Zusammenfassung
Der Rücktritt der Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Dezember 1995 gehört ohne Frage zu den bekanntesten Rücktritten der Bundesrepublik, gerade vor dem Hintergrund seiner Gründe und Motive. Als Grund für den Rücktritt kann ausschließlich das Ergebnis des Mitgliederentscheids zum „Großen Lauschangriff“ genannt werden. Grundsätzlich war der Rücktritt zwar vermeidbar und nicht alternativlos, jedoch unterlag er einer gewissen Zwangsläufigkeit vor dem Hintergrund des Abstimmungsergebnisses. Der Beitrag schildert und analysiert diesen besonderen, weil freiwilligen und aus Überzeugung vollzogenen Rücktritt und nimmt dabei die Hintergründe und parteipolitischen Kontexte mit in den Blick.
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Lennéstraße 25/27, 53113 Bonn.
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Notes
- 1.
Mit dem Begriff „Großer Lauschangriff“ werden umgangssprachlich Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden zur akustischen Wohnraumüberwachung bezeichnet. Auch wenn mit dem Begriff eine gewisse Wertung verknüpft ist, soll er der Einfachheit halber hier genutzt werden.
- 2.
Für die analytisch interessante Rolle des Bundesrats und insb. des Bremer Bürgermeisters Hennig Scherf (SPD) bei der Veränderung des ursprünglichen Kompromisses zur Grundgesetzänderung siehe Julia von Blumenthal 2001, S. 102–154.
- 3.
Der SPD-Parteitag stimmte über einen Antrag des Parteivorstandes ab, der restriktive Bedingungen für den Einsatz des „Lauschangriffs“ beinhaltete. Nur durch diese Kompromisse war die Verabschiedung mit äußerst knapper Mehrheit überhaupt denkbar (vgl. von Blumenthal 2001, S. 103). Hier zeigt sich bereits eine ähnliche Lagerbildung wie bei der FDP, die sich auch 1998 in der Abstimmung zum „Großen Lauschangriff“ im Bundestag widerspiegelte.
- 4.
Es kann angenommen werden, dass die Bedeutung des Freiburger Kreis in der damaligen Berichterstattung übertrieben wurde und dies von den „Mitgliedern“ auch beabsichtigt war, um eine breitere Basis zu suggerieren (vgl. Dittberner, S. 228 f.).
- 5.
Die Richterinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt hatten damals der Entscheidung des BVerfG eine abweichende Meinung angefügt, in der sie für eine strenge Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG (Ewigkeitsklausel) plädieren und ihrer Auffassung nach schon Art. 13 Abs. 3 GG (Änderung im Sinne des sog. „Großen Lauschangriffs“) mit dem Art. 79 Abs. 3 GG nicht vereinbar ist. (vgl. Bundesverfassungsgericht 2004).
Darüber hinaus erwies sich der Einsatz des „Großen Lauschangriffs“ aufgrund der Auflagen nach dem BVerfG-Urteil als wenig ergiebig in der Kriminalitätsbekämpfung: Die Anzahl der Maßnahmen belief sich in den vergangenen Jahren auf wenige Fälle (meistens max. zehn), wie den Berichten der Bundesregierung der jeweiligen Berichtsjahre zu entnehmen ist. (vgl. https://dip.bundestag.de/).
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Rensing, C. (2024). Eine Frage der Haltung: Der Rücktritt von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und ihr Kampf gegen den „Großen Lauschangriff“. In: Becker, M., Kronenberg, V., Prinz, C. (eds) Rücktritte von politischen Ämtern. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-43947-7_15
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