5.1 Klärung von Konzepten der Untersuchung

Die Arbeit bewegt sich an der Schnittstelle zwischen den Disziplinen der Politikwissenschaft und den Kulturwissenschaften. Methodisch werden v. a. sozial-, verwaltungs- und politikwissenschaftliche Ansätze verfolgt, da es um die Untersuchung des Politikfelds Kulturpolitik geht und über die Thematik des Immateriellen Kulturerbes hinaus allgemeingültige Aussagen getroffen werden sollen. Während vier von fünf Forschungsfragen dieser Arbeit (vgl. Abschnitt 1.2.) vorrangig politikwissenschaftlicher Natur sind, lässt sich auch jene, die den Untersuchungsgegenstand kulturwissenschaftlich in den Blick nimmt, mit den entsprechenden gewählten sozialwissenschaftlichen Methoden (siehe Abschnitt 5.2.2) gut untersuchen.

Die ex-post-Analyse der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes bis einschließlich 2016 erfolgt grundsätzlich ausgehend von einer analytischen Trennung der drei gängigen Politikdimensionen: ‚polity‘ – Strukturen, Ordnung und institutionelle Verfassungen des politischen Systems –, ‚policy‘– Ziele und inhaltliche Programme, d. h. der konkrete Inhalt von Politik – sowie ‚politics‘, d. h. Prozesse und Verfahren der Willensbildung sowie der Interessendurchsetzung. Die erste der fünf Forschungsfrage ist eine klassische Policy-Frage: Mit welchen politischen Maßnahmen (Projekten, Programmen und Strategien) setzt Deutschland das völkerrechtliche Instrument UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes um? Ebenfalls auf der Policy-Ebene bewegt sich die dritte Forschungsfrage: Inwiefern ist die Teilhabe an Kunst und Kultur zu ermöglichen, Ziel, Aufgabe und Gegenstand der Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes in Deutschland?

Politikinhalt ist stets „das Ergebnis eines politischen Prozesses, der je nach Art der Verfahrensregeln oder Institutionen eines Landes einen unterschiedlichen Verlauf nimmt“ (van Waarden 2003: 257). Politikprozesse (politics) adressiert die fünfte Forschungsfrage: Wie gestaltet sich die Wechselwirkung zwischen der internationalen und der nationalen Umsetzung der Konvention? Auf die Akteure und Institutionen (polity) zielt die zweite der fünf Forschungsfragen: Wie wirkt sich die Beschäftigung mit dem Thema Immaterielles Kulturerbe auf die Kulturpolitik und ihre Akteure im deutschen Mehrebenensystem mit ihren Absichten und Zielen aus? Die Frage „Öffnet das Immaterielle Kulturerbe die Perspektive der Trägergruppen für (internationale) Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten von Kulturformen oder führt es eher zu einer Verengung des Blicks auf Partikularitäten des eigenen Kulturschaffens bzw. Kulturerbes?“ ist, wie oben erwähnt, eine vorrangig kulturwissenschaftliche.

Eine Politikfeldanalyse wie in dieser Arbeit muss also alle drei Ebenen des Politikbegriffs betrachten und in ihre Erklärungsansätze integrieren, weil die Strukturen und institutionellen Verfassungen des politischen Systems den Rahmen für die Prozesse und Verfahren der Willensbildung sowie der Interessendurchsetzung liefern, welche zu konkreten inhaltlichen Programmen führt (vgl. Blum/Schubert 2009: 14). „Hauptanspruch der Politikfeldanalyse [ist], die abhängige Variable Policy unter Zuhilfenahme der unabhängigen Variablen Politics und Polity zu erklären.“ (Blum/Schubert 2009: 81) Die ‚polity‘- und die ‚politics‘-Dimensionen sollen daher auch im vorliegenden Fall der Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes als unabhängige Variablen behandelt und zur Erklärung herangezogen werden. ‚Polity‘ wird als mehr oder weniger konstant, ‚politics‘ als prinzipiell veränderbar aufgefasst. (vgl. Schubert 1991: 27) Im Kern will die Politikfeldanalyse „konkrete politische Ergebnisse erklären“ (Schubert/Bandelow 2003: 6): in diesem Fall, wie es im Zusammenspiel zwischen Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft zur konkreten Form der Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes in Deutschland und den dabei angewandten Projekten, Programmen und Strategien kam.

Die Governance im Feld der Kulturpolitik in Deutschland bedarf damit einer näheren Untersuchung hinsichtlich des Einflusses der politischen Strukturen und Interaktionsprozesse zwischen den Akteuren auf die Entwicklung und das konkrete Politik-Ergebnis, d. h. die Policy. Eine zentrale Frage von Policy-Forschung ist die nach dem ‚Soll‘ und ‚Ist‘, also: „Was ist – differenziert nach den verschiedenen Akteuren – die Intention des politischen Prozesses?“ und „Was ist das Ergebnis des politischen Prozesses?“ (vgl. Schubert 1991: 78) Es geht darum, die inhaltliche Dimension von Politik, die „Ursachen, Voraussetzungen und Einflußfaktoren staatlicher Politik und die Folgen und Wirkungen staatlicher Politik zu erforschen“ (Schubert 1991: 13).

Zunächst sollen die für eine Politikfeldanalyse grundlegenden Konzepte der Untersuchung, die leitend für die Auswahl der Theorien und Methoden sowie die empirische Analyse sind, deskriptiv-systematisierend geklärt werden. Dies sind die Konzepte ‚Akteure‘ (Abschnitt 5.1.1.) und ‚Netzwerke‘ (5.1.2.), ‚Politikfelder‘ (5.1.3.) sowie ‚Institutionen‘ und ‚Strukturen‘ (5.1.4.) als auch ‚Politik-/Steuerungsinstrumente‘ (Projekte, Programme und Strategien) (5.1.5.). Schließlich werden auch die Begriffe ‚Steuerung‘ und ‚Governance‘ (5.1.6.) sowie die Trias aus ‚Policy-Output, -Outcome und -Impact‘ (5.1.7.) geklärt.

5.1.1 Politische Akteure

Als ‚politischer Akteur‘ wird in dieser Arbeit definiert, wer als Person oder Organisation an dem Prozess der Willensbildung, Formulierung, Entscheidung und Umsetzung von (kultur-)politischen Maßnahmen beteiligt und/oder betroffen ist. Das sind also neben i. e. S. politischen Akteuren wie Regierungen und Politikern auch Verbandsvertreter, Journalisten, Wissenschaftler und andere zivilgesellschaftliche Akteure sowie Organisationen (vgl. u. a. Schubert/Bandelow 2003: 4). Politische Akteure sind demnach sowohl Individuen als auch komplexe Akteure (vgl. Scharpf 2000: 95–107).

Für das Politikfeld Kulturpolitik soll Bernd Wagners Akteursdefinition gefolgt werden:

„Die handelnden Akteure sind zum einen Kulturverwaltungen, Ministerien, haupt- und ehrenamtliche KulturpolitikerInnen und zum anderen kulturelle, künstlerische und gesellschaftliche Vereine und Verbände sowie Einzelpersonen, Kirchen und Unternehmen. In Form direkter Trägerschaft von Kultureinrichtungen und ihrer Förderung sowie der Schaffung von Rahmenbedingungen ermöglichen sie künstlerisch-kreatives Produzieren und kulturelle Teilhabe.“ (Wagner 2009: 26)

Relevante individuelle Akteure sind im Rahmen dieser Arbeit etwa Experten des Immateriellen Kulturerbes oder einzelne Vertreter der Trägerschaft von immateriellen Kulturformen, die Ansprechpersonen und Beratungsstellen der Länder sowie für Kultur zuständige Minister. Komplexe Akteure sind aus Individuen zusammengesetzte Handelnde, wie gesamte Trägergruppen der Formen Immateriellen Kulturerbes oder die Kultusministerkonferenz der Länder, aber auch Expertenkomitees und -jurys. (vgl. Blum/Schubert 2009: 35, 52) Komplexe Akteure müssen in der Analyse später zur Vereinfachung als Akteure mit relativ einheitlichen Handlungsorientierungen behandelt werden (vgl. Scharpf 2000: 35). Darüber hinaus ist eine Differenzierung von komplexen Akteuren in zum einen kollektive Akteure und zum anderen korporative Akteure möglich. Zu kollektiven Akteuren schließen sich Individuen kooperativ zusammen, um strategische Allianzen, Bewegungen oder Verbände, aber auch Interessengemeinschaften zu bilden. Ein Beispiel aus dem Kontext dieser Arbeit sind einige Trägergruppen von Formen Immateriellen Kulturerbes, nämlich jene, die in einem Verband oder ähnlichen Formen von Zusammenschlüssen organisiert sind. Das wichtigste Charakteristikum ist: Die Mitglieder arbeiten mit einem gemeinsamen Ziel zusammen, aber sie verschmelzen nicht zu einer Einheit. Kollektive Akteure werden von ihren Mitgliedern bestimmt und kontrolliert. Demgegenüber legen korporative Akteure zur Verfolgung ihrer Ziele ihre Ressourcen zusammen, was zur Folge hat, das eine eigene Rechtspersönlichkeit entsteht. Hierzu gehören etwa Regierungen und einzelne Ministerien oder auch der Staat in seiner Gesamtheit oder ein Verein als Vertretung einer Trägerschaft. (vgl. Blum/Schubert 2009: 52 f.)

Die Übergänge zwischen individuellen und komplexen sowie auch zwischen kollektiven und korporativen Akteuren sind dabei nicht immer exakt zu differenzieren. Die Definition, in welcher Rolle zum Beispiel ein Mitglied des Expertenkomitees Immaterielles Kulturerbe mit den Medien spricht – als individuell berufener Experte oder als Sprachrohr des komplexen politischen Akteurs Expertengremium – oder wenn mehrere korporative Akteure eine dauerhafte Kooperation als kollektiver Akteur eingehen, fällt im Einzelfall nicht immer leicht. Wenn man allerdings die Rollen als Prototypen klar voneinander abgrenzt, fällt es leichter festzustellen, wie effektiv welche Rollen in welchen Situationen, wie zum Beispiel bei der Umsetzung von Projekten, Programmen und Strategien zur Umsetzung der Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes im nationalen Rahmen, sind (vgl. Blum/Schubert 2009: 54). Es geht für die Zwecke dieser Arbeit um eine weit gefasste Definition des Begriffs ‚politischer Akteur‘. Hierzu gehören etwa auch Medienvertreter und wissenschaftliche Experten (vgl. Blum/Schubert 2009: 54). Entscheidend ist, dass alle in dieser Arbeit als politische Akteure begriffenen Individuen und Institutionen (zur Klärung des Konzepts von ‚Institutionen‘ siehe Abschnitt 5.1.3.) an politischen Prozessen mitwirken, um dadurch bestimmte Interessen durchzusetzen. „Für die Politikfeldanalyse ist es wichtig danach zu fragen, welche Akteure aktiv sind, wie sie ihre Interessen durchzusetzen versuchen und ob sie in politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse eingebunden sind.“ (Blum/Schubert 2009: 58 f.)

‚Akteure‘ haben nach Scharpf drei Merkmale: Das sind erstens bestimmte Fähigkeiten, d. h. Handlungsressourcen, wozu insbesondere institutionelle Regeln gehören, nach denen „Kompetenzen zugewiesen und Partizipationsrechte, Vetorechte oder das Recht zur autonomen Entscheidung für bestimmte Fragen verliehen oder beschränkt werden“ (Scharpf 2000: 86). Zweitens haben sie bestimmte Wahrnehmungen und drittens bestimmte Präferenzen, d. h. Handlungsorientierungen, die vom institutionellen Kontext mitbestimmt (vgl. Scharpf 2000: 86 f.) einerseits relativ stabil sein oder aber andererseits auch durch politisches Lernen (siehe Abschnitt 5.2.4.) bzw. Argumente verändert werden können.

5.1.2 Netzwerke

Entscheidend bei der Betrachtung der Akteurslandschaft in einem Politikfeld (siehe Abschnitt 5.1.3.) sind auch die Beziehungen der Akteure unter- und zueinander sowie die bestehenden Verflechtungen, denn i. d. R. sind die an einer Politikformulierung und -umsetzung beteiligten Akteure in komplexe Beziehungsstrukturen eingebettet. Unter Beziehungsstrukturen versteht man z. B. Interaktion, Kommunikation, Tausch usw. (vgl. Schneider/Janning 2006: 117) Nur sehr selten kann ein einzelner Akteur seine Wahrnehmungen und Präferenzen allein durch den Einsatz seiner eigenen Handlungsressourcen in politische Entscheidungen umsetzen (vgl. Scharpf 2000: 87). Die Art der Beziehungen zwischen politischen Akteuren hat Einfluss auf die Ergebnisse politischer Aktivitäten. Aus unterschiedlichen Akteurskonstellationen resultieren daher unterschiedliche Problemlösungen bzw. Problemlösungsstrategien (vgl. Schubert 1991: 89). „Ein gründliches Verständnis der zugrunde liegenden Konstellation erscheint als unabdingbare Voraussetzung für die Erklärung und die Prognose von Interaktionsergebnissen.“ (Scharpf 2000: 42) Ob die relevanten Akteure konsens- oder konfliktorientiert zusammenarbeiten, ist von entscheidender Bedeutung für die Politikergebnisse und öffentliche Wirkung einer Politik (vgl. Blum/Schubert 2009: 59). Die zweite Forschungsfrage dieser Arbeit (Wie wirkt sich die Beschäftigung mit dem Thema Immaterielles Kulturerbe auf die Kulturpolitik und ihre Akteure im deutschen Mehrebenensystem mit ihren Absichten und Zielen aus?) beschäftigt sich daher explizit mit der Struktur des Netzwerks der Akteure und ihrer Interessenpositionen, Kooperations- bzw. Konfliktbeziehungen (Beziehungsstrukturen) im Bereich Kulturpolitik.

Folglich ist es wichtig, das Konzept ‚Netzwerk‘ für diese Arbeit zu bestimmen. Es wird hier als professionelles Setting der Zusammenarbeit der beteiligten Akteure bzw. als „durch Beziehungen eines bestimmten Typs verbundene Akteure“ (Pappi 1993: 84) verstanden. Die Arbeit folgt damit prinzipiell Heclos Definition eines Policy-Netzwerks von 1978 als „Zusammenwirken der unterschiedlichen exekutiven, legislativen und gesellschaftlichen Institutionen und Gruppen bei der Entstehung und Durchführung einer Policy“ (zitiert nach Windhoff-Héritier 1987: 45). Das Netzwerk befindet sich als Governance-Form (siehe Abschnitt 5.1.6.) strukturell zwischen den Extremen Markt und Hierarchie. Während in der Marktlogik als Handlungsorientierung zwischen den Akteuren der Wettbewerb dominiert und für Hierarchien Autorität und Gehorsam charakteristisch sind, dominieren in einem Netzwerk die Formen Tausch und Aushandlung (‚bargaining‘). (vgl. Mayntz 1997: 245 ff.) „Politischer Einfluss resultiert hierbei vor allem aus fachlich-inhaltlicher Autorität und rationaler Überzeugung.“ (Blum/Schubert 2009: 60) In diesem Ansatz stellt der Staat oder staatliche Institutionen nur einen unter mehreren wichtigen Akteuren dar; es sind mehrere politische Ebenen inbegriffen und auch Journalisten und Forscher, die ebenfalls eine wichtige Rolle in Policy-Prozessen spielen können, werden konzeptionell erfasst. Politische Steuerung in Netzwerken ist somit keine hierarchisch von oben nach unten verlaufende Einbahnstraße, sondern ein komplexes Gebilde von Kooperationen und Verhandlungslösungen (vgl. Schneider/Janning 2006: 160 f. und Blum/Schubert 2009: 66). Der Begriff wird eher auf die Koordination und Zusammenarbeit von Fachverwaltungen als von Regierungen angewandt, da diese Formen des themenorientierten Zusammenwirkens zwischen ersteren stärker ausgeprägt sind als zwischen letzteren (vgl. Benz 2009: 86). Konstituierend für Politik-Netzwerke ist, dass die Grenzen zwischen den beteiligten staatlichen Stellen, Politikern und Interessengruppen verschwimmen. Das stereotype Bild eines Staates als höchstes gesellschaftliches Kontrollgremium und einer klaren Trennung zwischen Staat und Gesellschaft wird hier gebrochen. Dies ist Ergebnis eines Wandels der politischen Entscheidungsstrukturen, die in vielen Politikfeldern, auch der Kulturpolitik, zu beobachten ist. (vgl. Mayntz 1997: 241; siehe auch Kapitel 3 dieser Arbeit)

Prinzipiell können Netzwerke sich ad-hoc bilden. In Deutschland allerdings sind die meisten Politiknetzwerke eher dauerhaft. (vgl. Schneider/Janning 2006: 161) Meist sind die Beziehungen nicht nur auf ein spezifisches Programm, sondern auf mehrere Programme bezogen, so dass Konflikte bisweilen übertragen oder andersherum angesammeltes Vertrauenskapital eingesetzt wird. Renate Mayntz weist darauf hin, dass „[p]rogrammspezifische Netzwerke […] gleichsam nur einen Schnitt durch das Beziehungsgeflecht der Wirklichkeit [legen]“. Sie schlägt deshalb vor, zwischen den „formal vorgesehen, den faktischen und den in funktioneller Hinsicht optimalen Beziehungen“ (Mayntz 1980: 9, Hervorhebungen im Original) zwischen den Akteuren differenziert zu unterscheiden und so bereits Hinweise auf Implementationsprobleme zu erhalten.

Ein Politiknetzwerk ist jedoch mitnichten die Gesamtheit der Beziehungsstrukturen in einem gesamten Politikfeld (siehe Abschnitt 5.1.3.), sondern bezieht sich nur „auf Interaktionszusammenhänge, in denen die Zahl der beteiligten Akteure noch überschaubar bleibt, die Akteure über ihre jeweiligen Interessen informiert sind, ihr gemeinsames Handeln abstimmen bzw. aushandeln und Kooperationen unter Umständen auf Dauer stellen können“ (Schneider/Janning 2006: 159). Wichtig, denn Basis der Zusammenarbeit, ist eine geteilte Kernüberzeugung der am Netzwerk beteiligten Akteure (vgl. Blum/Schubert 2009: 63). Ein solches, kohärentes Problemverständnis kann auch durch die institutionenübergreifende Zusammenarbeit im Netzwerk überhaupt erst entstehen (vgl. Schubert 1991: 36). Bei Politiknetzwerken spielt Informalität bis zu einem gewissen Grad eine Rolle. Neben offiziellen gesetzlich o. ä. geregelten Prozessen gibt es in den Phasen von Formulierung und Implementierung von Politiken auch informelle Handlungs- und Interaktionsverflechtungen. (vgl. Schneider/Janning 2006: 159)

Interessant für die vorliegende Arbeit ist die Definition von Schubert/Klein mit den drei Merkmalen Dauerhaftigkeit, Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit, die ein politisches Netzwerk auszeichnen (vgl. Schubert/Klein 2006: 206). Das Netzwerk der Akteure im Bereich der Umsetzung der Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes ist seit dem Beitritt Deutschlands im Jahr 2013 entstanden bzw. – wie man besser formulieren sollte – hat sich aus dem Politikfeld der Kulturpolitik heraus geformt und besteht seitdem dauerhaft. Zu ihm zählen die beteiligten politischen Akteure in Bund, Ländern und Kommunen auf der (im engeren Sinne) politischen Ebene, die Deutsche UNESCO-Kommission und die von ihr versammelten Experten, außerdem Kompetenzzentren wie Museen, Universitäten, NGOs usw. und die Medien auf einer intermediären Ebene sowie Kulturorganisationen und -verbände, die Trägergruppen der Kulturformen und weitere Akteure des öffentlichen Lebens auf der zivilgesellschaftlichen Ebene (vgl. Abschnitt 6.3.). Die dauerhafte Zusammenarbeit wird über verschiedene Gremien, formelle und informelle Treffen und ein regelmäßiges öffentliches Kommunizieren über das Immaterielle Kulturerbe sichergestellt. Klaus Schubert weist darauf hin, dass sich aus einer Dauerhaftigkeit von Netzwerken die Gefahr von Abschottungseffekten des Netzwerks zur Umwelt ergeben (vgl. Schubert 1991: 90). Das Merkmal Freiwilligkeit gilt grundsätzlich als gegeben – außer im klassischen Korporatismus muss sich niemand an der Zusammenarbeit in einem Politik-Netzwerk beteiligen. Durch das Prinzip der Gegenseitigkeit wird die Freiwilligkeit allerdings etwas relativiert. „Alle am Netzwerk beteiligten Akteure erhoffen sich einen Vorteil aus der Kooperation und müssen diesen (früher oder später) auch in irgendeiner Form erhalten.“ (Blum/Schubert 2009: 62) Dies ist für diese Arbeit insofern relevant, da allen Forschungsfragen (siehe Abschnitt 1.2.) implizit und der zweiten explizit die Erkenntnisabsicht zugrunde liegt, mit welchen Absichten die beteiligten Akteure die Umsetzung der Konvention betreiben. Nicht unbedingt sind die Beziehungen in einem Netzwerk gleichberechtigt bzw. die Vorteile ausgewogen (vgl. Blum/Schubert 2009: 63). Eine Netzwerkanalyse kann wichtige Anhaltspunkte für Machtstrukturen, das heißt vor allem Ressourcen und Stellung im Geflecht, liefern. Steht ein Akteur im Zentrum eines Netzwerks, geht man von einem hohen Machtpotenzial aus. (vgl. Blum/Schubert 2009: 63 ff.)

5.1.3 Politikfelder

In der Gesellschaft haben sich nach der soziologischen Theorie sozialer Differenzierung institutionell verfestigte und spezialisierte Teilsysteme herausgebildet, etwa das Wirtschaftssystem, das Bildungssystem, das politische System, das Rechtssystem, das Wissenschaftssystem oder das Verwaltungssystem (vgl. Mayntz 1997: 38–69, Wagner 2009: 41). Auch diese gesellschaftlichen Teilsysteme haben sich intern funktional ausdifferenziert, so auch das politische System, das im Übrigen mehr als Staatstätigkeit ist, nämlich auch die nichtstaatlichen Akteure beinhaltet. Die Komplexität des Regierens moderner Gesellschaften befördert die sektorale Differenzierung zusätzlich. Benz (2009) weist darauf hin, dass Mehrebenensysteme (siehe Abschnitt 5.1.4.) die Sektoralisierung noch verstärken, weil die Fachpolitiker und -verwaltungen der verschiedenen Ebenen miteinander kooperieren müssen. Dabei werden sie oft noch durch unabhängige Experten oder Expertengremien unterstützt. (vgl. Benz 2009: 217) Ein Politikfeld wird also letztlich über seine politischen Akteure definiert, die sich, häufig in einem Netzwerk und innerhalb von Institutionen, mit einem bestimmten Thema befassen und die ihre gegenseitigen Interessen und Aktivitäten berücksichtigen müssen. So entsteht ein spezifischer Handlungsrahmen für die Akteure von Politik, Verwaltung, Medien und Interessenvertretern (vgl. Wenzler 2009: 11) – im Falle dieser Arbeit geht es um das Politikfeld Kulturpolitik, das heißt die „auf Kultur gerichtete Politik innerhalb eines politischen Systems“ (Wimmer 2011: 84). Die Konstituierung eines Interaktionszusammenhangs wie im Feld der Kulturpolitik definiert sich über inhaltliche, symbolische und institutionelle Bezüge (vgl. Schneider/Janning 2006: 158).

Pappi (1993: 90 ff.) bezeichnet ein symbolisches Bezugssystem als konstituierend für ein Politikfeld. Dabei kann es sich um ein Gesetzeswerk handeln, wie etwa das Sozialgesetzbuch für die Sozialpolitik in Deutschland, aber auch ein Grundgesetz-Artikel, wie im Falle der Kulturpolitik Art. 5 zur Kunstfreiheit. „Solche Symbolsysteme garantieren Gemeinsamkeiten der Problemsicht, die die Interaktion der Beteiligten erleichtern, ohne dass sie Interessenskonflikte hinsichtlich der konkreten Policies verhinderten.“ (Pappi 1993: 92) Auf der Ebene der Policy können sich Akteure des Politikfelds Kulturpolitik beispielsweise darüber streiten, welche Vorstellungen sie von ihrer Umsetzung haben, das heißt, ob diese zum Beispiel eine reine Kulturpflege oder eine aktivierende Kulturpolitik, wie etwa unter dem Motto „Kultur für alle“, sein soll (vgl. Klein 2009: 30). Das Politikfeld der Kulturpolitik in Deutschland wurde im Rahmen dieser Arbeit bereits in Kapitel 3 genauer vorgestellt.

Spezifische Politikfelder in spezifischen politischen Systemen können nie losgelöst von den historisch entstandenen und von den politischen Akteuren der Vergangenheit und auch der Gegenwart geprägten institutionellen Strukturen und den dadurch gegebenen Akteurskonstellationen gesehen werden. Nach Pappi (1993) ist der Begriff des ‚Politikfelds‘ dem Begriff des ‚Policy-Netzwerks‘ (siehe Abschnitt 5.1.2.) ziemlich nah, „weil ein Teilbereich aus dem größeren politischen Zusammenhang herausgegriffen wird mit der Behauptung, die Entscheidungsbedingungen hätten eine gewisse Unabhängigkeit von den Bedingungen in anderen Teilbereichen“ (Pappi 1993: 91).

Die verschiedenen Politikfelder in ein und dem gleichen politischen System unterscheiden sich, zumindest zu einem gewissen Grad, in den Entscheidungsstrukturen und -prozessen voneinander (vgl. Pappi/König/Knoke 1995: 32), zum Beispiel sind die Beziehungen und die Formen der Zusammenarbeit zwischen staatlichen Akteuren und Interessengruppen je nach Politikfeld recht unterschiedlich. Daher werden i. d. R. auch die Steuerungsziele, -instrumente und -techniken (siehe Abschnitt 5.1.5 und 5.1.6.) zu einem gewissen Grad als politikfeldabhängig wahrgenommen. (vgl. Wenzler 2009: 15)

Im Rahmen dieser Arbeit interessieren diejenigen Teilsysteme des politischen und des Verwaltungssystems, die das Politikfeld Kulturpolitik bilden. Sie sind das Ausgangsfeld für die Analyse institutioneller Zuständigkeiten und Handlungsgeflechte (vgl. Windhoff-Héritier 1987: 22). Ein Politikfeld weist häufig typische Problemstrukturen auf. Diese sind für die vorliegende Analyse von den systemisch-strukturellen Besonderheiten des Mehrebenensystems der Politik insgesamt in Deutschland zu trennen (siehe Abschnitt 5.1.4.).

5.1.4 Institutionen und Strukturen

Auch der Begriff ‚Institution‘ muss in diesem Rahmen für die Verwendung in dieser Arbeit genau definiert werden: Institutionen im Allgemeinen haben in einem Akteursfeld strukturierende und regulierende Funktion. In dieser Arbeit interessieren vor allem ‚politische Institutionen‘, worunter „Regelsysteme der Herstellung und Durchführung verbindlicher, gesamtgesellschaftlich relevanter Entscheidungen“ (Göhler 1994: 22) oder zumindest Entscheidungsgrundlagen zu verstehen sind. Sie stehen im Zentrum der Betrachtung der Polity-Dimension von Politik und verteilen politische Macht, Befugnisse, Pflichten und Aufgaben zwischen den politischen Akteuren (vgl. van Waarden 2003: 265 f.). Institutionen sorgen in modernen politischen Systemen dafür, dass Interessenkonflikte regelhaft und gut strukturiert, kollektiv verbindlich geklärt werden können (vgl. Schneider/Janning 2006: 140). Politische Institutionen können zum einen unterschieden werden nach einerseits unmittelbar mit den in ihnen handelnden Akteuren verbundene Institutionen, die also zugleich Organisationen sind, und andererseits Normsystemen, wie Verfassungen, die einen systematisch nachgeordneten Akteursbezug haben (vgl. Göhler 1994: 23). Zum anderen gibt es neben formellen Regeln (Verfassungen, Gesetze usw.) auch informelle Arrangements, soziale Normen, die von den beteiligten Akteuren im Allgemeinen beachtet werden und die daher die Prozesse in einem Politikfeld mitstrukturieren. Wichtige politische Institutionen im Kontext dieser Arbeit sind etwa das Auswärtige Amt oder die Kultusministerkonferenz der Länder. Es gibt darüber hinaus immaterielle politische Institutionen, wie das Grundgesetz, die zu beachten sind (vgl. Blum/Schubert 2009: 68). Eine Institution in diesem Sinne ist aber auch das vereinbarte Verfahren zur Umsetzung der Konvention in Deutschland, koordiniert von der Deutschen UNESCO-Kommission.

Analytisch wichtig ist die Frage nach der Funktion von Institutionen. Erstens regulieren politische Institutionen politische Prozesse – von der Willensbildung, über die Entscheidung bis zur Implementierung. Zweitens regeln sie den Zugang im jeweiligen Politikfeld: Wer ist an den politischen Prozessen wie beteiligt? Aber auch: Welche Themen, Probleme und Lösungen finden Eingang in die Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse? (vgl. Blum/Schubert 2009: 69) Eine dritte Funktion ist eher immateriell, da weniger formell und nicht so ganz greifbar: Institutionen wirken identitäts- und sinnstiftend. Als markanteste Beispiele für diese Funktion werden i. d. R. Verfassungen, wie das deutsche Grundgesetz, genannt. Im Rahmen dieser Arbeit trifft diese Funktion aber auch auf die Organisation UNESCO in ihrer institutionellen Funktion zu, denn Umfragen belegen, dass sie als sinnstiftend wahrgenommen wird. Die vierte, und vielleicht wichtigste, Funktion von politischen Institutionen, ist die Ermöglichung kollektiver Entscheidungsfindung. (vgl. Blum/Schubert 2009: 70 und van Waarden 2003: 266) Schubert/Bandelow betonen die Funktionalität von Institutionen als auf Dauer gestellte Problemlösungen (vgl. Schubert/Bandelow 2009: 17). Schneider/Janning sprechen von folgenden grundsätzlichen Aufgaben von institutionellen Regelsystemen:

„Sie konstituieren korporative Akteure mit entsprechenden Mitgliedschaftsregeln und Kompetenzzuteilungen für die Organisationsmitglieder. Darüber hinaus definieren sie Anlässe und Arenen für die Interaktion zwischen Akteuren und geben bestimmte Entscheidungsregeln für die Steuerung und Koordination dieser Interaktion vor.“ (Schneider/Janning 2006: 93)

Politische Akteure betrachten Institutionen als relevant, weil sie sich in diesem Rahmen als unterschiedlich und zugleich füreinander bedeutsam wahrnehmen. Es wäre aber gefährlich Institutionen als allzu deterministisch aufzufassen, da Handlungen und politische Prozesse durchaus auch außerhalb ihres Rahmens stattfinden können bzw. ihrem Einfluss entzogen sind. Außerdem bleibt den Akteuren auch innerhalb des institutionellen Rahmens stets ein gewisser Entscheidungsspielraum. (vgl. Schneider/Janning 2006: 93). Denn immer zu bedenken bleibt: Innerhalb von Institutionen handeln Akteure (siehe Abschnitt 5.1.1.). Institutionen definieren ein „Repertoire mehr oder weniger akzeptabler Handlungsverläufe, was den strategischen und taktischen Entscheidungen der Akteure erheblichen Raum läßt“ (Scharpf 2000: 83).

Mit dem Begriff ‚Institution‘ bezeichnet man i. d. R. etwas Absichtsvolles. Hinter dem Begriff ‚Struktur‘ steckt dagegen keine konkrete Absicht, er umfasst aber auch Institutionen. (vgl. Blum/Schubert 2009: 68) Policy-Making findet in Deutschland in einer Struktur bzw. einem institutionellen Rahmen eines Mehrebenensystems statt (multilevel governance). Darunter versteht man, dass „mehrere staatliche Ebenen an den Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen beteiligt sind“ (Schubert/Klein 2006: 194) und zusammenwirken. Während nahezu alle demokratischen politischen Systeme als Mehrebenensysteme betrachtet werden müssen – weil praktisch keine staatliche Aufgabe ohne externe Effekte auf anderen Ebenen zu erledigen ist (vgl. Benz 2004: 127 f.) –, ist der Mehrebenencharakter in föderativen Staaten besonders ausgeprägt. Typisch ist, dass die Hierarchien in vielen Politikfeldern nicht ganz eindeutig abgrenzbar sind und somit undurchschaubar wird, welche Ebene die politische Verantwortung für eine Entscheidung trägt. Auch eine relativ starke Rolle von Nichtregierungsorganisationen wird konstatiert (vgl. Benz 2009: 14, 17 f.). Aus der Governance-Perspektive gilt:

„Politische Mehrebenensysteme werden […] weder von einem Zentrum aus regiert, noch werden öffentliche Aufgaben nach Ebenen getrennt innerhalb von staatlichen Gebietseinheiten erfüllt. Regieren beruht auf dem Zusammenwirken von inter- und intragouvernementalen Strukturen und Prozessen.“ (Benz 2009: 15)

Deutschland gilt als Musterbeispiel eines Mehrebenensystems, dem durch eine enge Verschränkung der Ebenen die Gefahr von Blockaden droht (vgl. Benz 2009: 103). „Bund, Länder und Gemeinden agieren nicht sektoral, nach Politikbereichen voneinander getrennt, sondern sie nehmen Gesetzgebung, Planung, Verwaltung und Finanzierung gemeinsam wahr.“ (Kropp 2010: 15) Dem System der Bundesrepublik Deutschland wird daher nachgesagt, politische Prozesse zu verlangsamen sowie tendenziell ineffizient und intransparent zu sein (vgl. Eppler 2011: 707). Wenn die gliedstaatlichen Ebenen zur Zusammenarbeit gezwungen sind, weil sich alle Beteiligten bei wichtigen Entscheidungen einigen müssen, wird die Struktur – zunächst speziell in Deutschland, später aber auch in der Europäischen Union und inzwischen als typische Eigenschaft föderativer Systeme erkannt – seit Scharpfs Forschungen (1976) maßgeblich als „Politikverflechtung“ bezeichnet – mit Benz (2009) positiver, allerdings in Ermangelung eines passenden deutschen Begriffs als „joint decision-making“. Politikverflechtung ist also ein wesentliches Merkmal von Mehrebenensystemen. Von den damit verbundenen institutionalisierten Zwangsverhandlungssystemen abgrenzen kann man die grundsätzlich „freiwillige“ Form der Zusammenarbeit von Gliedstaaten im Bundesstaat, bezeichnet als „kooperativer Föderalismus“ (vgl. Kropp 2010: 237), der in Mehrebenensystemen mindestens genauso weit verbreitet ist.

Zunächst aber noch einmal eingehender zur Politikverflechtung: Die Theorie ist eine der wesentlichen Referenzen der Forschung zum deutschen Regierungssystem und Föderalismus und ermöglicht einen genauen Einblick in die Eigenarten der föderalen Problembearbeitung in der Bundesrepublik (vgl. Benz 2016: 37, Kropp 2010: 9, Scheller 2008: 31). Eine Reduzierung der Theorie auf die Aussage, dass durch diese Struktur Entscheidungen blockiert werden und Outputs sowie Outcomes (siehe Abschnitt 5.1.7.) prinzipiell unzureichend sind, ist allerdings nicht adäquat (vgl. Scheller 2008: 25). Die Theorie besagt nämlich vielmehr, dass sich die Bundesrepublik Deutschland durch eine sehr ausgeprägte vertikale und horizontale Differenzierung der Entscheidungsstrukturen auszeichnet, zugleich aber eine Tendenz zu einer diese institutionelle Differenzierung wieder überbrückenden prozessualen und inhaltlichen Politikverflechtung hat (vgl. Scharpf 1976: 13, 18 f.). Es gibt in Deutschland tatsächlich eine ganze Reihe von freiwilligen und verbindlich vorgeschriebenen Kooperationsformen (vgl. Kropp 2010: 11). Zwar stimmt es, dass Vetomöglichkeiten der miteinander verflochtenen Akteure prinzipiell existieren, aber ob diese die Verflechtung nicht eher für die komplexen Problemlagen angemessene Verhandlungs- und Entscheidungsrahmen nutzen statt sich gegenseitig zu blockieren, ist empirisch jeweils zu untersuchen (vgl. Kropp 2010: 9 f.), wie es auch im Rahmen dieser Arbeit erfolgen wird. Vetos und entsprechend folgende Blockaden sind meist nur ein Drohpotenzial in Verhandlungen – faktisch wird sich i. d. R. geeinigt (vgl. Benz 2004: 134). In der Forschungsliteratur, anders als in der Politikpraxis bzw. der medialen Berichterstattung über diese, dominiert die Auffassung, dass „Politikverflechtung ein konstitutives Merkmal von Bundesstaatlichkeit darstellt und zugleich eine essenzielle Voraussetzung für die föderale Problemlösungsfähigkeit von Bund und Ländern bildet“ (Scheller/Schmid 2008: 8). Als positiven bzw. ermöglichenden Aspekt der Politikverflechtung stellt Scheller (2008: 27 f.) insbesondere das Vorhandensein von Diskurs- und Kommunikationsforen zum Austausch sowie zur Informationsverbreitung und -verarbeitung heraus. Zusätzlich weist er zurecht darauf hin, dass die Politikverflechtung gerade in Deutschland auch „einer auf Ausgleich und Einheitlichkeit gerichteten politischen Kultur“ (Scheller 2008: 29) gut entspreche. (vgl. auch Kropp 2010: 16 f.) Und letztlich fragt Scheller (2008: 30), ob aus funktionalistischen Erwägungen, nämlich der Möglichkeit der Mitwirkung und Interessenvertretung es für Ländern und Kommunen, nicht gerade wünschenswert sei, sich in Verflechtungsstrukturen einbetten zu lassen.

Die Verflechtungsstrukturen sind – u. a. je nach Politikfeld – durchaus vielfältig und haben variable Muster (vgl. Scheller/Schmid 2008: 8, Benz 2016: 38). In dieser Arbeit interessieren die vertikale Politikverflechtung, d. h. wie Bund und Länder sowie auch zum Teil Gemeinden im Bereich der Exekutive gemeinsam die Politik zum Immateriellen Kulturerbe betreiben, aber auch Formen der horizontalen Politikverflechtung bei der Länderkooperation, die auf lange geübter Praxis basiert. Die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern und ihre Kompetenzabgrenzung ist i. d. R. im Grundgesetz geregelt (vgl. Benz 2016: 60 f.), im vorliegenden Fall der Umsetzung der UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe in Deutschland basiert sie allerdings auf einer mehr oder weniger informellen Absprache (s. u.). Die Kulturpolitik ist ein Bereich, in dem die Länder nach Artikel 70 des Grundgesetzes die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz haben. Daraus wird die ‚Kulturhoheit‘ der Länder gefolgert. Trotzdem ist im kooperativen Bundesstaat, der Deutschland weitgehend ist, eben die Zusammenarbeit und Koordination der Länder gefragt. Solidarität und bundesfreundliches Verhalten sind in der politischen Kultur weitgehend verinnerlichter Konsens der Akteure (vgl. Kropp 2010: 15). Der faktische Kooperationszwang entsteht, weil implizit und zum Teil auch explizit vorausgesetzt wird, dass möglichst die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und eine einheitliche Rechtsordnung herzustellen seien (vgl. Benz 2009: 103). Dies geschieht in der Kulturpolitik weitgehend über die mit einem eigenen Sekretariat ausgestattete Ständige Konferenz der Kultusminister in der Bundesrepublik Deutschland (kurz: Kultusministerkonferenz) – inzwischen mit einem eigenen ministerialen Gremium der für Kultur zuständigen Minister, der Kulturministerkonferenz (Kultur-MK).

Die Untersuchung politikfeldspezifischer Problemlösungsprozesse in der Policy-Forschung vernachlässigt häufig tendenziell den föderalen Staatsaufbau als „zentrale machtpolitische Dimension“ (Scheller/Schmid 2008: 7) – dies soll in dieser Arbeit vermieden werden. Da es sich bei der Umsetzung der UNESCO-Konvention aber zweifellos um internationale Kulturpolitik handelt – und damit, wie in vielen Fällen, um eine Aufgabe, die nicht eindeutig einer politischen Ebene zuordenbar ist –, ist in jedem Fall die Kooperation der Länder mit dem Bund erforderlich, der nach Art. 32 des Grundgesetzes für auswärtige Angelegenheiten zuständig ist. Hierzu haben sich Bund und Länder 2012 auf ein Umsetzungsmodell geeinigt, welches im Verlauf dieser Arbeit vorgestellt wird (siehe Abschnitt 6.2.2.).

Eine dabei noch zu untersuchende Frage ist, ob die Umsetzung der UNESCO-Konvention in Deutschland eher Gefahr läuft in die „Politikverflechtungsfalle“ zu tappen, also durch Probleme der Konfliktregelung bzw. Konsenserfordernisse zu unbefriedigenden, ineffizienten oder gar keinen Ergebnissen kommt und daraus auch keinen Ausweg findet, oder ob der – erfolgreich kooperierende und sich dynamisch an veränderte Bedingungen anpassende – kooperative Bundesstaat als Modell dominiert. Als Ausweg aus der „Politikverflechtungsfalle“, wenn man sie denn konstatiert, wird die Verlagerung von Entscheidungen auf Beratungs- oder Expertengremien gesehen. Ziel dieses Vorgehens ist, die Debatten zu versachlichen und ‚neutrale‘ Empfehlungen einzuholen (vgl. Benz 2016: 52, 63 f.) und damit das potenzielle Konfliktniveau verflochtener Strukturen zu senken (vgl. Kropp 2010: 25). „Solche Gremien sollen Lösungen vorbereiten und diese aufgrund ihres Sachverstands mit Legitimation ausstatten.“ (Kropp 2010: 26) Dadurch, dass diese Lösungen aber regelmäßig noch parlamentarische Verfahren durchlaufen bzw. Bestätigung durch die Exekutive erfahren müssen, sind der Externalisierung von Entscheidungen natürlich Grenzen gesetzt. (vgl. Kropp 2010: 26) Experten haben nichtsdestotrotz in dieser Struktur eine einflussreiche Stellung, weil sie anders als die staatlichen Akteure und Verbandsvertreter autonom agieren können (vgl. Benz 2004: 133). Auch die Frage, ob die Umsetzung der UNESCO-Konvention Elemente von Wettbewerbs- oder Konkurrenzföderalismus, die dem kompetitiven Marktmodell folgen (vgl. Müller/Singer 2004: 38) – nämlich der Wettstreit um adäquate (vgl. Hildebrandt/Wolf 2008: 369) bzw. ‚beste‘ Problemlösungen und gute sowie innovative Politik (vgl. u. a. Benz 2009: 75 ff., 219) – beinhaltet, ist der Untersuchung wert. Benz (2009) spricht im Mehrebenensystem in diesem Zusammenhang von Leistungswettbewerb. Dabei sind keine (gemeinsamen) Entscheidungen zu treffen – es handelt sich um eine ‚weiche Form‘ der Koordinierung, die „wechselseitiges Lernen über beste Praktiken zwischen den Gebietskörperschaften“ (Benz 2009: 219) hinsichtlich Strukturen und Politikinhalten sowie Innovationen u. a. auch dahingehend fördert, dass zum Teil neue Akteure beteiligt werden (vgl. Benz 2009: 226; siehe auch die Ausführungen zur Theorie des politischen Lernens in Abschnitt 5.2.4.).

Zwar kann man Mehrebenenpolitik eigentlich nur im Zusammenspiel zweier Ebenen eingehend untersuchen – in der vorliegenden Arbeit der Bund und die Länder –, ergänzend betrachtet werden soll als „Juniorpartner“ und „Kontextesteuerer“ (vgl. Benz 2009: 92) noch die Rolle der Kommunen. Die sonst häufig noch betrachtete europäische Ebene kann in diesem Fall außen vor bleiben, weil die Internationalisierung sich in diesem Feld anders ausdrückt. Die UNESCO-bedingte Internationalisierung verändert allerdings auch in diesem Fall den Referenzrahmen der Kooperation im deutschen Bundesstaat sowie die Verhältnisse zwischen Bund und Ländern. Sie erweitert zudem potenziell strategische Optionen für alle Akteure, indem etwa die im internationalen Rahmen getroffenen Entscheidungen übernommen oder sich an ihnen orientiert werden kann oder aber auch Probleme externalisiert werden können (vgl. Benz 2016: 45, 64).

Eine zu prüfende These für die vorliegende Arbeit ist, dass das Handeln der Akteure bei der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes vor allem von kooperativen Motiven geprägt ist – unter anderem, weil der Parteienwettbewerb in diesem Politikfeld allgemein schwach ausgeprägt ist und es beim Immateriellen Kulturerbe im Speziellen weitgehend keine Verteilungsprobleme gibt, allerdings durchaus einige durch Werte und Ideologien aufgeladene Konflikte (vgl. Benz 2016: 35 ff., 39 f.).

5.1.5 Instrumente, Programme und Strategien

Ein Instrument bzw. Steuerungsinstrument ist ein zentrales Element politischer Gestaltung, welches die Akteure und/oder Institutionen (vgl. Abschnitt 5.1.1. und 5.1.4.) zur Verfolgung ihrer Ziele bzw. der politischen Entscheidungen einsetzen. Gemeint sind i. d. R. vor allem externe Steuerungsinstrumente, die also nicht verwaltungsintern wirken, sondern auf das Verhalten der Programmadressaten, das heißt Bürger, Institutionen, Organisationen usw. zielen. (vgl. Schubert 1991: 172) „Als Instrumente staatlichen Handelns sollen sie soziale Prozesse allgemein und individuelles oder Organisationsverhalten im Besonderen beeinflussen.“ (Braun/Giraud 2003: 149)

Zunächst sind Steuerungsinstrumente von Programmen abzugrenzen: „Politische Programme dienen dazu, politische Strategien in instrumenteller Form zur Beseitigung erkannter Defizite einzusetzen.“ (Schubert 1991: 162 ff.) Programme sind also in der Politikfeldanalyse, anders als in der politisch-administrativen Praxis, wo Instrumente und Programme weitgehend synonym verwendet werden, umfassender zu verstehen. Sie umfassen Ziele, Mittel und Wege und haben immer einen konkreten Problembezug. (vgl. Blum/Schubert 2009: 82 sowie Schubert 1991: 165) „Ein Programm bestimmt […] nicht nur Handlungsziele, es legt auch Adressaten und für die Durchführung Verantwortliche fest und strukturiert die Beziehung zwischen ihnen und weiteren Interessengruppen vor.“ (Mayntz 1980: 4) Nach Mayntz (1980: 4) muss man sich allerdings bewusstmachen, dass Programme häufig vom Forscher ex-post konstruiert sind. Sie können auch nur implizit einen Zusammenhang haben und liegen entsprechend nicht unbedingt in ausformulierter Form vor (vgl. Jann/Wegrich 2003: 79). Zwar fungiert der gemeinsame Zielbezug als verbindende Klammer, aber so strategisch, wie es im Nachhinein erscheint, sind Programme in vielen Fällen nicht. In den meisten Fällen ist ein politisches Programm aber mehr als nur ein Gesetz, eine Verordnung oder ein Erlass. Ein Programm kann auch Formate wie die eines Rahmenplans, eines (häufig explizit als Programm bezeichneten) Maßnahmenpakets oder eines Modellversuchs annehmen. (vgl. Schubert 1991: 163, 171)

Nach Jann (1981) enthält ein Programm auf der Inputseite idealtypisch vier Elemente, die Schubert (1991: 163) verkürzt als Ausgangslage, Lösungsteil, Wirkungsteil und Durchführungsteil (gewisse Parallelen zum Policy-Cycle sind erkennbar, vgl. Abschnitt 5.2.3.) bezeichnet:

  • „bestimmte, zur Bearbeitung anstehenden Probleme,

  • mit dem Programm angestrebte Ziele;

  • Annahmen über beabsichtigte Wirkungen und deren Zustandekommen, einen sogen. „Wirkungsteil“ und

  • Angaben über die mit der Durchführung des Programms betrauten Institutionen und deren Aufgaben, einen sogen. ‚Durchführungsteil‘.“ (Jann 1981: 49)

Diese Elemente lohnt es im Detail zu betrachten: Probleme können verschiedener Natur sein. Möglich ist etwa ein Verteilungsproblem, dass also die Verteilung von bestimmten Ressourcen als nicht gerecht oder günstig beurteilt wird. Möglich ist aber auch ein Verhaltensproblem, d. h., dass eine Gruppe von gesellschaftlichen Akteuren sich in einer Weise verhält, die von politischen Akteuren als nicht günstig bzw. förderlich angesehen wird. (vgl. Mayntz 1997: 154 f.) Es sei darauf hingewiesen, dass die Problemwahrnehmung und -definition nicht objektiv gegeben, sondern ein sozial konstruierter und selektiver Prozess ist. Ein Problem besteht objektiv meist schon länger, bevor es auf die politische Agenda kommt (vgl. Howlett/Ramesh/Perl 2009: 93 ff.). Schubert (1991: 163) spricht, wie oben gezeigt, abstrahiert von der Charakterisierung der Elemente nach Jann (1981) von Ausgangslage, was es häufig vielleicht besser trifft – jedoch wird in der Politikfeldanalyse i. d. R. von Problemen gesprochen. Sie sind die Initialzündung für die Entwicklung von Programmen. Die Politikfeldanalyse bleibt aber nicht bei problemorientierter Forschung stehen, sondern, sobald das Problem identifiziert, analysiert und effektive Lösungen gefunden sind, kommt die von Scharpf „interaktionsorientierte Policy-Forschung“ genannte Ausprägung zum Tragen, die die Interaktion zwischen mehreren zweckgerichtet handelnden politischen Akteuren erforscht (vgl. Scharpf 2000: 33 f.).

Mit politischen Programmen sind, wie im zweiten der vier Elemente von Jann (1981: 49) erwähnt, Ziele verbunden. Neben sehr grundsätzlichen Oberzielen, die in Deutschland häufig aus dem Grundgesetz abgeleitet sind, gibt es konkrete Programmziele. Diese sollten konkret angeben, was die Policy-Maker mit dem Programm erreichen wollen. Im Idealfall sind Effektivitäts- und Effizienzindikatoren zumindest grob benannt. Dieser Idealfall liegt selten vor. I. d. R. sind die Ziele zum Teil von Anfang an bewusst, zum Teil auch erst als Ergebnis des Politikprozesses, eher vage, mehrdimensional und ambivalent formuliert.

In Bezug auf die Wirkungen, dem dritten Element nach Jann (1981: 49), kommen die konkreten Instrumente ins Spiel. (vgl. Schubert 1991: 167 ff.) „Ein Instrument ist das konkrete operative Mittel, das innerhalb eines Programms verwendet wird. Steuerungsinstrumente sind (…) sämtliche Möglichkeiten, das Verhalten der beteiligten Akteure so zu beeinflussen, dass die gewünschten politischen Ziele erreicht werden.“ (Blum/Schubert 2009: 83) Bei der Instrumentenwahl zur Beeinflussung gesellschaftlichen Handelns sind der Fantasie im Grunde keine Grenzen gesetzt, aber man kann zwei Hauptgruppen unterscheiden. Bei der ersten geht es um die direkte Sicherstellung wichtiger öffentlicher Güter und Ressourcen. Dazu zählen zum einen staatliche Hoheitsrechte, etwa in der Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, sowie zum anderen das Anbieten von Gütern und Dienstleistungen. In letztere Kategorie fallen etwa die Felder Kultur, Bildung, Forschung, Wohlfahrt, Umweltschutz und Bereitstellung von Infrastruktur. Zum zweiten geht es um die externe Steuerung gesellschaftlichen Handelns. Man unterscheidet hier grob die Hauptkategorien Zwang bzw. direkte Steuerung einerseits und Anreiz bzw. indirekte Steuerung andererseits. Das Steuerungsinstrument „Regulierung“ (Gebot/Verbot) fällt unter direkte Steuerung; „Finanzierung“ (Angebot), „Strukturierung“ (Anreiz) bzw. „prozedurale Steuerung“ und „Überzeugung“ gehören zu den Instrumenten indirekter Steuerung. (vgl. Braun/Giraud 2003: 149 f.) In der Kulturpolitik wird i. d. R. als Mittel der Verhaltenssteuerung Geld verteilt. Kulturförderung im klassischen Sinne ist also dem Instrument „Finanzierung“ zuzuordnen. Der Erhalt kulturellen Erbes ist jedoch ein Fall, in dem vom modernen Staat erkannt wurde, dass private Akteure nicht oder nicht genügend tätig werden, und dass der Staat daher selbst als Anbieter von Gütern und Dienstleistungen – im Sinne des oben genannten ersten Typus von Steuerungsinstrumenten – auftreten sollte (vgl. Braun/Giraud 2003: 151). Das zeigt bereits: Die genaue Zuordnung eines Instruments zu einer Kategorie kann gelegentlich schwerfallen und alle Kategorisierungen sind Idealvorstellungen. Häufig werden in der Realität verschiedene Instrumente miteinander kombiniert, ein sogenannter Instrumentenmix. (vgl. Blum/Schubert 2009: 83 f.) Im Rahmen der Umsetzung der UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe scheint in Deutschland interessanterweise insbesondere das Steuerungsinstrument Überzeugung, das man auch alternativ als Information oder Aufklärung bezeichnen kann, Anwendung zu finden. Doch auch die Instrumente prozedurale Steuerung und Strukturierung müssen im Rahmen dieser Arbeit als Steuerungsprinzipien genauer untersucht werden, da der Staat zum einen den prozeduralen Rahmen für die Umsetzung der Konvention recht deutlich vorgibt (siehe Abschnitt 6.2.) und zum anderen „[di]e Strukturierung […] gezielt dafür eingesetzt werden [kann], die Selbstorganisation von gesellschaftlichen Akteuren zu fördern, dabei aber Zugangs- und Beteiligungsrechte sowie Entscheidungsverfahren zu beeinflussen“ (Braun/Giraud 2003: 155).

Jann (1981: 62 f.) differenziert, etwas abgewandelt zur eben dargestellten Kategorisierung, nur regulative, finanzielle und informationelle Instrumente. Regulative Instrumente sind Gebots- und Verbotsnormen, aber auch Erlaubnisse. Hierzu zählen in der Praxis etwa Gesetze und Verwaltungsakte. Finanzielle Instrumente sind zum Beispiel finanzielle Transfers, Anreize, Abgaben oder auch die Schaffung künstlicher Märkte (z. B. durch Bildungsgutscheine). Informationelle Instrumente sind Informations- und Öffentlichkeitsarbeit zu einem Thema, zum Teil auch als „Informations- und Überzeugungsprogramme“ (Mayntz 1980: 6) bezeichnet. Dazu gehören etwa die Verkündung von Plänen und Programmen (z. B. durch eine Regierungserklärung), symbolische Belohnungen (z. B. Auszeichnungen, Titel usw.) und – in dieser Kategorisierung – auch prozedurale Regelungen bzw. nach Mayntz (1997: 273 ff.) „Interdependenzmanagement“, wie etwa Verfahrensregeln für die Beteiligung an Entscheidungen und Verfahren. Durch die Einwirkung auf Verfahrensmodi versucht der Staat Entscheidungsprozesse zu strukturieren. Er hat in dieser Konstellation keine oder kaum hierarchische Macht, ist manchmal nicht einmal in den Verhandlungssystemen vertreten. (vgl. Braun/Giraud 2003: 150 f., 156, 169) Die prozedurale Steuerung setzt konzeptionell nicht am Ergebnis, sondern am Modus der Entscheidung an (vgl. Offe 1975: 93). „Was entschieden wird in solchen Verhandlungssystemen, kann nicht vom Staat bestimmt werden, aber die Richtung kann durch solche prozedurale Regelungen doch in nicht unbeträchtlichem Maße vorgegeben werden.“ (Braun/Giraud 2003: 169) Es handelt sich mithin um eine Steuerung mit unsichtbarer Hand, ein metaphorisches Bild aus den Markttheorien von Adam Smith. Die vorgegebenen Strukturen „präjudizieren nämlich die Art der getroffenen Entscheidung insofern, als sie das Spektrum der Interessen festlegen, die an ihrem Zustandekommen mitwirken“ (Offe 1975: 93).

In modernen (neo-liberalen und kooperationsorientierten) Staatsmodellen sind die Instrumente Überzeugung, Strukturierung, Privatisierung, Dezentralisierung und Delegation, die auf Empowerment zielen, zunehmend wichtiger gegenüber den im klassischen Interventionsstaat geläufigen Instrumenten direkte rechtliche Regulierung, finanzielle Anreize und bürokratisch-hierarchische Organisation (vgl. Braun/Giraud 2003: 149, 161). Die prozedurale Steuerung wird damit zunehmend zentrales Vorgehen des heutigen staatlichen Handelns, Leistungsprogramme verlieren an Bedeutung. Interessanterweise wird damit Information als Steuerungsinstrument auch zunehmend wichtiger, was erneut auf die Bedeutung eines Instrumentenmixes für die Umsetzung eines Programms verweist. (vgl. Braun/Giraud 2003: 169).

Zurück zu den Elementen eines Programms nach Jann (1981: 49): Im Durchführungsteil der Programme geht es schließlich darum, die konkreten Prozesse und Strategien der Umsetzung festzulegen. Für die Untersuchung in dieser Arbeit wird zwischen Programmen und Strategien nicht bewusst differenziert, da eine genaue Typisierung der Instrumente bzw. Maßnahmen nicht Ziel dieser Untersuchung ist, und der Zusammenhang zudem, wie gezeigt, i. d. R. sehr eng ist. Festgelegt werden muss im Durchführungsteil auch, welche Akteure überhaupt mit der Implementation des Programms beauftragt sein sollen und welche Aufgaben sie haben sollen. Das Programm ist zwar durch die oben genannten Dimensionen vorstrukturiert, aber die konkret handelnden Akteure beeinflussen es durch ihre eigenen Motivationen und Wertvorstellungen mit. Dies wird sich in der Theorieauswahl für die Untersuchung dieser Arbeit niederschlagen (siehe Abschnitt 5.2.1.). Auch die grundsätzlich für die Umsetzung des Programms vorhandenen (personellen und technischen) Ressourcen bestimmen die konkrete Ausgestaltung mit. Schließlich ist wichtig zu betrachten, welche Handlungsspielräume – Kooperationsmöglichkeiten und -zwänge sowie Abhängigkeiten von anderen Instanzen – den Akteuren gelassen werden. (vgl. Schubert 1991: 170 f.)

In der vorliegenden Untersuchung muss hinsichtlich der Instrumente unterschieden werden zwischen dem Haupt-Instrument der Umsetzung der Konvention im nationalen Rahmen, also dem Instrument im engeren Sinne – dem Bundesweiten Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes mit Bewerbungsverfahren, Auszeichnung von Einträgen, Logovergabe usw. – und den darüber hinaus und flankierend wirkenden Strategien der Akteure und die entsprechenden Instrumente, wie etwa Forschungsprogramme, Tagungen von Nichtregierungsorganisationen, Verbänden usw. und auch der Bereitstellung kultureller Infrastruktur, die einen Anreiz bietet, sich mit kulturellem Erbe zu beschäftigen (vgl. Braun/Giraud 2003: 152). Untypisch bei der Umsetzung der Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes ist im Übrigen: Das wohl wichtigste Instrument, nämlich die Erstellung von nationalen Verzeichnissen, ist den Staaten durch die gemeinsame Grundlage UNESCO-Konvention bereits vorgegeben. Allerdings beinhaltet die genaue Form des Einsatzes – z. B. als sehr sichtbare Auszeichnung, als relativ unscheinbare Listung, als nationales Verzeichnis oder als mehrere regionale und/oder thematische Verzeichnisse usw. – dann doch wieder eine konkrete Instrumentenwahl (siehe Kapitel 4).

5.1.6 Steuerung und Governance

Unter Steuerung versteht die Politikwissenschaft die „(Fähigkeit zur) konzeptionell orientierten Gestaltung der gesellschaftlichen Umwelt durch politische Instanzen“ (Mayntz 1997: 189). Bei der Verwendung des Begriffes muss man sich stets zum einen bewusstmachen, wer das Steuerungssubjekt, d. h. „Wer steuert?“, und wer bzw. was das Steuerungsobjekt, d. h. „Wer oder was soll gesteuert werden?“, ist. Zum anderen muss man unterscheiden, ob man Steuerung als Art des Handelns, als Prozess oder als Systemfunktion begreift. Zum Steuerungsbegriff gehört auch eine Intention, d. h. ein Steuerungsziel. Darunter können wir im Allgemeinen eine gewisse Zustandsänderung des als Steuerungsobjekt definierten Systems verstehen. Und schließlich braucht es Maßnahmen, also Steuerungsinstrumente (siehe Abschnitt 5.1.5.), die unter Beachtung von intendierten Wirkungsbeziehungen das Steuerungsziel erreichen sollen. (vgl. Mayntz 1997: 190 ff.)

Steuerung und Koordinierung sind die zentralen Funktionen von Regieren und Verwalten (vgl. Benz 2004: 18). Steuerung im Sinne von Governance ist die Art und Weise, wie eine Gesellschaft regiert wird. Die konkreten Steuerungsinstrumente finden sich demgegenüber auf der Ebene von Government – sie sind zentraler Bestandteil der Steuerungstätigkeit des Staates. (vgl. Braun/Giraud 2003: 147 ff.) Unter Government versteht man die autonome Tätigkeit von Regierungen, unter Governance „netzwerkartige Strukturen des Zusammenwirkens staatlicher und privater Akteure“ (Benz 2004: 18; vgl. auch Abbildung 5.1). Das heißt: Governance meint nicht-hierarchische und nicht lediglich durch staatliche Akteure betriebene Steuerung, jedenfalls aber immer absichtsvolles Handeln im öffentlichen Interesse (vgl. Mayntz 2004: 66 f.). Während eine Steuerung im Government-Sinne, zumindest wenn man von der Perspektive des Steuerungssubjekts ausgeht, keine freiwillige Handlungskoordination und horizontale Abstimmung gleichberechtigter Akteure beinhaltet (vgl. Mayntz 1997: 192), geht der Governance-Begriff weiter: „In der Policy-Forschung beschreibt [er] treffend die Besonderheiten des kooperativen Staats, in dem zivilgesellschaftliche Akteure an der politischen Steuerung mitwirken und somit die Grenzen zwischen Steuerungssubjekten und Steuerungsobjekten verschwimmen.“ (Schneider/Janning 2006: 163)

Abbildung 5.1
figure 1

Government und Governance als Perspektiven der Politikwissenschaft. (Eigene Darstellung nach Benz 2004: 21)

Hinzu kommt auch die ebenenübergreifende Zusammenarbeit staatlicher Akteure in Mehrebenensystemen (vgl. Benz 2004: 24). Der Staat muss sich also innerhalb bzw. zwischen den verschiedenen Ebenen, auf denen er wirkt – von der Kommunen bis zur zwischenstaatlichen internationalen Zusammenarbeit –, koordinieren und zugleich, weil die Komplexität menschlicher Interaktion in verschiedenen gesellschaftlichen Subsystemen nicht mehr rein durch staatliche Aktivitäten zu bewältigen ist, muss er „seine hierarchische und patriarchalische Struktur transformieren und politische Verantwortung mit privaten und zivilgesellschaftlichen Akteuren teilen“ (Leibfried/Zürn 2006: 36).

In der politischen Praxis wurde der Begriff Governance seit den 1980er Jahren normativ aufgeladen. Good Governance wurde zum einen zu einem Ziel und oft auch Bedingung von Entwicklungshilfe. Zum anderen verwenden ihn neoliberale Regierungen mit dem Ziel staatliche Steuerung zurückzudrängen und öffentliche Leistungen zu privatisieren. (vgl. Benz 2004: 18) Governance bezeichnet im neutralen, engeren Sinne aber nur einen Vorgang, nämlich die Steuerung eines Systems. Es geht in einem politischen System um alle Steuerungs-, Koordinations- und Regelungsaktivitäten in Interaktion und Kooperation zwischen Regierungen, Verwaltungen und privaten Akteuren. Der Begriff beschreibt aber auch die Realität des komplexen Regierens in Gesellschaften, in denen Staat und Gesellschaft sowie Nationalstaat und internationale Umwelt sich steuerungslogisch kaum noch abgrenzen lassen. (vgl. Benz 2004: 5, 16) Steuerung erfolgt dabei nur äußerst selten mit autoritären Mitteln, i. d. R. geschieht sie durch Interaktionen der Akteure; selbst dezentrale Steuerung, durch sehr viele Akteure und unterschiedliche Mechanismen, ist möglich. Stets basiert die Steuerung auf individuellen Handlungen von Akteuren und vor allem institutionellen Arrangements. Auch ein Netzwerk kann Steuerungsfunktion haben. (vgl. Schneider/Janning 2006: 163 f.) Dieses kann von den staatlichen Akteuren sogar explizit aufgesetzt werden, um bessere Steuerungsleistungen zu erzielen als dies mit hierarchischer Steuerung denkbar wäre. In diesem Fall kann man das Policy-Netzwerk auch als Steuerungsstrategie verstehen. (vgl. Mayntz 1997: 202)

Der kooperative Staat (vgl. Mayntz 2004: 69 und siehe Abschnitt 5.1.2.) mit seinen netzwerkartigen Strukturen aus staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren spielt in dieser Arbeit eine wichtige Rolle: Bei der Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes setzt der Staat stark auf einvernehmliche Zusammenarbeit der verschiedenen staatlichen Ebenen sowie auch mit gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen (vgl. Jann/Wegrich 2003: 74).

Im Zusammenhang mit dem analytisch-erklärenden Ziel der Arbeit, die Black Box der Entscheidungsfindung im Politikfeld zu erschließen, lohnt sich ein Blick auf die Unterscheidung von Theodore J. Lowi (2009), der verschiedene politische Arenen, in denen Politik gemacht wird, identifiziert hat: die distributive, die redistributive, die regulative und die konstitutive Politik. In letzteren beiden Formen versucht der Staat mit verschiedenen Instrumenten menschliches Verhalten zu steuern, ohne eine Leistung im engeren Sinne bereitzustellen. Dies geschieht auf der Ebene normativer Beeinflussung zwischenmenschlichen Verhaltens. Beispiele sind etwa Diskriminierungsverbote gegenüber Frauen oder gegenüber religiösen und ethnischen Minderheiten. Wir interessieren uns besonders für eine Subform der konstitutiven Politik, die selbst-regulative Politik, die viele Merkmale aufweist, die auf die Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes in Deutschland zuzutreffen scheinen. Im Rahmen einer selbst-regulativen Politik gewährt der Staat gesellschaftlichen Organisationen relative Selbstständigkeit, es ist also den gesellschaftlichen Akteuren vom Staat erlaubt, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln und diese Regeln zu implementieren. Bei der Entwicklung und Umsetzung der Politik wird auf direkte staatliche Eingriffe verzichtet und auch die staatliche Kontrolle ist marginal. Dies geschieht natürlich innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens. Gelegentlich werden die so erzielten Politikergebnisse dann auch noch von den staatlichen Stellen offiziell legitimiert. (vgl. Schubert 1991: 61 ff., Windhoff-Héritier 1987: 41)

5.1.7 Policy-Output, -Impact und -Outcome

Soll die gestaltende Wirkung von Politik untersucht werden, was diese Arbeit anstrebt, „müssen auch der Policy-Outcome sowie die langfristige Policy-Wirkung betrachtet werden, da beide wesentlich von dem Policy-Output abweichen können“ (Schneider/Janning 2009: 63, vgl. Sabatier 1993: 117). Unterschieden werden muss, unter Rückgriff auf das vergangene Unterkapitel, zwischen Steuerungshandeln und Steuerungswirkung (vgl. Mayntz 1997: 192).

Die Outputs der Politikformulierung sind die Programme (siehe Abschnitt 5.1.5.), das heißt „die staatlichen Interventionen oder Leistungen, mit denen versucht wird, das Verhalten von Akteuren zu verändern“ (Jann/Wegrich 2003: 80). Unter Policy-Outputs versteht man im Allgemeinen vor allem die Ergebnisse der Politikformulierungsphase, also die direkt auf die durchführenden Akteure zurückzuführenden Aktivitäten, d. h. das Steuerungshandeln. (vgl. Jann 1981: 26) Outputs vermögen meist noch nicht direkt die Lösung der durch die Maßnahmen behandelten Probleme herbeizuführen.

Policy-Impact sind die Veränderungen, die bei den Adressaten der Politik zu beobachten bzw. zu messen sind, also die mittel- und langfristigen Wirkungen des Programms, wie etwa Veränderungen des Verhaltens von Menschen oder eine veränderte gesellschaftliche Wahrnehmung von Themen (vgl. Windhoff-Héritier 1987: 18). Policy-Outcomes sind die breiter aufzufassenden Auswirkungen der staatlichen Aktivitäten im Gesamtsystem. (vgl. Jann/Wegrich 2003: 80) Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass politische Akteure stets mindestens auf den Impact, also die Wirkungen abzielen. Direkt beeinflussen können sie allerdings nur die Policy-Outputs.

Es gibt einige formale Aspekte, die die Wirkungen von Maßnahmen beeinflussen können, dazu zählt etwa die Langfristigkeit oder die Sichtbarkeit eines Instruments (vgl. Windhoff-Héritier 1987: 185). Eine UNESCO-Konvention ist auf Langfristigkeit angelegt. Die Maßnahmen zur nationalen Umsetzung sind zwar prinzipiell immer wieder anpassbar, haben jedoch ebenfalls eine langfristige Perspektive, die sich an den Zielen des Übereinkommens orientiert. Sichtbarkeit ist in Bezug auf die Umsetzung der UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe in Deutschland von Interesse, denn Sichtbarkeit schaffen für lebendige Traditionen und ihre Bedeutung ist eine der realistisch anzustrebenden Wirkungen der verschiedenen Umsetzungsmaßnahmen. Insbesondere ist die Schaffung von Sichtbarkeit für die konkreten Elemente, die in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen werden, ein Ziel dieses Instruments sowie auch der Umsetzung insgesamt, die das Immaterielle Kulturerbe im Allgemeinen ins Rampenlicht stellen will.

Die Betrachtung der drei Ebenen Output, Impact und Outcome einer Policy entsprechen im Übrigen auch grundsätzlich einem zeitlichen Ablauf bei der Betrachtung eines politischen Programms, so dass sie sich mit Hilfe des Policy-Cycles durchaus gut darstellen lassen (vgl. Abschnitt 5.2.3.).

5.2 Politikfeldanalyse: Theorien und Methoden

Nach der Klärung der Konzepte dieser Untersuchung, stellt sich nun die Frage, auf welche Art die angestrebte Politikfeldanalyse den Forschungsfragen (siehe Abschnitt 1.2.) nachgehen soll: „Die Politikfeldanalyse fragt danach, was politische Akteure tun, warum sie es tun und was sie letztlich bewirken.“ (Schneider/Janning 2006: 5) Sie soll die Konstellation von Akteuren und deren Handeln rekonstruieren. Daher ist sie stets

„interaktionsorientiert, da sie konkrete politische Entscheidungsfindungsprozesse analysiert und das Zustandekommen der in der Praxis verwirklichten Lösung erklärt. Sie ist aber auch problemorientiert, indem sie zu sachadäquaten Lösung politisch-inhaltlicher Fragen beitragen will bzw. nach ‚besten Lösungen‘ sucht.“ (Schubert/Bandelow 2003: 6 f.)

Allgemein interessiert bei der Politikfeldanalyse die Funktionsweise staatlicher Entscheidungssysteme unter dem Einfluss politischer und gesellschaftlicher, d. h. auch privater, Akteure (vgl. Pappi/König/Knoke 1995: 31). Etwas spezifischer geht es als Erkenntnisziel um ein „möglichst differenziertes Verständnis der internen Dynamik, der Eigenart und Ursachen des spezifischen und komplexen Prozesses des Policy-Making“ (Jann/Wegrich 2003: 98).

Diese Fragen können auf verschiedene Weise mit unterschiedlichen Grundannahmen, Theorierahmen, Theorien, Modellen und Methoden angegangen werden. In diesem Abschnitt werden die für die vorliegende Arbeit ausgewählten, zugrundeliegenden Ansätze dargestellt, die der Reflexion und Weiterentwicklung der Praxis dienen sollen (vgl. Schubert/Bandelow 2003: 9), und die Wahl des Modells und der Methoden für diese Untersuchung erläutert.

5.2.1 Theorien in der Politikfeldforschung

Theoretische Modelle beschreiben Kausalmechanismen, die unter weitgehend gleichen Bedingungen bestimmte Wirkungen erzeugen (vgl. Benz 2016: 54). Da gleiche Bedingungen in der Politik nur sehr selten gegeben sind, sind Theorien in der Policy-Forschung weniger verbreitet als in anderen Disziplinen.

„Die Schwierigkeit resultiert aus der extremen Komplexität der Faktoren, die politische Interaktionen beeinflussen. Das macht das Auffinden ‚empirischer Regelmäßigkeiten‘ schwierig und führt auch dazu, daß man selten genügend Fälle hat, um multivariate Hypothesen statistisch zu überprüfen.“ (Scharpf 2000: 41)

Üblich sind daher in der Politikwissenschaft Ex-post-facto-Anordnungen, da Entwicklungen nur im Rückblick ohne Änderung von Bedingungen untersucht werden können, und im besten Fall, wie im vorliegenden, „Quasi-Experimente“, bei denen durch Änderungen von unabhängigen Variablen Änderungen bei der abhängigen Variablen und möglicherweise sogar im gesamten System beobachtet werden können (vgl. Schnell/Hill/Esser 1999: 218 f.). Die Änderung der unabhängigen Variablen ist in diesem Fall ein auf der politics-Ebene angesiedelter neuer Umsetzungsauftrag für die Kulturpolitik in Form der nationalen Umsetzung der für Deutschland neuen UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe.

Man spricht daher in der Politikwissenschaft i. d. R. eher von Ansätzen. Im Vergleich zu einer vollständig ausformulierten Theorie hat ein Ansatz weniger Informationsgehalt, er liefert nur Hinweise für die Suche nach Erklärungen (vgl. Scharpf 2000: 64, 75). Daher gelte, es, weiter nach Scharpf, die theoretische Qualität der Arbeitshypothesen, die nicht von umfassenden Theorien abgeleitet sind, sicherzustellen. Im Falle dieser Arbeit lautet die Arbeitshypothese, dass die Würdigung bzw. Auszeichnung einer Kulturform als Immaterielles Kulturerbe ein kulturpolitisches Instrument darstellt, welches von den am Prozess beteiligten Akteuren mit zum Teil unterschiedlichen Zielen und in unterschiedlicher Intensität sowie verschiedenem Bewusstsein für die damit verbundenen Potenziale genutzt wird.

Eine reine Betrachtung aus der Akteursperspektive würde jedoch nicht genügen, um zu verstehen, wie die übergreifenden Strukturen des Politikfelds Kulturpolitik die Problembearbeitungsprozesse strukturieren (vgl. Blum/Schubert 2009: 38 sowie Schneider/Janning 2006: 76, 117, 157). Schließlich entwickelt sich Kulturpolitik in Deutschland, wenn man die großen Linien betrachtet, recht stringent unabhängig von der politischen Ausrichtung der gestaltenden Akteure. Strukturelle Bedingungen haben also bei der Gestaltung von Politik eine nicht zu unterschätzende, grundlegende Bedeutung. (vgl. Schubert 1991: 138) Generell wird Policy i. d. R. sowohl durch Strukturen als auch durch Akteure geprägt, so dass eine Kombination funktionalistischer Ansätze, bei der die Strukturperspektive im Vordergrund steht, und handlungs- und steuerungstheoretischer Ansätze, bei der die Akteursperspektive dominiert, sinnvoll ist (vgl. Blum/Schubert 2009: 34). Im Kontrast zur quantitativ-vergleichenden Analyse von Staatstätigkeit begreift ein akteur- und strukturzentrierter Ansatz öffentliche Politiken wiederum nicht als bloße Strukturwirkungen, sondern als Interaktionsergebnisse beteiligter Akteure (vgl. Schneider/Janning 2006: 116). Ein akteur- und strukturzentrierter Ansatz hinterfragt also stärker die Interaktionen und Prozessmuster, versucht die Black Box der Entscheidungsfindung aufzuhellen und betrachtet Politik als Prozess von Entscheidungen. Mit der Akteursorientierung wird zugleich betont, dass nicht nur ein singulärer Akteur (wie etwa Staat oder Regierung) für das Politikfeld bedeutend ist, sondern die Interaktion mehrerer Akteure mit ihren Interessen und entsprechend interessensgeleiteten Handlungen in einem Netzwerk für das Politikergebnis verantwortlich ist.

„In einer akteur- und strukturzentrierten Rekonstruktion eines Politikprozesses ist letztlich immer eine vielschichtige Analyse zu leisten, in der begründet wird, warum welche Akteure in spezifischen Konfigurationen mit spezifischen Resultaten in die Produktion einer öffentlichen Politik involviert waren.“ (Schneider/Janning 2006: 85).

Im Ergebnis der vorausgegangenen Erwägungen orientiert sich diese Arbeit am theoretischen Ansatz bzw. analytischen Rahmen des ‚akteurzentrierten Institutionalismus‘. Dieser erhebt nicht den Anspruch, ein systematisches Erklärungsmodell für Policy-Entscheidungen zu sein, aber er will bestimmte vergangene politische Entscheidungen erklären, „um so systematisches Wissen zu gewinnen, dass der Praxis helfen könnte, realisierbare Problemlösungen zu entwickeln“ (Scharpf 2000: 85). Er verbindet effektiv die Betrachtung von Institutionen und individuellen, kollektiven und korporativen Akteuren mit der Konzentration auf Regelungsaspekte für soziale Interaktionen – hierbei werden u. a. die vorherrschenden Interaktionsformen, i. d. R. hierarchische Steuerung oder Verhandlungen, aber auch einseitiges Handeln oder Mehrheitsentscheidungen, und die Beziehungsstrukturen der Akteure untersucht (vgl. Blum/Schubert 2009: 42 ff.). Leitend ist der Gedanke, dass der institutionelle Kontext die Handlungen der Akteure strukturiert und dadurch die Ergebnisse beeinflusst (vgl. Scharpf 2000: 17). Zugleich können aber natürlich Institutionen von Akteuren gestaltet und verändert werden. Trotzdem sind institutionelle Regeln die Hauptquelle der beobachtbaren Regelmäßigkeiten, die für die Erklärungen des Ablaufs der Entscheidungsverfahren und der Politikergebnisse verwendet werden können. (vgl. Scharpf 2000: 41 f., 78; vgl. auch Abbildung 5.2)

Abbildung 5.2
figure 2

Gegenstandsbereich der interaktionsorientierten Policy-Forschung. (Eigene Darstellung nach Scharpf 2000: 85)

Der ‚akteurzentrierte Institutionalismus‘ ist mittelbar aus der Theorie der Politikverflechtung in der deutschen Föderalismusforschung entstanden und eignet sich, weil er „neben den institutionellen Bedingungen von Politikergebnissen auch Dynamiken der Politikverflechtung erfasst und erklärt“ (Benz 2016: 22) für diese Arbeit. In Bezug auf das Politikfeld Kulturpolitik in Deutschland sollen anhand dieses Ansatzes gegebenenfalls auch Erkenntnisse darüber zu Tage gefördert werden, ob die neu entstandene Akteurskonstellation mit den spezifischen Interaktionsformen im Bereich der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes effektive Lösungen für andere Policy-Probleme bringen kann (vgl. Scharpf 2000: 84).

Die Annahmen über das Akteursverhalten sind im akteurzentrierten Institutionalismus etwas anders als in den rationalen Ansätzen: Es wird zum einen die Bedeutung sozial konstruierter und institutionell geformter Wahrnehmung der politischen Akteure betont. Und zum anderen weist er auf drei Dimensionen von Präferenzen der Handelnden hin: (institutionelles) Eigeninteresse, normative Orientierung und identitätsbezogene Präferenzen. (vgl. Scharpf 2000: 42) Im Vergleich zu den ebenfalls denkbaren beziehungsstrukturellen Ansätzen mit der Tauschtheorie oder dem Rational-Choice-Institutionalismus mit den fokussierten Entscheidungssituationsbetrachtungen überzeugt der akteurzentrierte Institutionalismus durch seine Mehrebenenperspektive (vgl. Schneider/Janning 2006: 85) sowie weil er ‚politisches Lernen‘ (siehe Abschnitt 5.2.4.) als Faktor berücksichtigt (vgl. Bandelow 2003: 311). Gerade für die Analyse von Internationalisierungsprozessen ist die Betrachtung von Lesson-drawing, Policy-Lernen und Policy-Transfers fruchtbar, denn so kann untersucht werden, welche Faktoren und Mechanismen bei der Einführung neuer Programme einen Anteil haben. Dies ist eine Output-orientierte Betrachtung. Stärker Outcome-orientiert wären strukturorientierte Untersuchungen der Policy-Diffusion und Policy-Konvergenz. (vgl. Blum/Schubert 2009: 173)

Entsprechend der praktisch-beratenden Politik-Komponente, die im Resümee dieser Arbeit vorgenommen werden soll, versteht diese Arbeit die Politikfeldanalyse sowohl als analytisch-erklärendes als auch als präskriptives Instrument (vgl. Windhoff-Héritier 1987: 20). Der beraterische Teil kann grob in vier analytische Schritte gegliedert werden: Problemdefinition und Zielauswahl, Darstellung alternativer Methoden zur Erreichung dieser Ziele, Einschätzung der Durchführungschancen der vorgeschlagenen Lösungswege und simultane oder nachträgliche (ex-post-)Erfolgskontrolle der durchgeführten Programme (vgl. Windhoff-Héritier 1987: 115 f.).

5.2.2 Methodologie

Methoden sollen den Forscher von einem definierten Ausgangspunkt – den Forschungsfragen – zu einem angepeilten Ziel – der Beantwortung dieser Fragen – bringen. Den Weg dahin können etwa statistische Operationen leiten. Es gibt für eine Politikfeldanalyse keine vordefinierte Methode und im Grunde werden alle für die empirische Sozialwissenschaft relevanten Erhebungstechniken angewandt. Der Methodenpluralismus der qualitativen und quantitativen Sozialforschung steht prinzipiell auch für diese Arbeit zur Verfügung. Die Auswahl hängt zum einen vom Forschungsobjekt und zum anderen vom Erkenntnisziel der Arbeit ab. (vgl. Behrens 2003: 203 f., 208)

Für räumlich und zeitlich begrenzte Einzelfallstudien, die eine „möglichst [dichte] Beschreibung eines Politikfelds“ (Behrens 2003: 213) ermöglichen, sowie Prozessanalysen, die beide für die vorliegende Arbeit relevant sind, eignen sich insbesondere qualitative Analysen (vgl. Mayring 2007: 21 f.). Die Untersuchung wird auf den Analyseeinheiten einzelner Expertengespräche und -interviews sowie der zusätzlichen Auswertung von Policy-Dokumenten- und Medienberichtsanalysen beruhen. Dies soll helfen mosaikähnlich, politische Entscheidungsprozesse und ihre Wirkungen (siehe Abschnitt 5.1.7.) umfassend zu rekonstruieren. (vgl. Schubert 1991: 122) Im Rahmen dieser Arbeit werden also die beiden Erhebungstechniken Experten-Interviews/Befragungen und Inhaltsanalysen von Texten und Dokumenten genutzt, um die Realität quantitativ und vor allem qualitativ „messbar“ zu machen. Bei qualitativen Methoden ist das Ziel ein möglichst tief die Materie erfassendes Verständnis zu entwickeln, während ein quantitatives Vorgehen eher breit Evidenzen für eine These finden will (vgl. Schubert 1991: 122). Zwar distanzieren sich qualitative Methoden von der strengen Theoriegeleitetheit der quantitativen Forschung, aber das bedeutet nicht, dass sie gänzlich ohne vorherige theoretische Wissensbestände auskommen. Während mittels quantitativer Methoden ein Modell überprüft wird und erst am Ende des Prozesses abgewandelt wird, ist es bei qualitativer Forschung Teil des Prozesses, das Modell ständig zu überprüfen und anzupassen, das heißt geänderte Versionen zu entwickeln oder die Perspektive anzupassen. (vgl. Mayer 2004: 27 f.) Qualitative Methoden wollen verstehen, während quantitative erklären (vgl. u. a. Mayring 2007: 17 f.).

Die Befragung von Experten – statt Laien – gründet auf der Tatsache, dass diese als sachverständig im entsprechenden speziellen Themengebiet, durch Ausbildung und/oder Erfahrung legitimiert sowie kompetent in den zu untersuchenden Fragen anerkannt sind (vgl. Hitzler 1994: 27). Experteninterviews dienen vor allem der Felderkundung und der Beschaffung von Hintergrundwissen. Sie können zwar auch Instrument der Theoriebildung sein (vgl. Meuser/Nagel 1994: 181, 191), allerdings nicht in der vorliegenden Arbeit. Es geht nicht darum, die individuellen Biografien der Experten als Einzelfälle zu untersuchen, sondern Experten sind relevant als Repräsentanten einer Organisation oder Institution, die an der Problemlösung oder den Entscheidungsverfahren beteiligt sind (vgl. Meuser/Nagel 1991: 444). Wenn Dokumente und Medienberichte untersucht werden sowieso, aber auch wenn Interviews die Datenbasis der Analyse sind, werden dafür i. d. R. Verschriftungen des Gesagten, also Texte, genutzt. Generell sind daher Texte Ergebnis der Datenerhebung und man muss sich ihre Bedeutung entsprechend sehr deutlich bewusstmachen. Man darf nicht verwechseln, dass die Texte nicht die Wirklichkeit sind, aber die beste Näherung als Abbild der sozialen Realität. (vgl. Flick 2007: 107) Nicht unerwähnt bleiben soll des Weiteren, dass in dieser Arbeit auch die dritte wichtige Erhebungstechnik der Sozialwissenschaften, nämlich die Beobachtung (vgl. Mayer 2004: 34), hier konkret eine teilnehmende Beobachtung, eine Rolle spielt, denn der Autor der Arbeit hat selbst an vielen Prozessen, die untersucht werden, als Beobachter und Akteur teilgenommen. Diese politikethnografische Perspektive wird die systematisch auszuwertenden Dokumente und Experteninterviews in den Ausführungen ergänzen.

Eine vergleichende Politikfeldanalyse der Umsetzung der Konvention in anderen Vertragsstaaten Europas (Auswahl nach dem Konkordanzprinzip) ergänzt das überwiegend Einzelfall-orientierte Vorgehen dieser Arbeit (siehe Abschnitt 4.4.). Ähnlich wie bei Verfahren, die von der Europäischen Union vorstrukturiert sind, gilt für die Umsetzung der UNESCO-Konvention, dass „die unabhängigen Variablen für alle Vertragsstaaten gleich [sind], so dass in Form von Fallstudien die abhängigen oder auch intervenierenden Variablen auf nationaler Ebene vergleichend untersucht werden können“ (Behrens 2003: 215). Weitere Fallstudien werden hinsichtlich einzelner in Deutschland erkannter Ausdrucksformen des Immateriellen Kulturerbes durchgeführt (siehe Abschnitt 4.2.).

Als Analysetechnik für die angegebenen Dokumente kommt die qualitative Inhaltsanalyse mit ihrem mehrschrittigen und auf Gütekriterien, wie etwa Intersubjektivität, Validität und Reliabilität, achtenden Ansatz zum Einsatz (vgl. Mayring 2007: 42–46). Ihre Merkmale sind, dass sie fixierte Kommunikation zum Gegenstand hat, systematisch vorgeht, die Analyse regelgeleitet erfolgt und theoriegeleitet vorgeht sowie das Ziel hat, Rückschlüsse auf bestimmte Aspekte der Kommunikation zu ziehen (vgl. Mayring 2007: 12 f.). Charakteristisch ist, dass nicht nur der manifeste Inhalt der Texte zum Gegenstand der Analyse gemacht wird, sondern auch ihre darüber hinausweisende Bedeutung (vgl. Kuckartz 2012: 34). Die Auswertung erfolgt also nicht-standardisiert, sondern interpretativ-rekonstruktiv (vgl. Meuser/Nagel 1994: 184, Fn 5). Der wesentliche Unterschied zur quantitativen Inhaltsanalyse, die den Text versucht möglichst präzise in Zahlen umzuwandeln und dann statistisch auszuwerten, ist folgender: „Auch nach der Kategorienbildung bleibt der Text selbst, d. h. der Wortlaut der inhaltlichen Aussagen, relevant und spielt auch in der Aufbereitung und Präsentation der Ergebnisse eine wichtige Rolle.“ (Kuckartz 2012: 73) Der Text wird innerhalb seines Kontextes interpretiert, das heißt es werden auch Entstehung und Wirkungen des Materials untersucht (vgl. Mayring 2007: 42). Hierzu werden, dies ist zentral für die qualitative Inhaltsanalyse, Kategorien gebildet (siehe Abschnitt 5.3.4.). Dies kann induktiv, das heißt vom zu analysierenden Material ausgehend, sowie deduktiv, von vorhandenen Hypothesen bzw. Forschungsfragen oder Bezugstheorien bestimmt, geschehen. Häufig hat man es mit Mischformen zu tun. (vgl. Kuckartz 2012: 59–69) Dabei gilt die Bedingung, dass das gesamte Datenmaterial der Studie nach diesen Kategorien ausgewertet wird. Dies bewahrt den Forschenden vor voreiligen Schlussfolgerungen, die gegebenenfalls nur für den Einzelfall stimmen. (vgl. Kuckartz 2012: 77) Für die Auswertung der Experteninterviews wird ergänzend zu den Gütekriterien der qualitativen Inhaltsanalyse die von Meuser/Nagel (1991: 451–463) vorgeschlagene Auswertungsstrategie berücksichtigt, die durch ebenfalls mehrschrittiges Vorgehen und den Nachweis von Intersubjektivität einen Zirkelschluss bei der Interpretation zu vermeiden sucht (vgl. Meuser/Nagel 1991: 453) – stellenweise wurde das Vorgehen dabei allerdings etwas pragmatischer gehandhabt, ganz in dem Sinne, wie es Mayer (2004: 47 ff.) orientiert an Mühlfeld et al. (1981) darstellt (siehe detaillierter Abschnitt 5.3.3.).

Als konkrete Methode findet in dieser Arbeit eine Prozessanalyse – das genaue Verfolgen der Problemverarbeitung des politisch-administrativen Systems durch Betrachtung des Policy-Cycles (zum Modell vgl. Abschnitt 5.2.3.) mit seinen verschiedenen Phasen Anwendung (vgl. Blum/Schubert 2009: 48 f., 59 ff.). In der Prozessanalyse sind die Interaktionen zwischen den Akteuren als Untersuchungseinheiten zu begreifen (vgl. Scharpf 2000: 86). Sie werden anhand der Untersuchungsobjekte dieser Arbeit (Dokumente, Interviews, Medientexte, Fallbeispiele) rekonstruiert und analysiert. Der Einsatz einer Netzwerkanalyse, die nicht nur untersucht, welche Akteure beteiligt sind, sondern auch wie diese zusammenarbeiten, kooperieren und sich koordinieren, hätte ihre Vorzüge gehabt. Sie eignet sich besonders, wenn eine vergleichsweise große Zahl von Akteuren an relativ komplexen politischen Prozessen beteiligt bzw. davon betroffen ist. (vgl. Blum/Schubert 2009: 59 f.) Obwohl in der Kulturpolitikforschung bisher selten genutzt, hat sie ihre Eignung bereits bewiesen (vgl. u. a. Lembke 2017). Aufgrund der Komplexität des Untersuchungsfelds und kapazitiver Grenzen musste sie als Methode für die vorliegende Arbeit aber verworfen werden.

5.2.3 Modell: Der Policy-Cycle

Ein Modell ist eine bewusst die komplexe Realität reduzierende Vorstellung, die sich Forscher für ihre Untersuchungen machen. Das bedeutet zugleich, dass die Ergebnisse der Forschung immer modellabhängig sind. (vgl. Schubert 1991: 44) Als Modell für die Erfassung der meisten Prozesse, die die vorliegende Arbeit untersucht, wird der für die Politikfeldanalyse fast als Standardmodell geltende Policy-Cycle zu Rate gezogen. Er bietet die „Möglichkeit, zielgerichtet Erkenntnisse über politische Prozesse zu gewinnen“ (Blum/Schubert 2009: 101) und kann helfen zu „ordnen, [zu] strukturieren und Komplexität [zu] reduzieren“ (Blum/Schubert 2009: 131). Die Betrachtung des Politikprozesses in Form eines Kreises betont, dass es dabei selten eindeutige Anfänge oder Enden gibt (vgl. Jann/Wegrich 2003: 81).

Die typischen drei Phasen, die sich in der Realität allerdings selten so klar trennen lassen, sondern sich überlappen und wechselseitig bedingen sowie durchdringen (vgl. Schneider/Janning 2006: 49) sind: 1. Problem(re)definition und Agenda Setting, 2. Politikformulierung und Entscheidung(sfindung) sowie 3. Politikimplementierung und -evaluierung. Anschließend geht der Zyklus entweder von vorn los, weil das Problem noch nicht gelöst bzw. das Defizit noch nicht (ganz) beseitigt ist oder – in jenen Fällen, in denen ein politisches Problem final gelöst werden konnte oder aber bei Ressourcenengpässen bzw. aus Effektivitäts-/Effizienzüberlegungen ein Aufgeben empfehlenswert erscheint – kommt es zur Politikterminierung (vgl. Schneider/Janning 2006: 62).

Natürlich muss der Policy-Zyklus als Modell auch eine kritische Betrachtung erfahren. So sehr er der vorliegenden Untersuchung und allgemein dem Verständnis politischer Prozesse dienlich ist, hat das Modell auch einige Schwächen. Dazu gehört etwa, dass sich die Phasen in der Realität überschneiden und nicht klar voneinander abgegrenzt sind sowie linear ablaufen, wie der Policy-Zyklus suggeriert. Außerdem entwickeln sich Politikinhalte oft in mehreren zeitlich parallelen Zyklen, erfassen dabei verschiedene politische Ebenen und diese Abläufe beeinflussen sich gegenseitig. Policies entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern treffen auf schon bestehende, ergänzen diese, modifizieren sie oder konkurrieren sogar (vgl. Jann/Wegrich 2003: 82). Eine wechselseitige Beeinflussung mit anderen Politikinhalten im selben Politikfeld oder anderen Politikfeldern lässt die Betrachtung des Policy-Zyklus aber i. d. R. außer Acht. (vgl. Schneider/Janning 2006: 63 f.) Die nationale Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes steht etwa in enger Beziehung zu den Bereichen UNESCO-Welterbe, -Dokumentenerbe oder auch Heimatpflege im Allgemeinen in der Kulturpolitik sowie zum Beispiel zu den Bereichen Heilwissen (Gesundheitspolitik), Naturwissen (Umwelt-/Naturschutz bzw. Landwirtschaftspolitik) usw. Nicht nur die inhaltliche Verflechtung mit politischen Maßnahmen aus dem selben oder anderen Politikfeldern, sondern auch die internationale Verflechtung eines Politikfelds und der damit zusammenhängende Einfluss bleiben beim Policy-Cycle i. d. R. außen vor. Dieser unterschätzt zudem chronisch, dass Politik nicht immer rein ziel- und umsetzungsorientiert ist, sondern manchmal auch „eher symbolischen und rituellen Charakter aufweist“ (Jann/Wegrich 2003: 96). Trotz dieser Unzulänglichkeiten ist das Modell für die Betrachtung des vorliegenden Themas des Entscheidungs- und Produktionsprozesses von Politik zum Immateriellen Kulturerbe insgesamt geeignet, um heuristisch und systematisch die Strukturen, Eigenschaften und Ergebnisse herauszuarbeiten. Wo immer möglich, wird versucht die Perspektive der Interaktion der spezifischen Policy mit anderen, parallel implementierten Programmen, Gesetzen und Normen auf den verschiedenen Stufen des Mehrebenensystems Kulturpolitik in Deutschland bei der Analyse in dieser Arbeit im Blick zu behalten (vgl. Jann/Wegrich 2003: 96 f.).

5.2.3.1 Problem(re)definition und Agenda Setting

Zentral für die erste Phase des Policy-Cycle ist das Problem bzw. die Ausgangslage (siehe Abschnitt 5.1.5.), die von relevanten Akteuren erkannt werden und durch die Mobilisierung von Ressourcen auf die politische Agenda gesetzt werden. Jann/Wegrich (2003) definieren Problemwahrnehmung und des Agenda Setting als „genuin [politische Prozesse], in denen zentrale Vorentscheidungen im Hinblick auf Selektion, Prioritätensetzung sowie Strukturierung […] hinsichtlich möglicher Handlungsstrategien (bewusst oder unbewusst) getroffen werden“ (Jann/Wegrich 2003: 83). Im Fall der Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes kann man als Problem identifizieren, dass bestimmte gesellschaftliche Akteure – die Träger von Alltagskulturen, überlieferten darstellenden Künsten, von Naturwissen oder Handwerkstechniken – in ihrem kulturellen Wirken bisher kaum wertgeschätzt wurden. Durch den Impuls aus dem internationalen Raum kam das Thema auch in Deutschland auf die kulturpolitische Agenda. Das UNESCO-Label, das das Thema hat, hat hier vermutlich geholfen, es auf der Agenda relativ prominent zu platzieren. Nach Schneider/Janning (2006: 54) handelt es sich um das Muster einer „internationalen Politikdiffusion“. Interessant für die vorliegende Untersuchung wird sein, zu beleuchten, ob es sich beim Beitritt Deutschlands zur UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes und der Etablierung einer nationalen Umsetzung um ein besonderes „Window of opportunity“/Möglichkeits- bzw. Policy-Fenster gehandelt hat (vgl. Jann/Wegrich 2003: 85) und welche Faktoren dafür entscheidend waren. Schließlich hatte Deutschland seit der Verabschiedung im Jahr 2003 zehn Jahre gezögert, der UNESCO-Konvention beizutreten. Neben den eher strukturellen Faktoren gibt es auch Eigenschaften des Themas selbst, die mitentscheiden, ob ein Thema zu einem bestimmten Zeitpunkt auf die Agenda kommt. Nach Schneider/Janning (2006: 56) sind das:

  • „Konkretheit und Klarheit (Eindeutigkeit vs. Mehrdeutigkeit)

  • gesellschaftliche Relevanz (starke vs. marginale soziale Betroffenheit)

  • temporale Relevanz (absolut dringend vs. verschiebbar)

  • Komplexität (einfach vs. komplex)

  • Novität (Routineangelegenheit vs. Novum)

  • Wertgeladenheit (große vs. geringe symbolische Bedeutung)“

Für das Immaterielle Kulturerbe sind auf den ersten Blick zumindest der zweite, fünfte und sechste Punkt eindeutig gegeben. Konstatiert werden kann daher zusammenfassend als Arbeitshypothese, dass die strukturellen Gegebenheiten einer Ausbreitung von Ideen bzw. Innovationen über nationale Grenzen hinweg und ihre Übernahme von einer zunehmend größeren Zahl von Staaten (vgl. Kern/Jörgens/Jänicke 2000) zusammen mit der Passung mindestens der Hälfte der inhaltlichen Eigenschaften des Themas nach Schneider/Janning (2006: 56) im Ergebnis wohl dazu geführt haben, dass das Thema in Deutschland auf die Agenda kam. Eine nähere Untersuchung dieser These erfolgt in Abschnitt 6.1.2.

5.2.3.2 Politikformulierung und Entscheidung(-sfindung)

Nachdem das Thema einmal auf der politischen und öffentlichen Agenda ist, wird das Programm zur Lösung des Problems in der zweiten Phase des Kreislaufs inhaltlich ausgestaltet. Zentral für das Verständnis dieser Phase sind die politischen Konzepte ‚Akteur‘, ‚Netzwerk‘ und ‚Institution‘, wie bereits in den Abschnitten 5.1.1., 5.1.2. und 5.1.4. ausführlich dargelegt. Abhängig von den beteiligten Akteuren und deren Interessen sowie der Akteurskonstellation und Zusammenarbeit im Policy-Netzwerk kommt es zur Konkretisierung einer Strategie mit der Festlegung der Beziehungen zwischen verschiedenen Programmelementen.

Die politischen Akteure in Deutschland haben sich – Kosten und Nutzen abwägend – auf einen Weg verständigt, wie der Impuls aus dem internationalen Raum aufgegriffen und das Thema Immaterielles Kulturerbe im kulturpolitischen Feld durch konkrete Handlungsziele, Mittel und Wege, d. h. Programme und Steuerungsinstrumente (siehe Abschnitt 5.1.5.) Umsetzung erfahren soll. Es sei darauf hingewiesen, dass es in diesem wie auch in allen anderen Fällen stets nicht die eine richtige Lösung für das wahrgenommene Defizit, sondere eine Reihe von Handlungsalternativen gibt. In der jeweiligen Situation identifizieren die Akteure gemeinsam das optimale Vorgehen im vorgegebenen Bedingungsrahmen (vgl. Schneider/Janning 2006: 57). Es gibt in diesem Fall keine Gesetze oder Verordnungen, denn die Umsetzung der Konvention basiert auf einer im Ergebnis einer Ressortabstimmung schriftlich vereinbarten Arbeitsteilung zwischen Bund, Ländern und der Deutschen UNESCO-Kommission. Was dies für die Umsetzung bedeutet, wird im Abschnitt 6.2. näher untersucht.

So entstand ein Rahmen, in dem sich die Verwaltung und private Akteure, insbesondere der eingetragene Verein Deutsche UNESCO-Kommission, im Rahmen der Implementierungsphase des Policy-Cycle mit der Problemlösung befassen (vgl. Schneider/Janning 2006: 57). Die erste der in Abschnitt 1.2. formulierten Forschungsfragen dieser Arbeit bezieht sich auf diese Phase: Mit welchen politischen Maßnahmen (Projekten, Programmen und Strategien) setzt Deutschland das völkerrechtliche Instrument UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes um? Dass hierbei im vorliegenden Fall, wie auch in vielen anderen, Imitationen von erfolgreichen Lösungen in anderen Ländern erfolgen, wird im Abschnitt zum Thema Politisches Lernen (5.2.4.) noch einmal explizit aufgegriffen. Interessant ist schließlich noch der Stil der Politikformulierung, den Howlett/Ramesh/Perl (2009: 137) wohl in Bezug die hier vorliegende Politikfeldanalyse definieren würden: Die These des Verfassers dieser Arbeit, die empirisch zu belegen sein wird, ist, dass es sich um den eher seltenen Fall einer Policy-Erneuerung handelt, das bedeutet, dass neue Akteure und auch neue Ideen in das System eintreten (siehe Abschnitt 6.3.2.1.).

5.2.3.3 Politikimplementierung und -evaluierung

Neben den Steuerungsinstrumenten und Programmen (siehe Abschnitt 5.1.5.) spielt in der Phase der Implementierung das Policy-Subsystem bzw. das Politikfeld der Kulturpolitik (siehe Abschnitt 5.1.3.) mit seiner spezifischen Steuerungskultur (siehe Abschnitt 5.1.6.) eine wichtige Rolle für die Untersuchung (vgl. Jann/Wegrich 2003: 91 f.). Zu beachten ist, dass Programme nur anhand „einer politischen Zielsetzung und eines absichtsvoll an ihrer Verwirklichung orientierten Handelns“ (Mayntz 1980: 5) wissenschaftlich untersucht werden können. Dafür müssen diese Zielsetzungen, die vage oder auch sehr konkret formuliert sein und zwischen Primär- und Sekundärzielen differenziert werden können, herausgearbeitet und das Handeln der maßgeblichen Akteure entsprechend analysiert werden. Dies erfolgt in Abschnitt 6.3.

In der Evaluierungsphase (Policy-Impact-Analyse) kommt es zur Betrachtung der drei Dimensionen Policy-Output, Policy-Impact und Policy-Outcome (siehe Abschnitt 5.1.7.). Bezogen auf den Gegenstand dieser Arbeit ist zu erfragen, ob die Betroffenen durch die getroffenen Maßnahmen bessergestellt sind als zuvor, ob also die zuvor im Kulturbereich überwiegend wenig Beachtung findenden Trägergruppen des Immateriellen Kulturerbes in dem Politikfeld mehr Aufmerksamkeit erhalten und ob es Gruppen gibt, die durch die Maßnahmen möglicherweise schlechter gestellt wurden (vgl. Blum/Schubert 2009: 128). Dies ist – siehe die Formulierung der dritten Forschungsfrage im Abschnitt 1.2. (Inwiefern ist die Teilhabe an Kunst und Kultur zu ermöglichen, Ziel, Aufgabe und Gegenstand der Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes in Deutschland?) – ein Erkenntnisinteresse im Rahmen dieser Arbeit. Es wird also überprüft werden, inwiefern die Instrumente (Projekte, Programme und Strategien) der Akteure effektiv, d. h. wirksam, und effizient, d. h. in einer sinnvollen Kosten-Nutzen-Relation stehend, waren (vgl. Schneider/Janning 2006: 62).

Als Resultat der Evaluierung der Policy kommt es zu ‚politischem Lernen‘ in unterschiedlichen Formen (siehe näher Abschnitt 5.2.4.). Dazu können etwa eine Intensivierung bzw. Verstärkung des Programms oder eine Neuausrichtung gehören. (vgl. Jann/Wegrich 2003: 93) Die symbolische Wirkung durch Wertschätzung scheint im Untersuchungsgebiet dieser Arbeit auf den ersten Blick die wichtigere Funktion im Vergleich zum Beitrag zur inhaltlichen Substanz des Themas zu sein, schließlich ist die Erstellung eines Verzeichnisses des Immateriellen Kulturerbes keine konzeptionell allzu elaborierte Maßnahme (vgl. Blum/Schubert 2009: 115). Es sollen allerdings auch die Instrumente im weiteren Sinne (siehe Abschnitt 5.1.5.) Eingang in die Betrachtung der vorliegenden Arbeit finden.

5.2.4 Politisches Lernen

Eine Politikfeldanalyse ist immer auch auf der Suche nach Ursachen und Erklärungen für politische Veränderungen. Beim Konzept des Politischen Lernens wird davon ausgegangen, dass politische Akteure aus eigenen Erfahrungen (vgl. u. a. Sabatier/Jenkins-Smith 1993: 42), neuen Erkenntnissen – beides kommt in der Evaluierungsphase des Policy-Cycles zum Ausdruck – oder guten Beispielen in anderen politischen Einheiten, z. B. Ländern und Staaten, lernen. Seit die Welt immer enger vernetzt ist und Informationen schneller fließen, ist vor allem das Lernen von den Problemlösungsansätzen anderer Staaten stärker verbreitet. (vgl. Dolowitz/Marsh 1996: 343) Insbesondere im Rahmen multilateraler Organisationen wie der UNESCO ist dies eine etablierte Praxis – schließlich ist die Förderung von Kooperationen eine ihrer fünf Hauptfunktionen (neben ihrer Rolle als Ideen- bzw. Denkfabrik, Clearingstelle für global vergleichbare Daten, Standardsetzer und Capacity-Builder). Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung spielt das politische Lernen eine bedeutende Rolle, denn Deutschland hat schon in der Phase der Prüfung des Beitritts zur UNESCO-Konvention und der Verständigung auf die genaue Implementierung des Systems 2012/13 von anderen Ländern gelernt, da zahlreiche Staaten das Übereinkommen früher ratifiziert hatten und im UNESCO-Rahmen ein Austausch Guter Praxis quasi institutionalisiert ist. Auch in der Implementierung der Konvention gab es zwischen den Verantwortlichen der europäischen Staaten und zum Teil auch darüber hinaus einen regelmäßigen Austausch über Lerneffekte und positive wie auch negative Erfahrungen. Die Forschungsfrage Wie gestaltet sich die Wechselwirkung zwischen der internationalen und der nationalen Umsetzung der Konvention? befasst sich mit diesem Thema.

Man kann die Implementierung der UNESCO-Konvention in Deutschland als Social Learning auffassen. Hall (1993: 278 f.) hat diesbezüglich drei Qualitäten unterschieden: Lernen erster Ordnung meint in der Politik das inkrementelle Lernen aus Erfahrungen unter Beibehaltung des Instruments, wie etwa die Anpassung der Haushaltszahlen auf Basis der Vorjahre. Lernen zweiter Ordnung bezieht sich auf die Instrumentenwahl, die durch (meist negative) Erfahrungen geändert wird. Die grundsätzlichen Ziele der Politik bleiben in diesem Fall aber konstant. Die Zurkenntnisnahme, dass Trägergruppen Immateriellen Kulturerbes zu Akteuren in der Kulturpolitik zählen und Immaterielles Kulturerbe ein Feld ist, in dem sich Kulturpolitik in Deutschland betätigen sollte, kann sogar weithin – mit wenigen Ausnahmen, bei denen bereits zuvor eine Befassung mit dem Gegenstand erfolgte – als ein Paradigmenwechsel gelten, der von außen, nämlich der UNESCO, initiiert wurde und kann als eine selten vorkommende Veränderung dritter Ordnung nach Hall (1993) interpretiert werden: ein Hinzulernen bezüglich genereller Ziele, die Policies zugrunde liegen – ein Wandel des Policy-Paradigmas. (vgl. Blum/Schubert 2009: 162 f. sowie Howlett/Ramesh/Perl 2009: 135)

Die praktische Politik der Umsetzung der Konvention zum Immateriellen Kulturerbe in Deutschland ist gekennzeichnet durch einen Policy-Transfer. Dieses Konzept, eine Form reflexiven Lernens, basiert auf dem Ansatz des Lesson drawing nach Richard Rose (1991), aber schließt, anders als dieser, auch erzwungene Transfers ein. (vgl. Bandelow 2003: 322) Dazu zählen etwa internationale Regime, die Regierungen zwingen oder zumindest dazu drängen, Policies zu übernehmen. Es geht beim Policy-Transfer um Prozesse, bei denen bereits bestehende Programme zur Entwicklung von Programmen zu anderen Zeiten und anderen Orten genutzt werden. (vgl. Dolowitz/Marsh 1996: 344) Im vorliegenden Fall dieser Arbeit kam es in Deutschland, vermittelt über die UNESCO, zur freiwilligen angepassten Übernahme der Politiken anderer Länder – ursprünglich vor allem ostasiatische Länder wie Japan und die Republik Korea, die das Immaterielle Kulturerbe bereits seit langem fördern, später aber auch der europäischen Partner- und Nachbarstaaten, die überwiegend früher als Deutschland dieser UNESCO-Konvention beitraten und praktische Erfahrungen in der Umsetzung sammelten. Gleichzeitig ist die grundsätzliche Aufnahme einer nationalen Umsetzungspolitik zum Immateriellen Kulturerbe nicht ganz freiwillig, sondern in Verbindung mit dem Beitritt gewissermaßen ein Pflichttransfer, weil es sich um eine Maßnahme handelt, die aus der supranationalen Völkerrechtsbindung entspringt. (vgl. Blum/Schubert 2009: 166 ff.)

Nach Dolowitz/Marsh (1996) will die Analyse von Transferprozessen des transnationalen Austauschs erfolgreicher bzw. innovativer Policy-Programme folgende Fragen beantworten:

  • „Warum betreiben Akteure überhaupt Policy Transfer?

  • Welche Akteure übernehmen dabei eine Schlüsselrolle?

  • Welche Art von Programmen wird übernommen?

  • Welche spezifischen Länder dienen als Vorbild?

  • Bis zu welchem Anteil oder Grad werden die als Vorbild dienenden Programme wirklich umgesetzt?

  • Welche Faktoren begünstigen oder erschweren den Umsetzungsprozess?

  • In welchem Zusammenhang steht der vollständige Policy Transfer mit dem Erfolg oder Misserfolg des transferierten Programms?“ (Schneider/Janning 2006: 221)

Vor allem die zweite Frage nach den relevanten Akteuren und die dritte Frage nach den Arten der Programme verdienen an dieser Stelle noch einmal eine genauere Betrachtung im Hinblick auf die Forschungsfragen dieser Arbeit: Zur zweiten Frage ist interessant, dass Dolowitz/Marsh (1996: 345 f.) sechs Akteursgruppen identifizieren, die in Policy-Transfer-Prozesse involviert sind: gewählte staatliche Repräsentanten, politische Parteien, Verwaltungsmitarbeiter, Interessengruppen, Experten und supranationale Organisationen. Bei der Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes sind alle Genannten relevante Akteure – insbesondere die supranationale Organisation UNESCO, aus der der Impuls zum Policy-Lernen kam, wird in dieser Arbeit über das etablierte Feld der Akteure des Politikfelds Kulturpolitik in Deutschland hinaus Berücksichtigung finden.

Bezüglich der dritten Frage unterscheiden Dolowitz/Marsh (1996: 349 f.) sieben Transferobjekte: Politikziele/-strukturen/-inhalte, Politikinstrumente, Institutionen, Ideologien, Ideen/Haltungen/Konzepte sowie negative Erfahrungen. Bezüge zu all diesen Objekten werden sich in der späteren Untersuchung im Abschnitt 6.4. finden. Nach Howlett/Ramesh/Perl (2009: 136) findet politisches Lernen insbesondere im Kontext der Instrumentenwahl statt. Aber auch auf der Ebene politischer Strategien (siehe Abschnitt 5.1.5.) kann politisches Lernen stattfinden (vgl. Blum/Schubert 2009: 154).

Nach Rose (1991) gibt es fünf Lektionen bzw. Ergebnisse des Policy-Lernens: eine (hundertprozentige) Kopie, eine Adaption, eine Hybridbildung, eine Synthese und eine reine Inspiration (vgl. Rose 1991: 21 f.). Der idealtypisch vierstufige Prozess des Lernens nach Rose – erstens: Suche nach Erfahrungen in der Vergangenheit oder in anderen Regionen für die Lösung eigener Aufgaben, zweitens: Entwicklung eines Modells, drittens: Anwendung des Gelernten und viertens: vorausschauende Bewertung (vgl. Rose 1991: 19–24 und Bandelow 2003: 308) – kann zumindest in den ersten drei Etappen gut für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit nachgezeichnet werden. Dies erfolgt schwerpunktmäßig im Abschnitt 6.2., mit weiteren Betrachtungen in den Abschnitten 6.3. und 6.4. sowie im Fazit.

5.3 Darstellung des Untersuchungsverlaufs

Im Folgenden wird das Vorgehen der empirischen Untersuchung entsprechend des gewählten Forschungsansatzes und der Methoden dargestellt.

5.3.1 Kriterien der Auswahl der Untersuchungsobjekte

In diesem Abschnitt wird erörtert, auf Basis welcher Kriterien, die jeweiligen konkreten Analyseeinheiten der einzelnen Untersuchungskategorien, die die vorliegende Arbeit zur Basis der Untersuchung nimmt, ausgewählt worden sind. Anders als bei einer Stichprobenbildung in der quantitativen Forschung, geht es in der qualitativen Forschung nicht um statistische Repräsentativität, sondern um die Relevanz der untersuchten Objekte für die Themen- und Forschungsfragen. Hierfür müssen vorab Merkmale d. h. Kriterien, die sich aus der Fragestellung der Untersuchung und theoretischen Vorüberlegungen ergeben, festgelegt werden, nach denen die Stichprobe absichtsvoll und begründet gebildet wird. (vgl. Mayer 2004: 38) „Dabei wird von einer Vorstellung von Eigenschaften der Grundgesamtheit ausgegangen, die in der Stichprobe Berücksichtigung findet.“ (Mayer 2004: 38) Die Verallgemeinerbarkeit muss entsprechend genau analysiert und dargelegt werden (vgl. Mayer 2004: 40).

Wie bereits in Abschnitt 1.2. kurz angerissen, sollen Dokumente, Interviews, Medienberichte und zweierlei Arten von vergleichbaren Fallbeispiele das Datenmaterial der Analyse in dieser Arbeit bilden. Bei den Inhaltsanalysen, denen die auszuwählenden Dokumente, Interview(-transkriptionen) und Medientexte unterzogen werden, kann jeweils auf die interessierenden Inhalte bezogen auf Klassifizierungen und Auszählungen von Textelementen (Frequenzanalyse), Trends von Bewertungen (Valenzanalyse) oder die Intensität von Bewertungen (Intensitätsanalyse) zurückgegriffen werden (vgl. Mayring 2007). Konzeptionell darüber hinaus geht noch die Kontingenzanalyse, die auftretende Begriffe und Bewertungen ins Verhältnis zu anderen Aussagen setzt (vgl. Schnell/Hill/Esser 1999: 375). Diese letzte, umfassendste Variante wird in der vorliegenden Arbeit weitgehend genutzt. Die Auswertung der Daten erfolgt entsprechend ausschließlich in qualitativer Form.

5.3.1.1 Dokumentenanalyse

In die Untersuchungsperiode 2013–2016 fallen der deutsche Beitritt zur UNESCO-Konvention und die kompletten ersten beiden deutschlandweiten Bewerbungsrunden für das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes sowie drei Nominierungen für eine UNESCO-Liste und die ersten beiden erfolgreichen Listungen. Hinzu kommt eine Betrachtung der dem Beitritt vorausgehenden Debatten im Zeitraum 2009–2012. In diesem Zeitraum ist eine große Zahl von relevanten Dokumenten entstanden: Zu diesen zählen etwa Positionspapiere und Beschlüsse verschiedener staatlicher und nicht-staatlicher Akteure, Konzeptpapiere, Einladungen, Protokolle und Ergebnisdokumentationen wichtiger Veranstaltungen, Reden und Grußworte wichtiger Akteure, Expertenstellungnahmen, interne Sachstände und Vermerke, Bundestagsdrucksachen, Webartikel und Pressemitteilungen. Dokumente (und Medienberichte) werden zur Analyse herangezogen, da sie zum ersten in großer Vielzahl vorhanden sind, zum zweiten im Vergleich zu Interviews und Beobachtungen, im Wesentlichen nicht-reaktiv sind, also weder Urheber/Verfasser noch Rezipient von der Analyse direkt betroffen sind, und sie drittens vergleichsweise sehr objektiv sind, da sie die Position der Urheber/Verfasser zum Zeitpunkt der Erstellung manifestiert haben und sehr lange verfügbar sind, während andere Erhebungstechniken i. d. R. retrospektiv wirken und weniger gut konserviert werden können (vgl. Schnell/Hill/Esser 1999: 374 f.).

Folgende Kriterien gelten als Relevanzraster für die Auswahl aus der großen Zahl der theoretisch denkbaren Dokumente, die im genannten Zeitraum entstanden sind:

  1. 1.

    Bedeutung bzw. Aussagekraft des Dokuments für die nationale Umsetzung der Konvention

  2. 2.

    Bedeutung des Urhebers des Dokuments als Akteur bzw. Vertreter einer wichtigen Institution, d. h. eines komplexen Akteurs, im deutschen Mehrebenensystem der Kulturpolitik bzw. im Rahmen der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes

  3. 3.

    Bedeutung des Zeitpunkts bzw. des Anlasses der Veröffentlichung bzw. Erstellung des Dokuments

Im Rahmen dieser drei Kriterien können gezielt politisch wichtige Dokumente für die Untersuchungsperiode ausgewählt werden (vgl. Flick 2007: 165 f.). Durch das Sample sollten möglichst die in Abschnitt 3.3. und 3.4. definierten Akteure der Kulturpolitik in Deutschland repräsentativ abgebildet werden. Die Auswahl eines Dokuments bedeutet, dass dieses die drei o. g. Kriterien zweifelsfrei erfüllt. Die Nichtberücksichtigung eines Dokuments sagt allerdings nichts über eine mangelnde Bedeutung bzw. die mangelnde Erfüllung der drei Kriterien aus. Im Rahmen der bis zu 30 im Rahmen dieser Arbeit nach rationalen Erwägungen handhab- und auswertbarer Dokumente musste unweigerlich eine Abwägungsentscheidung getroffen werden.

5.3.1.2 Experteninterviews

Hitzler (1994: 16) bezeichnet unsere moderne Gesellschaft als „Expertengesellschaft“: In weiten Bereichen entscheiden Personengruppen, die sich durch Ausbildungsabschlüsse und relevante professionelle (Berufs-)Erfahrung sowie spezialisiertes Wissen definieren, verbindlich über die Probleme, wobei der Experte nicht nur vom Laien, sondern i. d. R. auch vom (Letzt-)Entscheidungsträger abgegrenzt werden muss (vgl. Hitzler 1994: 16 f., 19, 25). Auf dieser grundsätzlichen Erwägung fußt die Befragung von ausgewählten Experten im Rahmen dieser Arbeit – anstelle etwa einer ebenfalls denkbaren Methode einer breiten Befragung von Laien. Expertenwissen können wir nach Meuser/Nagel (1994: 180) als Insiderwissen klassifizieren. Die beiden Autoren binden den Expertenbegriff nicht an formale Qualifikation oder offizielle Position, sondern an die „Funktion, die eine Person innerhalb eines Sozialsystems erfüllt“ (Meuser/Nagel 1994: 180). Experte kann also prinzipiell jeder sein, der „in irgendeiner Weise Verantwortung trägt für den Entwurf, die Implementierung oder die Kontrolle einer Problemlösung oder wer über einen privilegierten Zugang zu Informationen über Personengruppen oder Entscheidungsprozesse verfügt“ (Meuser/Nagel 1991: 443). Für diese Arbeit kommen als Experten entsprechend nur Personen in Frage, die als politische Akteure im Sinne der Definition aus Abschnitt 5.1.1. bereits bestimmte Funktionen, die mit dem Thema des Immateriellen Kulturerbes bzw. der Kulturpolitik in Deutschland zu tun haben, praktisch wahrgenommen haben (vgl. Meuser/Nagel 1994: 180). Die befragten Experten sind also Teil des Handlungsfelds, welches erforscht wird. Nicht die Person selbst als Privatperson ist allerdings Gegenstand der Analyse, sondern der organisatorische und institutionelle Zusammenhang, in der sie tätig ist und der damit einen Faktor darstellt (vgl. Meuser/Nagel 1991: 442 f.). Der Befragte wird also nicht als Einzelfall, sondern als Repräsentant einer Gruppe gewertet (vgl. Mayer 2004: 37).

„Von Interesse sind ExpertInnen innerhalb eines organisatorischen oder institutionellen Kontextes. Die damit verknüpften Zuständigkeiten, Aufgaben, Tätigkeiten und die aus diesen gewonnenen exklusiven Erfahrungen und Wissensbestände sind die Gegenstände des ExpertInneninterviews.“ (Meuser/Nagel 1991: 444)

Für die Expertenbefragungen in der vorliegenden Arbeit wurde auf den forschungsleitenden Fragen (siehe Abschnitt 1.2.) aufbauend ein Interviewleitfaden mit offen formulierten Fragen (siehe Anhang im elektronischen Zusatzmaterial) erstellt, der nach Themenclustern – den Etappen des Policy-Cycle – gegliedert ist, allerdings im persönlichen Gespräch flexibel und undogmatisch gehandhabt wurde. Das bedeutet, dass – je nach Gesprächsverlauf – in der Reihenfolge der Fragen oder durch zusätzliche Nachfragen auch vom Leitfaden stellenweise abgewichen wurde. Im Rahmen von Rückfragen an den Interviewten konnte der Interviewende Zusammenfassungen oder Interpretationen vornehmen, um das Verständnis der Aussagen zu vertiefen oder Widersprüche aufzudecken. Die notierten Fragen sichern aber eine gewisse Strukturierung und einen in etwa gleichen Ablauf der Interviews zu, dienen als Gedankenstütze für den Interviewenden und sparen insgesamt Zeit. Bei aller gewollten narrativen Freiheit dieses Interviewtyps führt jedoch grundsätzlich der Interviewende das Gespräch und gibt die Themen vor, an denen er ein Untersuchungsinteresse hat. Durch die Offenheit der Fragen ohne vorgegebene Antwortmöglichkeiten ergibt sich die Struktur des Interviews rein aus der Interaktion zwischen Forschendem und Experten. (vgl. Burkhard 2015: 46 ff.) Gegenüber einer standardisierten Form der Befragung hat die offene Interviewform vor allem auch den Vorteil, dass sich auch implizites handlungsorientiertes Wissen der Experten (tacit knowledge) rekonstruieren lässt statt nur das den Experten diskursiv bewusste Wissen abzubilden (vgl. Meuser/Nagel 1994: 183). Meuser/Nagel (1991: 449) weisen darauf hin, dass es paradoxerweise gerade der Leitfaden sei, der die Offenheit des Interviewverlaufs gewährleiste, weil sich der Fragende, also der Forschende, dadurch mit den Themen vertraut mache und das Gespräch lockerer führen könne. Zugleich sichere der Leitfaden eine gewisse Vergleichbarkeit der Texte der Interviews im Hinblick auf die Absicht, Repräsentativität herzustellen und Kontrollierbarkeit zu gewährleisten und die Daten erhalten eine Struktur (vgl. Meuser/Nagel 1991: 451, Mayer 2004: 36). Zudem „schneidet [der Leitfaden] die interessierenden Themen aus dem Horizont möglicher Gesprächsthemen der ExpertInnen heraus und dient dazu, das Interview auf diese Themen zu focussieren“ (Meuser/Nagel 1991: 453). Er sichert also, dass die forschungsrelevanten Themen tatsächlich angesprochen werden und besteht aus Schlüsselfragen, die in jedem Interview angesprochen werden sollen, sowie Eventualfragen, die nur optional relevant werden (vgl. Schnell/Hill/Esser 1999: 355). Trotzdem bleiben in dieser Form des Interviews aber auch neue Erkenntnisse, die sich möglicherweise im Gespräch ergeben, nicht unberücksichtigt (vgl. Burkhard 2015: 61).

Für die Auswahl der Interviewpartner werden entsprechend der obigen Erläuterungen folgende drei Kriterien angelegt:

  1. 1.

    Bedeutung des Gesprächspartners als Akteur bzw. Vertreter einer wichtigen Institution, also eines komplexen Akteurs, im deutschen Mehrebenensystem der Kulturpolitik bzw. für die Umsetzung der Konvention

  2. 2.

    Die relevanten Akteursgruppen (Experten zum Thema Immaterielles Kulturerbe, Vertreter der Ebenen Bund, Länder und Kommunen sowie Vertreter der Zivilgesellschaft) sollen zudem als Fallgruppen jeweils mindestens einmal im Sample vertreten sein (vgl. Flick 2007: 154).

  3. 3.

    Bereitschaft für ein persönliches Interview zur Verfügung zu stehen

Die Nichtberücksichtigung eines Interviewpartners sagt allerdings nichts über dessen mangelnde Bedeutung aus, oder dass dieser nicht für ein Interview zur Verfügung gestanden hätte. Im Rahmen der für diese Arbeit nach rationalen Erwägungen zu führenden, anschließend zu transkribierenden und schließlich auszuwertenden Interviews musste unweigerlich eine Abwägungsentscheidung getroffen werden. Hierfür wurde auf ein statistisches Sampling zurückgegriffen, d. h. dass die nach dem o. g. Kriterium 2 entstehenden Zellen der Samplingstruktur jeweils ausreichend mit mindestens einem Vertreter besetzt sein sollten (vgl. Flick 2007: 156). Je Akteursgruppe sollten ein bis zwei Experteninterviews geführt und ausgewertet werden – insgesamt kam es auf Basis des Sampling zu sechs Interviews. Auf eine Mehrfachbesetzung wurde nur im Fall der Experten zurückgegriffen, um hier nicht eine singuläre Perspektive des durchaus vielfältigen Spektrums innerhalb der Fallgruppe zu repräsentieren. (vgl. Mayer 2004: 38 ff.)

Des Weiteren wurden für diese Arbeit Hintergrundgespräche mit weiteren Experten und Vertretern staatlicher Akteure, u. a. mit einem verantwortlichen Mitarbeiter in der Behörde der Staatsministerin für Kultur und Medien sowie mit Verantwortlichen der Trägergruppen von Kulturformen, geführt. Da es hierbei um die Analyse von Kontextwissen geht, denn die Interviews sollen zur Bestimmung des Sachverhalts beitragen, reicht es aus, eine partielle Auswertung entsprechend des Erkenntnisinteresses vorzunehmen und im Stadium der empirischen Generalisierung abzubrechen (vgl. Meuser/Nagel 1991: 446 ff.). Die Inhalte dieser Gespräche wurden jeweils mit Gedächtnisprotokollen schriftlich festgehalten und stellenweise zur Stützung der Analysen herangezogen; eine vollständige Transkription wäre in diesem Fall von geringem Nutzen.

5.3.1.3 Medienanalyse

Politische Prozesse sind untrennbar mit Kommunikation (darüber) verbunden (vgl. u. a. Wenzler 2009: 17). Daher erscheint es sinnvoll, die veröffentlichte Meinung über die Politikprozesse der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe mit in den Blick der Untersuchung zu nehmen. Bei der Auswertung von Medienberichten findet ebenfalls die qualitative Inhaltsanalyse Anwendung. Die Publizistik war der Ausgangspunkt für die Anwendung dieser Methode; zunächst in den USA, in Deutschland seit Ende der 1950er Jahre (vgl. Mayring 2007: 24 f.).

Zur Medienanalyse für diese Arbeit wird ebenfalls ein Relevanzraster erstellt: Aus dem Zeitraum 2013 bis 2016 sowie unter Berücksichtigung der Vorphase des deutschen Beitritts ab 2005 und eines Berichts aus dem Jahr 2017, sollen insgesamt etwa 40 Medienberichte in die Analyse eingehen.

Folgende Kriterien gelten als Relevanzraster für die Auswahl aus der großen Zahl der Medienberichte, die im untersuchten Zeitraum begleitend zur nationalen Umsetzung der Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes in Deutschland erschienen sind:

  1. 1.

    erschienen in einem relevanten Medium, d. h. einer deutschlandweit erscheinenden Zeitung/Zeitschrift (z. B. Die ZEIT, Die WELT, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Bild, Der Spiegel) oder einem öffentlich-rechtlichen/privaten Radio-/TV-Sender bzw. jeweils deren Internetangebot oder in einer Fachzeitschrift (z. B. Kulturpolitische Mitteilungen, Politik & Kultur) oder über eine große Nachrichtenagentur

  2. 2.

    explizite und qualifizierte Thematisierung des Gegenstands „Immaterielles Kulturerbe in Deutschland“, d. h. keine Kurzmeldungen oder reiner Themenbezug auf einzelne national oder international anerkannte Formen

Die Auswahl eines Medienberichts bedeutet, dass beide genannten Kriterien zweifelsfrei erfüllt sind. Prägend für die Auswahl sollte zudem eine Abbildung möglichst typischer Fälle der Darstellung von Immateriellem Kulturerbe in den Medien sein (vgl. Flick 2007: 165 und Schnell/Hill/Esser 1999: 279). Die Nichtberücksichtigung eines Medienberichts sagt dagegen nichts über eine mangelnde Erfüllung der o. g. Kriterien aus. Im Rahmen der etwa 40 im Rahmen dieser Arbeit nach rationalen Erwägungen handhab- und auswertbarer Medienberichte musste unweigerlich eine Abwägungsentscheidung getroffen werden. Zudem wird in der Gesamtschau der Auswahl darauf geachtet, dass es zu einer annähernden Gleichverteilung über die Jahre des Untersuchungszeitraums und von Berichten aus Print- und audiovisuellen Medien kommt.

5.3.1.4 Fallbeispiele

Bei Fallbeispielen, also Einzelfallanalysen, geht es darum, den individuell-besonderen Ausdruck einer allgemeinen Struktur festzustellen (vgl. Meuser/Nagel 1991: 452). Dafür sollten möglichst für die Forschungsfragen repräsentative Fälle gewählt werden. Zudem ist eine klare Strukturierung der Untersuchung im Hinblick auf diese Forschungsfragen wichtig, um eine Vergleichbarkeit mit anderen Fällen zu ermöglichen und diejenigen Aspekte herauszuarbeiten, die im jeweiligen Kontext interessieren. Fallbeispiele stehen zwar exemplarisch für ihre jeweilige Kategorie, eine Repräsentativität i. e. S., die meist Ziel wissenschaftlicher Untersuchungen ist, können sie aber nicht darstellen.

Als Fallbeispiele gelten im Rahmen dieser Arbeit zum einen ausgewählte Kulturformen, die im Zeitraum 2013–2016 Aufnahme ins Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes gefunden haben und in Abschnitt 4.2. bereits vorgestellt wurden. Zum anderen geht es um weitere Vertragsstaaten der UNESCO-Konvention, die vergleichend zur Umsetzung im nationalen Rahmen in Deutschland im Abschnitt 4.4. untersucht wurden.

Die Auswahl erfolgt in beiden Fällen nach dem Konkordanzprinzip, das heißt, dass möglichst ähnliche Fälle untersucht werden (vgl. Blum/Schubert 2009: 51). In Bezug auf die Kulturformen bedeutet das, dass es sich um typische Einträge im Verzeichnis handeln soll, das heißt u. a. solche, die bisher keine im Anschluss an die nationale Anerkennung folgende UNESCO-Nominierung durchlaufen haben, um die Effekte der Aufnahme ins Bundesweite Verzeichnis nicht zu überlagern. Diese sollen also besonders charakteristisch für die Grundgesamtheit sein. (vgl. Schnell/Hill/Esser 1999: 279) Die Aufnahme ins Verzeichnis soll zudem bereits in den Jahren 2014/2015 erfolgt sein, so dass im Untersuchungszeitraum bis einschließlich 2016 bereits relevante Effekte zu verzeichnen sind. Für die Auswahl im Rahmen dieser Arbeit zu untersuchenden Fälle von Kulturformen im Bundesweiten Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes werden daher folgende Kriterien angelegt, wobei möglichst alle Kriterien erfüllt sein sollen:

  1. 1.

    Kulturform mit klar fassbarer Trägergruppe, die mit der Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe im Jahr 2014 neuer Akteur in der Kulturpolitik in Deutschland geworden ist (vgl. den Fall einer Policy-Erneuerung, bei dem neue Akteure in das System eintreten, erläutert in Abschnitt 5.2.3.2.)

  2. 2.

    Die Trägergruppe ist überwiegend von bürgerschaftlichem Engagement getragen, das heißt die Wirkungen der Anerkennung sind nicht zu stark von touristischen bzw. wirtschaftlichen oder Verbandsinteressen geprägt.

  3. 3.

    durch Experten und den Autor dieser Arbeit subjektiv wahrgenommene Veränderung der gesellschaftlichen Akzeptanz der Kulturform und ihrer Träger in Folge der Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe in Deutschland

  4. 4.

    mit angemessenem Aufwand möglicher Zugriff auf weitere Informationen, z. B. Publikationen, Dokumente und Gesprächspartner der Trägergruppe (vgl. das Kriterium der „Annehmlichkeit“ bei Flick 2007: 166)

Bei der Auswahl interessiert in diesem Fall die Intensität der interessierenden Eigenschaften, Prozesse und Erfahrungen (vgl. Flick 2007: 165), das heißt die Wirkung der Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe. In der Gesamtschau der Fallbeispiele wird zudem darauf geachtet, dass verschiedene der fünf in der Konvention genannten Bereiche des Immateriellen Kulturerbes abgedeckt sind und eine gewisse regionale Ausgewogenheit innerhalb Deutschlands gegeben ist.

Die Kulturformen werden durch eine Analyse der Präsentation im Bundesweiten Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes, von Medienberichten, durch Hintergrundinterviews mit Mitgliedern der jeweiligen Trägergruppe und weitere verfügbare Dokumente, wie z. B. Publikationen und Internetdarstellungen, untersucht.

In Bezug auf die UNESCO-Vertragsstaaten gilt durch das Konkordanzprinzip, dass nur europäische Vertragsstaaten in Frage kommen. Für die konkrete Auswahl der im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Fälle der Vertragsstaaten wurden folgende zwei Kriterien angelegt, die beide erfüllt sein müssen:

  1. 1.

    Einreichung eines periodischen Berichts an die UNESCO, in dem Aussagen über die Charakteristika der nationalen Umsetzung der Konvention bzw. der dabei angewandten Projekte, Programme und Strategien zu finden sind, im Untersuchungszeitraum

  2. 2.

    Verfügbarkeit weiterer Dokumente über die jeweilige nationale Umsetzung der Konvention im Untersuchungszeitraum und zur Kulturpolitik im Allgemeinen

Die Nichtberücksichtigung eines Vertragsstaats heißt nicht, dass die Kriterien nicht als erfüllt betrachtet werden können, allerdings gilt, dass entsprechend des Konkordanzprinzips möglichst ähnliche und daher auch räumlich nah an Deutschland liegende Staaten ausgewählt werden. Im Rahmen der beiden Kriterien wurde angestrebt, trotz des Konkordanzprinzips auch eine gewisse Variationsbreite der Fälle zu erhalten, um die Unterschiedlichkeit im Feld abzubilden (vgl. Flick 2007: 165). Die Vertragsstaaten werden durch eine Analyse ihres periodischen Berichts, durch Hintergrundinterviews mit Verantwortlichen für die jeweilige nationale Umsetzung und weitere verfügbare Dokumente, wie z. B. Publikationen und Internetdarstellungen, untersucht.

5.3.2 Bestimmung der Untersuchungsobjekte

Die Auswahl der konkreten Fälle einer Stichprobe bzw. Untersuchungsobjekte orientiert sich an einer möglichst gleichmäßigen und zumindest ausreichenden Besetzung der vordefinierten Kriterien (vgl. Abschnitt 5.3.1.). Bei der konkreten Fallzahl muss zwischen den Anforderungen Vollständigkeit und Ökonomie abgewogen werden. (vgl. Mayer 2004: 39)

5.3.2.1 Dokumentenanalyse

Die Auswahl der Dokumente bedurfte einer retrospektiven Betrachtung der verfügbaren Akten samt einer Bewertung der Relevanz für das vorliegende Untersuchungsvorhaben. Folgende Dokumente sollen entsprechend der in Abschnitt 5.3.1.1. genannten Kriterien Eingang in die Untersuchung finden:

  • Dok. 1: DUK-Sachstand „Die UNESCO und das immaterielle Kulturerbe“ vom 22.08.2002

  • Dok. 2: Dokumentation Workshop „Handwerk und Immaterielles Kulturerbe“ 9./10. April 2008 in Berlin-Köpenick

  • Dok. 3: BKM-Sachstand vom 21.11.2008 zum UNESCO-Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes vom 17. Oktober 2003 (angefordert durch die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag)

  • Dok. 4: heute im Bundestag vom 26.03.2009: „Experten: Unesco-Übereinkommen kann kulturelles Erbe fördern. Ausschuss für Kultur und Medien (Anhörung)“

  • Dok. 5: BT-Drs. 16/13343 vom 11.06.2009 – Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion zum Thema „UNESCO-Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes vom 17. Oktober 2003“

  • Dok. 6: Einschätzung der DUK zum BKM-Sachstand (vom 21.11.2008) vom Juli 2010

  • Dok. 7: Protokoll des Auswärtigen Amts vom 28.02.2011 der Expertenbesprechung am 08.02.2011 zum UNESCO-Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes

  • Dok. 8: Informelles Arbeitspapier KMK, BKM, AA mit den Ergebnissen des informellen Arbeitsgesprächs zum UNESCO-Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes am 14.04.2011

  • Dok. 9: BT-Drs. 17/6301 vom 28.06.2011 – Antrag „Ratifizierung des UNESCO-Übereinkommens zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes vorbereiten und unverzüglich umsetzen“ der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen

  • Dok. 10: BT-Drs. 17/6314 vom 29.06.2011 – Antrag „Ratifizierung der UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe vorantreiben“ der Fraktionen CDU/CSU und FDP

  • Dok. 11: Resolution des Bund Heimat und Umwelt in Deutschland zum UNESCO-Übereinkommen zur Bewahrung des Immateriellen Kulturerbes: Immaterielles Kulturerbe anerkennen und bewahren, 03.07.2011

  • Dok. 12: Einladung zum Fachgespräch „Nationale Umsetzung der UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe“ (05.09.2011) der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag

  • Dok. 13: Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 08.12.2011 zum UNESCO-Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes der Menschheit (IKE) –Position der Kultusministerkonferenz zur Ratifizierung

  • Dok. 14: BT-Drs. 17/8121 vom 13.12.2011 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien

  • Dok. 15: Konzeption Interner Beratungsworkshop der Deutschen UNESCO-Kommission zur Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes in und durch Deutschland am 14.03.2012

  • Dok. 16: Vermerk des BKM zum Antrag auf Gewährung einer Bundeszuwendung aus Kap. 0405 Titel 685 21 Erl.Ziff. 2.4 der Deutschen UNESCO-Kommission zur Finanzierung der Errichtung einer Geschäftsstelle zur Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes (IKE) vom 02.04.2012

  • Dok. 17: Pressemitteilung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 06.08.2012: „Welterbe der Kulturtraditionen. Ratifizierung zügig zum Abschluss bringen“Footnote 1

  • Dok. 18: Arbeitspapier der Deutschen UNESCO-Kommission „Das lebendige Kulturerbe kennenlernen und wertschätzen!“ (August 2012)Footnote 2

  • Dok. 19: Ergebnisvermerk zu den Bund-Länder-Absprachen betreffend Vorbereitung des Beitritts und Umsetzung UNESCO-Übereinkommen Immaterielles Kulturerbe vom 29.10.2012 (basierend auf Protokoll der Ressortbesprechung am 05.06.2012)

  • Dok. 20: Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 06.12.2012 – Position der Kultusministerkonferenz zur Gestaltung des Verfahrens für die Vorschlagsliste Immaterielles Kulturerbe der Kultusministerkonferenz an die Deutsche UNESCO-Kommission sowie zur Aktualisierung des ländereinheitlichen Nominierungsverfahrens in Deutschland

  • Dok. 21: Kabinettsache Datenblatt 17/05067: „Beschluss über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum UNESCO-Übereinkommen vom 17. Oktober 2003 zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes“ zum Beschluss am 12. Dezember 2012

  • Dok. 22: Bund Heimat und Umwelt e. V. Immaterielles Kulturerbe: Chance und Herausforderung für die Vereine, Dezember 2012Footnote 3

  • Dok. 23: Deutschland tritt UNESCO-Übereinkommen zum immateriellen Kulturerbe bei; Pressemitteilung des Auswärtigen Amts vom 11.04.2013Footnote 4

  • Dok. 24: Deutscher Kulturrat benennt Anforderungen für Listen zum nationalen immateriellen Kulturerbe, 06.12.2013

  • Dok. 25: Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 11.12.2014 – KMK-Verfahren in Umsetzung des UNESCO-Übereinkommens zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes

  • Dok. 26: Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Auszeichnung von 27 Kulturformen als immaterielles Kulturerbe am 16.03.2015Footnote 5

  • Dok. 27: Rede von Brunhild Kurth, KMK-Präsidentin am 16.03.2015 (Auszeichnungsveranstaltung)Footnote 6

  • Dok. 28: DUK-Argumentationspapier: „Immaterielle Kultur in Deutschland gesucht – Botschaften an potentielle Zielgruppen (nicht nur) im urbanen Kontext“, Oktober 2015Footnote 7

  • Dok. 29: DUK-Argumentationspapier: Positive Effekte eines Bewerbungsprozesses als Immaterielles Kulturerbe in Deutschland, Oktober 2015Footnote 8

5.3.2.2 Experteninterviews

Die Auswahl der Gesprächspartner für die Experteninterviews bedurfte einer genauen Kenntnis des Handlungs- und Forschungsfeldes inklusive seiner Organisationsstrukturen und Kompetenzverteilungen (vgl. Mayer 2004: 41). Demnach wurden entsprechend der in Abschnitt 5.3.1.2. genannten Kriterien folgende Personen jeweils in einem leitfadengestützten Tiefeninterview von etwa 45 bis 60 Minuten im Zeitraum zwischen dem 15. Oktober und dem 15. November 2018 befragt (vgl. Tabelle 5.1):

Tabelle 5.1 Samplingstruktur der Interviewpartner

Da die Funktionen im Grunde in allen diesen Fällen das Expertentum begründen, sind die Zitate nur mit den angegebenen Kürzeln versehen. Durch die Funktionen und zum Teil auch aus den Aussagen kann jedoch relativ leicht auf die individuellen Personen geschlossen werden, so dass keine komplette Anonymisierung vorgenommen wurde, sondern im Gegenteil, wo dies sinnvoll und der Erkenntnis zuträglich erschien, zum Teil im Text auch namentlich auf die Urheber der Aussagen im jeweiligen Kontext eingegangen wird.

5.3.2.3 Medienanalyse

Die Auswahl der Medienberichte bedurfte einer retrospektiven Betrachtung der verfügbaren Veröffentlichungen samt einer Bewertung der Relevanz für das vorliegende Untersuchungsvorhaben. Folgende Medienberichte wurden entsprechend der in Abschnitt 5.3.1.3. genannten Kriterien ausgewählt:

  • Die ZEIT: „Nicht zu fassen“, 20.06.2005

  • Die WELT: „Artenschutz für den Tango“, 01.10.2009

  • dpa/Bonner General-Anzeiger: „Flamenco und die gute Küche“, 18.11.2010

  • FAZ: „Vom Flamenco bis zur Springprozession“, 18.11.2010

  • Die ZEIT: „Die Welt als Museum“, 25.11.2010

  • Frankfurter Rundschau: „Die Klöße als Weltkulturerbe“, 10.11.2011

  • Die WELT: „Wiener Kaffeehäuser sind Weltkulturerbe“, 11.11.2011

  • dpa/NWZ: „SPD will Grünkohl schützen“, 16.03.2012

  • dapd/Märkische Oderzeitung: „Neumann zum Theatertreffen: Keine Bühne ist verzichtbar“, 04.05.2012

  • Stuttgarter Nachrichten: „Bewerber um das Unesco-Gütesiegel stehen Schlange“, 26.05.2012

  • DeutschlandRadio: „Schon bald: Weltweiter Schutz für den Kölner Karneval“, 29.11.2012

  • dpa/Focus.de: „Deutschland tritt Unesco-Abkommen für immaterielles Kulturerbe bei“, 12.12.2012

  • Spiegel online: „Unesco-Abkommen zu Kulturerbe“, 12.12.2012

  • Die WELT: „Deutschland schützt Kulturerbe“, 12.12.2012

  • FAZ: „Kultur, immateriell“, 14.12.2012

  • WDR 5: „Tagesgespräch: Zwischen Biikebrennen und Almabtrieb“, 02.01.2013

  • SWR 2: „Rettet die Brezel – Wieviel Kulturerbe braucht die Welt?“, 18.01.2013

  • Die WELT: „Bälle, Brot und Kegel“, 13.03.2013

  • 3sat Kulturzeit: „66 Sekunden News – Deutschland für Immaterielles Kulturerbe“, 12.04.2013

  • FAZ: „Chöre, Sagen, Schafe“, 17.08.2013

  • DeutschlandRadio Kultur: „Gesucht wird der deutsche Tango“, 30.10.2013

  • dpa: „Unesco: Großes Interesse an Welterbeliste für Brauchtum“, 30.10.2013

  • Bayern 2: „Sendung Notizbuch: Immaterielles Kulturerbe“, 06.12.2013

  • taz.de: „Rattenfänger, Nikolaus und Karneval“, 12.12.2013

  • rbb Kulturradio: „Hörerstreit: Immaterielles Kulturerbe“, 13.12.2013

  • dpa/Focus.de: „128 Traditionen im Rennen um den Unesco-Kulturerbe-Titel“, 16.12.2013

  • Süddeutsche Zeitung: „Was die Welt den Bayern zu verdanken hat. Immaterielles Weltkulturerbe“, 22.01.2014

  • Spiegel Online: „Immaterielles Kulturerbe der Unesco. Mokka, Kimchi – und Fritten?“, 08.08.2014

  • Deutschlandradio Kultur: „Erste Liste mit Deutschlands immateriellen Kulturerbe vorgestellt“, 12.12.2014

  • Deutschlandfunk Kultur heute (17:35 Uhr): Karneval und Brotbacken sind immaterielles Kulturerbe der Unesco, 12.12.2014

  • Spiegel online: „Schützen-Bewerbung für Unesco-Liste: Schuss in den Ofen“, 17.02.2015

  • FAZ: „Unesco lässt Schützen vorerst abblitzen.Posse um muslimischen König“, 17.02.2015

  • WDR Aktuelle Stunde: „Schützenwesen kein Kulturerbe“, 17.02.2015

  • dpa: „Zweiter Versuch: Schützen zielen weiter auf Kulturerbe-Status ab“, 21.02.2015

  • dpa/derwesten.de: „Streit um Kulturerbe – Schützen fühlen sich diskriminiert“, 25.02.2015

  • WDR online: „Neue Chance für Traditionen: UNESCO ruft zu Bewerbungen für Kulturerbe auf“, 01.03.2015

  • Deutschlandradio Kultur: „Deutschlands immaterielles Kulturerbe ausgezeichnet – Insgesamt stehen 27 Traditionen und Wissensformen auf der Liste“, 16.03.2015

  • Deutsche Welle online: „Auszeichnung für immaterielle Kulturgüter“, 16.03.2015

  • ARD Nachtmagazin: „Unesco stellt Liste mit immateriellem Kulturerbe Deutschlands vor“, 17.03.2015

  • Correctiv.org: „Das Finkenmanöver“, 03.08.2015

  • rbb kulturradio: „UNESCO-Kommission wirbt um Bewerber für immaterielles Kulturerbe“, 01.09.2015

  • Rhein-Neckar-Zeitung: „Was macht eigentlich unser kulturelles Erbe aus?“, 08.03.2016

  • Süddeutsche Zeitung: „Wie die Kerwa unter der Linde erhalten blieb“, 30.08.2017

5.3.2.4 Fallbeispiele

Die Auswahl der Fallbeispiele der Kulturformen bedurfte einer Abwägung der Passung und Bewertung der Intensität der Wirkung der Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe für das vorliegende Untersuchungsvorhaben. Folgende Einträge im Bundesweiten Verzeichnis sind entsprechend der in Abschnitt 5.3.1.4. genannten Kriterien als Fallbeispiele ausgewählt worden:

  • Lindenkirchweih Limmersdorf

  • Finkenmanöver im Harz

  • Peter-und-Paul-Fest Bretten

Erläuterungen, Erfahrungen und Überlegungen zu weiteren Fallbeispielen fließen zum Teil darüber hinaus in die Arbeit ein.

Die Auswahl der Fallbeispiele der Vertragsstaaten, die vergleichend mit Deutschland im Rahmen dieser Arbeit betrachtet werden, erfolgte entsprechend der in Abschnitt 5.3.1.4. genannten Kriterien:

  • Österreich

  • Schweiz

  • Belgien

  • Frankreich

Erfahrungen und Charakteristika weiterer Konventions-Vertragsstaaten finden an geeigneten Stellen ebenfalls Berücksichtigung.

5.3.3 Vorgehen der empirischen Untersuchung

Der Autor dieser Arbeit hat durch seine Funktion als Referent der Geschäftsstelle Immaterielles Kulturerbe der Deutschen UNESCO-Kommission (2012–2019) selbst am Prozess der Umsetzung der Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes in Deutschland mitgewirkt. Die eigene Teilnahme an der Ausgestaltung des Umsetzungsverfahren im Mehrebenensystem, die Mitwirkung an Veranstaltungen und bei der Abstimmung staatlicher Akteure untereinander, Einblicke in den Verlauf von Expertensitzungen und Teilnahmen an Fachgesprächen und vielem mehr fließen als Erfahrungen teilnehmender Beobachtung in die empirische Untersuchung ein.

Die eigentliche, wissenschaftlich-empirische Untersuchung ab 2016 begann zunächst mit einer strukturierten Analyse der ausgewählten Dokumente. Deren Grundaussagen wurden dafür durch Paraphrasieren der wichtigsten Stellen und eine Verdichtung auf eine zentrale Aussage zusammengefasst und Kapiteln dieser Arbeit zugeordnet, für die sie eine mögliche erkenntniserhellende Funktion haben könnten. An geeigneten Stellen der Arbeit wurden die Dokumente dann für die Analyse direkt zu Rate gezogen. In den Jahren 2018 und 2019 erhielt der Autor der Arbeit ergänzend zu den ihm direkt zugänglichen Dokumenten auch Einblick in die Archive und Aktenbestände des Auswärtigen Amts, der Deutschen UNESCO-Kommission und des Zentralverbands des Deutschen Handwerks. In den Jahren 2020 und 2021 hielt er zudem Kontakt zu den für die nationale Umsetzung in den vier untersuchten Vergleichsstaaten (Österreich, Schweiz, Belgien und Frankreich) Verantwortlichen, um die entsprechenden in Dokumenten vorliegenden Informationen abzusichern und zu ergänzen.

Im zweiten Schritt wurde der Leitfaden für die Interviews auf Basis der Forschungsfragen und in Anlehnung an die theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema dieser Arbeit entwickelt. Als strukturierende Form diente das Modell des Policy-Cycles (siehe Anhang im elektronischen Zusatzmaterial). Zugleich wurden die Experten für die Interviews angefragt. Der Kontakt erfolgte direkt durch den Autor und ergab – bis auf eine Anfrage, bei der der Angefragte an seiner Statt um Berücksichtigung seiner Vorgesetzten für ein Interview bat – durchweg positive Rückmeldungen. Hier konnte der Autor dieser Arbeit vermutlich von seinen bestehenden Kontakten aus dem beruflichen Kontext profitieren.

Anfang Oktober 2018 wurde vom Autor dieser Arbeit, der zugleich alle Interviews mit den Experten selbst durchgeführt hat, anhand des Leitfadens ein Pretest in Form eines Probeinterviews (vgl. Mayer 2004: 44 f.) durchgeführt. Hierfür stellte sich ein damaliger Mitarbeiter der Geschäftsstelle Immaterielles Kulturerbe der Deutschen UNESCO-Kommission zur Verfügung. Der Pretest ermöglichte zum einen einen Test der Relevanz und Funktionalität der Fragen und zum anderen auch eine Probe der echten Interviewsituation. Auf Basis der Erfahrung in der Interviewsituation und durch das Feedback des Interviewten konnten noch Präzisierungen in den Formulierungen, bezüglich einleitender Bemerkungen zur Struktur des Gesamtfragebogens und zur Erläuterung wichtiger Begrifflichkeiten, sowie Überarbeitungen in der Reihenfolge der Fragestellung und eine Priorisierung im Hinblick auf das jeweilige Erkenntnisinteresse bei den individuellen Gesprächspartnern erfolgen.

Die sechs leitfadengestützten Interviews wurden im Zeitraum 15. Oktober bis 15. November 2018 geführt, unter Zustimmung der Interviewpartner als Audiospuren aufgezeichnet und in Form von Audiodaten abgespeichert. Dies hatte den großen Vorteil, dass die Daten im Nachgang transkribiert und strukturiert ausgewertet werden konnten. Zudem hatte der Interviewte Raum zur Entfaltung seiner Gedanken und der Interviewer konnte sich voll auf die inhaltlichen Anforderungen der Befragung konzentrieren (vgl. Schnell/Hill/Esser 1999: 355). Dies ermöglichte eine flexible Handhabung der Ausführlichkeit und Reihenfolge der Beantwortung späterer Fragen sowie den Einschub möglicher Sondierungs-, Kontroll- und Verständnisfragen. (vgl. Mayer 2004: 46 sowie Flick 2007: 223)

Im Nachgang wurden die Tonbandaufnahmen verschriftlicht. Die Transkriptionen geben die Experteninterviews vollständig wieder, enthalten jedoch keine im Sprechfluss auftretenden Wortwiederholungen, die keinen Mehrwert darstellen. Als die sechs Transkriptionen vorlagen, wurden zunächst jene Stellen, die direkt ersichtlich Antworten auf Fragen des Leitfadens ergaben, markiert und in knapper Form grob inhaltlich paraphrasiert zusammengefasst. Diese Paraphrasen wurden im zweiten Schritt zu kurzen thematischen Überschriften verdichtet, also thematisch kodiert (vgl. Meuser/Nagel 1991: 454), und anschließend mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2007 sowie Kuckartz 2012) in Kombination mit der von Meuser/Nagel (1991: 451–463) vorgeschlagenen interpretativen Strategie – stellenweise in dem Sinne, wie es Mayer (2004: 47 ff.) orientiert an dem 1981 erschienenen Artikel „Auswertungsprobleme offener Interviews“ von Mühlfeld et al. darstellt, etwas pragmatischer gehandhabt, – ausgewertet. Im nächsten Schritt wurden Passagen aus verschiedenen Interviews, die gleiche oder sehr ähnliche Themen behandeln, in einem separaten Dokument zusammengestellt und auf diese Weise neu geordnet sowie unter eigenen thematischen Überschriften, die auch unter Berücksichtigung der theoretischen Erkenntnisse entstanden, in ein Kategorienschema geclustert (vgl. Mayer 2004: 47–54 und folgendes Abschnitt 5.3.4.). Diese Zusammenstellung von relevanten Interviewpassagen wurde nun zur weiteren Auswertung von Widersprüchen zwischen den Aussagen und natürlich auch übereinstimmenden Einschätzungen genutzt – schließlich ist bei der Auswertung das Ziel, das Überindividuell-Gemeinsame im Vergleich der Texte zu extrahieren (vgl. Meuser/Nagel 1991: 452) – und insbesondere für die in Kapitel 6 erfolgende Analyse zur Präsentation im Rahmen dieser Arbeit verwendet. Die Interviews als ganze bleiben unveröffentlicht, weshalb in der Zitation in dieser Arbeit auch keine Zeilennummern angegeben werden.

Parallel und teilweise im Nachgang zur Auswertung der Interviews wurden auch die ausgewählten Medienberichte nach oben beschriebenem Schema einer Paraphrasierung der interessantesten Aussagen und Kondensierung auf die zentrale Aussage ausgewertet und an geeigneten Stellen als Belege der getroffenen Aussagen hinzugezogen.

Die Fallbeispiele wurden zuletzt analysiert: Hierfür wurden neben den veröffentlichten Quellen die offiziellen Darstellungen – im Fall der Formen des Immateriellen Kulturerbes im Bundesweiten Verzeichnis die Online-Präsentationen der Einträge, im Fall der anderen Vertragsstaaten die jeweiligen Online-Darstellungen und die Staatenberichte an die UNESCO – ausgewertet. Durch Hintergrundgespräche mit Vertretern der Kulturformen (zum Peter-und-Paul-Fest Bretten mit Peter Dick am 30.11.2020; zum Finkenmanöver im Harz mit Dieter Spormann am 03.01.2021; zur Lindenkirchweih Limmersdorf mit Veit Pöhlmann am 23.01.2021) und Verifizierungen der Informationen durch Experten der nationalen Umsetzung in den anderen Vertragsstaaten wurden die jeweiligen Darstellungen angereichert.

5.3.4 Bildung der Kategorien

Die Bildung der Kategorien, nach der das Quellenmaterial der vorliegenden Arbeit untersucht wurde, ging zum einen von der Arbeitshypothese und den gewählten methodischen Ansätzen aus und basierte zum anderen auf dem vorliegenden Material der transkribierten Experteninterviews sowie der Dokumente und Medienberichte. Für dieses Vorgehen mit induktiven und deduktiven Elementen bei der Kategorienbildung (vgl. Abschnitt 5.2.2.) sprach, dass eine vergleichsweise offene, an den Forschungsfragen orientierte Herangehensweise die empirische Arbeit strukturierte.

Als Kategorien der Untersuchung in den Kapiteln 6 und 7 wurden folgende herausgearbeitet:

Phase Agenda Setting

  • Begriffsverständnis und Relevanz des Themas Immaterielles Kulturerbe in Deutschland

  • Faktoren für den deutschen Beitritt zur Konvention

  • Rolle der verschiedenen Akteure für den Beitritt

Phase Politikformulierung

  • Verfahrensfragen

  • Interessen der beteiligten Akteure

  • Anleihen/Adaptionen anderer Modelle

  • Ziel kulturelle Teilhabe und/oder Würdigung zivilgesellschaftlichen Engagements

Phase Politikimplementierung

  • Projekte, Programme und Strategien (outputs) der Umsetzung in Deutschland (=Forschungsfrage 1)

  • Akteursverhältnisse (=Forschungsfrage 2)

  • Wirkung (impact und ggf. outcome) hinsichtlich der Entwicklung des Begriffsverständnisses, der Bekanntheit und gesellschaftlicher Debatten, des Nutzens für Akteure und ihre Interessen sowie der übergreifenden Ziele (=Forschungsfrage 3)

  • Kulturwissenschaftliche Erkenntnisse aus dem Umsetzungsprozess (=Forschungsfrage 4)

  • Internationale Zusammenarbeit und Mitwirkung an der Konventionsumsetzung (=Forschungsfrage 5)

Phase Politikreformulierung/Evaluierung

  • Anpassungen von Umsetzungsparametern im innerstaatlichen Verfahren

  • Aspekte des Lernens von anderen Umsetzungsmodellen

5.4 Bewertung der Datengrundlage und Fehleranalyse

Zunächst muss man sich bei empirischen Untersuchungen immer fragen, ob die Ergebnisse valide, d. h. gültig im Hinblick auf das Untersuchungsziel (Wird tatsächlich das gemessen, was gemessen werden soll?), und reliabel, also zuverlässig im Hinblick auf die Ergebnisse (Würde bei einer erneuten Messung unter gleichen Bedingungen das gleiche Ergebnis erzielt werden?) sind. Selbstverständlich können diese Gütekriterien in qualitativen Forschungsarbeiten nicht in gleicher Weise erfüllt werden wie in quantitativen. Es werden daher „methodenangemessene Gütekriterien“ (Flick 2007: 489) gefordert und entwickelt bzw. die Kriterien Gültigkeit und Zuverlässigkeit werden entsprechend reformuliert (vgl. Mayer 2004: 54 f.), was im Folgenden für diese Arbeit kurz dargelegt werden soll:

Die Auswahl der Art der Erhebung der relevanten Daten für diese Arbeit ist die erste mögliche Fehlerquelle im Hinblick auf die Validität. Ob die in Abschnitt 5.3. vorgestellte Vorgehensweise tatsächlich der beste Weg zur Messung der entsprechenden Realität ist, muss offenbleiben. Der theoretische Ansatz und die Erhebungsmethoden haben sich jedoch in früheren Forschungsvorhaben mit ähnlichen Zielen, wie etwa im Forschungsstand (Kapitel 2) oder im Abschnitt 5.2. der vorliegenden Arbeit dargelegt, als vorteilhaft erwiesen. Bei der Auswahl der Fälle, der zu untersuchenden Dokumente und der zu befragenden Experten wurde kriteriengeleitet vorgegangen (siehe Abschnitt 5.3.1.), nichtsdestotrotz bleibt als mögliche Fehlerquelle, die die Reliabilität beeinträchtigen kann, eine unzulässige Interpretation dieser Kriterien bzw. ihrer Anwendung bei der Auswahl durch den Autor dieser Arbeit bestehen.

In der Durchführung der Interviews war zwischen der gewählten Form persönlicher Interviews (vgl. u. a. Schnell/Hill/Esser 1999: 299 ff., 330 ff.) und einer schriftlichen Befragung (vgl. u. a. Schnell/Hill/Esser 1999: 335 ff., 339 f.) abzuwägen: Nachteil der ersten Variante ist die nicht zu vermeidende Beeinflussung des Befragten durch den Interviewer auf Grund der Art der Gesprächsführung, der Art der Fragestellung, aufgrund persönlicher Sympathie oder Antipathie usw. Gleichzeitig bietet die persönliche Interviewsituation die Möglichkeit bei Missverständnissen erläuternd einzuschreiten oder auf Unverständnis direkt zu reagieren. Schriftliche Befragungen erhöhen das Gefühl der Anonymität beim Befragten, was sowohl positive Effekte – z. B. potenziell größere Offenheit und Ehrlichkeit bei der Beantwortung – wie auch negative Effekte – z. B. nachlässige oder unehrliche Antworten im Vergleich zu einer persönlichen Befragung – haben kann. Generelle Fehlerquelle bei Befragungen ist der mögliche Einfluss des tagesaktuellen Geschehens am Tag der Beantwortung. Dies kann kaum zuverlässig kontrolliert werden. Ferner muss in dieser Hinsicht als Fehlerquelle speziell der persönlichen Interviews in dieser Arbeit der zeitliche Abstand zwischen den Interviews gewertet werden. Ein weiterer Störfaktor bei der Durchführung und späteren Auswertung von Interviews ist, dass Mimik, Gestik und Verhalten der Probanden nicht mit aufgenommen und folglich auch nicht ausgewertet werden können.

Nicht nur bei den Experteninterviews steht zudem die Frage im Raum, ob Befragte, in diesem Fall die Experten, tatsächlich die ganze Wahrheit sagen. Sicherlich ist das nicht immer der Fall. Zumindest geben sie zum Teil subjektive Einschätzungen ab. Objektivität wird erst durch den Vergleich, die Identifizierung von Gemeinsamkeiten, hergestellt. Laut Meuser/Nagel (1991: 466 f.) gibt es außerdem zumindest zwei Faktoren, die gewährleisten, dass Experten nicht lügen und dass mögliche Widersprüche erkannt werden können, nämlich zum einen, dass sie annehmen müssen, dass auch andere Experten aus dem Feld im Rahmen der jeweiligen Arbeit befragt werden, und zum anderen, dass durch Vergleiche der Plausibilität innerhalb des Interviews als auch mit anderen geführten Interviews des selben Expertenkreises nicht verallgemeinerbare Aussagen durchaus identifiziert werden können.

Bei der Auswertung von Experteninterviews, Dokumenten und Medienberichten stellt sich stets das Problem, dass es keine objektive und auch keine eindeutige Interpretation von Texten geben kann. Durch die Festlegung von einheitlichen Kategorien und die Maßnahmen eines einheitlichen Interviewleitfadens, das Führen der Interviews in einem engen Zeitraum (zwischen dem 15. Oktober und dem 15. November 2018) sowie die Auswahl von Experten, die aus einem geteilten institutionell-organisatorischen Kontext eines Policy-Netzwerks stammen, wurde versucht eine Verallgemeinerbarkeit, d. h. Gültigkeit über das einzelne Interview hinaus herzustellen. (vgl. Meuser/Nagel 1991: 451 f.) Damit lässt sich aber auch nicht das grundsätzliche Problem lösen, dass Ausschnitte aus Interviews, die zur Illustration von Aussagen gewählt werden, immer selektiv sein werden und insofern die Anforderung an Gütekriterien aus der quantitativen Forschung nie ganz erfüllen werden. Durch eine verkürzte Wiedergabe von Aussagen kann es stets zu fehlerhaften Schlüssen kommen oder zumindest als verkürzte Form der Darstellung beim Leser andere Schlüsse nahelegen als vom Befragten intendiert. Flick (2007: 488) spricht von „selektiver Plausibilisierung“. Im Hinblick auf die Zuverlässigkeit erweist sich also als Problem, dass im Nachhinein schwer deutlich zu machen ist, was tatsächlich genuin Aussage des Befragten ist und was durch die Interpretation des Forschers und seine Verwendung in einem bestimmten Kontext schon Interpretation ist (vgl. Mayer 2004: 55). Hier hilft nur die Herstellung von Transparenz bezogen auf die Umstände der Entstehung und den Wortlaut der Interviews sowie das reflexiv dokumentierte Vorgehen bei der Auswertung (siehe Abschnitt 5.3.3.).

Als Fehlerquelle bleibt in jedem Fall auch, dass tendenziell die eigenen Untersuchungsergebnisse überbewertet werden. Bei den untersuchten Dokumenten, Medienberichten, Fallbeispielen und befragten Experten muss man sich stets vor Augen führen, dass es sich um nur einen Ausschnitt der Realität handelt. Dieser Ausschnitt wurde zwar bewusst und mit guten Gründen, wie in der vorliegenden Arbeit ausführlich dargelegt, gewählt, er kann aber eben nicht als einhundertprozentig verallgemeinerbar angenommen werden.

Bezogen auf die Gültigkeit der Ergebnisse der Untersuchung strebt diese Arbeit durch die Vorkehrungen bei der Methodologie zumindest eine sogenannte ökologische Validierung an, das heißt, dass die Gültigkeit im natürlichen Lebensraum – dem Politikfeld Kulturpolitik in Deutschland – gegeben ist. Auch eine kommunikative Validierung, das heißt die Zustimmung der Befragten zu den Ergebnissen der Interpretation, wurde als Möglichkeit der Validierung bei Aussagen, die uneindeutig waren bzw. nicht plausibel erschienen, eingebaut. Schließlich wird die Zukunft durch eine Validierung an der Praxis zeigen, ob die Interpretationen dieser Untersuchung korrekte Vorhersagen sind bzw. waren. (vgl. Mayer 2004: 56)

Weitere Fehler, rein faktischer Art, z. B. bei Daten und Zahlen, sind natürlich nicht auszuschließen, obwohl durch, wenn möglich, stets Rückgriff auf mindestens zwei voneinander unabhängige Quellen und mehrfaches Kontroll- und Korrekturlesen größte Anstrengungen unternommen wurden, um valide Angaben zu präsentieren.