begrenzten, weil durch einen Trichter vorsortierten, Zahl vorliegender Bewerbungen – Kulturstaatsministerin Grütters sprach bei den ersten Verzeichnisaufnahmen 2015 von einem „Auswahlprozess“ (Dok. 26: Rede Monika Grütters am 16.03.2015) – ist es wahrlich schwierig den Eindruck, dass es sich um einen Wettbewerb handele, abzustreifen. Zumal:

„Die Bundesländer sind stolz, wenn sie Weltkulturerbe haben und sie feiern sich damit auch und sehen das als ihren Verdienst an. Man kann darüber geteilter Meinung sein, aber das ist die Realität. Also dass man das etwas kritisch sehen muss, ist, glaube ich, außer Frage. Beim immateriellen kulturellen Erbe ist dieser Gesichtspunkt, der Beste sein zu müssen, nicht so im Zentrum“ (E1, Interview am 15.10.2018),

meint allerdings Christoph Wulf. Ob dies vielleicht mehr dem Wunschdenken der DUK und ihrer Experten entsprechend der Konzeption aus den Anfangsjahren (vgl. Dok. 18: DUK-Arbeitspapier 2012) entsprach und sich die öffentliche Wahrnehmung nicht doch anders entwickelte?

Der – im strengen Sinne – politische Einfluss auf das Verfahren greift in der letzten Stufe, der demokratischen Legitimation der Auswahlempfehlungen des Expertenkomitees. Es ist davon auszugehen, dass politischer Einfluss durchaus auch bereits auf die anderen Stufen genommen wird, sei es durch die Unterstützung von Vorschlägen durch lokale Politiker oder Parlamentarier oder aber politische Kriterien, die bei den Vorauswahlen auf Verwaltungs- oder Expertenebene eine Rolle spielen mögen und schwer nachzuverfolgen sind. Demokratisch legitimiert sind natürlich auch die Länderregierungen, die die Bewerbungen in der zweiten Stufe des Verfahrens an die DUK weiterleiten. Hinsichtlich von Letztentscheidungen stimmt es trotzdem, dass die Logik der demokratischen Legitimation und der Überführung in staatliche Entscheidungen erst zum Abschluss des Verfahrens dominiert. Die Bestätigung der Expertenempfehlungen im Benehmen zwischen den Ländern und BKM (7) ist in gewisser Weise heikel. Zum einen erinnert sich Christoph Wulf: „Ich kenne noch andere Zeiten aus der Zusammenarbeit zwischen KMK und Bundesministerium, die eher feindschaftlich war. […] In Deutschland ist das bisher [aber] sehr konsensuell.“ (E1, Interview am 15.10.2018) Zum anderen: „De facto sind die Empfehlungen oder fühlt sich die Politik den Empfehlungen des Expertenkomitees verpflichtet und [diese] sind bindend für sie.“ (L, Interview am 15.11.2018) Dies stärkt die Stellung des Experten, die zwar de jure nur Empfehlungen aussprechen, aber de facto eben doch die Entscheidungen bisher zu einhundert Prozent vorweggenommen haben. Sie wurden allerdings eben gerade für diese Einschätzung berufen und geben sie ehrenamtlich – eine Abweichung der Politik von den Empfehlungen würde ihr Expertentum empfindlich beschädigen. Auf einer zweiten Ebene besteht diesbezüglich ein spannendes Akteursverhältnis zwischen dem Bund, vertreten durch BKM, und den Ländern, deren gemeinsame Position in der KMK bzw. heute Kultur-MK festgestellt wird, hinsichtlich der Herstellung des Benehmens. Dass an dieser Stelle sogar zwei staatliche Akteure – eine oberste Bundesbehörde als korporativer Akteur und die KMK/Kultur-MK als kollektiver Akteur – sich auf eine Position einigen müssen, stärkt die Stellung der Experten wiederum, da es unwahrscheinlicher wird, dass sich 17 individuelle Akteure – als die die Länder und der Bund hier der Einfachheit halber hinsichtlich ihrer Interessenwahrnehmung aufgefasst werden – auf eine Ablehnung von Expertenempfehlungen einigen. (siehe Abschnitt 6.3.2.4.) Es gilt also die u. a. von Kropp (2010: 9 f.) und Benz (2004: 134) als typisch für verflochtene Mehrebenensysteme konstatierte Situation, dass Vetos und entsprechend folgende Blockaden meist nur ein Drohpotenzial sind und es faktisch i. d. R. zu Einigungen kommt.

6.3.3 Kulturwissenschaftliche Erkenntnisse aus dem Umsetzungsprozess

Es ist davon auszugehen, dass die Umsetzung der UNESCO-Konvention in Deutschland zum einen Einflüsse, d. h. impacts (siehe Abschnitt 5.1.7.), auf die Entwicklung des Begriffsverständnisses, die Bekanntheit und die gesellschaftliche Wahrnehmung des Immateriellen Kulturerbes hat sowie zum anderen auch den Interessen und Zielen der beteiligten Akteure grundsätzlich dienlich ist und in dieser Hinsicht Wirksamkeit erzielt. Der folgende Abschnitt betrachtet zum ersten die Wirkung (impact) der Umsetzung der 2003er-UNESCO-Konvention auf gesellschaftliche und zum Teil auch kulturpolitische bzw. kulturwissenschaftlichen Debatten im Umgang mit Traditionen und ihre Veränderlichkeit, den Kulturbegriff, Identität und Heimat in Deutschland (Abschnitt 6.3.3.1.). Zum zweiten befassen die Ausführungen sich mit den kulturwissenschaftlich geprägten Erwägungen der Experten des Immateriellen Kulturerbes, insbesondere der Mitglieder des Expertenkomitees der DUK in ihrer Bewertungspraxis im Zuge der Inventarisierung (Abschnitt 6.3.3.2.). Zum dritten wird auf die Binnenorganisation und äußere Verfasstheit der Kulturträgergruppen und die damit zusammenhängenden kulturwissenschaftlichen Erwägungen eingegangen (Abschnitt 6.3.3.3.).

6.3.3.1 Wirkung auf gesellschaftliche Debatten

Mit den ersten Eintragungen ins Bundesweite Verzeichnis wurde u. a. klar, dass der Bereich des Immateriellen Kulturerbes mehrere Millionen Menschen in Deutschland betrifft, denkt man etwa an die Chorsänger, die Mitglieder in Genossenschaften, die Karnevalisten und Narren oder die Beteiligten, inklusive der Besucher, der Theater- und Orchesterlandschaft. Eine weitere Erkenntnis war, dass der Kulturbegriff weiter gefasst werden muss als dies die Kulturverwaltung normalerweise tut, insbesondere im Umgang mit dem kulturellen Erbe. „Poetry Slam wäre […] so ein Beispiel, das einem traditionellen Kultur[erbe]verständnis eher entgegenwirkt.“ (E1, Interview am 15.10.2018) In vielen Kulturabteilungen der Länder führte der – oftmals erstmalige – direkte Kontakt mit den Kulturträgern des Immateriellen Kulturerbes zu einer Bewusstseinserweiterung hinsichtlich des Kulturbegriffs, d. h. zu einer Erweiterung des Spektrums im Kulturverständnis (vgl. L, Interview am 15.11.2018). Aber auch andere Akteure des Politikfelds waren mit den geänderten Koordinaten konfrontiert.

„Da kommt auch eine Breite und die Vielfalt dazu, dass das eben zum einen sich an, ich sage mal ‚normalen‘ kulturellen Formen wie Theater oder Musik oder sowas klammert. Aber eben Kultur dann in einem noch deutlich weiteren Sinn gedacht wird. […] Das Bierbrauen unter Kultur zu fassen ist ja möglich und auch richtig angesichts der Historie. Aber macht man ja klassischerweise nicht.“ (K, Interview am 01.11.2018)

Neben das „bürgerliche Verständnis der Hochkultur“ (E1, Interview am 15.10.2018) tritt nun mit dem Anspruch der Gleichberechtigung die gelebte Kultur – verwirrenderweise aber gerade im Kleid des Kulturerbes, das man zuvor mit gebautem Erbe bzw. Denkmälern assoziierte und das sehr klassische Förderstrukturen aufweist. Christian Höppner hat sich als u. a. Präsident des Deutschen Kulturrats im Untersuchungszeitraum viel mit dem Kulturbegriff befasst und meint, dass der Einfluss der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes darauf nicht zu unterschätzen sei:

„Also a) ist das positiv, dass sich Gruppen begegnet sind, die sich vorher, wenn überhaupt, nur aus der Ferne wahrgenommen haben. Und b) ist das noch mal [ein Anstoß], das merke ich jedenfalls bei vielen Diskussionsveranstaltungen, dass wieder eine neue Frage auftaucht: ‚Was ist eigentlich Kultur?‘ […], also, wie oft bin ich schon damit konfrontiert worden, mit dem Karneval […]? ‚Ja, das ist doch gut, aber das ist doch keine Kultur.‘ Also wirklich von Leuten, die einen weiten Horizont haben, finde ich. Oder die so ein bisschen sagen: ‚Na ja, das verwässert doch.‘ Ich sage, nein, überhaupt nicht, im Gegenteil. Das schärft endlich die Aussage, kulturelle Vielfalt ist wirklich ein breites Feld, ist kein beliebiges, aber ein breites. Und letztendlich kriege ich jede Diskussion im Moment wahrscheinlich, weil sie keiner kennt oder zu wenig kennt, wenn ich auf die Erklärung von Mexiko-City verweise zum offenen Kulturbegriff, von 1982.“ (V, Interview am 06.11.2018)

Populäre Kultur geriet durch die neue UNESCO-Konvention in Deutschland stärker als je zuvor in den Fokus der Kulturpolitik und bekam damit auch neue Funktionen und spezifische Bedeutungen (vgl. Tauschek 2013: 22 f.). Ländervertreterin Susanne Bieler-Seelhoff geht von einer durch die Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes ausgelösten Dynamik aus:

„Ja, es verändert vielleicht unsere Sicht auf Kultur, also weitet vielleicht auch den Kulturbegriff aus, der ja sowieso einer ist, der relativ unspezifiziert ist in Deutschland. Es gibt einige Länder, die tragen mehr einen Begriff der Kunst in ihrem Titel, also eine Kunstabteilung, andere die Kultur. Und wenn man sich den angelsächsischen Begriff zugrunde legt, ist Kultur alles, was dazu beiträgt, dass wir zusammenleben und zwar gut und friedlich zusammenleben. Und insofern ist das [Immaterielle Kulturerbe] natürlich auch ein Teil unserer Zusammenlebenskultur.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Diese Erkenntnis ist auf die nationale Umsetzung der UNESCO-Konvention zurückzuführen, denn ohne diese hätte es bei den politischen Akteuren und der Öffentlichkeit wohl keinen Anreiz zur Beschäftigung mit dem Thema in der deutschen Kulturpolitik gegeben. Durch die Einbettung in das Feld der Kulturpolitik, die vorher kaum gegeben war und nun nach und nach für eine neue Wahrnehmung sorgt, sowie durch die Berichterstattung der Medien wird diese Entwicklung mindestens mittelfristig auch Auswirkungen auf das Kulturverständnis der Gesellschaft haben: Dass zur, manchmal fast ehrwürdig überhöhten, Kultur und dann sogar zu unserem Kulturerbe in Deutschland auch das Hebammenwesen, die Morsetelegrafie und das Reetdachdecken gehören, ist eine Veränderung der Debatte, die maßgeblich auf die nationale Umsetzung der UNESCO-Konvention zurückzuführen ist.

Die öffentlichkeitswirksame Darstellung, was eigentlich unter Immateriellem Kulturerbe verstanden werden kann, insbesondere im Hinblick auf die große Vielfalt, sollte, so zunächst die Vorstellung der DUK und ihres Expertenkomitees in der Anfangsphase der Umsetzung, vollständig über die ersten Eintragungen und ihre öffentliche Präsentation gelingen. Im DUK-Arbeitspapier von 2012 heißt es:

„Gruppen, Gemeinschaften und ggf. auch Einzelpersonen pflegen ganz unterschiedliche, vielfältige Ausdrucksformen dieses kulturellen Erbes. Welche Tradierungs- und Organisationsformen hierzulande vorhanden sind und wie weit das Spektrum der Vielfalt reicht, ist bislang weitgehend undokumentiert. Dies wird einer der spannendsten und zugleich herausfordernden Bereiche der praktischen Umsetzung dieses Übereinkommens in Deutschland sein.“ (Dok. 18: DUK-Arbeitspapier 2012: 2)

Daher wollte man mit der ersten Eintragungsrunde ein möglichst breites Bild vermitteln und legte auf die Bekanntmachung der ersten Bewerbungsrunde und die Möglichkeit, sich aus der Zivilgesellschaft heraus zu beteiligen, sehr viel Wert (17, 18, 19, 20, 21). In ihrer Rede auf der Auszeichnungsveranstaltung der ersten 27 Einträge ins Bundesweite Verzeichnis im März 2015 (9, 16) sagte Kulturstaatsministerin Grütters: „Das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes sorgt für Wertschätzung, indem es uns bewusstmacht, dass unser Reichtum nicht allein in unserem Wohlstand begründet liegt, sondern auch in der Vielfalt unserer Kultur“. Und weiter:

„Deshalb finde ich aus kulturpolitischer Sicht allein schon den Auswahlprozess für das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes wichtig: die öffentliche Debatte darüber, was unsere kulturelle Identität ausmacht und mit welchen Traditionen wir uns selbst und unser Land so sehr identifizieren, dass wir sie auf die Liste des weltweiten immateriellen Kulturerbes bringen wollen – allein diese Debatte schärft das Bewusstsein für den enormen Wert all‘ unserer kulturellen Ausdrucksformen – und für unsere Identität.“ (Dok. 26: Rede Monika Grütters am 16.03.2015)

Der Hinweis der Staatsministerin für Kultur und Medien auf die diskursive Entwicklung des Kulturbegriffs sowie den Verständigungsprozess in der Gesellschaft ist bemerkenswert. Ein Schlaglicht auf die BKM-Perspektive wirft dabei, dass kulturpolitisch der Auswahlprozess hervorgehoben und die Finalität der internationalen Listen betont – also eine eher kompetitive Komponente beim Inventarisierungsverfahren in den Vordergrund gerückt – wird. An dieser Stelle im Zusammenhang mit der Wirkung auf die gesellschaftlichen Debatten über das Immaterielle Kulturerbe werden die unterschiedlichen Vorstellungen und Strategien der Akteure, was mit der Inventarisierung erreicht werden soll, also wieder deutlich (siehe Abschnitt 6.2.).

Ganz zufrieden waren die Experten mit dem Ergebnis der ersten Eintragungsrunde im Hinblick auf die Wertschätzung für eine möglichst große Breite und Vielfalt der Kulturträgerschaften aber nicht: Mit Blick auf u. a. migrantisch geprägte und urbane Trägergruppen war die Aktivierung nicht sonderlich erfolgreich. Im DUK-Expertenkomitee wurde daher in der Folge eine aktive Kommunikation dieses Missstands vereinbart. Neben der Betonung bei öffentlichen Veranstaltungen, wie etwa bei der Eröffnung der Fachtagung im März 2015 (16) durch Christoph Wulf, dass auch diese Formen zum Immateriellen Kulturerbe gehören und man Bewerbungen aus dieser Richtung sehr begrüßen und unterstützen würde, verschriftlichte die DUK diese Botschaften auch in zwei Papieren (24; siehe Dok. 28 und 29), die für die interne und externe Kommunikation genutzt wurden. Hier heißt es u. a.:

„Das gleichwertige Nebeneinanderstellen von bisher völlig unterschiedlichen Kategorien von Kultur kann das Selbstbewusstsein der Überlieferungsträger/-innen stärken und Grenzen (in den Köpfen und reale) überwinden.“ sowie „Es geht ganz und gar nicht um die Betonung von Originalität, Einzigartigkeit oder Authentizität bzw. fundamentalistische Auffassungen kultureller Traditionspflege. Gesucht sind lebendige Traditionen, die von der Gemeinschaft getragen ‚mit der Zeit gehen‘ und in Deutschland kreativ weiterentwickelt wurden und werden.“ (Dok. 28: Botschaften an potentielle Zielgruppen: 1)

Die Betonung dieses sehr offenen Konzepts, das eine Traditionspflege in Deutschland – anstelle des Begriffs einer ‚deutschen Tradition‘ – zur Grundlage macht, ist bewusst erfolgt. Man wollte den transkulturellen Aspekt und die verbindende Kraft von Kultur betonen. Im Arbeitspapier von 2012 dachte man daher auch folgenden Fragen eine wichtige Rolle zu:

„Welche Rolle spielen die Übernahme vormals fremder Kulturelemente und transnationale kulturelle Wechselwirkungen für die Perspektiven des immateriellen Kulturerbes in und aus Deutschland? Inwiefern gibt es inter- oder transkulturelle Formen von immateriellem Kulturerbe, etwa im Bereich von migrantischen und mobilen Prozessen oder über neue mediale Verbindungen und Vernetzungen?“ (Dok. 18: DUK-Arbeitspapier 2012: 2)

Zugleich ist im Hinblick auf ein statisches gegenüber einem dynamischen Verständnis von Tradition mit dem Immateriellen Kulturerbe erstmals in einer gewissen gesellschaftlichen Breite zumindest andiskutiert worden, was in der Kulturanthropologe lang bekannt war, nämlich, dass Traditionen veränderlich sind, sich sogar permanent weiterentwickeln müssen, um nicht zu erstarren und damit auszusterben. Die amtierende KMK-Präsidentin Brunhild Kurth meinte bei der ersten Auszeichnungsveranstaltung im März 2015 etwa:

„Dabei ist das Spannende am immateriellen Kulturgut, dass es so gar nicht ins Museum passen will. Es geht nicht darum, einen bestimmten Zustand zu bewahren oder zu konservieren. Das immaterielle Kulturerbe ist auf die Zukunft ausgerichtet. Es will weitergegeben und gelebt werden. Und genau deshalb gehört zu den maßgeblichen Auswahlkriterien, dass die aufzunehmende Kulturpraktik aktiv gelebt wird und jede und jeder Interessierte daran teilnehmen kann.“ (Dok. 27: Rede Brunhild Kurth am 16.03.2015: 3)

Dies war bis dato absolut nicht ‚common sense‘ im Politikfeld Kultur und blieb auch in den Folgejahren noch eine wenig verbreitete Erkenntnis. Das Verständnis, was Immaterielles Kulturerbe ist, ist

„noch unterentwickelt. Ich finde, das ist eine große Kommunikationsaufgabe. Da will ich jetzt auch niemand an den Pranger stellen, aber ich schließe die Zivilgesellschaft mit ein, also in jedem Fall auch Deutscher Kulturrat. Ich finde auch, die Deutsche UNESCO-Kommission, die eine ganz tolle Arbeit macht, aber ich finde – und da zeigt sich das noch mal beim Immateriellen Kulturerbe, dass sie noch Schwierigkeiten hat, sich aus dieser Fachlichkeit und aus diesem internationalen Kontext, die total wichtig sind, rauszubewegen, – [sie müsste] eigentlich als Zielgruppe sogar den Landrat vor Ort, den Bürgermeister vor Ort [ins Auge fassen]. Weil die Wirkung letztendlich, die sie entfalten kann, entfaltet sie ja nicht nur auf Bundesebene, sondern eben auch vor Ort. Das ist noch so eine Riesenkommunikationsaufgabe, die von uns allen noch nicht, finde ich, hinreichend erfüllt ist.“ (V, Interview am 06.11.2018)

Der Deutsche Kulturrat verstaute das Immaterielle Kulturerbe anfangs in der Schublade „Denkmalpflege“ und wollte die neue Konvention nutzen, diese durch transmediale Elemente zu modernisieren (vgl. Stellungnahme des Deutschen Kulturrats vom 06.12.2013: 2). Erneut wird in diesem Zitat von einem der befragten Experten neben der Feststellung einer noch ausbaufähigen Kommunikation in der Öffentlichkeit auch ein Defizit in der Kommunikation mit der kommunalen Ebene konstatiert. Beides wird als bisher ungehobenes Potenzial einer noch größeren Wirkung auf die gesellschaftlichen Debatten durch die Umsetzung der Konvention gesehen.

Vor dem deutschen Beitritt wurden von den verantwortlichen staatlichen Akteuren öffentlich ausgetragene Kontroversen, insbesondere negativer Art, um das Immaterielle Kulturerbe befürchtet, wie es etwa Österreich rund um die „Wiener Balltradition“– hier im Kontext neurechter Gruppierungen und ihrer Anleihen an den Nationalsozialismus – erlebt hatte (siehe Abschnitt 4.4.2.1.). Die erste Bewerbungsphase 2013 und die ersten 27 Eintragungen in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes Ende 2014 bzw. mit dem Festakt im März 2015 in Berlin (9) erfolgten zwar mit sehr positiver Berichterstattung der Medien und guter Resonanz in der Öffentlichkeit. Auch die weiteren Inventarisierungsrunden sowie die ersten UNESCO-Nominierungen stießen größtenteils auf öffentliches Wohlwollen und provozierten kaum negative Debatten über Traditionspflege in der Vergangenheit oder über Konflikte zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Das heißt jedoch nicht, dass der Bewerbungsprozess und seine mediale Begleitung gänzlich ohne Reibungen vonstattengingen. Ein größerer Konflikt, den die DUK-Geschäftsstelle und das Expertenkomitee bewältigen mussten, entspann sich um die in der ersten Bewertungsrunde von den Experten zurückgestellte Bewerbung des Schützenwesens. Dahinter stand ein, die katholische Verankerung der Tradition stark betonender, Verband aus Nordrhein-Westfalen (Europäische Gemeinschaft Historischer Schützen). Nachfragen der Experten im Zuge ihrer Bewertungstätigkeit bezogen sich auf Medienberichte – zum einen über eine Ungleichbehandlung eines Schützenkönigs muslimischen Glaubens bei der Traditionsausübung im Jahr der Bewertung (2014) und zum anderen über ähnlich gelagerte Vorfälle in den Jahren 2011/2012 bei homosexuellen Schützenkönigen, die – ebenfalls unter Berufung auf die christliche Tradition – bei offiziellen Anlässen ihre Partner nicht präsentieren durften. Die Rückfragen mit der Bitte um Präzisierung der Bewerbung gingen dem Verband, der die Bewerbung eingereicht hatte, im Dezember 2014 zu. Im Februar 2015 beschwerte er sich, noch bevor ein eigenes offizielles Schreiben an die DUK ging, zunächst öffentlich via Pressemitteilung, was u. a. einen Artikel auf Spiegel Online (17.02.2015) sowie am selben und den Folgetagen auf Basis von Agenturmeldungen eine Reihe von Berichten in der regionalen Presse in NRW, aber auch in den überregionalen Medien (u. a. FAZ) zur Folge hatte. Die DUK reagierte darauf mit einer presseöffentlichen Klarstellung, in der u. a. der Wortlaut der Begründung der Rückstellung der Bewerbung aus dem gemeinsamen Schreiben der DUK und der KMK vom Dezember 2014 zitiert wird: „Eine Betonung des historischen christlichen Gründungszwecks betroffener deutscher Schützenverbände macht für die Experten nicht einsichtig, weshalb dieser Zweck heutzutage durch religiöse Öffnung gefährdet sein sollte.“ Zudem wurde auf die „Achtung vor der kulturellen Vielfalt“ als Anspruch unabhängig von Geschlecht, Religion, Sexualität oder Herkunft in der UNESCO-Konvention hingewiesen. Wichtig sei den Experten bei der Bewertung gewesen, dass jeder Interessierte an einer Tradition und Wissensform teilnehmen könne, hieß es. Dieses Kriterium könne nur dann eingeschränkt werden, wenn es der Kern einer Tradition rechtfertige. Der letztgenannte Punkt bezieht sich auf die öffentlich mehrfach geäußerte (falsche) Parallelität der christlichen Konfession beim Schützenwesen zum männlichen Geschlecht bei der Sächsischen Knabenchortradition, die unter den ersten Aufnahmen ins Verzeichnis war. Von der im Begründungsschreiben gebrauchten Bezeichnung „biodeutsche Maßstäbe“, nach denen der Verband mutmaßlich urteile, über die sich der Schützenverband besonders empört hatte, distanzierte sich die DUK und bedauerte seine Verwendung in dem Schreiben. Zudem machte die DUK der Bewerbergruppe ein Gesprächsangebot. Der Vorsitzende des DUK-Expertenkomitees Christoph Wulf sowie Mitglied Wolfgang Kaschuba kamen im Juni 2015 in Bonn zu einer Besprechung mit Vertretern des Verbandes, der die ursprüngliche Bewerbung eingereicht hatte, und eines weiteren bundesweit und konfessionsungebunden agierenden Verbandes (Deutscher Schützenbund), der sich, nachdem er über die Presse von der Bewerbung aus NRW erfahren hatte, gern an der Bewerbung beteiligen wollte, zusammen. Die Ausgangslage war entsprechend durchaus komplex. In dieser Besprechung konnten aber viele Fragen geklärt werden und auf allen Seiten war Bereitschaft zu einer guten Lösung, d. h. einer Eintragung unter Achtung der grundlegenden UNESCO-Prinzipien wie Gleichbehandlung und Achtung anderer Gruppen, zu kommen, vorhanden. In der Folge gelang 2015 tatsächlich in einer überarbeiteten Bewerbung die gemeinsame Anerkennung des „Schützenwesens in Deutschland“. Das DUK-Expertenkomitee konnte für sich den Erfolg verbuchen, dass es die Verfechter eines progressiven Gesellschaftsbildes innerhalb der Schützenträgerschaft bzw. -verbände gestärkt hatte und an die Eintragung ins Bundesweite Verzeichnis Prinzipien geknüpft hatte. Es machte deutlich, dass das Prädikat „Immaterielles Kulturerbe“ nicht für alles vergeben wird, was eine Tradition ist bzw. hat: An die Eintragung sind über die identitätsstiftende Bedeutung und die Pflege einer lebendigen Tradition hinaus weitere Bedingungen geknüpft. Die Experten demonstrierten mit ihrem Vorgehen auch, wie die Auslegung der Konvention im deutschen Kontext gesellschaftlich progressive Debatten anstoßen kann. Der kritisierte Verband änderte in der Folge tatsächlich seine Statuten, so dass nun der katholische Glauben zwar als Grundwert der Gemeinschaft, aber nicht mehr als Bedingung für die Ausübung der Tradition bzw. der Rolle als Schützenkönig festgeschrieben wurde (vgl. https://www.katholisch.de/artikel/6961-schutzen-wollen-muslimen-und-homosexuelle-aufnehmen; Zugriff am 04.09.2021). Die DUK und das Expertenkomitee nutzten den Fall also proaktiv, um die Positionierung des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland als zukunftsgewandte Kulturpflege deutlich zu machen und um gesellschaftliche Konflikte und eine Wertedebatte vor dem Hintergrund des UNESCO-Programms produktiv zu verhandeln.

Eine weitere Problemlage zwischen Experten und Bewerbergruppen ergab sich im Feld des Brauchkomplexes Fasching/Fastnacht/Karneval. Hier gab es in der ersten Bewerbungsrunde für das Bundesweite Verzeichnis drei, sich inhaltlich teilweise überschneidende, Bewerbungen. Im Juni 2015 trafen sich der Expertenkomitee-Vorsitzende Christoph Wulf und seine Stellvertreterin Gertraud Koch in Berlin mit Vertretern des Verbandes, der eine Globalbewerbung für alle mit dem Brauchkomplex verbundenen Traditionen eingereicht hatte. Diese Bewerbung wurde zuvor unter Hinweis auf die Aufnahme der spezifischeren, lokal verankerten Formen „Schwäbisch-Alemannische Fastnacht“ und „Rheinischer Karneval mit seinen lokalen Varianten“ ins Verzeichnis abgelehnt. Hauptargument der Experten dafür war, dass die jeweiligen spezifischen Trägergruppen für die Erhaltung der einzelnen Kulturformen, wie in der UNESCO-Konvention festgehalten, eine zentrale Rolle spielen. Eine wichtige Bedingung für die Aufnahme ins Verzeichnis und damit die Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe ist die Einbindung aller Praktizierenden in einen Vorschlag. Dies war dem Bundesverband offenbar nicht gelungen, da es parallel einzelne Bewerbungen des Rheinischen Karnevals und der Schwäbisch-Alemannischen Fastnacht gab. In der Abwägung wurde im Fall der Faschings-/Karnevals-/Fastnachtstraditionen daher einer Bevorzugung spezifischer Phänomene Vorrang gegeben. Insgesamt reflektierte das Expertenkomitee dabei auch, dass es bei der Inventarisierung um eine Bestandsaufnahme repräsentativer Phänomene lebendiger Traditionen, also eine exemplarische Auswahl zur Darstellung der Vielfalt des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland gehe und nicht um eine katalogartige, vollständige Erfassung aller Traditionen. Hierdurch erfuhr implizit die Inventarisierungspraxis in Deutschland eine Konkretisierung.

Die DUK beschäftigt sich auch mit der Frage, wie die verschiedenen Erbeprogramme der UNESCO zueinanderstehen. DUK-Vizepräsident Christoph Wulf konstatierte rückblickend:

„Mittlerweile hat sich auch das Verhältnis zum Weltkulturerbe gewandelt, weil die Dinge zusammenhängen. Denn es gibt keine großen Bauten ohne die handwerkliche Kenntnis davon. Das ist etwas, was sich gemeinsam entwickelt. […] Mittlerweile hat sich das immaterielle kulturelle Erbe emanzipiert von dem Welterbe und findet durchaus Aufmerksamkeit. Weil es ja eben auch wirklich bedeutend ist.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

In den Ländern, gemeint sind hier die Kulturverwaltungen, aber auch die Kulturpolitik, spielt das Verhältnis zwischen (materiellem) Welterbe nach der 1972er -UNESCO-Konvention und dem Immateriellen Kulturerbe der 2003er-Konvention in der Umsetzung ebenfalls eine wichtige Rolle. Einige Länder würdigen das Immaterielle Kulturerbe offensiv als eigene wertvolle Form der Kulturerbepflege, für andere aber bleibt es (noch) ein Anhängsel des Welterbes oder sie sehen das Immaterielle Kulturerbe als weniger wertvolle Kompensation für fehlende bzw. eine im Ländervergleich geringere Zahl von Welterbe-Stätten. Die Ländervertreterin Susanne Bieler-Seelhoff jedoch meint:

„Mittlerweile merken, glaube ich, die Akteure zumindest in den Ländern, dass es ein Wert an sich ist, diese Konvention auch tatsächlich zu leben. […] Wir sehen ja, dass wir zunehmend mehr Bewerbungen kriegen. Wir sehen, dass die Länder, die Instrumente, die wir ihnen an die Hand gegeben haben, Länderlisten, zum Beispiel, auch ausfüllen. Wir sehen, dass die Länder gestiegene Pressearbeit, Öffentlichkeitsarbeit dazu machen. Und tatsächlich ihre regional ausgezeichneten, von einer Jury in der Regel ja ausgewählten Praktiken dann auch noch einmal öffentlich präsentieren und wertschätzen. Also das sind ja alles Zeichen dafür, dass dieses ernst genommen wird und dass die Kommunikation zu dem Thema tatsächlich an Fahrt aufgenommen hat und Politik am Ende auch das zu seiner Sache gemacht hat.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Dass es zudem durch die Umsetzung der Konvention faktisch zu einer Ausweitung der Zahl der Kulturakteure kommt, spricht für die These, dass die kulturelle Teilhabe von der Umsetzung der UNESCO-Konvention in Deutschland profitiert:

„Die Zahl der Akteure hat sich sehr ausgeweitet, eben nicht nur die Zahl der Interessenten. Es ist einfach Thema in unserer Kultur geworden und ich würde sagen, auch in der Öffentlichkeit wird klar, dass das […] wirklich etwas ist, was für große Bevölkerungsgruppen ein konstitutives Element ist. Für soziales Leben, für ihr kulturelles Leben. Also von daher gibt es, glaube ich, schon eine Ausweitung der Interessenten, die ganz beträchtlich ist.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Die Wirkung der Konventionsumsetzung kann allerdings über das Politikfeld der Kultur und ihre gesellschaftliche Verständigungsfunktion hinausreichen; man denke nur an das Politikfeld Wirtschaft, etwa beim Handwerk, aber auch bei anderen Formen der Inwertsetzung der lebendigen Traditionen, wie im Tourismus.

„Gemessen an dem Potenzial ist die [Wirkung] noch viel zu gering […], aber sie ist natürlich, also wo ich hinkomme, spüre ich das schon. Also spätestens an dem Punkt, wo es vor Ort verstanden wird, damit auch zu werben. Und da ganz unterschiedlich, manchmal unter touristischen Gesichtspunkten, manchmal einfach auch aus dem Gefühl, wir sind wer, und endlich werden wir wahrgenommen. Und das finde ich ganz wichtig. Das ist so die Frage des Selbstbewusstseins, von Gemeinschaften vor Ort, von Gesellschaften vor Ort. Das […] spielt auf jeden Fall in das Thema ‚Gesellschaftlicher Zusammenhalt‘ mit rein. Insofern kann ich da nur, also ich kann nichts Negatives entdecken, wirklich nur positive Wirkungen. Ich bin nur immer zu ungeduldig, wenn es darum geht, das ist so großartig, da müsste man noch mehr aus dem Eisen schmieden können.“ (V, Interview am 06.11.2018)

In diesem Zitat steckt eine Reihe von wichtigen Beobachtungen: Zunächst nimmt mit Christian Höppner jemand, der kulturpolitisch in den untersuchten Jahren als Präsident des Deutschen Kulturrats in der ganzen Breite der Kulturszene involviert war, die Wirkung gemessen an einem durchaus hohen Potenzial als noch gering wahr. Er hat aber auch bereits wahrgenommen, dass bei den Akteuren, die die Anerkennung durch Aufnahme in das Bundesweite Verzeichnis selbst erfahren haben, eine Wirkung zu spüren ist, nämlich, dass „ein neues Selbstbewusstsein in der Gruppe der Praktizierenden entsteht, die sich nun stärker als zuvor oder gar erstmals als Kulturakteur*innen und Zielgruppe von Kulturpolitik verstehen“ (Hanke 2019: 147) bzw. dass diese versuchen, die Wirkung in konkrete Erhaltungsaktivitäten umzumünzen. Dies kann man seitens der etablierten kulturpolitischen Akteure als einen Hinweis darauf werten, dass die kulturelle Teilhabe durch eine Erweiterung des als kulturpolitisch relevant anerkannten Akteursspektrums gewachsen ist. Höppner beschreibt die Wirkung aber auch darüberhinausgehend als gesamtgesellschaftlich relevant, wenn er das Thema des gesellschaftlichen Zusammenhalts anspricht. Die Erkenntnis, dass Originalität und Authentizität wenig, aber der Beitrag des Immateriellen Kulturerbes zum sozialen Zusammenhalt viel zählt, setzt sich auch bei den Trägergruppen der Kulturformen nach und nach durch (vgl. u. a. Schenk 2015: 129). Ein wenig pessimistischer, was langfristigen impact bzw. Nutzen angeht, ist Ländervertreterin Susanne Bieler-Seelhoff:

„Aber die Auswirkungen sind, denke ich einmal, aus Sicht der Trägergruppen vielleicht noch zu gering. Weil ich auch höre, dass ja während des Auszeichnungsverfahrens oder während dieses Prozesses steht man im Fokus und wenn man dann ausgezeichnet ist, dann kann man selber zwar mit dem Label werben, aber es gibt nicht eine automatische stärkere Beachtung sozusagen der ausgezeichneten Traditionen.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Damit ist ein problematischer Punkt angesprochen, nämlich, dass es im Grunde (bisher) in Deutschland keine politische oder fachliche Strategie gibt, wie mit den ins Verzeichnis aufgenommenen Kulturformen im Weiteren umgegangen werden soll. Weder ist eine Netzwerkbildung als strategischer Ansatz Teil der Verabredungen zwischen Bund und Ländern oder Inhalt der Zuwendungen an die Deutsche UNESCO-Kommission noch gibt es eine echte Förderstruktur für die Erhaltung von Formen Immateriellen Kulturerbes. Die Erstellung eines Handbuchs möglicher Förderungen aus anderen Bereichen der Kultur- und Ehrenamtsförderung (27) spricht dahingehend Bände.

Festzustellen bleibt, dass die Trägergruppen Immateriellen Kulturerbes vor und natürlich auch nach der Anerkennung zum Teil beträchtliche Unterschiede untereinander aufweisen, etwa was die Professionalität und Möglichkeit der Darstellung des eigenen Tuns angeht. Einige sind

„stärker in die Diskussion geraten […] dadurch, weil sie in die Öffentlichkeit getreten sind, Falknerei würde ich mal so sehen. Ich denke, dass andere sehr positiv jetzt überhaupt erst mal wahrgenommen sind und eher Rückenwind sehen für eine relativ aufwändige […] kulturelle Praxis, wie das ganze Orgelwesen mit Orgelbau und den Aufführungspraktiken drumherum.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Gertraud Koch schätzt es so ein, dass im kulturpolitischen Raum

„das Bewusstsein gewachsen ist, dass das eine wichtige Konvention ist. Ich kann die Zurückhaltung des Anfangs verstehen, weil das ja sehr viel auch mit der Ausgestaltung der Konvention zu tun hat. Und ich denke, es war gut, da Sorgfalt walten zu lassen und sich Gedanken zu machen: ‚Was ist auch die spezifische Rolle Deutschlands in so einer Konvention?‘ Dort, finde ich, sind wir auf einem guten Weg. Und das ist sicherlich noch nicht bis in alle politischen Bereiche vorgedrungen, was diese Konvention tatsächlich an Bedeutung hat.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Susanne Bieler-Seelhoff pflichtet bei und meint:

„Ich persönlich habe schon den Eindruck, dass die Relevanz gestiegen ist; stark gestiegen ist vielleicht übertrieben. Aber das Ganze hat natürlich etwas mit den Herausforderungen, den aktuellen, zu tun, der zunehmenden Globalisierung, Digitalisierung, Verunsicherung der Gesellschaft. Und bei einer gleichzeitigen Rückbesinnung auf das, was die regionale Identität ausmacht, was vielleicht auch den seit einigen Jahren neu definierten Heimatbegriff ausmacht.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Das Immaterielle Kulturerbe kann also zum einen mit dem Blick zurück, aber zugleich mit dem Blick auf aktuelle und kommende Herausforderungen, für die gegenwärtige Situation auf unserem Planeten sensibilisieren. Neben den für die Bundesrepublik genannten Potenzialen besteht im internationalen Raum zusätzlich noch die Gelegenheit zum interkulturellen Austausch. Gerade im Zusammenwirken mit den angesprochenen Identitätsfragen kann dieser „UNESCO-Effekt“ besonders wertvoll sein, um nicht in eine Deutsch- oder eine Regionaltümelei abzurutschen. Die Vertreterin des Bundes, die für diese Arbeit befragt wurde, meint dazu:

„Also ich habe während meines ganzen Studiums den Begriff Heimat nicht in den Mund genommen. Heute gibt es da auf Bundesebene, auf Landesebene auch, gibt es ein ganzes Heimatministerium. Und dieses Thema [Immaterielles Kulturerbe] greift da natürlich rein. Irgendwie muss auch Kulturpolitik es besetzen, und natürlich möglichst positiv. Und aus bösen Erfahrungen der Vergangenheit in Deutschland lernen, also, dass Heimat nicht gleichbedeutend ist mit einem falsch verstandenen Nationalismus. Weil das einfach mit Verankerung, mit Identität zu tun hat, aber mit Verankerung in einer globalisierten Welt. Und deshalb, da kann auch die UNESCO helfen. Die Anerkennung von Heimat, also erst mal das Positive. […] Die Auseinandersetzung ist da und ist wichtig, wichtiger denn je. Gleichzeitig muss man sehen, dass dieser Begriff nicht noch mal missbraucht wird. Und ich glaube, UNESCO kann für die Anerkennung praktisch im internationalen Rahmen helfen. Weil damit gleichzeitig verbunden ist die Achtung und Wertschätzung eben von kultureller Identität auf der ganzen Welt. Ich glaube, das muss man immer mehr deutlich machen.“ (B, Interview am 05.11.2018)

Eine Verschiebung im öffentlichen Diskurs über Immaterielles Kulturerbe sehen – in Bezug auf die Heimatkultur – einige der Experten aber sehr kritisch:

„Ich denke, eine zentrale Herausforderung wird auch sein, sich von dieser Heimatdiskussion nicht besudeln oder instrumentalisieren zu lassen und deutlich zu machen, da geht es eher, wenn man in dieser Terminologie bleiben will, um Be-Heimatung als um diese alten Heimatkonstrukte, sondern um diesen aktiven Prozess, sich mit den anderen und dem Ort und den Gegebenheiten eben kulturell auseinanderzusetzen.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Von der grundsätzlich offen gelassenen Konzeption des Immateriellen Kulturerbes, das eine sehr lokale Kulturform sein kann, aber auch eine deutlich weitere Ausdehnung bis hin zur weltweiten Form annehmen kann, wie die Mitgliedstaaten der UNESCO-Konvention in Folge eines entsprechenden kollektiven Reflexionsprozesses in den Jahren 2011/12 als Kompromiss feststellten, ist auch in Deutschland eine gewisse Unsicherheit geprägt, auf welcher Ebene des Kulturföderalismus das Immaterielle Kulturerbe eigentlich anzusiedeln sei. Damit verbunden ist zugleich auch eine Unsicherheit über die Wertigkeit einer Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe. Der Vertreter der Kommunen im Expertenkomitee steht mit folgender Aussage beispielhaft für diesen permanenten gedanklichen Spagat:

„Dann gibt es eben Sachen, die bundesweites Interesse sind: Das ist Bier, das Brotbacken […] und Handwerkgeschichten eher. Aber das ist eben nicht die örtliche oder die jeweilige Ausgestaltung des Karnevals oder Fastnacht […]. Das ist dann wieder regional. Das macht es ja so schwierig, dass wir da jetzt bundesweit einen Hype zu entwickeln. Denn auf diese Kirchweih, die Sie da eben genannt haben [Limmersdorfer Kirchweih, Anm. d. Verf.], ob die weiter existiert oder nicht, das ist den Menschen, die eben nicht in der Region leben, relativ wurscht. Muss man einfach sagen. Das ist nicht böse gemeint, aber das ist eben so.“ (K, Interview am 01.11.2018)

Es ist darauf hinzuweisen, dass die letztgenannte Einschätzung möglicherweise voreilig sein könnte, denn gerade die Anerkennung und der damit verbundene erhoffte auch überregionale Bedeutungszuwachs scheint lokalen Kulturformen bei einer Bewerbung besonders wichtig zu sein (siehe Abschnitt 4.2.) und die längerfristige Wirkung einer Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe im Bundesweiten Verzeichnis könnte eben gerade einen solchen Bewusstseinswandel bewirken, nämlich, dass es – dies durchaus in Anlehnung an das UNESCO-Welterbe, für das sich die Menschen in Bedrohungssituationen inzwischen teilweise weltweit einsetzen – eben auch über die Region Limmersdorf hinaus den Menschen künftig nicht mehr egal sein könnte, ob die Kulturform weiterbesteht. Schließlich ist mit der Aufnahme ins Bundesweite Verzeichnis ihr hoher Wert in den Augen der Öffentlichkeit belegt.

Für die Kommunen war die Umsetzung der UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe aber sicherlich ein zweischneidiges Schwert. Einige erkannten etwa durch die Beteiligung an Bewerbungen die Chancen, die für die Traditionen, die vor Ort gelebt und praktiziert werden, mit einer Anerkennung bestehen. Für andere Kommunen, insbesondere jene mit chronisch klammen Kulturhaushalten, war die Aussicht, dass nun zusätzliche kulturelle Akteure auf den Plan treten und um Förderung ersuchen könnten, vielleicht gar keine genehme. Schließlich wissen die Verantwortlichen in den Kommunen zu schätzen, dass die Kulturakteure vor Ort viel ehrenamtlich leisten, aber ihr Bedarf an Unterstützung – neben finanzieller, auch durch die kostenfreie bzw. kostengünstige Bereitstellung von Räumen und anderen Ressourcen – übersteigt i. d. R. die Möglichkeiten der kommunalen Haushalte.

Nicht nur im Sinne kultureller Teilhabe ist nach der gesamtgesellschaftlichen Wirkung zu fragen, die die Umsetzung der UNESCO-Konvention in Deutschland hatte und hat. Christoph Wulf von der Deutschen UNESCO-Kommission meint:

„Ich glaube, dass die gesellschaftlichen Wirkungen viel größer sind als wir das antizipiert haben. Das ist wirklich ein wichtiger Bereich geworden. Natürlich darf man das nicht übertreiben. Es sind keine Leuchtturmprojekte. […] Sondern es sind Dinge, die die Menschen machen. Also das, was die Brasilianer Cultura Viva nennen, lebende Kultur. Und es ist, glaube ich, ein Bewusstsein dafür, dass das ein wichtiger Bereich des menschlichen Lebens ist. Dass man gemeinsam etwas macht in der Region, in den Orten, in denen man ist. Dass man da Sinn draus zieht. Dass man auch eine Verbindung zwischen den Generationen zieht aus den gemeinsamen Aktivitäten.“ (E1, Interview am 15.11.2018)

6.3.3.2 Bewertungspraxis im DUK-Expertenkomitee

Das DUK-Expertenkomitee war insbesondere in den Anfangsrunden bei den Auswahlempfehlungen auf der schwierigen Suche nach einem Pfad, einerseits eine große Vielfalt von Kulturformen zu würdigen und ein breites Spektrum abzubilden, so dass sich ein positives oder gar ein faszinierendes Bild des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland vermittelt, und andererseits Qualitätsstandards zu setzen auf einem Gebiet, dass sich einer reinen Qualitätsbeurteilung im Grunde entzieht. Anders formuliert: Für dieses neue Gebiet mussten spezifische Qualitätsanforderungen formuliert werden. Dieser Komplexität waren sich die meisten Experten bewusst. (vgl. E1, Interview am 15.10.2018)

„Die sind sich auch bewusst, dass es eine andere Dynamik ist und eine andere Zielsetzung als beim Weltkulturerbe. Also viel breiter angelegt. Natürlich die Frage nach Qualität ist auch eine für uns wichtige, dass also nicht Beliebigkeit entsteht, dass nicht alles dazu gehört. Also man sieht […] schon, dass man sich sehr viel Mühe gibt, eben auch Qualitätsstandards einzuhalten, ohne aber diesen ganzen Bereich jetzt unter das Zwangsbett optimaler Qualität zu bringen. […] Das ist natürlich eine Gratwanderung, die hat selber viel mit ästhetischen Entscheidungen zu tun.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Qualität darf im Kontext des Immateriellen Kulturerbes aber nicht mit Ästhetik oder Einmaligkeit verwechselt werden, wie Gertraud Koch betont:

„Im Unterschied zum Weltkulturerbe, wo das, was da ist, ja tatsächlich auch endlich ist – das Immaterielle Kulturerbe funktioniert anders. Das ist kreativ, das entwickelt sich weiter. Und da können viele, viele besondere Formen nebeneinanderstehen. Ich würde mir wünschen, dass es die Qualitätskriterien sind, die ja in der Konvention zum Teil auch festgeschrieben sind und die weiterentwickelt werden, die den Ausschlag geben. Und nicht so sehr diese Frage: Wie exklusiv ist es? Um eben deutlich zu machen, es ist etwas sehr Essenzielles für alle Menschen und potenziell müssen alle irgendwie auch die Option haben, mit so etwas auf einer Liste zu erscheinen, wenn sie sich eben für so eine kulturelle Form interessieren. Es wäre blöd, über die Hintertür wieder den elitären Kulturbegriff einzuführen, nur, weil wir da so eine Exklusivität herstellen.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Bei der Entscheidungsfindung über einzelne Dossiers orientierte sich das DUK-Gremium auf Vorschlag der DUK-Geschäftsstelle, die über einen guten Kontakt zu ihrem Konterpart in der Österreichischen UNESCO-Kommission verfügte (vgl. Abschnitt 4.4.2.1.), an der Vorarbeit des österreichischen Fachbeirats für das Immaterielle Kulturerbe. Hier waren einige typische Fallkonstellationen und problematische Bewerbungen bereits durch die Entscheidungspraxis vorstrukturiert – wie etwa der Ausschluss von Traditionen im Zusammenhang mit Glücksspiel oder einem Missbrauch für politische und ökonomische Zwecke von der Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe. Aus diesem Papier stammt auch die Vorgabe, dass die Tradition seit mindestens drei Generationen bestehen müsse (vgl. Staatenbericht 2015: 6) – eine Formulierung, die die DUK für ihre Vorlage explizit nicht übernommen hat. In dieser Frage hat sich das DUK-Expertenkomitee in der Praxis eher an der Schweiz orientiert, die von zwei Generationen und zudem von einem von der Dauer flexiblem, kontextabhängigen und im Einzelfall zu beurteilenden Begriff ‚Generation‘ ausgeht (vgl. Bundesamt für Kultur 2010: 10). In einem Grundsatzpapier formulierte die DUK in Abstimmung mit den Mitgliedern ihres Expertenkomitees 2015: „Das zeitliche Bestehen der Kulturform wird jeweils individuell bewertet und, gerade im städtischen Rahmen, in der Bewertung flexibel gehandhabt. Unsere heutige Gesellschaft ist von vielen innovativen und sich beschleunigenden Dynamiken gekennzeichnet: Das Immaterielle Kulturerbe zeichnen langsamere Rhythmen aus.“ (Dok. 28: Botschaften an potentielle Zielgruppen: 2)

Eine weitere Grenze, die von Anfang an selbstverständlich gezogen wurde, ist die Einhaltung von Gesetzen. „[A]ls Prinzip gibt es natürlich diese Grundhaltung, dass man alles, was durch Gesetze abgedeckt ist und möglich ist, eben auch akzeptiert. Aber es kann natürlich auch da Grenzverschiebungen geben.“ (E1, Interview am 15.102.2018) Hiermit spricht Christoph Wulf die Fragen etwa von Tierrechten oder Traditionen, die mit Waffengebrauch zu tun haben, an. Andere umstrittene Fälle betrafen Diskriminierungen aufgrund von Geschlecht oder Religionszugehörigkeit (siehe Abschnitt 6.3.3.1. zum Thema Schützenwesen). Hieran hat sich gezeigt, dass es bei der Beurteilung von Immateriellem Kulturerbe nicht genügt, die Vorgaben der UNESCO-Konvention und die deutsche Gesetzeslage anzusehen, sondern dass auch Werturteile erfolgen müssen. „Das sind so drei Problemfelder, Stadt [und die damit verbundene Generationenfrage, Anm. d. Verf.], Verhältnis zum Tier und drittens […] die Abgrenzung nach rechts, […] das sind Dinge, wenn ich Probleme benennen müsste, die auf uns mit Sicherheit zukommen werden.“ (E1, Interview am 15.10.2018) Wenn man zurückblickt in die Phase der Politikformulierung (Abschnitt 6.2.), sind dies genau die sensiblen Fragen, für die das Expertenkomitee der DUK letztlich auch eingesetzt wurde. Sonst hätte die Entscheidung über Aufnahmen in das Bundesweite Verzeichnis schließlich auch in der Administration erfolgen können. Nichtsdestotrotz führten diese Themen dazu, dass es im Komitee zu kontroversen Debatten kam und auch in der Öffentlichkeit einige Entscheidungen bzw. Empfehlungen diskutiert wurden. Doch muss dies für die Profilschärfung und öffentliche Aufmerksamkeit nicht schlecht gewesen sein, wie Jörg Freese vom Deutschen Landkreistag meint:

„Ansonsten habe ich natürlich schon wahrgenommen, dass es immer mal wieder jetzt auch in der Öffentlichkeit Thema war. Meistens ja Stichwort Kontroverse, weil bestimmte Dinge dann schwierig waren. Stichwort Schützenvereine […]. Aber das ist ja der normale Lauf, dass Dinge jetzt, wenn sie einfach so laufen, dann keinen interessieren. Es sei denn, die Kontroverse wird dann veröffentlicht.“ (K, Interview am 01.11.2018)

Eine besondere Herausforderung der Expertenkomitee-Arbeit in der Evaluierung von Bewerbungen ist tatsächlich die Bewertung des Umgangs der Traditionen bzw. vielmehr der Umgang der Traditionsträgergruppen heute mit der Geschichte ihrer Praxis in der NS-Zeit und ggf. auch weiteren kritischen Perioden der typischen Mythenbildung, wie Mittelalter (z. B. Hexenverfolgung), Kolonialismus oder zur Zeit der Teilung Deutschlands. Insbesondere geht es um eine bewusste Abgrenzung gegen damals gegebenenfalls im Rahmen der Kulturpraxis vorgekommene Verfehlungen und im besten Falle eine glaubhafte kritische Aufarbeitung dessen:

„Die Grundthese ist die, man darf bestimmte Bereiche des IKE, die vielleicht durch den Nationalsozialismus belastet sind, nicht dieser Geschichte überlassen. Sondern man muss sie neugestalten, neu entwickeln, in neuem Kontext sehen. Und das ist eine ganz wichtige Aufgabe. Und deswegen hat ja auch die Expertenkommission extra in den Antrag [das Bewerbungsformular, Anm. d. Verf.] eine lange Passage über diese Zeit [integriert …]. Es geht nicht darum, Schuld zu bekennen, aber ein Bewusstsein zu haben, dass da Missdeutungen erfolgt sind. Und ich denke, das geschieht weitgehend. Oft geben wir [… Bewerbungen] auch deswegen zurück und bitten da noch einmal um Nachbesserung. [… D]as setzt eben Erinnerungsarbeit voraus. Und deswegen scheint mir das also ganz wichtig, dass wir diese Dimension betonen. Die zweite wichtige Dimension ist […]: Es geht um Kultur in Deutschland. Weil das einmal öffnend für transkulturelle, interkulturelle Anträge, wie wir sie jetzt ja haben mit dem Blaudruck zum Beispiel, ist, und auch natürlich Möglichkeiten gibt für Gruppen, die sich bilden, die Migrationshintergründe haben.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Dass man bei der Inventarisierung nicht nach „deutschem Kulturerbe“, sondern nach „Immateriellem Kulturerbe in Deutschland“ suche, musste auf zahlreichen Informationsveranstaltungen (10) und in Beratungsgesprächen immer wieder wiederholt werden, da dies bei vielen Interessierten und Kulturträgergruppen nicht intuitiv war.

In der Bewertungspraxis ist ein weiterer schwieriger Pfad, dass nach Konventionstext ja eigentlich die Kulturträgergruppen über die Definition „ihres“ Immateriellen Kulturerbes befinden sollten – anders als beim Welterbe, wo es sich um ein reines Expertenurteil handelt. Ein objektiver oder zumindest als universal geltender Wahrheitsbegriff der 1972er-Konvention steht also einem subjektiven Wahrheitsbegriff beim Immateriellen Kulturerbe gegenüber (vgl. Letzner 2013: 60), so dass eine diskursive Aushandlung des Status der Vorschläge aus der Zivilgesellschaft unter Experten als Teil des Inventarisierungsprozesses zwar angemessen ist, aber niemals zu hundertprozentig befriedigenden Ergebnissen im Sinne des Wortlauts der Konvention führen wird. Dieses Spannungsfeld gilt es zu benennen, aber letztlich auszuhalten. Es entspricht eigentlich der typischen Situation bei Kunsturteilen, über die schwerlich ein von allen geteiltes Urteil zu sprechen ist – eine Erfahrung, die Mitglieder von Jurys immer wieder machen (vgl. E1, Interview am 15.10.2018).

6.3.3.3 Innere Organisation und äußere Verfasstheit der Trägergruppen

Die Trägergruppen der Einträge im Verzeichnis sind zum Teil ganz verschieden verfasst und organisiert: Das Spektrum erstreckt sich von Einzelpersonen, die für eine kulturelle Ausdrucksform stellvertretend eine Bewerbung einreichen, wie etwa beim „Poetry Slam im deutschsprachigen Raum“ über eine nur für den Zweck der Bewerbung gegründete Initiativ- oder Arbeitsgruppe, wie beim „Singen der Lieder der deutschen Arbeiterbewegung“, über Stiftungen, wie im Fall der „Sächsischen Knabenchöre“, zahlreiche Vereine wie zum Beispiel der „Verein zur Erhaltung und Förderung der Limmersdorfer Kirchweihtradition“ oder die Vereinigung Alt-Brettheim (siehe Abschnitt 4.2.), Kultureinrichtungen wie Museen, etwa im Fall des „Westerwälder Steinzeugs“, Interessennetzwerken wie bei der „Morsetelegrafie“ bis hin zu allen Bewohnern einer Ortschaft, wie zum Beispiel bei den „Passionsspielen Oberammergau“ oder gar ganzen nationalen Minderheiten, wie den Friesen und Sorben, sowie großen Verbänden mit mehreren tausend oder gar Millionen Mitgliedern, wie beim „Chorsingen in Amateurchören“ oder der „Deutschen Brotkultur“. Zum Teil stehen faktisch hinter den Bewerbungen allerdings nur Einzelpersonen, die im Namen oder Auftrag von Gruppen die Anerkennung forciert haben. In den meisten Fällen handelt es sich um kleine Gruppen von Akteuren oder Verbandsspitzen, die sich die Anerkennung zum Ziel gesetzt haben. Und zum Teil gab es tatsächlich produktive Beteiligungsprozesse, in denen sich große Gruppen auf eine gemeinsame Bewerbung verständigt haben. Bei einigen der im Bundesweiten Verzeichnis anerkannten Kulturformen scheint im eigentlichen Sinne vor der Bewerbung keine klar abgegrenzte Trägergruppe im Sinne der UNESCO-Konvention bestanden zu haben, sondern diese hat sich vielmehr erst durch den Bewerbungsprozess und die Trägerschaft des Eintrags bewusst konstituiert, wie etwa beim Genossenschaftswesen. Dies ist ein Potenzial des Immateriellen Kulturerbes, nämlich die Kollektivitäts- bzw. Gemeinschafts- und Identitätsstiftung (vgl. Hafstein 2007: 91), das bisher kultur- und gesellschaftspolitisch noch vergleichsweise wenig gewürdigt wird. Im bereits zitierten Grundsatzpapier der DUK hieß es entsprechend:

„Die Trägerschaft muss nicht in Vereinsform zusammenkommen. Vielfältige, auch erst provisorische und informelle, Organisationsformen sind möglich, wie etwa interkulturelle Freundeskreise und Nachbarschaftsinitiativen, Musik- und Tanzgruppen, eine Festform oder auch andere zivilgesellschaftliche Initiativen. Es geht um kreative Weitergabe und Bewusstseinsbildung, um besonderes Engagement von der Basis her. Oft handelt es sich um einzelne, bisweilen sehr kleine, Trägergruppen und sehr konkrete Ausdrucksformen. Im Geiste der UNESCO-Konvention geht es aber um die Anerkennung von Kulturformen von Gruppen jeglicher Größe und Beschaffenheit: lokale Gemeinschaften aber auch thematische Interessengemeinschaften und Netzwerke, Laien wie auch Profis und alle Zwischenstufen. Es sind die Gemeinschaften und Gruppen selbst, die ihr Immaterielles Kulturerbe definieren.“ (Dok. 28: Botschaften an potentielle Zielgruppen: 2)

Es gibt unter den Bewerbungen für das Bundesweite Verzeichnis analytisch betrachtet im Grunde zwei Typen, wie die für diese Arbeit befragten Experten fast alle an der einen oder anderen Stelle in den Interviews bemerkt haben: Zum einen, gibt es jene, die

„da aus so einer sehr starken, ich sage jetzt, Heimatverbundenheit ganz explizit Aktivitäten [… einreichen], die das auch genauso formulieren. Und dann gibt es aber auch die anderen, die stärker auf das Verbindende gucken. Und ich muss sagen, ich finde beides legitim. Und ich finde es unsere Aufgabe, auch diese traditionelleren heimatverbundeneren Perspektiven dabeizuhaben. Auch nicht abzuwerten, auch nicht zu sagen: ‚Das ist weniger [wert]‘, weil das natürlich dem Radius der Menschen entspricht, die da vor Ort sind und das nicht schon per se ausgrenzenden Charakter hat. Und man auch diese Kleinteiligkeit, oder manchmal auch Skurrilität, die darin liegt, genauso hochschätzen muss wie die Skurrilität beim Poetry Slam. Das würde ich schon auch als eine Herausforderung in unseren Diskussionen sehen“ (E2, Interview am 25.10.2018),

merkt Gertraud Koch an.

Eine wichtige Frage ist in diesem Kontext auch die innere Verfasstheit bzw. Konstitution von Trägergruppen sowie die interne Rollenverteilung. Die Frage dabei ist, wer eigentlich stellvertretend für eine Gruppe spricht. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht gilt es im Hinblick auf das Erfordernis der Zustimmung aller Gruppenmitglieder zu Bewerbungen und Nominierungen sowie zu Erhaltungsmaßnahmen im Grunde stets genau hinzuschauen, wie hierarchisch Gruppen organisiert sind, wer für wen (mit) spricht, wie also die innere Meinungsbildung abläuft und wer dabei welche Rolle einnimmt. Es gibt, wie eben gezeigt, kleine Trägergruppen von Formen des Immateriellen Kulturerbes, die sehr formulierungsbegabte Mitglieder haben, aber es gibt auch Gruppen, die ausschließlich aus praktisch sehr gewandten, ehrenamtlich tätigen Menschen bestehen, die allerdings nicht begabt in der Formulierung dessen sind, was sie im Sinne einer Form Immateriellen Kulturerbes tun. Dann gibt es andererseits schlagkräftige Verbände, die über hauptamtliches Personal verfügen, welches die Bewerbungen formulieren kann. Diese drei Varianten von Trägergruppen benötigen im Bewerbungsverfahren für das Bundesweite Verzeichnis (1) sehr unterschiedliche Unterstützung seitens der beratenden Stellen (DUK-Geschäftsstelle, Länderansprechpersonen, Beratungsstellen der Länder): Jene, die zwar keine Probleme haben ihr Thema zu beschreiben, benötigen manchmal Anstöße konkret auf die Fragen des Bewerbungsformulars zu antworten und die Aufforderung ihre Texte auf das für die Bewertung als Immaterielles Kulturerbe Wesentliche zu fokussieren. Verbandsverantwortliche wiederum verfallen bei der Beschreibung einer Kulturform oft in einen appellativen Stil, den sie aus ihrer sonstigen Arbeit gewöhnt sind. Dies trifft i. d. R. allerdings nicht die Erwartungen und Anforderungen, die die Experten an die Beschreibung einer lebendigen Kulturtradition stellen. Daher ist auch hier Unterstützung notwendig. Das Engagement von Verbänden im Bereich Immaterielles Kulturerbe wird von den Experten übrigens häufig kritisch beäugt, da man davon ausgeht, dass die UNESCO-Konvention und das Verzeichnis für die Trägergruppen direkt und nicht für ihre Verbandsvertreter Aufmerksamkeit schaffen soll. „Ich denke, dass wir teils so eine Verbandsperspektive bekommen, […] und wir tatsächlich diese Verbandsgeschichte so ein bisschen im Blick haben müssen“ (E2, Interview am 25.10.2018), äußert sich stellvertretend die Kulturanthropologin Gertraud Koch. Ein weiterer Aspekt im Umgang bzw. im Zusammenspiel der Verzeichniserstellung mit Verbänden ist, dass diese versuchen Einfluss auf die Prozesse zu nehmen:

„Ja, haben wir natürlich eine ganze Reihe, auch die ja dann – also ich kann es ja ganz offen sagen –, auch richtig Lobbypolitik versucht haben. […] Aber auch jetzt […] umgekehrt, die Verhinderung. […] Also da wird schon sehr deutlich, dass die Aushandlungsprozesse in Gang gekommen sind.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Und schließlich benötigen die kleinen, häufig rein ehrenamtlich getragenen Trägergruppen zum Teil ganz konkrete Unterstützung bei der Formulierung einer Bewerbung. Bei der Bewertung der Bewerbungen können die Mitglieder des Expertenkomitees auf die unterschiedliche Verfasstheit der Trägergruppen bewusst eingehen. Dies geschieht durchaus:

„Man ist sich auch klar in Expertenkommissionen, dass es Unterschiede gibt zwischen den Anträgen. Es gibt die professionellen Anträge von großen Institutionen und es gibt die von kleinen Handwerkergruppen, die eben nicht so professionell sind, aber die deswegen keine schlechtere Arbeit im Sinne der Konvention machen müssen. Also das sind Dinge, die muss man wägen, die muss man auch berücksichtigen.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Nimmt man das Ziel der Verbesserung kultureller Teilhabe bzw. der Würdigung ehrenamtlichen Engagements ernst, was die meisten im DUK-Komitee vertretenen Experten in ihrem Wirken inzwischen durchaus beabsichtigen zu tun, muss man die Bewerbungen entsprechend differenziert lesen, das heißt sich nicht von hervorragenden Texten blenden lassen, hinter denen zum Teil wenig Substanz steckt, und umgekehrt aus eher wenig aussagekräftigen Texten die möglicherweise dichte Substanz einer lebendigen Kulturerbepflege bewusst herausdestillieren. An diesem Punkt setzt das im Abschnitt 6.3.1.3. beschriebene Mentoring-Programm (26) zur Unterstützung kleiner, ehrenamtlicher Trägergruppen an.

Zunehmend war im Verlauf der nationalen Umsetzung der Konvention vor dem Hintergrund der eben beschriebenen Erkenntnisse ein stärkeres Motiv der Anerkennung von ehrenamtlichem Engagement bei den Experten und auch in vielen Ländern verbunden. Dies hing allerdings auch damit zusammen, dass man den anerkannten Kulturträgergruppen keine konkrete (finanzielle) Förderung anbieten konnte. Im Kontext des Handbuchs zu möglichen Fördermaßnahmen (27) für die Trägergruppen, das 2016 von der DUK publiziert wurde, wurde ausdrücklich auf die Würdigung bürgerschaftlichen Engagements durch die Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe verwiesen. Der Bund (BKM/AA) dagegen setzte, wie im vorherigen Abschnitt bereits dargelegt, tendenziell stärker auf eine Würdigung von kulturellen Spitzenleistungen auch durch die Inventarisierung des Immateriellen Kulturerbes.

6.3.4 Internationale Zusammenarbeit und Mitwirkung Deutschlands an der Konventionsumsetzung

Jeder Vertragsstaat wirkt durch seine Praxis der nationalen Umsetzung der Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes ein Stück weit an der internationalen Umsetzung des Übereinkommens mit und damit auch automatisch auf diese ein. Am sichtbarsten wird dies durch Nominierungen für die UNESCO-Listen (3), die durch das Verhandeln des Vorschlags im Rahmen der Konvention und ihrer Gremien auf die Praxis des Nachdenkens und des Umgangs mit Immateriellem Kulturerbe Einfluss nimmt. Dies haben die Mitglieder des DUK-Expertenkomitees, die für die Auswahl aus dem Reservoir der Einträge im Bundesweiten Verzeichnis verantwortlich sind, bewusst reflektiert und wollten mit ihrer Auswahl strategische Akzente setzen. Im Arbeitspapier von 2012 hieß es dazu: „Wie können Beiträge aus Deutschland im Rahmen dieser UNESCO-Konvention und der Zusammenarbeit mit den [damals, Anm. d. Verf.] insgesamt 144 Vertragsstaaten aus allen Weltregionen interessante und neue Impulse setzen?“ (Dok. 18: DUK-Arbeitspapier 2012: 2) Zum einen beinhaltet dies die Botschaft, dass man den bereits international gelisteten Elementen nicht einfach parallele Vorschläge aus Deutschland zur Seite stellen wollte, sondern man hatte den Anspruch neue Impulse im Verständnis der Vielfalt des Immateriellen Kulturerbes zu setzen. Zum anderen bedeutete dies eine große Bereitschaft zu Nominierungen, die gemeinsam mit anderen Vertragsstaaten eingereicht werden, weil es sich um eine geteilte Kulturpraxis handelt und die Bewusstseinsförderung dafür, dass Kultur über nationale Grenzen hinweg praktiziert werden kann, als einer der gewünschten Effekte (impacts) der Konventionsumsetzung gesehen wurde.

6.3.4.1 UNESCO-Nominierungen

Eine erste Erfahrung im Umgang mit multinationalen UNESCO-Nominierungen machte Deutschland direkt nach den ersten 27 Eintragungen im Bundesweiten Verzeichnis. Zu diesen gehörte die Falknerei, zu der bereits eine Eintragung von 13 Staaten auf der Repräsentativen Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit bestand. Die koordinierenden Vereinigten Arabischen Emirate bereiteten just für März 2015 eine erweiterte Nominierung vor, an der die deutschen Falknerverbände noch teilnehmen wollten und diesen Wunsch unter Hinweis auf die günstige Gelegenheit um die Jahreswende 2014/15 mit Nachdruck an die DUK-Geschäftsstelle herantrugen. Es musste zwischen den staatlichen Stellen und der DUK-Geschäftsstelle sowie dem DUK-Expertenkomitee also ad hoc eine Modalität gefunden werden, wie Deutschland noch teilnehmen könnte, so dies denn von den staatlichen Stellen auch gewünscht wäre. Das DUK-Expertenkomitee fasste einen Umlaufbeschluss und so konnte die Auswahlempfehlung noch im März 2015 staatliche Bestätigung der KMK und BKM erfahren. Die internationale Zusammenarbeit beschränkte sich in diesem Fall allerdings auf einen Workshop in Abu Dhabi, der der Umarbeitung des Formulars zur Ergänzung der vier neu teilnehmenden Staaten diente und an dem für Deutschland eine Vertreterin der Deutschen Botschaft in Abu Dhabi sowie ein Repräsentant des Deutschen Falkenordens teilnahmen, und das Gegenlesen und Absegnen von Texten im AA und bei der DUK.

Eine wichtigere Etappe in der internationalen Wirkung des deutschen Beitritts zur UNESCO-Konvention war die letztlich erfolgreiche erste eigene Nominierung für die UNESCO-Listen des Immateriellen Kulturerbes. Die Nominierung der Genossenschaftsidee und -praxis (offiziell „Idee und Praxis der Organisation von gemeinsamen Interessen in Genossenschaften“) wurde Ende 2014 zusammen mit den ersten Eintragungen in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes vom DUK-Expertenkomitee empfohlen und in Rekordtempo in enger Kooperation zwischen der DUK-Geschäftsstelle und den Trägergruppen Deutsche Hermann-Schulze-Delitzsch-Gesellschaft und Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Gesellschaft im März 2015 beim UNESCO-Sekretariat eingereicht (3). Ende 2016 erfolgte dann nach zähem Ringen die erste Anerkennung eines deutschen Vorschlags auf der Repräsentativen Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit. Das Thema der Genossenschaftsidee und -praxis kam zweifellos für viele überraschend und war auch dem UNESCO-Expertengremium, das die Vorbewertung verantwortete, und den im Komitee vertretenen Staaten bei der Sitzung im äthiopischen Addis Abeba (28.11.-02.12.2016) alles andere als einfach zu vermitteln. Dies lag zum einen am Thema selbst, das als etwas sperrig im Verhältnis zu den klassischen Formen Immateriellen Kulturerbes bezeichnet werden kann, zum anderen aber auch an der sehr kurzen Zeit, um die Nominierung zu erstellen (Dezember 2014 mit Aufnahme ins Bundesweite Verzeichnis bis März 2015 Einreichung bei der UNESCO). Hierunter hatten die Präzision und Qualität trotz der sehr aktiven Einwirkung der DUK-Geschäftsstelle, die dafür umfangreiche Auswertungen der bisherigen Entscheidungen des Zwischenstaatlichen Ausschusses und anderer internationaler Nominierungen vorgenommen hatte, gelitten. Hinzu kommt noch:

„Es gibt einen Grundkonflikt, […], der hängt damit zusammen, wie man Kultur versteht. Es gibt den großen Ansatz, der die Kultur im engeren Sinne versteht. […] Und es gibt die, die eher einen ethnologischen Kulturbegriff haben, der auch in der UNESCO vorausgesetzt, der Kultur viel weiter fasst, als symbolische Systeme, als auch Organisationssysteme. Wir hatten diese Diskussion international wie auch national bei unserem ersten Vorschlag Genossenschaftswesen. […] Also wir als [… DUK-Expertenkomitee] sind der Auffassung, dass man das Spektrum ausschöpfen muss. Und wir haben auch in internationalen Diskussionen oft anerkennende Worte dafür gefunden, dass wir eben Kultur weiter gefasst haben, nicht so eng, wie das sozusagen auf der Hand liegt. Aber da liegt so ein kleines, sagen wir mal, Spannungsfeld […].“ (E1, Interview am 15.09.2018)

Jedoch wird die Wirkung der Anerkennung von „Idee und Praxis der Organisation gemeinsamer Interessen in Genossenschaften“ auf die internationale Umsetzung und die deutsche Positionierung im Rahmen der UNESCO-Konvention, gerade auch im Hinblick auf die Anschlussfähigkeit für internationale Kooperationen, von den befragten Experten ganz überwiegend sehr positiv eingeschätzt:

„Wenn ich mir die Rückmeldungen angucke, die ich im Gespräch mit den Kollegen in Japan, in Finnland, also wo ich auch hinkomme international, wird man dann doch gerne, von weiteren Ländern, auf die Genossenschaften angesprochen. Das ist schon ein Meilenstein gewesen auch, der diskutiert wird. Und der auch kritisch diskutiert wird, aber ich glaube, im Grundtenor vor allem positiv aufgenommen wird. Und immer auch so ein bisschen mit der Frage verbunden wird: ‚Und was kommt jetzt von euch?‘ Also ich glaube, wir haben da schon so ein bisschen eine Rolle auch weg.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Eine zweite eigene deutsche Nominierung wurde bereits direkt in dem Jahr nach der Genossenschafts-Nominierung im Frühjahr 2016 eingereicht. Das Dossier zu „Orgelbau und Orgelmusik“, das die DUK-Geschäftsstelle in ähnlich kurzer Zeit zusammen mit einem dafür benannten Experten des Verbands der Orgelbausachverständigen in Deutschland erstellt hat, fand bei der UNESCO deutlich wohlwollenderen Widerhall und wurde ohne Vorbehalte Ende 2017 in die Repräsentative Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen.

Auffällig ist, dass die oben beschriebene Positionierung der DUK-Experten hinsichtlich des Wunsches bewusst eigene Impulse im internationalen Rahmen zu setzen zusammen mit der stark an Exzellenz orientierten Haltung der Bundesvertreter in der Praxis im Expertenkomitee dazu führte, dass man die lokalen Phänomene, die ins Verzeichnis aufgenommen wurden, für UNESCO-Nominierungen kaum in Betracht zog. Für die beiden Ländervertreter im Komitee war dies vermutlich zustimmungsfähig, weil sonst eine Debatte unter den Ländern gedroht hätte, warum zunächst jenes Land und nicht ein anderes Berücksichtigung gefunden habe. Möglicherweise wäre es sogar zu Forderungen nach einer komplizierten Tentativliste wie beim Welterbe gekommen, denn die Länder hätten Planungssicherheit bekommen wollen, wann sie an der Reihe gewesen wären mit einer UNESCO-Nominierung. Auch im Weiteren wurden rein lokale Kulturformen nicht ernsthaft in Erwägung gezogen: 2015 wurde erstmals im Komitee die Deutsche Theater- und Orchesterlandschaft als künftige UNESCO-Nominierung vorgeschlagen. 2016 fiel die Wahl auf das bereits unter Beteiligung der DUK-Geschäftsstelle laufende Mehrländer-Nominierungsprojekt des Blaudruck-Handwerks, das eine deutlich intensivere Zusammenarbeit der Praktiker aus den beteiligten Staaten (Österreich, Ungarn, Tschechien, Slowakei und Deutschland) und der jeweils verantwortlichen Umsetzungsagenturen bedingte. Es kam u. a. zu mehreren Experten- und Praktikertreffen in Wien, in Budapest und Bratislava.

Alle Auswahlempfehlungen des DUK-Expertenkomitees im Untersuchungszeitraum wurden von BKM und KMK staatlich bestätigt, auch wenn mit zunehmender Zeit hierüber größerer Diskussions- und Mitsprachebedarf der staatlichen Stellen rückgemeldet wurde. Anfangs gab es für die Auswahl der UNESCO-Nominierungen keine expliziten Kriterien. Die Experten entschieden zunächst in einer Diskussion in der jeweiligen Sitzung, was sie im Sinne der selbst gewünschten neuen Impulse in die internationale Konventionsumsetzung einbringen wollten. Die in der Praxis zur Anwendung kommenden Kriterien wurden erst 2016 intern verschriftlicht und das Verfahren wurde mit mindestens zwei Beratungsrunden über einen Vorschlag und eine zwischengeschaltete SWOT-Analyse des Vorschlags fortan etwas stärker formalisiert.

Für die DUK-Geschäftsstelle gestaltete sich ab Ende 2014 die Arbeit an UNESCO-Dossiers, zunächst mit den Genossenschaftsverbänden, dann parallel auch mit den Falknern, und in der Folge mit den Trägern der Orgel-Nominierung und gleichzeitig bereits beginnend mit den Blaudruckern als sehr arbeitsintensiv. Diese Aufgabe war in der ursprünglichen Tätigkeitsbeschreibung der Geschäftsstelle vergessen oder schlicht unterschätzt worden – u. a. wohl, weil im Kontext der Welterbe-Konvention daran die jeweiligen Stätten über ihre Trägerschaften ziemlich eigenverantwortlich arbeiten. Im Kontext der zivilgesellschaftlichen Gruppen des Immateriellen Kulturerbes mit vergleichsweise wenig Ressourcen wäre dies aber kaum erfolgversprechend gewesen, weil es für den internationalen Nominierungsprozess die Kenntnis einer ganzen Reihe von impliziten Erwartungen und Hintergrundwissen bedarf.Footnote 3

Zunehmend kommt es auf Ebene der Trägerschaften auch bereits vor offiziellen gemeinsamen internationalen Nominierungen zu einem Austausch, wenn es um gemeinsame Themen oder Problemstellungen gibt. Hierzu ermuntern die Experten und die DUK-Geschäftsstelle auch ausdrücklich. Gertraud Koch führt folgendes Beispiel an, das an eine thematische Initiative der DUK anknüpft und zugleich mit der Beratung im Zuge einer Bewerbung zusammenhängt:

„Bei mir ist jetzt von der Initiative St. Pauli hier über die Kulturbehörde auch eine Anfrage angekommen, die so ein bisschen nach Hilfestellung auch gefragt haben, oder nach Verständnis von der Konvention. Also da kommt dann auch Dialog über die Grenzen hinweg in Gange. Da habe ich auf West-Kruiskade [ein von Superdiversität geprägtes Stadtviertel Rotterdams, das eingehend kulturwissenschaftlich untersucht wurde, Anm. d. Verf.] auch verwiesen. Und ich nehme auch in anderen Antragsstellungen wahr, dass da ja länderübergreifende Diskussionen auch stattfinden.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Dass die Experten im DUK-Expertenkomitee bei ihren Auswahlempfehlungen für UNESCO-Nominierungen bisher eher den deutschlandweit verbreiteten Kulturformen den Vorzug vor lokalen oder regional verankerten Formen und ihren Trägergruppen gegeben haben, mag im föderalen deutschen Mehrebenensystem, von dem auch das Inventarisierungsverfahren ja grundsätzlich stark durchdrungen ist, zunächst überraschen. Frankreich hatte ein ähnliches Problem (siehe Abschnitt 4.4.2.4.), wobei man dies hier auf den Zentralismus und die starke Betonung der Einheit der Nation zurückführte. Interessanterweise kann man für Deutschland mit seiner anderen staatsgeschichtlichen Tradition und dem ausgeprägten Föderalismus im Kulturbereich dagegen die These aufstellen, dass eben dieser Föderalismus sich hier hinderlich auf die Auswahl von lokaleren, in nur einzelnen Ländern verbreiteten Kulturformen auswirkt. Die Experten scheinen bei ihren Auswahlempfehlungen nämlich eine vorauseilende Konfliktvermeidungsstrategie eingeschlagen zu haben, um zu vermeiden, dass die Föderalismuslogik, die ja auch in der staatlichen Bestätigung über die KMK/Kultur-MK noch einmal Einfluss nimmt, ihre Empfehlungen beeinflusst. Der Gedanke scheint zu sein: Sobald eine Kulturform ausgewählt würde, die nur ein Land betrifft, wären die Forderungen bzw. Fragen der anderen Länder, wann ihre Kulturformen Berücksichtigung finden, vorprogrammiert. Eine ähnliche Entwicklung ist seit einiger Zeit beim Memory-of-the-World-Programm der UNESCO festzustellen, das bisher von der DUK erfolgreich aus der Föderalismuslogik herausgehalten werden konnte, nun aber seitens der Länder und der KMK zunehmend unter dieser Perspektive betrachtet und mit einer Art Tentativliste zur nationalen Reihung von Nominierungen wie beim UNESCO-Welterbe versehen werden soll.

6.3.4.2 Mitwirkung im Rahmen der Konventionsgremien

Vor dem Beitritt zur UNESCO-Konvention nahm Deutschland bereits sporadisch, meist vertreten durch die Ständige Vertretung Deutschlands bei der UNESCO in Paris, mit Beobachterstatus an den Sitzungen der Vertragsstaatenkonferenz und des Zwischenstaatlichen Ausschusses teil. Ab 2012 entsendete auch die DUK-Geschäftsstelle (4) Vertreter zu den Sitzungen. Die Vertragsstaatenkonferenzen finden in geraden Jahren i. d. R. im Juni statt, die Komitee-Sitzungen jährlich im November/Dezember. Neben den auf der Agenda stehenden Entscheidungen – von Änderungen der Texte der Richtlinien zur Durchführung des Übereinkommens über Listenaufnahmen, die Anerkennung von NGOs zur Beratung des Ausschusses bis hin zu inhaltlichen Diskussionen zu verschiedenen Aspekten des Immateriellen Kulturerbes – sind diese Treffen auch hervorragende Foren zur Knüpfung von Kontakten und zum fachlichen Austausch zwischen den Vertretern der Mitgliedsstaaten und NGOs. Die DUK nutzte diese Gelegenheiten etwa auch, um über die deutsche Umsetzung zu informieren und zum Beispiel Exemplare der Publikation mit den deutschen Einträgen im Bundesweiten Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes (17) zu verteilen. Da die DUK die Rechtsform eines eingetragenen Vereins hat, waren auch die informellen Treffen von NGOs am Rande der beiden statutarischen Gremiensitzungen ein Forum, in dem sie sich umtat. Zudem gab es in diesem Rahmen regelmäßige informelle Treffen mit anderen Delegationen, insbesondere mit Vertretern aus Österreich und der Schweiz – i. d. R. in dieser Dreierkonstellation – sowie mit den Niederlanden, Belgien, aber auch den nordischen Ländern, der Slowakei und Ungarn.

Ab dem Jahr 2015 befasste sich Deutschland auch mit der Option, als Mitgliedsstaat im Zwischenstaatlichen Ausschuss der 2003er-UNESCO-Konvention mitzuwirken. Im Vorfeld und auf der Komiteesitzung in Windhoek/Namibia kam es diesbezüglich zu verschiedenen Abstimmungen und Treffen zwischen der DUK, dem AA und dem UNESCO-Sekretariat. Hintergrund war, dass es um die Wählbarkeit Deutschlands Unklarheiten gab, die langezeit nicht komplett ausgeräumt waren. Dies hängt an einer komplizierten Konstellation, die zum einen mit unklaren Formulierungen in der Konvention im Hinblick auf die Bedingungen für eine Wählbarkeit von Staaten im Kontext der Zahlung von freiwilligen Beiträgen zum Fonds der Konvention und zum anderen offenbar vonseiten des Auswärtigen Amts irrtümlich falsch kalkulierten (vgl. Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 2) und damit in zu geringer Höhe gezahlten Beiträgen (5) zusammenhängen. Anlässlich der Veröffentlichung der Unterlagen zur 10. Sitzung des Zwischenstaatlichen Ausschusses wurde offenbar, dass das UNESCO-Sekretariat in seiner Aufstellung der jährlichen Beiträge der Vertragsstaaten zum Fonds der Konvention für Deutschland einen Minusbetrag verzeichnet.

Zum Hintergrund: Deutschland hat bei seinem Beitritt zur Konvention von dem Recht nach Art. 26 Abs. 2 der Konvention Gebrauch gemacht, statt Pflichtbeiträge in Höhe von 1 Prozent der jährlichen Beiträge an die UNESCO freiwillige Beiträge zum Fonds zu zahlen. Hintergrund war, dass dies den Haushaltsgesetzgeber nicht dauerhaft bindet und damit zum Beitritt kein Vertragsgesetz nötig wurde (siehe Abschnitt 6.2.1.). Deutschland gehört nur zu einer Handvoll Vertragsstaaten, die diese Ausnahmeregel der Konvention nutzt. Unklar ist, unter welchen Bedingungen Staaten, die einen Vorbehalt gegen die Zahlung von Pflichtbeiträgen eingelegt haben, für den Zwischenstaatlichen Ausschuss kandidieren können. Art. 26 Abs. 5 der Konvention sieht vor, dass ein Mitgliedstaat nur dann in das Komitee der Konvention gewählt werden kann, wenn es mit seinen Beitragszahlungen nicht im Rückstand ist. Was dies für Staaten bedeutet, die von dem Vorbehalt gegen Beitragspflichten Gebrauch gemacht haben, konnte auch unter Hinzuziehung des juristischen Beraters der UNESCO nicht abschließend geklärt werden. Dessen Aussage war sinngemäß, dies müssten die Vertragsstaaten zu gegebenem Zeitpunkt, das heißt bei der Wahl neuer Komitee-Mitglieder, definieren.

Seit 2013 zahlt Deutschland zwar jährlich in den Fonds der Konvention ein, jedoch nicht in voller Höhe von 1 Prozent seines Beitrags an die Organisation, der erwartet würde, wenn Deutschland an den Pflichtbeitrag gebunden wäre. Hier kam es wohl zu einem folgenschweren Kalkulationsfehler im AA, da die Beträge jeweils für Zweijahreszeiträume errechnet werden, da dies auch dem regulären UNESCO-Haushalt entspricht. Deutschland erhielt bei Beitritt 2013 eine Kalkulation des UNESCO-Sekretariats, die sich auf das Beitrittsjahr bezog, die man in Berlin aber für eine Berechnung für das Biennium 2012–2013 hielt. Für die Jahre ab 2014 wurde daher nur etwa die Hälfte des Betrags in den AA-Haushalt eingestellt. Bis wohl einschließlich 2018 fehlte daher immer circa die Hälfte der Summe, um die 1 Prozent-Marke zu erreichen.Footnote 4 Ebenfalls nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob die Differenz zwischen 1 Prozent des regulären jährlichen UNESCO-Beitrags und dem Betrag des freiwilligen Beitrags eines Vertragsstaats im Fall der Anwendung von Art. 26 Abs. 2 vom UNESCO-Sekretariat überhaupt als Zahlungsrückstand gewertet werden kann.

Festzuhalten bleibt, dass die genaue Interpretation der Vertragsstaaten und des UNESCO-Sekretariats wohl in der Praxis, das heißt einer erstmaligen deutschen Kandidatur für den Zwischenstaatlichen Ausschuss, wird deutlich werden müssen. Eine solche war auf der Vertragsstaatenkonferenz im Juli 2022 erstmals erfolgreich.

6.3.4.3 Internationale Fachkooperationen

Über UNESCO-Nominierungen hinaus gab es seitens der an der Umsetzung der UNESCO-Konvention beteiligten Akteure auch Kooperationen mit Partnern, insbesondere in Österreich, der Schweiz, den Niederlanden und Belgien (vgl. E1, Interview am 15.10.2018) bei Tagungen und anderen thematischen Initiativen. Die DUK beteiligte sich mit ihren Experten sowie den verantwortlichen Mitarbeitern der Geschäftsstelle auch am internationalen Fachaustausch. 2012 nahmen etwa Gertraud Koch und der Mitarbeiter der Geschäftsstelle an einem Austauschtreffen im französischen Vitré zu den verschiedenen Konzepten der nationalen Umsetzung des UNESCO-Übereinkommens in europäischen Staaten teil. Zu einer 2013 erschienenen Publikation (vgl. Centre Français du Patrimoine Culturel Immatériel – Maison des Cultures du Monde 2013) steuerten beide einen Beitrag bei. Weitere Mitglieder des DUK-Expertenkomitees nahmen im Beobachtungszeitraum zudem an Austauschtreffen über die Umsetzung der Konvention in Ljubljana/Slowenien und Szentendre/Ungarn teil. Großes Potenzial sieht Gertraud Koch „im Dialog mit den internationalen Partnern, die [moderneren] Dimensionen tatsächlich auch sichtbar zu machen, das Migrantische, West-Kruiskade, das würde ich aus dem niederländischen Diskurs mitnehmen. Die sind ja unglaublich geübt, sage ich mal, in diesen Interkulturalitätsdimensionen.“ (E2, Interview am 25.10.2018)

Ein weiteres Treffen auf Ebene der für die Umsetzung Verantwortlichen der Nachbarländer Österreichs fand im Juni 2013 in Wien auf Einladung der ÖUK statt. Hierbei ging es vor allem um den Austausch über die verschiedenen Ansätze der nationalen Umsetzung der Konvention und möglicher gemeinsamer UNESCO-Nominierungen – hier tauchte das Thema multinationale Nominierung Blaudruck erstmals auf. Im selben Jahr im September lud die DUK zu einem inhaltlichen Vertiefungsworkshop nach Berlin (14) ein, an dem auch Vertreter der Umsetzung in Österreich und der Schweiz teilnahmen. Zum Fachsymposium Ende Oktober (15) waren ebenfalls bewusst Vertreter aus Japan, Belgien, Lettland und Spanien sowie vom UNESCO-Sekretariat aus Paris eingeladen. Unter den Teilnehmern waren erneut Gäste aus Österreich.

Am 24. Oktober 2014 veranstaltete die DUK eine gemeinsame Tagung zum Thema „Lebendige Traditionen im urbanen Raum“ mit dem Schweizer Bundesamt für Kultur und der Schweizerischen UNESCO-Kommission in Fribourg. Einer der Referenten war Wolfgang Kaschuba, Mitglied des DUK-Expertenkomitees. Christoph Wulf äußerte in seinem Geleitwort:

„Es wird der Arbeit mit der UNESCO-Konvention von 2003 noch einmal neue Impulse geben, die Erhaltung kultureller Ausdrucksformen in sich rasch wandelnden, multikulturellen Gesellschaften umzusetzen. […] Durch die gemeinsame Tagung […] konnte ein wichtiger Austausch von Erfahrungen und unterschiedlichen Perspektiven bezüglich des Themas stattfinden. Ich setze bei diesem transnationalen Thema besonders auf die Zusammenarbeit im europäischen und internationalen Rahmen und freue mich auf weitere Gelegenheiten.“ (Wulf 2015: 15)

Der Effekt solcher Tagungen ist nicht nur, dass Themen vorangebracht werden, die den Partnern gemeinsam wichtig sind – wie zum Beispiel das moderne, urbane Kulturerbe oder der Umgang mit Spannungsfeldern, wie sie im Umgang mit bzw. der Anerkennung von Immateriellem Kulturerbe etwa im Bereich von Geschlechtergerechtigkeit oder Tierrechten auftauchen –, sondern es gibt auch eine gegenseitige Befruchtung durch den Austausch über Maßnahmen, Strategien und Programme zur Umsetzung der Konvention. Hier ist das politische Lernen, wie in Abschnitt 5.2.4. vorgestellt, ein wichtiges Konzept. Wulf drückt dies wie folgt aus:

„Also ein Beispiel der Zusammenarbeit ist ja die Falknerei oder […] das Blaudrucken, wo es direkt zu gemeinsamen Anträgen kam. Oder wohl auch bei den Bauhütten, […] wo es dann eben wirklich internationale oder transnationale Anträge sind. Das ist die eine Form. Dann ist, denke ich, die Zusammenarbeit einfach auch wichtig und sich gegenseitig zu stützen. Um zu sehen, da geschieht auch etwas. Und die machen das und das, um das zu fördern, vielleicht kann man davon was übernehmen oder ähnliches. Also in dem Sinne ist der Austausch Unterstützung.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Das DUK-Expertenkomitee suchte ebenfalls den Fachaustausch mit Experten aus anderen Ländern. Im Frühjahr 2015 nahm die österreichische Fachfrau und frühere Leiterin der Nationalagentur zum Immateriellen Kulturerbe Maria Walcher an einer Sitzung teil, im Frühjahr 2016 gar eine vierköpfige Delegation von Experten und administrativ Verantwortlichen aus den Niederlanden. Stefan Koslowski, der im Schweizer Bundesamt für Kultur die Verantwortung für die nationale Umsetzung der UNESCO-Konvention innehat, nahm im Frühjahr 2017 an der Sitzung des Expertenkomitees und der Auszeichnungsveranstaltung des Genossenschaftswesens anlässlich der UNESCO-Listung teil.

6.4 Evaluierung und politisches Lernen im Zuge der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention

Der von der UNESCO mit dem Völkerrechtstext des Übereinkommens von 2003 vorgegebene globale kulturpolitische Rahmen war der Ausgangspunkt politischen Lernens (siehe Abschnitt 5.2.4.), von dem die in der vorliegenden Arbeit beschriebenen Entwicklungen in Deutschland abzuleiten sind. Deutschland nahm zunächst überwiegend desinteressiert zur Kenntnis, dass es ein neues Völkerrechtsinstrument im Bereich Kulturerbe gab, machte dann durch Beobachtung in seinem geografischen Umfeld die Erfahrung, dass es möglich ist, die Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes in Westeuropa produktiv umzusetzen und nahm für die eigene Umsetzung ab 2013 Anleihen bei den entsprechenden Umsetzungsmodellen von Partnern (Abschnitt 6.4.1.). Ab dem Zeitpunkt der eigenen Umsetzung der Konvention im nationalen Kontext ergab sich eine ganze Reihe von Aspekten des politischen Lernens, die im Rahmen des Policy-Cycle (siehe Abschnitt 5.2.3.) als Phase der Politikreformulierung und Evaluierung verstanden werden können (Abschnitt 6.4.2.). Dabei geht es unter anderem auch um die Frage, welche Lehren die Akteure des Politikfelds aus der Umsetzung der Konvention in Deutschland gezogen haben. Hierbei sollen die beiden Analysekategorien Anpassungen von Umsetzungsparametern im laufenden innerstaatlichen Verfahren und Aspekte des Lernens von Umsetzungsmodellen in anderen Staaten untersucht werden. Schließlich sind auch die Rückwirkungen der deutschen Umsetzung auf den internationalen Kontext, in dem sich die Umsetzung einer UNESCO-Konvention stets bewegt, zu betrachten. Auch Deutschland hat mit seiner Form der nationalen Umsetzung zum Teil Partner im Ausland zu politischem Lernen inspiriert (Abschnitt 6.4.3.).

6.4.1 Politisches Lernen aus der Umsetzung von anderen Vertragsstaaten

Während die Politikziele, -strukturen und -inhalte weitgehend durch den Rahmen der UNESCO-Konvention vorgegeben waren, bediente sich Deutschland bei der Politikformulierung mit Blick auf andere Transferobjekte nach Dolowitz/Marsh (1996: 349 f.) – Politikinstrumente, Institutionen, Ideologien, Ideen/Haltungen/Konzepte sowie negative Erfahrungen – bei seinen Nachbarstaaten.

Im Hinblick auf die Politikinstrumente im Rahmen der mehrstufigen Umsetzung der Inventarisierung von Formen des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland (siehe Abschnitt 6.2.2.2.) gleichen einzelne Schritte recht deutlich mindestens einem der beiden vorgestellten Modelle in Österreich und der Schweiz (siehe Abschnitt 4.4.) – die deutsche Variante der Inventarisierung kann mithin als Synthese bzw. als Hybridbildung der beiden Modelle der südlichen Nachbarländer begriffen werden, denn es wurden in gewissen Aspekten Anleihen bei beiden Verfahren genommen.

Der Wunsch von der Praxis der europäischen Nachbarn zu lernen, war auch bereits im Erstellungsauftrag und Ergebnis der von den deutschen Ländern 2010 initiierten Machbarkeitsstudie angelegt. Zudem wurden zu den Fachgesprächen im Deutschen Bundestag und im Auswärtigen Amt Vertreter von Nachbar- und Partnerstaaten eingeladen, um von den jeweiligen Erfahrungen zu berichten. In der Begründung des Bundestagsantrags von CDU/CSU und FDP hinsichtlich der Ratifizierung der UNESCO-Konvention durch Deutschland im Jahr 2011 wird ausdrücklich und positiv auf die Erfahrungen in Österreich und der Schweiz verwiesen (vgl. Dok. 10: BT-Drs. 17/6314 vom 29.06.2011: 2). Fast unisono erinnern sich zudem die befragten Experten: „Der deutschsprachige Raum war eine wichtige Referenz, Österreich, Schweiz“, meint Gertraud Koch und ergänzt: „Aber man hat natürlich dadurch, dass man international geguckt hat, auch viel gelernt darüber, wo man vielleicht Umsetzungen eher schwierig fand und wo man sagte, dann in Reflexion dessen: ‚Wir möchten zu einem Bottom-up-Ansatz kommen.‘“ (E2, Interview am 25.10.2018) Sie spielt auf die vormalige französische Praxis einer tendenziellen Top-Down-Inventarisierung an (siehe Abschnitt 4.4.2.4.), von der man sich, zumindest in Expertenreihen, in Deutschland ganz bewusst abgrenzen wollte.

Die Schweiz kann für die DUK und jene Experten, die sich bereits 2006 und 2012 zu Konsultationen hinsichtlich der deutschen Mitarbeit im Rahmen der UNESCO-Konvention trafen, als zunächst wichtigstes Vorbild gelten. Ähnlich wie im südwestlichen Nachbarland mit dem von der Schweizerischen UNESCO-Kommission organisierten Forum Immaterielles Kulturerbe 2006 und den in diesem Rahmen gestellten „verwegenen Fragen“ (DUK 2007: 66) der Ton der Debatte gesetzt wurde und programmatische Pflöcke eingehauen wurden, prägten vor dem deutschen Beitritt zunächst das Memorandum von 2007 (DUK 2007: 20–29) den Kurs der DUK im Feld Immaterielles Kulturerbe und ab 2012 dann im Verlauf der Pilotphase und der ersten Jahre der Umsetzung in Deutschland das Arbeitspapier (Dok. 18) – zum Teil für die anderen Akteure nicht sichtbar – strategisch das Handeln des zentralen Akteurs Deutsche UNESCO-Kommission. Von politischer Seite war ein Forum wie in der Schweiz, das auch NGOs und Verbände proaktiv einbezieht, ebenfalls eingefordert worden (vgl. Dok. 10: BT-Drs. 17/6314 vom 29.06.2011: 3). In diese Richtung ging ein Format, das die DUK im Beitrittsjahr 2013 mit einem Fachsymposium in Berlin (15) durchgeführt hat.

Die Schweiz war auch hinsichtlich des föderalen Elements, genauer der weitgehenden Souveränität der jeweiligen Gliedstaaten und Eigenständigkeit bezüglich der Sammlung und Vorauswahl der Vorschläge für das nationale Verzeichnis, Vorbild – für die deutschen Länder wohl anfangs sogar insgesamt das favorisierte Modell (vgl. Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 1). Österreich bot dagegen hinsichtlich des Bewerbungsverfahrens und der Formulierungen der Teilnahmebedingungen, des Aufbaus und der Formulierung von Fragen und Anforderungen im bundeseinheitlichen Bewerbungsformular und der Begleitung der Bewerbung durch zwei fachliche Empfehlungsschreiben sowie Fotos und Audio-/Videoaufnahmen die stärkste Orientierung (vgl. B, Interview am 05.11.2018). Die stringentere Strukturierung des Verfahrens und der Unterlagen in Österreich bot vor allem für die Akteure des Bundes gute Orientierung, um ein einheitliches Verfahren auch für Deutschland auf die Beine zu stellen. Der erste Vorschlag der Unterlagen für das Bundesweite Verzeichnis kam denn auch aus dem Auswärtigen Amt in Anlehnung an das österreichische Beispiel. Vorbild für das deutsche Formular zur Anmeldung einer Form Immateriellen Kulturerbes blieb das österreichische Formular, das als sein Vorbild wiederum das UNESCO-Formular für die Repräsentative Liste mit spezifischen Anpassungen für den nationalen Rahmen hatte (vgl. Staatenbericht 2015: 7). Im der Inventarisierung zugrundeliegenden Kommuniqué, auf das sich Bund und Länder 2012 verständigten, heißt es sogar: „Unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen und Strukturen in der Schweiz und in Österreich haben die KMK, der BKM und das AA ein Szenario für die Implementierung des Übereinkommens entwickelt, […]“ (Dok. 19: Ergebnisvermerk zu den Bund-Länder-Absprachen vom 29.10.2012: 3). Tatsächlich ist das Verfahren auch insofern eine Kompromissvariante mit Elementen aus der Schweiz und aus Österreich, da man einen Mittelweg zwischen der lange in Österreich geübten Praxis permanent Vorschläge für das Verzeichnis zuzulassen und dem Schweizer Weg, nur zirka alle fünf Jahre sehr viele Vorschläge entgegenzunehmen, fand, indem man sich auf regelmäßige, aber feste, deutschlandweite Bewerbungszeiträume in relativ engem Turnus verständigte. Man nutzte einheitliche Formulare wie in Österreich, ließ den Ländern bei der Vorauswahl in der zweiten Stufe des Verfahrens darüber hinaus jedoch freie Hand wie in der Schweiz.

Die Nationalagentur für das Immaterielle Kulturerbe bei der Österreichischen UNESCO-Kommission war auf institutioneller Ebene das Vorbild der Geschäftsstelle der DUK; von den grundlegenden Aufgaben bis hin zur Höhe der jeweiligen Zuwendungssumme (siehe Abschnitt 6.2.3.). Auch die Konstellation einer unmittelbaren Anbindung eines Expertengremiums – bei der ÖUK der Fachbeirat, bei der DUK das Expertenkomitee – an die Fachstelle ist an die österreichische Praxis angelehnt. (vgl. Albert/Disko 2011: 24) Eine Herausforderung im Vergleich zur österreichischen Praxis war die angemessene Mitwirkung der 16 Länder – im südlichen Nachbarland Deutschlands sind es mit neun entscheidend weniger – im Prozess bzw. ganz konkret in der Arbeit des Expertenkomitees. Während man in Österreich je einen Vertreter der Länder in den Fachbeirat, das dortige Fachgremium zur Evaluierung von Vorschlägen für das nationale Verzeichnis, entsenden konnte, hätte bei einer parallelen Praxis das DUK-Expertenkomitee zu viele Mitglieder bekommen, um diskussions- und entscheidungsfähig zu bleiben, und zudem wäre es tendenziell politisiert worden. Daher wurde die Stufe der Vorauswahl der eingehenden Bewerbung auf Länderebene eingezogen. Christoph Wulf sieht daher auch keine direkte Parallelisierung. „Ich denke, es ist dann doch schon ein eigener Entwurf gewesen. Weil wir einmal ja das Problem hatten, wir müssen 16 Bundesländer irgendwie einbinden.“ (E1, Interview 15.10.2018) In der Schweiz ist die aus kantonalen Kulturbeauftragten, Vertretern des Bundes sowie Experten zusammengesetzte Steuerungsgruppe das entsprechende Pendant. Der dortige weite Gestaltungsspielraum des Fachgremiums bei der Zusammenfassung und Neukonzeption von Elementen des nationalen Verzeichnisses wurde in der Entscheidungspraxis des deutschen Expertenkomitees zum Teil aufgegriffen (siehe Abschnitt 6.3.3.1.).

Bei der konkreten kriteriengeleiteten Entscheidungsfindung und des Entscheidungsmodus orientierte sich das DUK-Expertenkomitee in der Kategorie Ideen/Haltungen/Konzepte der Transferobjekte (vgl. Abschnitt 5.2.4.; Dolowitz/Marsh 1996: 349 f.) wieder sehr eng am österreichischen Pendant: Hinsichtlich der Entscheidungshilfe in Einzelfällen von vorgelegten Bewerbungen ging das soweit, dass man das eigene interne Papier auf der Vorarbeit des österreichischen Fachbeirats aufbaute. Dies verweist im Übrigen auch auf die Kategorie des Transferobjekts der negativen Erfahrungen, welche sich etwa u. a. auf die Wiener Balltradition zurückführen lassen (vgl. Abschnitt 4.4.2.1.). Durch die im südöstlichen Nachbarland bereits gemachten Erfahrungen in der konkreten Entscheidungspraxis waren einige typische Fallkonstellationen und problematische Inhalte von Bewerbungen bereits bekannt – wie etwa Traditionen im Zusammenhang mit Glücksspiel oder einer Nutzung für politische und ökonomische Zwecke. Dieses Papier wurde vom DUK-Expertenkomitee nur zaghaft weiterentwickelt (siehe auch Abschnitt 6.4.2.) – die meisten Punkte übernahm man dauerhaft fast eins zu eins aus Österreich. Beim Modus der Entscheidungsfindung orientiert sich das DUK-Expertenkomitee ebenfalls an jenem des österreichischen Fachbeirats. Der Vorsitzende Christoph Wulf rekapituliert:

„Also wir haben da fast immer einstimmige Ergebnisse […]. Manchmal, wenn man gar nicht kann, hat man die Möglichkeit, rauszugehen. Oder man lässt es einfach passieren oder man stimmt, das machen wir jetzt manchmal auch, dagegen, da hat man eben zwei, drei Gegenstimmen. Aber in der Regel ist die Idee, konsensuell die Dinge zu verabschieden. Was, denke ich, auch der Kunst, dem Kunsturteil gegenüber angemessen ist, weil es eben diese Schwierigkeiten der Urteilsfindung gibt.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Eine weitere Modalität, die nicht Teil des vereinbarten Stufenverfahrens ist, die die Geschäftsstelle der DUK bzw. das DUK-Expertenkomitee aber ebenfalls von ihren österreichischen Vorbildern adaptiert hatten, ist die Möglichkeit der Rückstellung von Bewerbungen. Diese werden vom österreichischen Fachbeirat wie auch vom deutschen Expertenkomitee angewandt auf Bewerbungen, die den Experten vom Thema her grundsätzlich als Form Immateriellen Kulturerbes im nationalen Rahmen anerkennenswert erscheinen, bei denen in den Bewerbungsunterlagen aber nicht alle Fragen zufriedenstellend beantwortet wurden. Statt diese abzulehnen und die Bewerbergruppe auf die nächste Vorschlagsrunde zu vertrösten und möglicherweise zu entmutigen, haben diese so die Möglichkeit ihr Formular zu überarbeiten und schon wenige Monate nach der Mitteilung direkt und damit im verkürzten Verfahren wieder bei der DUK einzureichen. Die erneute Bewertung erfolgt dann im unmittelbaren Folgejahr, also in jenem Jahr zwischen den beiden regulären Bewertungsdurchgängen.

In Österreich, wo bereits früher als in Deutschland mit der Inventarisierung des Immateriellen Kulturerbes begonnen wurde, hatte die ÖUK für die zwei Mal jährlich erfolgenden Aufnahmen ins Verzeichnis jeweils Auszeichnungsveranstaltungen organisiert. Aus der weitgehenden Parallelisierung der Aufgaben der Nationalagentur in Österreich und der DUK-Geschäftsstelle entstand für die politischen Akteure in Deutschland wohl die Erwartung, dass die DUK dies auch tun werde. Obwohl man für diese Aktivität im Rahmen der BKM-Zuwendung nicht mit Mitteln bedacht wurde und dies auch nicht Teil des vereinbarten Stufenverfahrens war, hielt man eine öffentliche Auszeichnungsveranstaltung der Trägergruppen bzw. der Kulturformen (9) auch bei der DUK insbesondere kommunikativ für wertvoll, da die Bekanntgabe der Entscheidung der ersten Verzeichnisaufnahmen Mitte Dezember 2014 insgesamt in eine ungünstige Zeit – kurz nach den öffentlich viel beachteten UNESCO-Listungen und kurz vor Weihnachten – fiel. So wurde im März 2015 in Berlin in der Landesvertretung Schleswig-Holsteins eine große Auszeichnungsveranstaltung in Verbindung mit einer Fachtagung (16) organisiert. Das Feedback der von der Staatsministerin für Kultur und Medien, Prof. Monika Grütters, und der KMK-Präsidentin, Brunhild Kurth aus Sachsen, ausgezeichneten Kulturträgergruppen darauf war äußerst positiv, so dass im Policy-Netzwerk fortan die Erwartung bestand, dass öffentliche Auszeichnungsveranstaltungen auch in den Folgerunden der Inventarisierung stattfinden. Die Folgen aus dieser Entwicklung für die öffentliche Wahrnehmung der Verzeichnisaufnahmen – kurzgefasst: mehr Auszeichnung denn Bestandsaufnahme – reflektierte man zum damaligen Zeitpunkt allerdings wohl kaum.

Die Erarbeitung und Vergabe eines Logos (13) für die Einträge im Bundesweiten Verzeichnis lässt sich ebenso aus Lerneffekten aus der Schweiz – hier wurde ein eigenes Logo für die Lebendigen Traditionen eingeführt – und Österreich, wo ein mit einem Zusatz als Hinweis auf die Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe versehenes ÖUK-Logo an die Trägergruppen vergeben wurde, erklären.

Die Einführung eines Registers Guter Praxis-Beispiele als Unterkategorie des Bundesweiten Verzeichnisses ist eine Anleihe aus der Praxis der nationalen Umsetzung in Ungarn. Durch den internationalen Fachaustausch zu Beginn der eigenen nationalen Umsetzung (siehe Abschnitt 6.3.4.3.) hatte die DUK von dieser Möglichkeit erfahren. Das entsprechende internationale Register auf UNESCO-Ebene war selbstverständlich Ausgangspunkt der ungarischen Praxis und gab Deutschland ebenfalls grundlegend Inspiration, Erhaltungsprogramme zu inventarisieren bzw. auszuzeichnen und gesondert herauszustellen.

6.4.2 Lerneffekte im Laufe des Inventarisierungsverfahrens

Anhand einer Auswertung der beiden im Untersuchungszeitraum 2013 bis 2016 durchgeführten Bewerbungsverfahren für das Bundesweite Verzeichnis (2013/14 sowie 2015/16) sollen zunächst einige sich aus der permanent-begleitenden Evaluierung ergebende Lerneffekte im Inventarisierungsverfahren und entsprechende Reformulierungen von Aspekten der Politik zum Immateriellen Kulturerbe – im Sinne der Evaluierungsphase des Policy-Cycles – aufgezeigt werden:

In der ersten Bewerbungsrunde (2013) kam es zu 128 Bewerbungen, aus denen die Länder auf der zweiten Stufe des Verfahrens 83 auswählten. 27 davon hatten im Dezember 2014 einen Eintrag ins Bundesweite Verzeichnis zur Folge. Dreizehn Vorschläge wurden zurückgestellt und mit der Bitte um Nachlieferung von Informationen an die Bewerbergruppen zurückgeschickt. 34 Vorschläge wurden vom Gremium abgelehnt. Die hohe Zahl von zunächst in der ersten Stufe des Verfahrens als Bewerbung eingegangenen und letztlich aber nicht anerkannten Kulturformen – 45 auf Länderebene aussortierte plus 34 vom DUK-Expertenkomitee abgelehnte – bezeichnet Sophie Schönberger, die als einzige deutsche Wissenschaftlerin am international vergleichenden Projekt OSMOSE mitgewirkt hat, als Ausdruck eines stark kompetitiven und selektiven Charakters der deutschen Verzeichniserstellung (vgl. Schönberger 2017: 3). Folgt man dieser Bewertung, würde dies auch heißen, dass die Inventarisierung zumindest nicht vorbehaltlos dem Ziel einer Erhöhung kultureller Teilhabe durch die Umsetzung der Konvention in Deutschland zu dienen scheint. Die Einschätzungen des Verfahrens fällt bei den im Rahmen dieser Arbeit befragten Experten und Trägergruppen (siehe Abschnitt 4.2.) dagegen einheitlich ziemlich positiv aus: „[D]as Verfahren ist schwierig und komplex. […] Dafür funktioniert es ja ganz gut.“ (K, Interview am 01.11.2018) Wirft man in exemplarischer Weise einen genaueren Blick auf Vorschläge, die nicht aufgenommen wurden, haben diese – insbesondere im ersten Durchgang, in dem sehr viele Vorschläge zum DUK-Expertenkomitee weitergeleitet wurde, darunter alle länderübergreifenden (s. u.) – nicht aus Gründen der Selektionsmechanismen und auch nicht aus Gründen einer harten Selektivität der Experten den Einzug ins Verzeichnis verpasst, sondern weil sie schlicht die Kriterien, die die UNESCO-Konvention vorgibt und die für die deutsche Umsetzung präzisiert und kontextualisiert wurden, nicht erfüllten. Dazu zählen etwa die Bewerbungen des „Handschriftlichen Briefes“, der ein Objekt darstellt und im Verfahren auch nicht als Kulturpraxis mit definierbarer Trägergruppe präsentiert wurde, oder des „Norddeutschen Grünkohlessens“, das ohne Beteiligung einer Trägergruppe von der Redaktion eines öffentlich-rechtlichen Rundfunksenders vorgeschlagen wurde. Weitere Bewerbungen waren zum Beispiel der Eigenvorschlag eines Ensembles für traditionelle Musik oder des Streichquartetts als Instrumentalformation bzw. Gattung. Insofern muss man zumindest für die Anfangszeit der Umsetzung der Konvention der Einschätzung von Sophie Schönberger (2017: 3) widersprechen: Vornehmlich lag es an den nicht zur Definition Immateriellen Kulturerbes passenden Vorschlägen oder auch der im Sinne des Konventionstexts mangelhaften Darstellung von Trägergruppen und lebendiger Weiterentwicklung von Kulturformen, die zu einer Nicht-Aufnahme führten. Man kann ihr ferner entgegenhalten, dass gerade das offene und partizipative Verfahren, das jedem ohne formale Zugangsbeschränkung die Teilnahme ermöglichte, zu der relativ hohen Quote von Nichtaufnahmen führte. Im Sinne der Konsistenz, was unter Immateriellem Kulturerbe zu verstehen ist, und um dies auch überzeugend öffentlich zu kommunizieren, ist eine konsequente Auswahlpraxis vonnöten. Das zunächst weitgehend aus Österreich übernommene DUK-Expertenkomitee-interne Papier der Operationalisierung der wichtigsten Kriterien für Aufnahmen ins Verzeichnis (siehe Abschnitt 6.4.1.) wurde durch die Entscheidungspraxis und die Diskussionen im Gremium im Laufe der Zeit schrittweise modifiziert ohne aber gänzlich neue Kriterien zu ergänzen. Über die Erfüllung der definierten Kriterien hinaus hat sich die Mehrheit im Expertenkomitee der DUK dabei stets für eine möglichst große Zahl von Einträgen und eine Würdigung einer Breite und Vielfalt im Verzeichnis stark gemacht.

„Also ich glaube, es ist ein wichtiger Punkt, dass man diese Vielfalt sieht und dass man auch sieht, dass es, also vor allen Dingen im Bereich des IKE – im Bereich des Weltkulturerbes ist die Vielfalt etwas eingeschränkter, auf das was man doch ästhetische, wertvolle Gebäude nennt – hier hingegen ist das viel weitere Spektrum.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

Der Expertenkomitee-Vorsitzende fragt sich allerdings auch:

„Wie viel können wir aufnehmen in eine Liste, wie viel wollen wir aufnehmen in eine nationale Liste? Da gibt es sicherlich auch eine Dynamik: Am Anfang war man da natürlich interessiert viele Sachen zu haben. Mittlerweile wird man strenger in der Auswahl. Ist das berechtigt oder nicht berechtigt? Also ist diese Sorge, die manche haben, das geht ins Uferlose, ist die berechtigt, ist es unsere Aufgabe, da ein Stückchen zu bremsen, um auch den Wert der Auszeichnung zu erhalten? […W]ir haben ja verschiedene Stufen: Wir haben die Länderverzeichnisse und wir haben das nationale Verzeichnis und wir haben das internationale.“ (E1, Interview am 15.10.2018)

An dieser Aussage lässt sich gut die Entwicklung der ersten Jahre der Inventarisierung in Deutschland nachvollziehen: startend von einer Bestandsaufnahme mit dem Ziel der Sensibilisierung für die Bedeutung des Immateriellen Kulturerbes im Allgemeinen hin zu einer Würdigung einzelner, als herausgehoben wahrgenommener, Kulturformen mit einer Listenhierarchie. In diesem Sinne müsste die These von Schönberger (2017: 3) eines stark kompetitiven und selektiven Charakters der deutschen Verzeichniserstellung vielleicht nach zehn Jahren nationaler Umsetzung der Konvention noch einmal ernsthaft geprüft werden.

In der ersten Runde des Bewerbungsverfahrens galten noch andere Quoten als in späteren Bewerbungsdurchgängen – man hatte vorher ganz einfach keine genaue Vorstellung, wie die Beteiligung am Verfahren sich genau gestalten würde und musste „learning by doing“ praktizieren: Als pro Bundesland gewährte Quote war man 2011 noch von bis zu zehn Benennungen ausgegangen (vgl. Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA 2011: 1). In der ersten Bewerbungsrunde 2013/14 waren dann allerdings zunächst einmal nur zwei Vorschläge pro Bundesland zur Weiterleitung vorgesehen – dies wohl auch eine zahlenmäßige Orientierung an den jährlichen Bewerberzahlen in Österreich –, und darüber hinaus zunächst auch nur zwei als länderübergreifend zu klassifizierende für ganz Deutschland. Insbesondere letzteres erwies sich wegen hoher Bewerberzahlen in dieser Kategorie (im ersten Durchgang 60 Vorschläge, die in mehr als einem Bundesland verbreitet sind) als nicht haltbar und wurde von den Ländern in der KMK nach Rücksprache mit dem DUK-Expertenkomitee sogar noch im laufenden ersten Verfahren korrigiert. Die DUK-Experten zeigten sich so flexibel, dass sie alle länderübergreifenden Vorschläge ohne Vorauswahl auf Länderebene in ihre Bewertung nahmen, was zu der außerordentlich hohen Zahl von 83 Dossiers insgesamt führte, die sie schließlich auf ihren Tischen hatten. Aufgrund des dabei entstandenen Missverhältnisses von sehr vielen Bewerbungen, die keinem Land zugeordnet wurden und damit keine Vorbewertung auf Länderebene erfuhren, wurde zum zweiten Bewerbungsdurchgang die Regelung mit vier Weiterleitungen, unabhängig, ob die Bewerbungen länderspezifisch, länderübergreifend oder Gute Praxis-Beispiele sind, pro Land mit der Beibehaltung des Sitzlandprinzips in Kombination mit der tatsächlichen praktischen Verortung für Einreichungen von Bewerbungen eingeführt (vgl. Dok. 25: KMK-Beschluss vom 11.12.2014: 1; siehe auch Abschnitt 6.3.1.2.) und seitdem beibehalten. Die Länder hatten sich damit die Steuerungs- und Entscheidungsmacht über die Weiterleitungen, die ihnen im ersten Verfahren durch die nicht vorhergesehene Verteilung der Bewerbungen zum einen und die Flexibilität der DUK-Experten zum anderen weitgehend genommen wurde, zurückgeholt. Eine weitere Steuerungsmöglichkeit der Länder ergab sich durch die Vereinbarung über eine Flexibilisierung dieser 4er-Quote, auf die insbesondere Bayern, das in bisher allen Vorschlagsverfahren die meisten Bewerbungen verzeichnete, gedrängt hatte. Freibleibende Plätze in anderen Ländern können danach bis zur Maximalzahl von 64 Bewerbungen auf die anderen Länder verteilt werden. Die Aufteilung organisiert die KMK mit Unterstützung der DUK. Die Debatten über diesen Punkt liefen einige Male zwischen den Ländern vergleichsweise kontrovers, da andere Länder Bedenken dagegen hatten, dass sich zunehmend ein quantitatives Ungleichgewicht im Bundesweiten Verzeichnis zeigt. Auch die DUK-Experten, denen an einer Sensibilisierung für das Immaterielle Kulturerbe in ganz Deutschland gelegen war, sahen die Regelung eher skeptisch. Auch sie befürchteten, dass ein zu starker Bayern-Schwerpunkt auf der Liste dem Thema in anderen Regionen nicht gut bekomme. Im Beobachtungszeitraum behielt die flexible Quote aber Bestand.

Unter den 83 von den Ländern ausgewählten Bewerbungen der ersten Vorschlagsrunde 2013/14 waren auch neun, die ein Beispiel Guter Praxis der Erhaltung Immateriellen Kulturerbes beschrieben. Das Problem, welches das Expertenkomitee bei diesen hatte, war, dass vorher weder Kriterien für die Bewertung dieser Erhaltungsprogramme festgelegt wurden noch im Bewerbungsformular geeignete Informationen, die eine echte Bewertung erlauben, abgefragt wurden. Dies rührte daher, dass die Vorlage, wie erläutert, aus Österreich stammte und dort bis dato keine entsprechenden Bewerbungen eingegangen waren. Da die DUK u. a. in den 2013 durchgeführten Regionalforen (10) und auf ihrer Webseite (17) sowie im Newsletter (19) – kurz in ihrer gesamten Werbung für das Bewerbungsverfahren – bewusst für die Guten Praxis-Beispiele und ihre Vorzüge geworben hatte, trat hier ein interessanter Widerspruch zwischen dem Auswärtigen Amt, das die Formulare der KMK als Entwurf zur Verfügung gestellt hatte, und den Ländern auf der einen und der Öffentlichkeitsarbeit der DUK, die auch im Namen der Experten erfolgte, auf der anderen Seite zu Tage, der ganz konkrete operative Probleme verursachte. In der ersten Runde wurde dies vom Expertenkomitee zunächst über das Mittel von Rückstellungen aller neun Bewerbungen gelöst. Bis zur Behandlung im Folgejahr (2015) definierte man seitens der DUK im Zusammenwirken mit den Ländern eigene Kriterien, die ähnlich wie jene Kriterien für Kulturformen aus der Konvention und den Richtlinien zur Durchführung des Übereinkommens abgeleitet und auf den deutschen Kontext übertragen wurden. Die Informationen zur adäquaten Bewertung der Bewerbungen mussten sich die Experten allerdings zunächst noch aus den Antworten auf anderslautende Fragen der ersten Version des Bewerbungsformulars heraussuchen. Der Umgang mit den Bewerbungen für Beispiele Guter Praxis der Erhaltung Immateriellen Kulturerbes wurde dann nach den in der ersten Runde gesammelten Erfahrungen weiter angepasst: Zur Bewerbungsrunde 2015/16 wurden durch die DUK-Geschäftsstelle in Abstimmung mit den Ländern auch Fragen zu den Gute Praxis-Beispielen in das gemeinsame, bundesweit einheitliche Bewerbungsformular integriert. Während bis dahin die Träger der Programme ihre Angaben mühsam als Antworten auf die Fragen, die sich im Grunde auf Kulturformen und nicht auf Erhaltungsprogramme bezogen, geben mussten, gibt es seitdem drei spezielle Fragen, die nur für diese Unterkategorie des Bundesweiten Verzeichnisses Anwendung finden. Außerdem zählen diese Vorschläge seitdem mit in die jeweiligen 4er-Quoten der 16 Länder (vgl. Dok. 25: KMK-Beschluss vom 11.12.2014: 2). Hieran zeigt sich bereits in mehrfacher Hinsicht ein Lerneffekt mit Anpassung der entsprechenden Politik, der typisch für den Policy-Cycle ist: quasi ein kleiner Policy-Cycle im großen, denn nach der Implementierung des Bewerbungsformulars wurde dieses in der Praxis evaluiert und dann entsprechend der festgestellten Bedarfe reformuliert.

Von den neun oben erwähnten Vorschlägen für Gute Praxis-Beispiele, die 2014 zurückgestellt wurden, weil es noch keine Kriterien dafür gab, wurden im Rahmen der Bewertung der Rückstellungen und der folgenden staatlichen Bestätigung dieser Auswahlempfehlungen Ende 2015 zwei erste Einträge im nationalen Register anerkannt. Hinzu kamen darüber hinaus sieben weitere Einträge von Kulturformen ins Verzeichnis aus den oben genannten Rückstellungen, die nunmehr die Anforderungen erfüllten. Ende 2015 gab es damit also bereits 36 Einträge im Verzeichnis. Drei Vorschläge wurden erneut zurückgestellt und konnten im Folgejahr mit nachgelieferten Informationen wiederum direkt bei der DUK-Geschäftsstelle eingereicht werden. Vier Vorschläge wurden vom Gremium abgelehnt.

Im zweiten Bewerbungsdurchgang (2015/16) kam es mit dem neuen Bewerbungsformular zu 75 Vorschlägen aus der Zivilgesellschaft. Die Länder wählten daraus 54 Vorschläge aus – schöpften das Maximalkontingent von 64 Dossiers also nicht aus; allein 21 Dossiers stammten allerdings aus Bayern, das zu diesem Zeitpunkt noch als einziges Land eine Beratungsstelle zum Immateriellen Kulturerbe eingerichtet hatte (12) – und leiteten sie über das KMK-Sekretariat an die Experten der DUK weiter. Hinzu kamen die drei oben genannten Rückstellungen. Von diesen 57 Dossiers empfahlen die Experten dieses Mal 34 Kulturformen und zwei Gute Praxis-Beispiele zur Aufnahme in das Verzeichnis. Elf Vorschläge wurden zurückgestellt. Zehn Vorschläge wurden vom Gremium abgelehnt – die Zahl der Ablehnungen war inzwischen also deutlich geringer geworden, was Sophie Schönbergers (2017: 3) Einschätzung eines sehr selektiven und kompetitiven Verfahrens erneut eher widerlegt. Ende 2016 betrug die Zahl der Einträge im Bundesweiten Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes damit 72, darunter vier Gute Praxis-Beispiele.

Die Änderung der Bewerbungsunterlagen, die hier beispielhaft anhand der neu eingefügten Fragen zu den Gute Praxis-Beispielen bereits dargestellt wurden, erfolgte in permanenter enger Abstimmung zwischen der DUK und den Ländern und beweist eine hohe Bereitschaft der beteiligten Akteure zum politischen Lernen. Ein weiterer Aspekt, der bereits nach der ersten Bewerbungsrunde angepasst wurde, zeigt zugleich auch einen weiteren Lerneffekt, nämlich die recht spontane Kreation von Länderverzeichnissen (11) im Jahr 2014. Als Bund und Länder 2011/12 die Ratifizierung und das Szenario der Inventarisierung besprochen hatten, spielte dies noch keine Rolle, wohl auch, da niemand genau das Interesse aus der Zivilgesellschaft hat abschätzen können. Als Bayern und NRW im ersten Bewerbungsdurchgang ein großes Interesse der Beteiligung am Verfahren feststellen konnten, reagierten beide flächen- und bevölkerungsreichen Länder schnell und richteten diese Verzeichnisse ein. Auf ihr Betreiben wurde sodann bei der ersten Überarbeitung der bundesweit einheitlichen Bewerbungsformulare 2015 gleich mit aufgenommen, dass es sich nicht nur um Bewerbungen für das Bundesweite Verzeichnis, sondern auch für eventuell vorhandene Länderverzeichnisse handele und dass diese formal in die KMK-Beschlusslage aufgenommen wurden (vgl. Dok. 25: KMK-Beschluss vom 11.12.2014: 2).

Im Sinne des politischen Lernens im Laufe der Umsetzung der Inventarisierung lohnt an dieser Stelle ein Blick auf den Wettbewerbsföderalismus: Durch die eigenverantwortliche Form der Gestaltung der ersten Stufe des Bewerbungsverfahrens in den 16 Ländern kann ein Leistungswettbewerb zwischen ihnen im Sinne von Lernen von besten Problemlösungen beobachtet werden (siehe u. a. Abschnitt 6.3.2.5.). Begrenzt ist dieser Leistungswettbewerb im Vergleich zur Schweiz, wo die Kantone ganz eigenverantwortlich, d. h. ohne nationalweite Vorgabe der Form und Art der Vorschlagssammlung agieren, aber er ist im Rahmen der Inventarisierung stärker als in Österreich, wo die Vorschläge zentral bei der ÖUK eingehen, also das Verfahren nationalweit einheitlich ist. Allein die Einrichtung von Länderjurys für die Vorauswahl (6) war ein Lerneffekt der Länder untereinander: Dies war keine Vorgabe im Stufenverfahren, wurde aber doch von einer großen Zahl von Ländern vorgenommen, weil es sich anderswo als praktikabel erwiesen hatte. Länder wie Bayern und NRW haben darüber hinaus eine Vorreiterrolle eingenommen nicht nur hinsichtlich der Einrichtung von Länderverzeichnissen, sondern auch von Beratungsstellen (12) sowie der Durchführung von regelmäßigen Informationsveranstaltungen (10) und eigenen Fachtagungen. Dies hat im Laufe der Umsetzung in kleineren Ländern wie Sachsen-Anhalt, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen zu produktiven Nachahmereffekten geführt.

Ein Lernaspekt auf Länderebene war ferner, dass die Fachzuständigkeit der für Denkmalschutz bzw. UNESCO-Welterbe verantwortlichen Referenten für das Immaterielle Kulturerbe (6) nicht unbedingt immer die passendste Lösung war. In Bayern wechselte die Zuständigkeit für das Immaterielle Kulturerbe gar vom für Kunst zuständigen Ministerium in das für Heimat zuständige Haus. In vielen anderen Ländern übernahmen zunehmend die für Erinnerungskultur, Heimatkultur oder regionale Kulturpolitik bzw. internationale Kulturpolitik zuständigen Referate bzw. Referenten auch die Aufgabe Ansprechperson für Bewerbergruppen des Immateriellen Kulturerbes zu sein.

Eine Weiterentwicklung des Bundesweiten Verzeichnisses betrifft in anderer Hinsicht auch seine Darstellung hinsichtlich der Kategorien, nach denen die aufgenommenen Kulturformen sortiert werden können. Beachtenswert im internationalen Vergleich ist die zu den fünf in der Konvention genannten Bereichen hinzugekommene Kategorie „Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation“, die zum Beispiel für das Genossenschaftswesen oder das Singen von Arbeiterliedern durch den Zusammenhang mit der Tätigkeit in Gewerkschaften angewandt wurde. Diese Erweiterung der Kategorien ergab sich aus den ersten Vorschlägen für das Bundesweite Verzeichnis 2013/14: Das Expertenkomitee der DUK konstatierte, dass die Bewerbungen in den genannten beiden Fällen alle Kriterien zur Aufnahme erfüllten, aber nur begrenzt zu den Bereichen, die die UNESCO-Konvention als beispielhaft vorgibt, passten und stark den Aspekt der gesellschaftlichen Mobilisierung für eine gemeinsame Sache betonten, so dass spontan für die Web-Darstellung und -Sortierung auf der DUK-Website (17) diese Kategorie eingeführt wurde. Von Seiten der staatlichen Vertreter gab es keine Bedenken, so dass dies recht geräuschlos ohne formalen Beschluss Teil der deutschen Umsetzung wurde. Im internationalen Austausch wurde dies aber durchaus interessiert zur Kenntnis genommen.

Ebenfalls ein eindeutiger Lernprozess ergab sich im Untersuchungszeitraum im Hinblick auf ein scheinbar kleines Detail des Bewerbungsprozesses für das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes. Die staatlichen Stellen und die DUK hatten sich anfangs nach österreichischem Vorbild auf die Übernahme der Bedingung, dass zwei unabhängige Empfehlungsschreiben den Bewerbungen beigefügt werden müssen, verständigt. Hintergrund dieser Regelung ist die Idee, dass man sich auf diese Weise unabhängige Einschätzungen erhofft, wie lebendig und insgesamt den Kriterien genügend die Kulturform ist – schließlich kann kein Expertengremium für alle Vorschläge des weiten Spektrums der Formen Immateriellen Kulturerbes über hervorragende Expertise verfügen. Abweichend von der österreichischen Praxis gab man hierfür allerdings keine Liste von möglichen Verfassern aus dem Wissenschaftskontext an, da die DUK und ihre in der Anfangsphase dazu konsultierten Experten der Meinung waren, dass im deutschen Kontext eine solche angesichts des weiten Felds des Immateriellen Kulturerbes einerseits und der Breite der Expertenschaft in diesen Gebieten andererseits niemals umfassend hätte sein können. Dies jedoch führte dazu, dass den Bewerbergruppen trotz Hinweisen für die Verfasser der Schreiben, die auf der DUK-Website veröffentlicht wurden, häufig unklar blieb, wer ein solches Schreiben, das zudem häufig fälschlicherweise als ‚Gutachten‘ betitelt wurde, verfassen könne. Die DUK präzisierte dahingehend die Antworten auf „Häufig gestellte Fragen“ (FAQs) auf der Website, dass es sich um von der Bewerbergruppe unabhängige Personen mit einer gewissen, nachweisbaren Expertise im Feld der vorgeschlagenen lebendigen Tradition handeln müsse. Man wollte nicht zwingend wissenschaftliche Gutachten, sondern kenntnisreiche und unabhängige Einschätzungen erhalten und begrenzte daher die Seiten- bzw. später Zeichenzahl strikt. Es wurde seitens der DUK wiederholt betont, dass es sich bei den Verfassern nicht um Wissenschaftler handeln müsse, sondern auch nicht-diplomierte Heimatforscher u. a. in Frage kämen. Da die Bewerbungsdossiers trotzdem wiederholt inadäquate Empfehlungsschreiben enthielten – zum Teil ohne Aussagekraft, zum Teil im Stil verfehlt, zum Teil reine Gefälligkeitsschreiben von Politikern, die mit der Kulturform an sich nichts zu tun haben, zum Teil auch von Personen, die unmittelbare Verbindungen zur Bewerbergruppe hatten – drohten darunter zunehmend die Erfolgschancen im Übrigen eigentlich aussichtsreicher Bewerbungen zu leiden. Die Expertengremien auf Länder- und Bundesebene haderten, ob sie unpassende Empfehlungsschreiben als K.O.-Kriterium werten oder aber über Schwächen in diesem Punkt hinwegsehen sollten. Man einigte sich nach eingehenden Beratungen zwischen Vertretern der Länderjurys und des DUK-Expertenkomitees im Kreise der Länderverantwortlichen und der DUK-Geschäftsstelle im Jahr 2016 auf eine Umfirmierung der Schreiben als „fachliche Begleitschreiben“. Die Qualität bzw. die Erfüllung des Zwecks dieser Schreiben ist seitdem insgesamt gestiegen. Zudem hat das politische Lernen in diesem Fall auch wieder rückwärts funktioniert, denn Österreich, das in seiner nationalen Inventarisierung mit ähnlichen Schwierigkeiten im Umgang mit diesen Schreiben konfrontiert war, hat sich inzwischen einer Umbenennung nach deutschem Vorbild angeschlossen.

Die Entwicklung eines Handbuchs mit Fördermaßnahmen (27) für anerkannte Formen Immateriellen Kulturerbes war ferner ein Lernen daraus, dass es erfolgreichen Trägergruppen naturgemäß nicht immer ausreichte, einmalig gewürdigt worden zu sein, sondern dass sie ihre Erhaltungaktivitäten darauf ausbauend nun weiter verstärken wollten. Dieses Feedback erhielt die DUK vielfach und auch in den Länderministerien war dies ein häufig geäußerter Bedarf. Im Fokus stehen die Kulturformen nur während des Bewerbungsverfahrens und kurz nach einer erfolgreichen Auswahl. Nach der Auszeichnung müssen die Träger mit dem Label werben, um Unterstützung zu bekommen, aber eine automatische stärkere Beachtung der ausgezeichneten Traditionen gibt es nicht und wird von den politischen Akteuren bisher auch kaum strategisch verfolgt (vgl. L, Interview am 15.11.2018). Weitere Anpassungen der Umsetzungsprogramme im Hinblick auf die Bewerbungen für das Bundesweite Verzeichnis und die Erreichbarkeit von potenziellen Trägergruppen waren die Konzeption eines Mentoringprogramms für kleine Bewerbergruppen (26) sowie der Versuch einer gezielten Ansprache von Gruppen, die man durch das Bottom-up-Verfahren zuvor nicht erreicht hatte (24, 25).

„Dadurch, dass es zivilgesellschaftlich wächst und vielleicht dieses aktivierende Moment erst jetzt im dritten, vielleicht dann auch im vierten Zyklus stärker zum Tragen kommt, hat es natürlich auch einen gewissen Willkürcharakter, wer sich bewirbt. Und das Expertenkomitee und die Länder können ja nur unter denen auswählen, die tatsächlich den Schritt gegangen sind. Und da kann man ja nur zurzeit in unserem Verfahren an alle Verantwortlichen appellieren, noch einmal gezielt anzusprechen und Hilfestellung zu leisten.“ (L, Interview am 15.11.2018)

Neben der nationalen Inventarisierung war die deutsche Umsetzung der UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe auch bei den Nominierungen von Kulturformen für die UNESCO-Listen durch Lerneffekte gekennzeichnet. Zum einen stellten die beteiligten Akteure fest, dass es dafür ebenfalls einer stärkeren Strukturierung der Auswahl- sowie der Erarbeitungsprozesse bedurfte. Die Abläufe der Auswahl im DUK-Expertenkomitee wurden mitsamt einer expliziten Formulierung von Kriterien für eine Auswahl im Laufe des Umsetzungsprozesses präzisiert (siehe Abschnitt 6.3.4.1.). Die Übernahme einer steuernden Rolle bei der Erarbeitung der deutschen UNESCO-Nominierungen durch die DUK ist ebenfalls ein Lerneffekt, der sich in der konkreten Umsetzung des Stufenverfahrens ergab: Die als Stufen 5 und 6 des Prozesses gedachten Schritte waren im Szenario deutlich weniger durchstrukturiert als die Stufen 1 bis 4. Die beteiligten politischen Akteure mussten realisieren, dass die Trägergruppen Immateriellen Kulturerbes ganz andere Voraussetzungen mitbringen als die Trägerschaften von Welterbe-Stätten – hier hatte man bewusst oder unbewusst zunächst Parallelen gezogen, stellte aber fest, dass der Unterstützungsbedarf, insbesondere angesichts der kurzen Zeiträume, die man sich im Netzwerk gerade anfangs für die Erarbeitung der Nominierungen gab (siehe Abschnitt 6.3.4.1.), viel größer war. Viele Akteure, insbesondere Bund und Länder, hatten den Aufwand einer UNESCO-Nominierung deutlich unterschätzt, da man der Auffassung war, man müsse die Angaben für die nationale Inventarisierung nur ins Englische übertragen. Dass die Kriterien und Anforderungen der Nominierungsformulare auf UNESCO-Ebene und der begleitenden Materialien (Video, Einverständniserklärungen der Trägerschaften usw.) aber zum Teil doch deutlich von der nationalen Inventarisierung abwichen, wurde dann erst in der Praxis deutlich.

6.4.3 Politisches Lernen anderer Vertragsstaaten aus der deutschen Umsetzung

Das deutsche Modell hatte seinerseits durch den regelmäßigen internationalen Fachaustausch (siehe Abschnitt 6.3.4.) wiederum Rückwirkungen auf die Umsetzung in anderen Vertragsstaaten der UNESCO-Konvention, wenn auch in geringem Ausmaß als dies umgekehrt (siehe Abschnitt 6.4.1.) der Fall war.

Österreich beobachtete die deutsche Umsetzung besonders intensiv; zwischen der ÖUK und der DUK bestand ein regelmäßiger Austausch über Projekte und Details der nationalen Umsetzung. So folgte Österreich u. a. der deutschen Umfirmierung der Empfehlungsschreiben in „fachliche Begleitschreiben“ (siehe Abschnitt 6.4.2.). Bei der Einrichtung eines separaten Registers Guter Praxis-Beispiele der Erhaltung Immateriellen Kulturerbes als Unterkategorie des nationalen Verzeichnisses war Deutschland sehr früh gestartet – schon 2015 erfolgten die ersten Anerkennungen von Gute Praxis-Projekten, wie in Abschnitt 6.4.1. gezeigt insbesondere inspiriert von Ungarn und dem UNESCO-Register. Österreich erkennt im nationalen Rahmen seit 2019 Gute Praxis-Beispiele in einer separaten Darstellung auf der ÖUK-Webseite an. Bezüglich der Logopraxis wurde geprüft, das in Deutschland geschaffene Logo für Formen Immateriellen Kulturerbes zu übernehmen, nachdem Trägergruppen in Österreich, insbesondere in den Grenzregionen, die deutsche Praxis als beispielgebend gelobt und dies angeregt hatten. Dies ist allerdings bisher (Stand 2022) nicht erfolgt. Und schließlich führte Österreich, in diesem Fall sicherlich nicht ausschließlich dem deutschen Vorbild folgend, ebenfalls feste Bewerbungszeiträume für sein nationales Verzeichnis ein, nachdem Vorschläge hier viele Jahre permanent eingesandt werden konnten.

Frankreich orientierte sich nach einem weitgehend von einem Top-Down- und der Wissenschaft geprägten Inventarisierungsansatz ab etwa 2013 an den partizipativeren Prozessen der Partner- und Nachbarländer. Auch wurde ähnlich wie in Deutschland der Beratung und Unterstützung von Trägergruppen im Inventarisierungsprozess seitdem mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Während diese Anpassungen als Lerneffekte der eigenen Umsetzung und im Verhältnis zu den UNESCO-Nominierungen bewertet werden können, gibt es hinsichtlich der Einführung eines Logos für das Immaterielle Kulturerbe in Frankreich eine recht deutliche Anlehnung an die deutsche Praxis: Das im Jahr 2018 kreierte Logo trägt sehr eng dem deutschen Beispiel „Immaterielles Kulturerbe – Wissen. Können. Weitergeben.“ folgend den Titel „Patrimoine culturel immatériel en France. connaître, pratiquer, transmettre“. (vgl. Abbildung 6.2 und Abschnitt 4.4.2.4.)

Abbildung 6.2
figure 2

Logo des Immateriellen Kulturerbes in Frankreich (eigenes Foto)

Finnland war der UNESCO-Konvention, ähnlich wie die Niederlande, im etwa gleichen Zeitraum beigetreten wie Deutschland. Zwischen der DUK-Geschäftsstelle und der in Finnland verantwortlichen nationalen Museumsagentur gab es einen kontinuierlichen Austausch hinsichtlich des Aufbaus einer Auswahlarchitektur von Formen Immateriellen Kulturerbes und der Gestaltung der Entscheidungspraxis. Finnland entschied sich im Zuge der Inventarisierung für einen Wiki-Verzeichnis-Ansatz, so dass der Austausch hier vor allem auf den verschiedenen Methoden beruhte. Für die Qualitätsauswahl durch Experten und das dabei gewählte Vorgehen wurden ebenfalls Erfahrungen ausgetauscht.

Eine gegenseitige Bereicherung erfolgte zudem zwischen den für die nationalen Umsetzungen verantwortlichen Personen in den Niederlanden, Belgien und Deutschland, speziell hinsichtlich des Themas urban und interkulturell geprägter Traditionen, die die Heterogenität der Gesellschaft abbilden. Verschiedene Ansätze der Aktivierung von möglichen Trägergruppen wurden zwischen den Partnern ausgetauscht und zum Thema Superdiversität fand im Februar 2018 eine gemeinsame Tagung in Utrecht statt.

Japan und weitere Länder waren sehr an der ersten deutschen UNESCO-Listung des Genossenschaftswesens interessiert. In der Schweiz gab es mit den Geteilschaften im Wallis zu diesem Zeitpunkt bereits einen inhaltlich verwandten Eintrag im nationalen Verzeichnis. Die UNESCO-Eintragung gab vielerorts den Gedankenanstoß zunächst das Projekt einer nationalen Anerkennung anzugehen mit der möglichen langfristigen Perspektive die Eintragung Deutschlands zu einer multinationalen Listung zu machen.