Um die Ziele dieser Arbeit zu erreichen und Antworten auf die Forschungsfragen zu finden, genügt es nicht, sich mit konkreten Fallbeispielen von als Immaterielles Kulturerbe anerkannten Kulturformen in Deutschland zu beschäftigen. In der vorliegenden Arbeit wird daher der Ansatz einer systematischen Bearbeitung der Thematik mit den Methoden der Politikfeldanalyse, eine analytische Befassung mit der Kulturpolitik in Deutschland und eine wissenschaftliche Aufarbeitung der UNESCO-Konvention im internationalen und insbesondere im nationalen Rahmen, verfolgt. Ein Blick in den Stand der Forschung zu diesen Themen ergibt zunächst, dass zur Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes kaum Arbeiten aus einer rein politikwissenschaftlichen Betrachtung bzw. Analyse vorliegen. Zur deutschen Umsetzung gibt es nach aktuellem Kenntnisstand bisher keine Untersuchung.

Die Deutsche UNESCO-Kommission hat 2007 ein Themenheft ihrer damals regelmäßig erscheinenden Reihe „UNESCO heute“ zum Immateriellen Kulturerbe veröffentlicht. Dieses enthält eine Reihe von aufschlussreichen Beiträgen zur konzeptionellen Idee und zur Frühphase der Umsetzung der Konvention, bildet jedoch angesichts der dynamischen weiteren Entwicklung international und für die eigentliche Umsetzung in Deutschland seit 2013 nur einen historischen Stand ab. Seitdem hat sich die Deutsche UNESCO-Kommission darauf beschränkt die Vertragstexte (Konvention und Richtlinien zur Durchführung der Konvention) in deutscher Sprache sowie Zusammenstellungen der Einträge im Bundesweiten Verzeichnis in Form von Publikationen zu veröffentlichen. Auf ihrer Webseite unesco.de erschienen eine Zeit lang in Form von Artikeln in loser Folge Meinungsbeiträge von Experten und Interviews mit wichtigen Akteuren der Umsetzung der Konvention, die größtenteils inzwischen aber nicht mehr verfügbar sind. Im Hinblick auf Kulturerbe im Allgemeinen, aber mit einem erkennbar großen Interesse am neuen Instrument der UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe, lief von 2008 bis 2015 in Göttingen ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes und international breit rezipiertes interdisziplinäres Forschungsprojekt zu „Cultural Property“ (vgl. http://cultural-property.uni-goettingen.de; Zugriff am 19.06.2022). Hierbei entstanden zahlreiche Veröffentlichungen. Markus Tauschek hat in diesem Rahmen mit seiner Untersuchung des Karnevals von Binche (Belgien) in Deutschland Pionierarbeit im Feld der Kulturanthropologie/Europäischen Ethnologie geleistet. Den entstandenen Sammelbänden sind zudem eine Reihe vorläufiger Einsichten – zeitlich bedingt allerdings noch in weitgehender Unkenntnis der deutschen Umsetzung – zur Governance rund um die UNESCO-Konvention von 2003 zu verdanken. Eine wichtige Erkenntnis, die auch die vorliegende Arbeit inspiriert hat, ist,

„dass aus der Implementierung und Nutzung dieser internationalen Konventionen der UNESCO auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene eine Vielzahl von Heritage-Strategien erwachsen. Für eine Vielfalt von individuellen Heritage-AkteurInnen und -Akteursgruppen, Institutionen und sonstigen InteressenvertreterInnen birgt Heritage politisches, wirtschaftliches oder ideelles Potential, um eigene Interessen, auch außerhalb der UNESCO Ziele (sic!), zu verfolgen. Dabei können mehrere Strategien und Inwertsetzungsprozesse gleichzeitig auftreten, mehr oder weniger eng miteinander verwoben sein, sich ergänzen oder sich widersprechen. Die sich ergebenden Konstellationen hängen dabei von den im jeweiligen Kontext vorzufindenden politischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Verhältnissen ab.“ (Eggert/Peselmann 2015: 140)

An der Technischen Universität Berlin und der Bauhaus-Universität Weimar gibt es seit 2016 ein DFG-Graduiertenkolleg unter dem Titel „Identität und Erbe“, das sich ebenfalls zum Teil mit dem Immateriellen Kulturerbe befasst. In Cottbus an der Brandenburgisch-Technischen Universität wurde am UNESCO-Lehrstuhl für Heritage Studies von Marie-Theres Albert bis zu ihrer Pensionierung 2015/16 ebenfalls zum Immateriellen Kulturerbe geforscht, wenn dies auch stets im Schatten des UNESCO-Welterbes stand. Daraus ist u. a. die Promotion (2020) von Marlen Meißner zur Inwertsetzung Immateriellen Kulturerbes im Kontext einer Regionalentwicklungspolitik entstanden. Ferner profilierte sich Sophie Schönberger (geb. Lenski) im Bereich des Öffentlichen Rechts mit einigen Veröffentlichungen und der Mitwirkung an einem internationalen Forschungsprojekt zum Immateriellen Kulturerbe. Im Bereich des (Kultur-)Tourismus sind die Forschungen und Publikation von Volker Letzner zu nennen. Im internationalen Raum sind in der interdisziplinären wissenschaftlichen Auseinandersetzung die zum Teil beachtlichen wissenschaftlichen Artikel und Fallstudien im „International Journal of Intangible Heritage“ zu erwähnen sowie Sammelbände von Natsuko Akagawa/Laurajane Smith (2019), Michael Dylan Foster/Lisa Gilman (2015) und – mit Abstrichen – Christiane Brosius/Karin M. Polit (2011). Die meisten Quellen (Publikationen und Dokumente), auf die sich die Ausführungen zur Umsetzung der Konvention in anderen Vertragsstaaten stützen sowie die auch eine der Grundlagen der Analyse der innerstaatlichen Implementierung in Deutschland sind, stammen von staatlichen Institutionen bzw. deren Vertretern. Hierbei sind selbstredend inhärente Interessen in Rechnung zu stellen.

Für die Darstellung der Kulturpolitik und ihrer Erforschung in Deutschland erwiesen sich die Überblicksartikel von Bernd Wagner (2011) und Oliver Scheytt (2008 sowie 2016) sowie die Einführung von Armin Klein (2009) und die Monografien von Max Fuchs (1998) und erneut Wagner (2009), letztere vor allem in historischer Perspektive, als gute Grundlagen. Die beiden letzteren sind zusammen mit den Arbeiten von Klaus von Beyme die „wenigen Versuche einer wissenschaftlichen Durchdringung des Feldes ‚Kulturpolitik‘“ (Wagner 2009: 21, Fn 6). Wagner stellte 2011 zurecht fest:

„Kulturpolitikforschung existiert bislang weder als eigenständiges Wissenschaftsfeld noch wird auf sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – in den nahe liegenden Bezugsdisziplinen Politikwissenschaft, Soziologie und Kulturwissenschaften intensiver eingegangen.“ (Wagner 2011: 42)

Auch Michael Wimmer (2011), Klein (2009) und Fuchs (1998, 2008) konstatieren, dass Kulturpolitik in Deutschlands Politikwissenschafts-Szene bisher keinen echten Platz gefunden habe. Kilian Lembke hat sich in seiner Dissertation, die 2017 erschienen ist, mit der kommunalen Kulturpolitik befasst. Er stellt ebenfalls fest, dass es an „Erkenntnissen über die strukturellen Dimensionen von Kulturpolitik, über die Akteure und ihre Netzwerke kulturpolitischer Prozesse“ (Lembke 2017: 11) fehle und dass die „politikwissenschaftliche Forschung zur Kulturpolitik […] nahezu gänzlich aus[steht], obwohl das entsprechende Instrumentarium dafür vorhanden ist“ (Lembke 2017: 12). Klaus von Beyme weist darauf hin, dass die Politikwissenschaftler dieses Politikfeld, ähnlich wie auch den Städtebau und die Wohnungsbaupolitik sowie die Rechts- und die Sozialpolitik, anderen Disziplinen überlassen habe (vgl. von Beyme 1998: 7). Zwar habe die Politikwissenschaft die Politikfelder entdeckt, aber die Kulturpolitik spiele dabei keine Rolle (vgl. von Beyme 2010: 269). Aber woran liegt das? Möglicherweise daran, dass Länder und Kommunen die Hauptzuständigkeit für dieses Politikfeld beanspruchen, es also im Schatten der vermeintlich großen Bundespolitik steht? Doch warum behandeln auch die beiden Sammelbände aus dem Jahr 2008 „Die Politik der Bundesländer“ von Achim Hildebrandt und Frieder Wolf und „Föderale Politikgestaltung im deutschen Bundesstaat“ von Henrik Scheller und Josef Schmid in keinem ihrer politikfeldspezifischen Unterkapitel das Thema Kulturpolitik – obwohl es zu den Kernkompetenzen der Länder gehört, und bis zur Föderalismusreform gar einer der ganz wenigen Bereiche war, „in denen die Länder noch selbständig gesetzgeberisch, gestaltend oder fördernd tätig werden konnten“ (Sommer 2008: 1)? Kulturpolitik gehört zwar zu den klassischen Tätigkeitsfeldern von Politik, aber gilt heute gemeinhin nicht als sonderlich prestigeträchtig oder politisch hochrelevant (vgl. Germelmann 2013: 15).

„Sowohl die theoretisch-konzeptionellen Begründungen kulturpolitischen Handelns als auch die wissenschaftlich-theoretische Auseinandersetzung mit den verschiedenen kulturpolitischen Handlungsfeldern und ihren institutionellen Strukturen, mit den konkreten Praktiken und deren Wirkungen sowie mit den politischen und gesellschaftlichen Legitimationen von Kulturpolitik“ (Wagner 2011: 42)

betreffend, besteht ein großes Reflexionsdefizit in Deutschland. Selten sei in Veröffentlichungen, die die ‚Kulturpolitik‘ im Titel tragen, die systematische Frage gestellt worden, wie der Staat steuernd wirke (vgl. von Beyme 2012: 19). Für diese geringe theoretische Auseinandersetzung mit dem Politikfeld Kulturpolitik gäbe es neben einer historisch bedingten strukturellen Schwäche im deutschsprachigen Hochschul- und Wissenschaftsbetrieb – im Unterschied etwa zur angelsächsischen und französischen Diskussion (Wimmer 2011: 126–136) – auch immanente Gründe, die im Gegenstandsfeld selbst lägen (vgl. Wagner 2011: 42 f.) und die vermutlich wiederum mit der Mehrebenenpolitik in diesem Politikfeld zusammenhängen (vgl. von Beyme 2012: 19). Auch die definitorische Unbestimmtheit des Begriffs ‚Kultur‘ könnte ein Hinderungsgrund für eine eingehendere Beschäftigung in der Politikwissenschaft sein (vgl. Lembke 2017: 16). Die Publikation „Der Kulturinfarkt“ mit dem Untertitel „Von allem zu viel und überall das Gleiche“ der Autoren Dieter Haselbach, Arnim Klein, Pius Knüsel und Stephan Opitz hat rund um seine Erscheinung 2012 zuletzt für größere Debatten gesorgt. Oliver Scheytt konstatierte auch 2016 noch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ein Defizit an Forschungsarbeiten zur Kulturpolitik sowie auch im Vergleich mit anderen Politikfeldern eine zu wenig ausgeprägte Forschungsinfrastruktur (vgl. Scheytt 2016: 26). Die Kulturpolitikforschung hat sich allerdings in Deutschland und international in den vergangenen 20 bis 30 Jahren durchaus intensiviert (vgl. Wimmer 2011: 126–129). Das anwendungsorientierte Institut für Kulturpolitik (IfK) bei der Kulturpolitischen Gesellschaft in Bonn, gefördert von der BKM, strebt eine Profilierung der Kulturpolitikforschung in Deutschland an. Das Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim hat sich bei den Themen der Kulturellen Teilhabe v. a. mit Birgit Mandel und unter Leitung von Wolfgang Schneider bei der Rolle von Kunst und Kultur für Entwicklung, international, aber auch im ländlichen Raum – hier ist unter dem Stichwort der ‚Breitenkultur‘ (vgl. u. a. Schneider 2014b) eine durchaus enge Beziehung zum Immateriellen Kulturerbe gegeben –, eine führende Position erarbeitet. Einen weiteren Beitrag zum Aufholen des festgestellten Nachholbedarfs möchte diese Arbeit leisten. Für die vergleichende Perspektive, die in der vorliegenden Arbeit ebenfalls angelegt ist, wenn sie auch nicht im Vordergrund steht, hat Claudia Burkhard mit ihrer Strukturbetrachtung der deutschen und italienischen Kulturpolitik (2015) hilfreiche methodische Anregungen gegeben. Laut Wagner (2011: 43) hat Wimmer (2011) erstmals im deutschsprachigen Raum eine Politikfeldanalyse zum Politikfeld der Kulturpolitik entsprechend der Absicht der vorliegenden Arbeit entlang der drei Dimensionen polity, politics und policy durchgeführt. Wie bei Wimmer geht es in der vorliegenden Arbeit ebenfalls darum, folgende Frage in Bezug auf Kulturpolitik zu beantworten: „Welches Resultat (policy) ergibt sich, wenn in einem gegebenen politischen System (polity) eine bestimmte – aber prinzipiell veränderbare – Problemlösungsstrategie (politics) eingeschlagen wurde […]“ (Wimmer 2011: 186)? Wimmers Werk befasst sich zwar mit der Kulturpolitik Österreichs, ist aber methodisch als Orientierung für die vorliegende Arbeit wertvoll. Zudem macht er wiederholt Bezüge zum Nachbarland Deutschland auf. Kilian Lembke, dessen Arbeit ebenfalls methodisch aufschlussreich ist, stellt in seiner Einleitung eine Frage, die auch die vorliegende Arbeit maßgeblich beschäftigt und strukturiert: „Welche Akteure gestalten wie die Policy Kultur im Zyklus von Problemdefinition, Agenda Setting und Implementation“ (Lembke 2017: 12)?

Für die methodischen Erwägungen zur empirischen Untersuchung erwies sich hinsichtlich der zugrundeliegenden Konzepte und der Politikfeldanalyse das gleichnamige Handbuch von Sonja Blum und Klaus Schubert (2009) als gute Überblicksliteratur. Ergänzt und vertieft wurde dies durch das „Lehrbuch der Politikfeldanalyse“ von Schubert und Nils C. Bandelow (2003) mit verschiedenen Autorenbeiträgen, das ältere Werk von Schubert (1991), welches ebenfalls unter dem Titel „Politikfeldanalyse“ firmiert, sowie jenes von Adrienne Windhoff-Héritier (1987) unter dem Titel „Policy-Analyse“. Die Publikation „Politikfeldanalyse: Akteure, Diskurse und Netzwerke in der öffentlichen Politik“ von Volker Schneider und Frank Janning (2006) geht, wie auch die Werke und Artikel von Claus Offe (1975), Werner Jann (1981), Paul A. Sabatier und Hank C. Jenkins-Smith (1993), Franz Urban Pappi/Thomas König/David Knoke (1995), Renate Mayntz (1980, 1997), Fritz W. Scharpf (2000) sowie Arthur Benz (2016), detaillierter auf wichtige Konzepte, Methoden und Modelle der Politikfeldanalyse und die Theorie des akteurzentrierten Institutionalismus ein, die in dieser Arbeit angewendet werden soll. Hieraus werden die grundlegende Vorgehensweise der Analyse der Politikprozesse im Zusammenhang mit der Etablierung des Themas Immaterielles Kulturerbe in der deutschen Kulturpolitik und das hierfür in dieser Arbeit anzuwendende Modell des Policy-Cycle als Analyseraster abgeleitet. Die Ausführungen zum Mehrebenensystem der Bundesrepublik Deutschland bauen auf den Werken zur Politikverflechtung, insbesondere von Scharpf (1976), Benz (2004, 2009, 2016) und Sabine Kropp (2010), auf. Maria Behrens‘ (2003) Beitrag über methodische Erwägungen im Zusammenhang mit der Politikfeldanalyse bietet einen guten Einstieg zur Erläuterung der Methodologie dieser Arbeit. Das Analyseverfahren der qualitativen Inhaltsanalyse, das bei der Auswertung der Dokumente, Medienberichte und Interviews genutzt wird, beruht auf den etablierten methodischen Einführungswerken und praktischen Handlungsanleitungen von Philipp Mayring (2007) sowie Udo Kuckartz (2012). Bezüglich Experteninterviews beruht die Arbeit auf den Erkenntnissen von Mayer (2004) und Meuser/Nagel (1991/1994). Zum Politischen Lernen sind die Aufsätze von Richard Rose (1991), Peter Hall (1993), David Dolowitz und David Marsh (1996) sowie Bandelow (2003) und der Band von Michael Howlett, M. Ramesh und Anthony Perl (2009) wichtige Basis der hiesigen Ausführungen.

Zusammenfassend kann die vorliegende Arbeit auf einer guten Basis von Literatur zu den behandelten Themenfeldern aufbauen und davon ausgehend erstmals eine Untersuchung der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention von 2003 in Deutschland vorlegen.