Das nachfolgende Kapitel stellt die Ziele der Säule 2 dar und untersucht unter Berücksichtigung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse, ob diese Ziele berechtigterweise zur Legitimierung der Mindeststeuer herangezogen werden können.

3.1 Primärziele der Mindeststeuerinitiative

Die weltweit abgestimmte Einführung eines effektiven Mindestbesteuerungsregimes für multinational agierende Konzerne verfolgt drei Primärziele.Footnote 1 Zum einen soll sie die OECD/G20-Beschlüsse zum BEPS-Projekt aus 2015 ergänzen und weiterhin bestehende BEPS-Risiken eliminieren.Footnote 2 Zum anderen soll sie dem mittlerweile als überschießend und unfair wahrgenommenen Steuerwettbewerb zwischen den einzelnen Staaten um ausländische Direktinvestitionen („harmful race to the bottom“) Einhalt gebieten und eine Untergrenze einziehen.Footnote 3 Zudem soll mittels einer internationalen Einigung auf die zu den Säulen 1 und 2 ausgearbeiteten Regelungen verhindert werden, dass durch ein gefährliches Chaos aus unabgestimmten unilateralen MaßnahmenFootnote 4 die steuerliche Komplexität bei grenzüberschreitenden Unternehmungen unzumutbare Ausmaße erreicht, die sowohl Unternehmen als auch die jeweiligen Finanzbehörden überfordern und zu Doppelbesteuerung führen.Footnote 5

3.2 Zur Legitimität der Primärziele

Doch sind diese Ziele berechtigt? Nachfolgend wird untersucht, inwieweit die angeführten Primärziele der Säule 2 auf wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt werden können und insoweit tatsächlich ein Bedarf für die Einführung einer effektiven Mindestbesteuerung multinational agierender Konzerne besteht.

3.2.1 Begrenzung des internationalen Steuerwettbewerbs

Die Mindeststeuer soll dem Steuerwettbewerb zwischen den Staaten um ausländische Direktinvestitionen von Unternehmen eine Untergrenze einziehen und dadurch ein „race to the bottom“ verhindern. Insofern ist die Frage zu beantworten, was überhaupt unter dem Begriff des internationale Steuerwettbewerbs zu verstehen ist und inwieweit dieser schon ein volkswirtschaftlich schädliches oder ungerechtes Ausmaß erreicht hat oder zumindest zu erreichen droht.

3.2.1.1 Begriff

Internationaler Steuerwettbewerb lässt sich allgemein als eine strategische Interaktion verschiedener Staaten zur Gewinnung mobilen Steuersubstrats definierenFootnote 6 und ist insbesondere bei der Unternehmensbesteuerung von großer Bedeutung.Footnote 7 Durch aktive Teilnahme am internationalen Steuerwettbewerb versuchen Länder, ihre relative Standortattraktivität zur Ansiedelung von mobilen AktivitätenFootnote 8 wie etwa Forschung und Entwicklung („FuE“) zu erhöhen.Footnote 9 Hierfür stehen den Staaten vielfältige Möglichkeiten zur Verfügung, beispielsweise die Senkung der nominellen Steuersätze, die Anpassung der Steuerbemessungsgrundlage,Footnote 10 die Optimierung der steuerlichen RahmenbedingungenFootnote 11 oder die Einführung neuer Präferenzregime für mobile Aktivitäten („Smart Tax Competition“).Footnote 12 Im Gegensatz zu vielen anderen auf die Standortattraktivität einwirkenden Faktoren (z. B. Qualität von Infrastruktur, Bildungsniveau von Arbeitskräften, Regulierungsgrad, Qualität des Sozialstaats oder langfristige politische Stabilität)Footnote 13 kann die Steuerbelastung unmittelbar und kurzfristig vom Gesetzgeber beeinflusst werden, sodass Steuern ein besonders rasch einsetzbares Instrument zur Verbesserung der Standortattraktivität darstellen.Footnote 14

3.2.1.2 Chancen und Risiken des Steuerwettbewerbs

Der internationale Steuerwettbewerb zwischen den Staaten ist mit Chancen und Risiken verbunden.Footnote 15 Zu den Chancen des Steuerwettbewerbs zählt vor allem die disziplinierende Wirkung auf Politik und öffentliche Verwaltung bei der Ausgestaltung des Steuersystems und der Haushaltspolitik, die einen effizienten Staatsapparat hervorbringen kann.Footnote 16 Auch kann Steuerwettbewerb die Wirtschaft fördern und Raum für Investitionen schaffen.Footnote 17 Insbesondere die (steuerliche) Förderung von FuE ist ein wichtiges Anliegen in einem sich immer schneller entwickelnden Umfeld der Hochtechnologie.Footnote 18 Die staatliche Förderung privater FuE ist daher wünschenswert, solange die daraus hervorgehenden Vorteile auch mit der Öffentlichkeit geteilt werden.Footnote 19

Die vom internationalen Steuerwettbewerb ausgehenden Risiken sind divers. Sie umfassen übermäßige Belastungen der Staatshaushalte, die damit einhergehende Verschlechterung staatlicher Leistungsmöglichkeiten, soziale Ungleichheit durch kompensierende Belastungen weniger mobiler Faktoren wie Konsum und Löhnen, eine verminderte Steuermoral und -ehrlichkeit der Steuerpflichtigen sowie politische Verwerfungen, die insbesondere in der EU den Gemeinschaftsgedanken zwischen den Mitgliedstaaten gefährden können.Footnote 20 Zudem können Gewinnverkürzungen und -verlagerungen (BEPS) durch multinationale Unternehmen auf den internationalen Steuerwettbewerb zurückgeführt werden.Footnote 21 Dieser ermöglicht es den häufig sehr großen Konzernen, eine teils deutlich geringere effektive Steuerlast zu erreichen als rein inländisch agierende UnternehmenFootnote 22 und darüber einen Wettbewerbsvorteil insbesondere gegenüber kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) zu erlangen.Footnote 23 Des Weiteren führt er in anderen Staaten zur Einführung von Anti-BEPS-Maßnahmen, die ihrerseits oft sehr komplex sind. Ebenso resultieren daraus weltweit betrachtet geringere Steuereinnahmen aus den Gewinnen multinationaler Konzerne. Diese Folgen des internationalen Steuerwettbewerbs werden nicht ohne Grund in der Öffentlichkeit häufig als „unfair“ bewertet,Footnote 24 wobei diese Beurteilung in der politischen Philosophie Unterstützung findet.Footnote 25

3.2.1.3 Entwicklung des internationalen Steuerwettbewerbs

Der Steuerwettbewerb zwischen den Staaten hat sich in den vergangenen Jahrzehnten intensiviert.Footnote 26 Dies lässt sich einerseits an den nominalen Steuersätzen in der Unternehmensbesteuerung ablesen, die im Durchschnitt immer weiter sinken und sich in den vergangenen vier Jahrzehnten mehr als halbiert haben.Footnote 27 Hierzu beigetragen haben in den letzten fünf Jahren z. B. die Steuersatzsenkungen in den USA (von 35 % auf 21 %), Frankreich (von 34 % auf 25 %), Belgien (von 34 % auf 25 %), Norwegen (von 27 % auf 22 %), Tunesien (von 30 % auf 25 %) und Pakistan (von 34 % auf 29 %).Footnote 28 Innerhalb der EU fiel der durchschnittliche tarifliche Steuersatz auf Unternehmensgewinne von 47,1 % im Jahr 1981 auf 21,3 % im Jahr 2018.Footnote 29 Auch Deutschland senkte seinen Gewinnsteuersatz in diesem Zeitraum von 60 % auf ca. 30 %Footnote 30 womit es derzeit dennoch als Hochsteuerland anzusehen ist.Footnote 31 In mindestens 23 Ländern betrug der Körperschaftsteuersatz 2021 weniger als 15 %, darunter Irland (12,5 %), Ungarn (9 %) sowie einige Karibikstaaten, die mit einem Steuersatz von 0 % gänzlich auf die Besteuerung verzichten.Footnote 32 Abgemildert wurden diese Steuersatzsenkungen teils durch eine Verbreiterung der Steuerbemessungsgrundlagen (z. B. durch Anti-BEPS-Maßnahmen).Footnote 33 Andererseits steigt in der EU die Zahl der die Bemessungsgrundlagen aushöhlenden (Präferenz-)Regime, die sowohl Spitzenverdiener als auch multinationale Konzerne in den Fokus nehmen und damit die horizontale wie auch vertikale Steuergerechtigkeit innerhalb der EU-Mitgliedstaaten bedrohen.Footnote 34 Insbesondere die steuerlichen Anreize für Forschung und Entwicklung in den Mitgliedstaaten sind in den letzten zwei Jahrzehnten stark angestiegen und sehen häufig Steuersätze von 15 % und weniger auf Gewinne in Zusammenhang mit Patenten, Software und ähnlichen immateriellen Wirtschaftsgütern vor.Footnote 35 Daneben sehen sechs LänderFootnote 36 fiktive Zinsabzüge vor, die die steuerliche Bemessungsgrundlage mindern und besonders großzügig von Malta und Zypern ausgestaltet werden.Footnote 37 Zudem führt eine steigende Anzahl von verbindlichen Auskünften (Advance Tax Rulings, ATR) und sog. Advance Pricing Agreements (APA) neben der erwünschten Rechtssicherheit wohl auch zu steuerlichen Vorteilen gegenüber multinationalen Konzernen und anderen Unternehmen ohne solche verbindlichen Vorbescheide.Footnote 38 All diese und weitere Steueranreize führen zu einer Erosion der steuerlichen Bemessungsgrundlagen.Footnote 39 Daher betrug die backward-looking effective tax rate (EATR)Footnote 40 von multinationalen Konzernen mit einem Mindestumsatz von 750 Mio. Euro in den Jahren 2016 bis 2017 CbCR-Daten zufolge in 8 Mitgliedstaaten weniger als 10 %.Footnote 41 Nach den Berechnungen von Garcia-Bernardo et al. ist die effektive Steuerquote (ETR)Footnote 42 von multinationalen Unternehmen in der EU zwischen 2005 und 2015 um 8,7 Prozentpunkte (7,1 Prozentpunkte bei US-Unternehmen) gesunken.Footnote 43 Auch nach Fuest et al. ist die ETR multinationaler und rein national agierender Unternehmen der OECD-Staaten zwischen 1995 und 2016 erheblich gesunken, und zwar um 14,3 Prozentpunkte.Footnote 44 Die COVID-19-Pandemie kann möglicherweise eine Trendumkehr herbeiführen. So beabsichtigt das Vereinigte Königreich, seinen derzeitigen Körperschaftsteuersatz von 19 % ab April 2023 für Gewinne über 250.000 GBP auf 25 % anzuheben.Footnote 45 Auch die USA sind derzeit unter der neuen Administration mit Präsident Joe Biden dabei, den Körperschaftsteuersatz wieder nach oben zu korrigieren.Footnote 46 Ob dies andere Länder dazu bewegen wird, ihrerseits Steuersatzanhebungen vorzunehmen, bleibt hingegen abzuwarten.

3.2.1.4 Schädlicher Steuerwettbewerb

Abgegrenzt werden muss die allgemeine Feststellung der Existenz internationalen Steuerwettbewerbs von der Frage nach dem „race to the bottom“, also einem schädliche Ausmaße erreichenden Steuersenkungswettlauf im Rahmen eines besonders intensiven Steuerwettbewerbs.Footnote 47 Als schädlich oder unfair wird der Steuerwettbewerb etwa dann definiert, wenn insb. grenzüberschreitende Gewinnverlagerungen durch gezielte Steueranreize für gebietsfremde Unternehmen und Personen veranlasst werden.Footnote 48 Nach dem rechtlich nicht verbindlichen Verhaltenskodex der EU für die UnternehmensbesteuerungFootnote 49 vom 1.12.1997 sind steuerliche Maßnahmen potenziell schädlich, die gemessen an den üblicherweise in dem betreffenden Mitgliedstaat geltenden Besteuerungsniveaus eine deutlich niedrigere Effektivbesteuerung, einschließlich einer Nullbesteuerung, bewirken.Footnote 50 Rechtsverbindliche Definitionen von „Fairness“ gibt es in diesem Kontext dagegen bislang nicht.Footnote 51 So wird ein schädlicher Steuerwettbewerb in der Wissenschaft trotz der seit 40 Jahren erheblich gesunkenen Gewinnsteuersätze teils verneint.Footnote 52 Der Internationale Währungsfonds sieht dagegen im internationalen Steuerwettbewerb sogar eine besorgniserregendere Entwicklung als in den BEPS-Phänomenen, da die damit verbundenen Aufkommensverluste die BEPS-Einbußen überwiegen würden.Footnote 53 Das Verständnis von schädlichem Steuerwettbewerb auf Ebene der G20/OECD bzw. nun des IF hat sich seit Abschluss des BEPS-Projekts 2015Footnote 54 offensichtlich gewandelt, denn der Fokus auf eine eher allgemeine Begrenzung des Steuerwettbewerbs mit einem Mindeststeuersatz von 15 % bei multinationalen Konzernen geht über die soeben genannten Definitionen hinaus. Dies kann beispielsweise darauf zurückgeführt werden, dass Nexus-konforme Präferenzregelungen i. S. d. BEPS-Aktionspunktes 5 den Druck auf andere Staaten erhöhen, ebenfalls solche Regelungen einzuführen oder allgemein die Unternehmensteuersätze zu senken.Footnote 55 Eine Studie aus dem Jahr 2020 legt nahe, dass die Zunahme großzügiger steuerlicher Anreize für FuE multinationale Konzerne lediglich zur Reallokation ihrer FuE-Investitionen bewegt hat und nicht zu mehr FuE-Aktivitäten in globaler Hinsicht.Footnote 56 Nach anderen Studien sind Steueranreize zur Anziehung von Investitionen in Entwicklungsländern häufig überflüssig, da diese Investitionen ohnehin vorgenommen worden wären.Footnote 57 Im Übrigen wird mittlerweile vertreten, dass Steuerwettbewerb und insb. Präferenzregime allgemein zu Ineffizienzen führen.Footnote 58 Letztlich ist die Einordnung des aktuellen Steuerwettbewerbs als „schädlich“ oder „unfair“ eine Wertungsfrage, die davon abhängt, wie stark sich die Chancen und Risiken aus Sicht des jeweiligen Betrachters derzeit niederschlagen. In jedem Falle gibt es gute Gründe dafür, dem Steuerwettbewerb – wenn auch ggf. nur zur Verhinderung einer möglichen Verschärfung in der Zukunft – eine Untergrenze einzuziehen.Footnote 59

3.2.1.5 Zusammenfassung

Ein Steuerwettbewerb zwischen den Staaten weltweit und auch innerhalb der EU kann nicht abgestritten werden. Inwieweit dieser bereits schädliche Ausmaße erreicht hat oder in Zukunft zu erreichen droht, liegt dagegen ganz im Auge des Betrachters. Ein „race to the bottom“ ist aufgrund der zurzeit weniger stark sinkenden Kurven hinsichtlich der Nominalsteuersätze und EATRs jedenfalls wohl noch nicht gegeben, scheint für die Zukunft aber auch nicht ausgeschlossen. Der Wettbewerb um zukunftsorientierte Unternehmen und die Bewältigung der Corona-Pandemie könnten hierbei durchaus weitere Verschärfungen im internationalen Steuerwettbewerb bedingen, sodass es als legitim anzusehen ist, dass die Staatengemeinschaft des Inclusive Framework dem Steuerwettbewerb (prophylaktisch) eine Untergrenze einziehen möchte, welche sie für fair erachtet. Hierfür spricht auch, dass das Abflachen der ETR-Kurve wohl zunehmend auf Anti-BEPS-Maßnahmen zurückgeführt werden kann.

3.2.2 Verbleibende BEPS-Risiken

Diese Anti-BEPS-Maßnahmen beruhen zu einem großen Teil auf dem oben in Kap. 2 bereits beschriebenen BEPS-Projekt der G20/OECD. Die zunehmende Globalisierung der Wirtschaft und die dadurch offengelegten SchwächenFootnote 60 der vor mehr als einem Jahrhundert konzipierten internationalen Steuerordnung waren der Grund für das Einschreiten der Staats- und Regierungschefs der G20 im September 2013 durch den sog. BEPS-Aktionsplan, der den entstandenen Möglichkeiten zur Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung Einhalt gebieten sollte.Footnote 61 Das zwei Jahre später beschlossene Maßnahmenpaket aus 13 Berichten und 15 Aktionspunkten, in welchem sich alle OECD- und G20-Staaten zu einer „konsistenten Umsetzung in den Bereichen Vermeidung von Treaty-Shopping, länderbezogene Berichterstattung, Bekämpfung schädlicher Steuerpraktiken und Verbesserung der Streitbeilegung“ verpflichteten,Footnote 62 hat die BEPS-Risiken jedoch nicht vollständig beseitigen können. Die hinter dem Regelungskonzept von GloBE stehenden Staaten, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland, sind der Ansicht, dass trotz der 2015 im Rahmen des BEPS-Projekts beschlossenen Maßnahmen nach wie vor erhebliche Aufkommensrisiken bestehen. Insbesondere Unternehmensgewinne im Zusammenhang mit immateriellen Wirtschaftsgütern und eigenkapitalfinanzierten Konzernfinanzierungsgesellschaften könnten danach in bestimmten Strukturen weiterhin keiner oder nur einer sehr niedrigen Besteuerung unterliegen.Footnote 63

Bereits in der öffentlichen Anhörung zu Säule 2 im Februar und März 2019 wurde häufig angemerkt, es solle erst abgewartet werden, wie sich das noch in der Implementierung befindliche Maßnahmenpaket des 2015 abgeschlossenen BEPS-Projekts auswirken würde bzw. ob und inwieweit Gewinnverlagerungsrisiken tatsächlich danach noch bestünden.Footnote 64 Zwar verursacht Steuervermeidung durch Unternehmen nach aktuellen Schätzungen der OECD jährlich Kosten i. H. v. etwa 100 Mrd. bis 240 Mrd. USD bzw. 4 % bis 10 % des globalen Unternehmensteueraufkommens.Footnote 65 Viele weitere aktuelle empirische Studien zum Phänomen BEPS beziehen sich allerdings mit ihren Daten auf Zeiträume, in denen die BEPS-Maßnahmen häufig zumindest noch nicht vollständig umgesetzt wurden.Footnote 66 So hat beispielsweise Deutschland die Anti-Steuervermeidungsrichtlinie der EUFootnote 67 und damit einen nicht unwesentlichen Teil der BEPS-Empfehlungen erst mit Gesetz vom 25.6.2021 in deutsches Recht umgesetzt.Footnote 68 Auch wenn Deutschland die darin gesetzten Mindeststandards schon zuvor weitgehend erfüllt hat und in vielen Bereichen lediglich Anpassungen erforderlich waren, zeigt dies beispielhaft, dass eine abschließende und mit konkreten Daten unterlegte Bewertung der 2015 veröffentlichten BEPS-Empfehlungen und des verbleibenden Gewinnverlagerungsrisikos bislang kaum möglich war. Es fehlt damit (noch) an belastbaren Daten, inwieweit Gewinnverkürzung und -verlagerung aktuell und in Zukunft tatsächlich die Staatshaushalte belasten und daraus weiterer Handlungsbedarf abgeleitet werden kann.Footnote 69

Die abstrakte Analyse der BEPS-Maßnahmen deutet jedoch an, dass die Verschiebung von (weniger substanzbasierten) Gewinnen – etwa mittels Zuweisung von immateriellen Wirtschaftsgütern und Risiko im Konzern – zwar erschwert, aber nicht vollkommen unmöglich gemacht wurde.Footnote 70 So hat die Mehrheit der BEPS-Empfehlungen nicht einmal den Status eines Mindeststandards inne und die darüberhinausgehenden Maßnahmen (etwa im Rahmen des MLI) werden nur sehr zurückhaltend umgesetzt.Footnote 71 Auch können die aus den BEPS-Aktionspunkten 8 bis 10 hervorgegangenen, neuen SubstanzanforderungenFootnote 72 häufig bereits durch moderate Investitionen erfüllt werden und stellen somit keine starke Verknüpfung zwischen Wertschöpfung und Zuweisung des Besteuerungsrechts her.Footnote 73 Insbesondere aus dem Fremdvergleichsgrundsatz („Arm´s Length Principle“), der als Maßstab für die Gewinnaufteilung beibehalten wurde, ergeben sich weiterhin Gestaltungsmöglichkeiten.Footnote 74 Denn gerade geistiges Eigentum ist oft einzigartig, sodass vergleichbare Preise am Markt kaum gefunden werden können und somit ein signifikanter Spielraum für die Preisgestaltung von Unternehmen verbleibt.Footnote 75 Ebenso wird durch die Verlagerung des unternehmerischen Risikos in in Niedrigsteuerländern ansässige IP-Holdings der nach dem Fremdvergleichsgrundsatz dem Produktions- oder Marktstaat zuzuteilende Gewinn weiter reduziert.Footnote 76 Während also noch auf belastbare empirische Daten zu den verbliebenen BEPS-Risiken zu warten sein wird, zeigt sich bei abstrakter Betrachtung, dass durchaus weiterhin Handlungsbedarf besteht. Die Einführung des Mindeststeuerregimes kann, da dieses andere Anti-BEPS-Maßnahmen bei der Ermittlung der effektiven Steuerquote einbezieht und insofern nachrangig angewendet wird, in diesem Sinne auch als Absicherung der anderen Maßnahmen betrachtet werden (Backup-Funktion). Die Mindeststeuerinitiative baut auf der Prämisse auf, dass der u. a. auf der Basis von Steuersätzen und Steuervergünstigungen ausgetragene internationale Steuerwettbewerb der entscheidende Faktor für die Schaffung von Anreizen für Gewinnverlagerungen ist. Eine Begrenzung des Steuerwettbewerbs zwischen den Staaten durch Säule 2 ist daher in der Lage, die daraus hervorgehenden steuerlichen Anreizeffekte für BEPS zumindest teilweise weiter zu neutralisieren.Footnote 77 Dies kann in gewissem Maße auch aus den Prognosen zum steuerlichen Mehraufkommen im Rahmen von Säule 2 abgelesen werden. Dieses wird global auf ca. 150 Mrd. USD pro Jahr geschätzt und führt damit zu einer nicht unerheblichen Steigerung der globalen Unternehmensteuereinnahmen.Footnote 78 Daraus kann abgeleitet werden, dass zumindest nach dem in Säule 2 niedergelegten, neuen Verständnis der IF-Mitglieder von schädlichem Steuerwettbewerb in hohem Maße niedrig besteuerte Gewinne existieren, die zu großen Teilen deshalb niedrig besteuert sind, weil sie von Konzernen in Niedrigsteuerstaaten verlagert wurden.

3.2.3 Vermeidung nationaler Alleingänge und eines Besteuerungschaos

Die OECD führt an, dass ohne die Zwei-Säulen-Lösung eine wachsende Anzahl unilateraler und unkoordinierter Maßnahmen der Staaten zu schädlichen Steuer- und Handelskonflikten führen könnten, wodurch Steuersicherheit und Investitionen untergraben und zusätzliche Befolgungs- und Verwaltungskosten verursacht würden.Footnote 79 Das hierdurch angerichtete internationale Steuerchaos könnte sich folglich negativ auf die ohnehin durch die COVID-19-Pandemie angeschlagene Weltwirtschaft auswirken.Footnote 80 Diese Befürchtung ist nicht von der Hand zu weisen.Footnote 81 Das internationale Unternehmensteuerrecht ist für sich gesehen bereits heute äußerst komplex, da grenzüberschreitend agierende Unternehmen sich – selbst bei Betrachtung nur der allgemeinen Steuervorschriften – einer Vielzahl unterschiedlicher Steuerregime gegenübersehen. Neue Regelungen, insbesondere zur Abwehr von Steuerumgehungen, aber auch zur Stärkung des eigenen Standorts im Rahmen des Steuerwettbewerbs, können diesen Zustand in wirtschaftlich schädlicher Weise verschärfen.Footnote 82 Deren Kosten für Unternehmen und Steuerverwaltungen könnten das weltweite Bruttoinlandsprodukt um mehr als 1 % (ca. 800 Mrd. Euro) reduzieren.Footnote 83 Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass viele solcher nationalen Alleingänge bereits unternommen wurden.Footnote 84 So zeigt eine Studie aus November 2021, dass viele EU-Mitgliedstaaten weitere Maßnahmen zur Sicherung ihres Steuersubstrats eingeführt haben und möglicherweise vor allem aus diesem Grund das Sinken der effektiven Unternehmensteuerlasten verlangsamt wurde.Footnote 85 Dies deutet an, dass Staaten wegen der aktuellen Lage das Erfordernis sehen, Anti-BEPS-Regelungen einzuführen, und zwar auch solche, die nicht auf die bisherigen BEPS-Empfehlungen zurückzuführen sind. Aufgrund der bislang fehlenden Lösung im Rahmen des BEPS-Aktionspunktes 1, die nun unter Säule 1 gesucht wird, ist beispielsweise die Einführung von Digitalsteuern sowohl auf EU-EbeneFootnote 86 als auch in einzelnen LändernFootnote 87 angegangen worden und hat zu Spannungen mit den USA geführt, deren Interessen als Herkunftsland großer Digitalkonzerne hierdurch besonders berührt werden.Footnote 88 Spanien ist zuletzt mit einer eigenen, ab 2022 geltenden Mindeststeuerregelung für Körperschaften vorgeprescht.Footnote 89 Die EU hat ebenfalls weitere Pläne zur Anpassung der Unternehmensbesteuerung im 21. Jahrhundert.Footnote 90 Allein die Teilnahme von 141 Staaten an dem 2-Säulen-Projekt der OECD zeigt das Vorhandensein enormen politischen Handlungsdrucks auf. Um diesen zu kanalisieren, nationale Alleingänge und die negativen Auswirkungen auf Unternehmen aufgrund der global hinzukommenden, vielfältigen Steuervorschriften zu vermeiden, ist ein abgestimmtes Verhalten möglichst vieler Staaten notwendig. Denn selbst wenn die Legitimität der beiden vorgenannten Ziele der Begrenzung des Steuerwettbewerbs und der Bekämpfung verbleibender BEPS-Risiken als nicht ganz unstrittig einzuordnen ist, ist der auf dieser Wahrnehmung beruhende Änderungswille in den Staaten real. Auch für den Umgang mit den wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie kann ein koordiniertes Auftreten in diesem Sinne daher nur förderlich sein.Footnote 91 Voraussetzung ist jedoch, dass der Komplexitätsgrad der neuen Regelungen unter Säule 2 wie auch unter Säule 1 insgesamt niedriger ist als der der alternativ zu erwartenden unilateralen Maßnahmen.

3.3 Ergebnis

Die drei Ziele hinter Säule 2 sind nach Auffassung des Autors mittlerweile klar formuliert. Sie gehen über das ursprüngliche Ziel, für den offen gebliebenen BEPS-Aktionspunkt 1 („Tax Challenges Arising From Digitalisation“) eine Lösung zu finden, weit hinaus. Das Ziel der Begrenzung des internationalen Steuerwettbewerbs kann dabei auf einen Negativtrend in der Entwicklung der Nominal- und Effektivsteuersätze gestützt werden. Ob dieser bereits schädliche Ausmaße erreicht hat oder zu erreichen droht, ist dagegen definitionsabhängig. Das Verständnis scheint sich insofern bei den IF-Mitgliedstaaten gewandelt zu haben; den Staaten ist hier jedoch nach Ansicht des Autors ein Beurteilungsspielraum zuzugestehen. Hinsichtlich des zweiten Ziels der Eliminierung verbleibender BEPS-Risiken fehlt es zwar derzeit noch an belastbaren empirischen Daten, welche die nach Umsetzung der BEPS-Empfehlungen weiterhin bestehenden Gewinnverlagerungsmöglichkeiten bestätigen. Die theoretische Betrachtung der bisherigen BEPS-Maßnahmen zeigt jedoch jetzt schon Lücken auf, die von Unternehmen genutzt werden könnten, sodass die Annahme weiteren Handlungsbedarfs tragfähig erscheint. Ein koordiniertes Vorgehen im Rahmen des IF stützt sich dabei richtigerweise auf die Prämisse, dass alternative unilaterale Alleingänge verschiedener Staaten die aktuelle Situation im internationalen Steuerrecht nicht verbessern, sondern ganz im Gegenteil zahlreiche negative Folgen mit sich bringen würden.