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1.1 Problembeschreibung und Forschungsstand

In der kommunalen Selbstverwaltung nehmen Bürgermeister als Gallionsfiguren eine besondere Rolle ein (vgl. Gehne 2012, S. 10; Bogumil und Holtkamp 2023, S. 118). Ihre institutionelle Position als „Führungskraft zwischen Bürgerschaft, Rat und Verwaltung“ (Gehne 2012) verbindet verschiedene Arenen der kommunalen Ebene. Zusätzlich verfügen Bürgermeister über eine große räumliche und soziale Nähe zu Bürgern und genießen in der Regel ein höheres Vertrauen in der Bevölkerung als weitere Akteure des politischen Systems (vgl. Gehne et al. 2019, S. 7). Während sich die politikwissenschaftliche Forschung immer wieder mit hauptamtlichen Bürgermeistern beschäftigt (vgl. Egner 2007; Gehne 2012; Heinelt et al. 2018a, b), bleiben ihre ehrenamtlichen Kollegen, die besonders im ländlichen Raum zu finden sind, außen vor. Der ehrenamtliche Bürgermeister ist ein unbekanntes Wesen.

Als ehrenamtlicher Bürgermeister (eBm) wird verstanden, wer direkt von der Bürgerschaft oder dem Rat zum Bürgermeister einer Gemeinde oder Stadt gewählt wurde und nicht hauptamtlich tätig ist. Explizit nicht gemeint sind ehrenamtliche Ortsvorsteher von Ortsteilen oder Stadtbezirken oder ehrenamtlich tätige Bürgermeister, die als Stellvertreter der hauptamtlichen Bürgermeister fungieren.

Ehrenamtliche Bürgermeister stellen bislang eine Forschungslücke dar. Das vorliegende Buch ist die erste umfassende politikwissenschaftliche Analyse speziell zu diesem Personenkreis.Footnote 1 Orientierung in der Einordnung der Forschungsergebnisse bietet die Literatur zu hauptamtlichen Bürgermeistern, auf die sich im Folgenden bezogen werden soll. Schon seit längerem gibt es hier einige Erkenntnisse (u. a. Gehne 2012; Heinelt et al. 2018a, b; Bogumil und Holtkamp 2023; Egner 2007; Bertelsmann 2008). Die Sozialstruktur lässt sich im sogenannten „3M-Mantra“ zusammenfassen, da hauptamtliche Bürgermeister wie auch Rats- und Kreistagsmitglieder maßgeblich „male, middle-aged und middle-class“ sind (Heinelt 2018b, S. 34). Dieses Phänomen scheint sich über viele Jahre hinweg reproduzieren zu können. Somit unterscheidet sich die Sozialstruktur der Kommunalpolitiker in Spitzenpositionen ähnlich wie auf Landes- und Bundesebene deutlich von der der Bevölkerung. Es kann also wenig Diversität in diesen Mandaten und Ämtern erkannt werden.

Zudem prägen unterschiedliche regionale Traditionen die Ausgestaltung der lokalen Selbstverwaltung, was sich besonders in den institutionellen Regelungen zur Position des Bürgermeisters zeigt (vgl. Gehne 2012, S. 23). Begründet in unterschiedlichen Kommunalverfassungstraditionen und dem Einfluss der Alliierten nach Ende des Zweiten Weltkriegs sind trotz Angleichungstendenzen zu Beginn der 1990er-Jahre durch Kommunalreformen immer noch deutliche Varianzen beobachtbar. So verfügt der Bürgermeister in Baden-Württemberg über einen deutlich stärkeren Handlungsspielraum hinsichtlich der Verwaltungskompetenzen als beispielsweise in NRW. Zudem kann er dort nicht abgewählt werden und ist mit einer Legislaturperiode von 8 Jahren im Vergleich zu fünf Jahren in NRW relativ lang im Amt (vgl. Bogumil und Holtkamp 2023, S. 43).

Neben den hauptamtlichen Bürgermeistern und den Beigeordneten dominiert auf kommunaler Ebene das Ehrenamt auch in größeren Städten, da die Mitglieder von Kommunalvertretungen ehrenamtlich tätig sind (für einen Überblick über das kommunale Ehrenamt am Beispiel NRW siehe Bogumil et al. 2017). In ländlichen Räumen ist nun auch der Bürgermeister bei kleineren Gemeinden in der Regel ehrenamtlich tätig. Das Ehrenamt ist hier von zentraler Bedeutung, da es die professionellen Verwaltungsstrukturen ergänzt und die Besonderheit des Verwaltungstypus ausmacht (vgl. Henneke und Ritgen 2021, S. 230). Natürlich unterscheiden sich die Aufgaben des ehrenamtlichen von denen eines hauptamtlichen Bürgermeisters. Häufig sind die kleinen Kommunen in eine Verwaltungsgemeinschaft (VG) eingegliedert, die in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich konstruiert und benannt sind (u. a. Amt, Verbandsgemeinde, Samtgemeinde, etc.).Footnote 2 Von dieser werden viele Verwaltungstätigkeiten ausgeführt, weshalb dem ehrenamtlichen Bürgermeister weniger die Rolle der Führungskraft der Verwaltung zukommt, sondern eher vermittelnde und repräsentative Aufgaben sowohl nach Außen als auch innerhalb der Gemeinde gegenüber den Bürgern übernommen werden. Sie sind neben den Gemeinderäten also zentraler Bestandteil einer bürgernahen politischen Repräsentation.

Kommunalpolitik in ländlichen und kleinen Gemeinden unterscheidet sich also grundsätzlich von Großstädten (vgl. Schneider 1979, 1991, 1998). Neben den kommunalrechtlichen Rahmenbedingungen gibt es für kleinere Kommunen erhebliche Interdependenzen mit der Kreisebene sowohl in Form der Verwaltung als auch der politischen Entscheidungen, was den Handlungsspielraum der Kommune limitiert. Zusätzlich kommt der größeren sozialen und räumlichen Nähe der personenbezogenen Kommunikation und personellen Netzwerken eine höhere Bedeutung zu als in Großstädten (vgl. Schneider 1991, S. 31 ff.). Im Zusammenhang damit geht die geringere Relevanz von Parteien in der Kommunalpolitik im ländlichen Raum (vgl. Lehmbruch 1975) und eine höhere Wahrscheinlichkeit für eine kommunale Konkordanzdemokratie (vgl. Holtkamp 2008, S. 41) einher. Bürger in kleineren Kommunen orientieren sich weniger an Parteien, da sie Sachverhalte eher selbst bewerten können oder eher persönlichen Kontakt zu Honoratioren haben, deren Einordnungen sie vertrauen (vgl. Bogumil und Holtkamp 2023, S. 182). Folglich schneiden in der Regel kommunale Wählervereinigungen bei Kommunalwahlen deutlich stärker ab als in eher parteipolitisch geprägten Wahlen in Großstädten (vgl. z. B. Reiser 2012; Gehne 2013).

1.2 Fragestellung und methodisches Vorgehen

Allgemein auf der kommunalen Ebene, aber besonders in kleinen Kommunen, wird eine eingeschränkte Verfügbarkeit von Daten deutlich, was sich als „tale of missing data“ (Wegschaider et al. 2022) subsumieren lässt. Dies gilt insbesondere für eBm, denn bisher lagen keine Daten zur Anzahl und Verteilung der eBm in einem Überblick für ganz Deutschland vor. Zudem sind die Besonderheiten der Bundesländer zu berücksichtigen. EBm gibt es nur in 10 Bundesländern und auch dort gibt es einige Unterschiede. Während eBm z. B. in Rheinland-Pfalz ein zentraler Bestandteil der Struktur der unteren kommunalen Ebene darstellen, gelten sie in Baden-Württemberg als Sonderfall. Dort ist, wie auch in weiteren Bundesländern durch das Landesrecht nicht einheitlich definiert, wann ein Bürgermeister im Haupt- oder im Ehrenamt tätig ist. Daher ist ein differenzierender Ansatz nötig ist, um die Verteilung der eBm in Deutschland abzubilden.

Bei dem Versuch die Rahmenbedingungen, die Zusammensetzung, das Wirken, mögliche Problemlagen und die generelle Bedeutung ehrenamtlicher Bürgermeister für die Zukunft einer bürgernahen politischen Repräsentation im ländlichen Raum zu untersuchen gehen wir verschiedenen Fragestellungen nach:

  1. 1.

    Wie unterscheiden sich die kommunalrechtlichen Rahmenbedingungen für ehrenamtliche Bürgermeister im Ländervergleich in Deutschland?

  2. 2.

    Welche Trends lassen sich bei Kandidatenangebot und Wahlergebnissen bei Bürgermeisterwahlen für das Ehrenamt beschreiben?

  3. 3.

    Wie setzt sich die Gruppe der ehrenamtlichen Bürgermeister hinsichtlich ihrer Sozialstruktur und ihres beruflichen und politischen Werdegangs zusammen?

  4. 4.

    Welche Wirkungsmöglichkeiten sehen ehrenamtliche Bürgermeister in ihrem Amt? Welche Schwerpunkte legen sie in ihrer Amtsführung (Repräsentation, Bürgerbeteiligung, Vorsitz Gemeinderat, etc.) und wo sehen sie die wichtigsten Probleme in ihrer Amtsführung?

  5. 5.

    Welche Unterstützung wünschen sich Amtsinhaber und welche Ansätze zur Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen sowie zum Schutz von Amtsinhabern vor Anfeindungen gibt es?

  6. 6.

    Welche Handlungsempfehlungen zur Sicherung der Qualität einer bürgernahen politischen Repräsentation im ländlichen Raum lassen sich daraus ableiten?

Um diese Forschungsfragen zu beantworten war es notwendig sich dem Untersuchungsgegenstand aus verschiedenen Perspektiven zu nähern.

  1. (1)

    Abgeleitet aus den rechtlichen Rahmenbedingungen der Kommunalverfassungen, dem Wahlrecht und weiterer kommunalrechtlicher Bestimmungen wurde eine Übersicht der institutionellen Regelungen im Bundesländervergleich erstellt. Dabei zeigt sich auch innerhalb der rechtlichen Regelungen eines Bundeslandes eine hohe Varianz, da den kommunalen Gremien vor Ort eine gewisse Entscheidungsfreiheit und die Option des Transfers mancher Aufgaben (beispielsweise auf die Verwaltungsgemeinschaft) eröffnet wird.

  2. (2)

    Es wurde eine Regionalanalyse durchgeführt, um die quantitativ-räumliche Verteilung der eBm darzulegen und diese hinsichtlich der Ländlichkeit nach der Typisierung durch den Thünen Land-Atlas einzuordnen.

  3. (3)

    Um einen differenzierten Blick auf das Kandidatenangebot sowie einen möglichen Amtsinhaberbonus zu erhalten wurden Wahldaten erhoben. Ziel der Datenerhebung war, in allen Ländern mit eBm entweder für alle Gemeinden jeweils die vom Erhebungszeitpunkt zurückliegende letzte Direktwahl zu recherchieren, oder, wenn dies wegen der hohen Anzahl der Gemeinden (z. B. Rheinland-Pfalz und Bayern) nicht möglich war, auf Basis einer Stichprobe von mindestens 500 Gemeinden pro Land eine repräsentative Auswahl zu erhalten. Online erhoben wurde für jede ausgewählte Gemeinde im Zeitraum von August 2021 bis Oktober 2022 die Anzahl der Wahlberechtigten, die abgegebenen Stimmen, die Anzahl der gültigen Stimmen und deren Verteilung auf alle Bewerbenden für Hauptwahl und Stichwahl bzw. zweiten Wahlgang. Außerdem wurde mit Hilfe eines Namensabgleiches jeweils recherchiert, ob ein Amtsinhaber zur Wahl antrat. Nicht nur dieser Schritt der Datenerhebung war sehr aufwändig, da nur wenige Länder wie Bayern und Thüringen detaillierten Direktwahldaten zentral sammeln und aufbereiten. In den anderen Ländern mussten dann entweder bei den Gemeinden selbst oder bei Verwaltungsgemeinschaften o. ä. die Daten „per Hand“ recherchiert werden.Footnote 3 Dies gestaltete sich vor allem in sehr kleinen Gemeinden schwierig und führt in Rheinland-Pfalz zu größeren Stichprobenausfällen. Insgesamt konnte 1812 Gemeinden einbezogen werden. Damit ist diese Studie die erste, die in diesem Ausmaß Direktwahlergebnisse kleinerer Gemeinden länderübergreifend auswertet. Der Länder-Anteil der einbezogenen Gemeinden lässt sich in Tab. 1.1 nachvollziehen. Am höchsten lag er in Sachsen-Anhalt, dort konnten alle Gemeinden mit eBm und in Brandenburg 95 % berücksichtigt werden. Die Wahlen fanden aufgrund der unterschiedlich langen Amtszeiten und dem relativ langen Zeitraum der Datenerhebung zwischen dem 13.01.2013 und dem 27.11.2022 statt.Footnote 4

  4. (4)

    Kern des Forschungsprojektes stellt eine Befragung der eBm mittels Online-Fragebogen in allen 10 Flächenbundesländern mit eBm dar. Um erstmals eine genaue Anzahl und Verteilung der eBm in einer bundesweiten Gesamtdarstellung abzubilden, wurden Landesverbände des Deutschen Städte- und Gemeindebundes (DStGB),Footnote 5 Innenministerien und Statistische Landesämter sowie in Baden-Württemberg alle Landkreise abgefragt und die Rückmeldungen später in einer Datenbank zusammengeführt (Stand September 2021). In einem Pretest wurde der Fragebogen mit ehrenamtlichen Bürgermeistern sowie kommunalen Spitzenverbänden besprochen und kleinere Adaptionen vorgenommen. Zur Vorbereitung der flächendeckenden Befragung der ehrenamtlichen Bürgermeister (insbesondere die Fragebogenkonstruktion) und um die Perspektive de jure mit der Situation de facto zu spiegeln, wurden elf leitfadengestützte Experteninterviews mit ehrenamtlichen Bürgermeistern geführt. Die Auswahl wurde unter Einbezug einer möglichst großen Varianz der Kommunen hinsichtlich des Bundeslandes, der Einwohnerzahl, des Grades an Ländlichkeit und des Geschlechts des eBm geführt. Der Befragungszeitraum der quantitativen Umfrage erstreckte sich zwischen 13. März bis 21. Juli 2022 und bezog sich als Vollerhebung auf alle ehrenamtlichen Bürgermeister im ländlichen Raum in Deutschland (s. Tab. 1.2 und 1.3). Die Befragung wurde durch den Deutschen Städte- und Gemeindebund unterstützt und der Versand der Zugangslinks durch seine Landesverbände durchgeführt.Footnote 6 In einigen Bundesländern lagen keine Kontaktdaten der Zielgruppe vor, weshalb die Zusendung des Links zur Befragung über die Verwaltungsgemeinschaften vorgenommen wurde.Footnote 7

Tab. 1.1 Anteil der erhobenen Direktwahlen der eBm je Land
Tab. 1.2 Rücklaufquote Befragung ehrenamtlicher Bürgermeister nach Bundesland
Tab. 1.3 Rücklaufquote Befragung ehrenamtlicher Bürgermeister nach Größenklasse

Im Folgenden werden die Ergebnisse der empirischen Erhebungen präsentiert. In Kap. 2 werden die variierenden institutionellen Rahmenbedingungen im Bundesländervergleich präsentiert. Kap. 3 widmet sich der regionalen Verteilung von ehrenamtlichen Bürgermeistern sowohl im Bundesländervergleich als auch in den Bundesländern. In Kap. 4 werden die Ergebnisse der Datenauswertung zu den Direktwahlen vorgestellt. In Kap. 5 geht es um das Sozialprofil, Amtsführung und Problemlagen von eBm. Hier wird auf Befragungsergebnisse zurückgegriffen, indem Sozialprofil, Tätigkeiten, Zeitaufwand, Zusammenarbeit in der Verwaltung, Motivation, Wahl, Situation in der Kommune mit Hinblick auf den Gemeinderat und die finanzielle Lage, Anfeindungen und Erfahrungen mit Hetze sowie der Frage nach einer potenziellen erneuten Kandidatur und Nachwuchs für das Amt des eBm nach der eigenen Tätigkeit thematisiert werden. Die Umfragedaten wurden in drei digitalen Workshops mit Vertretern aus der Praxis und kommunalen Spitzenverbänden präsentiert und weiterführend diskutiert, um die gewonnenen Erkenntnisse noch weiter zu illustrieren. Abschließend werden auf Basis der Erkenntnisse Handlungsempfehlungen formuliert und ein perspektivischer Ausblick gegeben.