Das zweite Kapitel dieser Arbeit ist in drei Bereiche unterteilt. Um die Grundlage zur Analyse der Interviews hinsichtlich der Erforschung der Frage, warum Japanerinnen und Japaner nach Deutschland migrieren und sich hier niederlassen, zu schaffen, wird zunächst in Abschnitt 2.1.1 der Begriff der Migration erläutert und es wird mithilfe des „Kaigai Zairyū Hōjinsū Chōsa Tōkei (Annual Report on Japanese Nationals Living Abroad)“, der Angaben des Statistikamtes des Ministeriums für öffentliche Verwaltung, Inneres, Post und Telekommunikation (Sōmushō Tōkei Kyoku) und der Daten der GENESIS-Datenbank ein erster Überblick über mögliche Migrationsgründe gegeben. Im Anschluss daran, in Abschnitt 2.1.2, folgt ein Überblick über die Migrationstheorien und damit die Grundlage für die Interpretation der Ergebnisse der qualitativen Studie zum Migrationsverhalten der permanent ansässigen Japanerinnen und Japaner. Es zeigt sich, dass die Datenlage nicht ausreichend ist, um die Migrationsgründe und den Migrationskontext der permanent ansässigen Japanerinnen und Japaner in Deutschland darzulegen, sodass die vorliegende Arbeit in den Kapiteln 3 und 5 einen Beitrag zum Schließen dieser Lücke leistet.

Um die Frage zu beantworten, inwieweit die japanischen Migrantinnen und Migranten, die sich dauerhaft in Deutschland niedergelassen haben bzw. dies beabsichtigen, integriert sind, ist es anschließend notwendig, den Begriff der Integration zu definieren und zu operationalisieren. Zunächst wird hierfür der Begriff „Integration“ erläutert (Abschnitt 2.2.1), anschließend seine geschichtliche Entwicklung anhand der wichtigsten theoretischen Stränge und ihrer Vertreterinnen und Vertreter von den Anfängen der Assimilationsforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Abschnitt 2.2.2) über die Theorien des Ethnischen Pluralismus und Multikulturalismus (Abschnitt 2.2.3) bis zum Transnationalismus (Abschnitt 2.2.5) aufgezeigt. Abschließend wird ein Blick auf die Entwicklung des Begriffes und die Theoriebildung des deutschsprachigen Raumes geworfen (Abschnitt 2.2.6).

Abschnitt 2.3 geht schließlich ausführlich auf die Dimensionen oder auch Stufen der Integration ein. Im Sinne des Strukturalismus wurden verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen seit Beginn der Integrationsforschung bestimmte Funktionen für die Eingliederung zugeschrieben. Diese Teilbereiche lassen sich vier Dimensionen – sozial, strukturell, kulturell, identifikativ oder auch emotional – zuordnen.

2.1 Theoretische Grundlagen „Migration“

Ein Grund dafür, dass die Migrationsmotivation und -ursache der untersuchten Personen näher betrachtet werden müssen, besteht darin, dass Integration von der Art und den Bedingungen der stattgefundenen Migration beeinflusst wird, wie Hoesch (2018: 21) am Beispiel eines Asylbewerbers und eines Hochqualifizierten verdeutlicht und Friedrich Heckmann (2015: 22) mit folgendem Beispiel illustriert:

Der zeitlich zunächst begrenzte Aufenthaltstitel eines Arbeitsmigranten unterscheidet sich in den Bedingungen und Wirkungen für Integration signifikant von dem Status einer Heiratsmigrantin oder dem von Spätaussiedlern, welche mit der Einreise die deutsche Staatsangehörigkeit und damit von Anbeginn die rechtliche Zugehörigkeit zu Gesellschaft und Staat erwerben.

Migrationsanlass, Migrationsgründe und die Wahl Deutschlands als Zielland wurden in Hinblick auf permanent ansässige Japanerinnen und Japaner bislang nicht untersucht. Damit diese Arbeit einen Beitrag zum Schließen dieser Lücke leisten kann, werden im folgenden Unterkapitel hierfür zunächst die Grundlagen gelegt, indem zunächst der Begriff „Migration“ erläutert wird und anschließend Migrationstheorien in Hinblick auf Japanerinnen und Japaner dargelegt werden.

2.1.1 Begriffserläuterung „Migration“

Allgemein wird Migration als „Verlegung des Lebensmittelpunkts“, genauer als „Prozess der räumlichen Versetzung des Lebensmittelpunkts, also einiger bis aller relevanter Lebensbereiche, an einen anderen Ort, der mit der Erfahrung sozialer, politischer und/oder kultureller Grenzziehung einhergeht“ (Oswald 2007: 13) verstanden. Treibel (2011: 21) verknüpft die allgemeinen Merkmale von Migration mit räumlichen bzw. zeitlichen Differenzierungen von Wanderungen und gelangt zu folgender Definition:

Migration ist der auf Dauer angelegte bzw. dauerhaft werdende Wechsel in eine andere Gesellschaft bzw. in eine andere Region von einzelnen oder mehreren Menschen. So verstandene Migration setzt erwerbs-, familienbedingte, politische oder biographisch bedingte Wanderungsmotive und einen relativ dauerhaften Aufenthalt in der neuen Region oder Gesellschaft voraus; er schließt den mehr oder weniger kurzfristigen Aufenthalt zu touristischen Zwecken aus.

Treibels Definition lässt die Frage aufkommen, ab welcher Dauer ein Aufenthalt als dauerhaft angesehen werden kann. Nach der Definition der Vereinten Nationen gilt eine Person als Langzeitmigrantin oder -migrant (long-term migrant), also als permanent bzw. dauerhaft ansässig, wenn sie den ständigen Wohnsitz für die Dauer von mindestens einem Jahr vom Herkunftsland in ein anderes Land verlegtFootnote 1. Das japanische Außenministerium unterscheidet zwischen chōki taizai-sha, wörtlich etwa „Personen, die sich längere Zeit im Gastland aufhalten“, auch mit „Langzeitgast“ übersetzt, und eijūsha, Ansässige. Chōki taizai-sha sind dem japanischen Außenministerium zufolge Personen, die länger als drei Monate im Ausland bleiben und vorhaben, wieder nach Japan zurückzukehren.Footnote 2 In der Definition der Vereinten Nationen sind sie mit temporär Zugewanderten (short-term migrant) gleichzusetzenFootnote 3. Als eijūsha versteht es Personen, die ihren Lebensmittelpunkt von Japan nach Übersee verlagert haben bzw. solche, die eine Niederlassungserlaubnis des jeweiligen Gastlandes besitzen und ihren Lebensmittelpunkt dorthin verlagert haben.Footnote 4 Es bleibt anzumerken, dass es nur solche Personen in seinen Statistiken berücksichtigt, die die japanische Staatsangehörigkeit besitzen.Footnote 5 Während Personen, die keine japanische Staatsbürgerschaft besitzen, sogenannte nikkeijin, und solche, die weniger als drei Monate im Ausland bleiben, in den Statistiken nicht berücksichtigt werden, sind Personen mit doppelter, also japanischer und einer weiteren Staatsangehörigkeit, in diesen enthalten.Footnote 6

Aus dem „Kaigai Zairyū Hōjinsū Chōsa Tōkei (Annual Report on Japanese Nationals Living Abroad)“ aus dem Jahre 2020 geht hervor, dass sich 2019 1.410.356 Millionen Japanerinnen und Japaner im Ausland aufhielten. Davon waren 891.473 Personen „Langzeitgäste“ (chōki taizai-sha) und 518.883 dauerhaft Ansässige (eijūsha). Außerdem veranschaulicht der Jahresbericht, dass die Anzahl an im Ausland verweilenden Japanerinnen und Japanern sowie die Anzahl an dauerhaft Ansässigen seit Beginn der Heisei-Ära (1989–2019) jährlich zugenommen haben. Von 2017 auf 2018 stieg die Anzahl der „Langzeitgäste“ zuletzt zwar nur um 1,01 %, die der Ansässigen aber um ganze 6,11 %.Footnote 7

Zudem geht aus den Angaben des japanischen Außenministeriums für das Jahr 2019 hervor, dass sich der Großteil der im Ausland lebenden Japanerinnen und Japaner auf die USA (mit 444.063 Personen) und auf China (mit 116.484 Personen) verteilt. Auf Platz 6 nach Australien, Thailand und Kanada erscheint mit Großbritannien (66.192 Personen) zum ersten Mal ein europäisches Land als Ziel für japanische Migration. Auf Platz 9 folgt dann Deutschland (mit 44.765 Personen), nach Brasilien (mit 50.491 Personen) und Südkorea (mit 45.664 Personen) sowie vor Frankreich (mit 40.538 Personen).Footnote 8 Die Daten für Großbritannien zeigen, dass die Zahl der dort ansässigen japanischen Staatsangehörigen von 2015 und 67.997 Personen bis 2018 auf 60.620 Personen zurückgegangen ist.Footnote 9 Dies kann auf den mit dem EU-Austrittsreferendum vom 23. Juni 2016 angestoßenen Prozess des Ausscheidens des Vereinigten Königreiches aus der EU zurückgeführt werden. Ob der Rückgang der Zahlen darauf beruht, dass Japanerinnen und Japaner das Land verlassen, oder darauf, dass mehr von ihnen die britische Staatsangehörigkeit annehmen, geht aus der Statistik allerdings nicht hervor. Im Jahr 2019 verzeichnete Großbritannien allerdings wieder einen Zuwachs an japanischen Personen von 9,2 % und erreicht nun mit 66.192 im Land befindlichen Japanerinnen und Japanern nahezu wieder das Vor-Brexit-Niveau, das bei 67.997 Personen lag.Footnote 10

In Hinblick auf die Frage, was Japanerinnen und Japaner dazu bewegt, nach Deutschland auszuwandern, geht aus dem in Abschnitt 1.2 dargelegten Forschungsstand bereits hervor, dass neben den japanischen Expatriates seit den 1980er Jahren weitere Formen japanischer Migration in Deutschland identifiziert wurden. Die Heterogenität der japanischen community wurde bislang allerdings aufgrund der geringen Anzahl an Betroffenen als irrelevant abgetan. In Zusammenhang mit Deutschland wird auf

  • Gäste zu touristischen Zwecken (Zielke 1982: 60; Glebe 2003: 111),

  • Studierende (Glebe 2003: 111),

  • Heiratsmigrantinnen und -migranten bzw. Personen, die mit einem Deutschen oder einer Deutschen verheiratet sind (Glebe 2003: 111, Kitabayashi 2006: 32),

  • ehemalige Beschäftigte japanischer Unternehmen (Glebe 2003: 111; Kitabayashi 2006: 32),

  • Beschäftigte im ethnischen Business bzw. Selbstständige (Kitabayashi 2006: 32),

  • Kunstschaffende (Glebe 2003: 111) und

  • Personen mit Working-Holiday-Visum (Kitabayashi 2006: 32)

verwiesen.

Aus der weiter oben erfolgten Begriffserläuterung und den damit verbundenen Definitionen geht bereits hervor, dass Gäste zu touristischen Zwecken meist als Migrantinnen und Migranten ausgeschlossen werden, da sie nur für wenige Tage oder Wochen bleiben. Studierende werden auch als temporär ansässig angesehen, es zeigt sich aber, dass sich ihr Aufenthalt von einem temporären zu einem dauerhaften entwickeln kann (Han 2016: 112).

Die Rückkehrbereitschaft von Studierenden hängt von wirtschaftlichen, politischen und sozialen Faktoren ab. In Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung im Heimatland ist die Rückkehrwahrscheinlichkeit umso geringer, je schlechter die Arbeitsmarktchancen sind. Auch politische Bedingungen können dazu führen, dass Studierende nicht in ihr Heimatland zurückkehren. Das prominenteste Beispiel hierfür sind chinesische Studierende. Aber auch soziale Faktoren können dazu führen oder dazu beitragen, dass ausländische Studierende nicht in ihr Heimatland zurückkehren. So ist mit dem Aufenthalt im Gastland ein Akkulturationsprozess verbunden, durch den sie Wertvorstellungen, Verhaltensnormen und Lebensstile des Gastlandes übernehmen können. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer können sie sich von ihren heimatlichen Verhältnissen entfremden und sich dazu entscheiden, im Gastland zu bleiben (Han 2016: 113–115). Dies gilt es auch für Personen mit Working-Holiday-Visum zu berücksichtigen.

Angaben zum Aufenthaltsgrund werden im „Kaigai Zairyū Hōjinsū Chōsa Tōkei (Annual Report on Japanese Nationals Living Abroad)“ aus dem Jahre 2020 nicht gemacht. Doch führt das Sōmushō Tōkei Kyoku im Statistischen Jahrbuch des Jahres 2021 die Aufenthaltsgründe der Personen auf, die länger als drei Monate im Ausland bleiben. Dabei greift es allerdings auf Daten aus dem Jahre 2017 vom „Kaigai Zairyū Hōjinsū Chōsa Tōkei (Annual Report on Japanese Nationals Living Abroad)“ des Jahres 2018 zurück. Es nennt fünf Kategorien: Privatunternehmen (private enterprises, minkan kigyō), Presse (press, hōdō), Freiberuflerinnen und Freiberufler (free lance, jiyūgyō), Studierende, Forschende und Lehrende (students, research students, teachers; ryūgaku-sei, kenkyūsha, kyōshi) sowie Regierungsbeamtinnen und -beamte (government officials; seifu kankei).Footnote 11 Die Erläuterungen zu den Kategorien finden sich im „Kaigai Zairyū Hōjinsū Chōsa Tōkei (Annual Report on Japanese Nationals Living Abroad)“ aus dem Jahre 2017. Zur Kategorie der Privatunternehmen zählt der Report Angestellte bei Handelsfirmen und Banken, an der Börse, bei Versicherungen, im verarbeitenden Gewerbe, in der Luft- und Schifffahrt, im Bauwesen, in der Werbung, in der Fischerei, im Bergbau, in der Forstwirtschaft, in der Reisebranche, in der Logistik und der Immobilienbranche. Außerdem zählen zu dieser Kategorie Angestellte bei Wirtschaftsunternehmen, wobei Personal von Non-Governmental Organisations (NGOs) und Non-Profit Organisations (NPOs) und Angestellte bei ausländischen Unternehmen miteingeschlossen sind, Mitarbeitende von japanischen Zweigniederlassungen und Tochtergesellschaften allerdings nicht dazugezählt werden. Lokalangestellte Japanerinnen und Japaner sind allerdings in den Zahlen enthalten. Zur Presse werden Korrespondentinnen und Korrespondenten sowie lokal bei Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk und Nachrichtenagenturen angestellte Japanerinnen und Japaner gezählt.Footnote 12 Unter Freiberuflerinnen und Freiberufler fasst der Report Personen zusammen, die einen der folgenden Berufe innehaben:

  1. a)

    Mönche, Missionarinnen und Missionare

  2. b)

    Schriftstellerinnen und Schriftsteller

  3. c)

    Anwältinnen und Anwälte, Wirtschaftsprüferinnen und -prüfer

  4. d)

    Go- oder Shōgi-Spielende, Ausübende des Teewegs, Ikebanas und des japanischen Tanzes, Spielende der Koto, der Shakuhachi und der Shamisen sowie Lehrende des Judō, Karate und Aikidō

  5. e)

    Kunstschaffende (Musizierende, bildende Künstlerinnen und Künstler sowie Fotografinnen und Fotografen miteingeschlossen)

  6. f)

    Architektinnen und Architekten

  7. g)

    Personen im ärztlichen Dienst, tiermedizinisches und medizinisches Fachpersonal

  8. h)

    Personen in der Modebranche

  9. i)

    Friseurinnen und Friseure, Pflegepersonal, Ärztinnen und Ärzte für Akupunktur, Köchinnen und Köche, Geschlechtsbestimmerinnen und -bestimmer von Küken

  10. j)

    SelbstständigeFootnote 13

Zu den Regierungsbeamtinnen und -beamten werden Angestellte diplomatischer Vertretungen, von Banken und Selbstverwaltungskörperschaften, bei der Japanischen Industrie- und Handelskammer, den Vereinten Nationen oder internationalen Organisationen, Lehrpersonal für im Ausland ansässige Japanische Schulen oder weitere Bildungseinrichtungen sowie von der Regierung entsendetes technisches Fachpersonal gezählt.Footnote 14

In Deutschland halten sich die meisten Japanerinnen und Japaner dieser Zuordnung nach als Angestellte bei Privatunternehmen auf (16.611 Personen), es folgen Studierende, Forschende und Lehrkräfte mit 6976 Personen sowie anschließend Freiberuflerinnen und Freiberufler (3912 Personen). Angehörige der Regierung (618 Personen) und der Presse (97 Personen) sind nur in geringer Anzahl vorhanden. Ähnlich strukturierte Angaben zu den japanischen permanent Ansässigen liegen allerdings nicht vor.Footnote 15

Von deutscher Seite aus kann die Vergabe der Aufenthaltstitel einen Einblick in die Migrationszwecke der japanischen Migrantinnen und Migranten geben. Aus den Daten der GENESIS-Datenbank geht hervor, dass sich ein Großteil aufgrund einer qualifizierten Beschäftigung in Deutschland aufhält (4795 Männer, 1130 Frauen). Gemäß Tabelle 2.1 „Die häufigsten Aufenthaltstitel der Japanerinnen und Japaner in Deutschland für die Jahre 2016 bis 2018“ folgen die Aufenthaltstitel „Familienanhang von Deutschen“ (355 Männer, 3950 Frauen), „Ehegattennachzug“ (Männer 85, Frauen 3070), „Kindesnachzug“ (1165 Männer, 1035 Frauen) und „Studium“ (950 Männer, 1395 Frauen).

Tabelle 2.1 Die häufigsten Aufenthaltstitel der Japanerinnen und Japaner in Deutschland für die Jahre 2016 bis 2018

Interessant ist, dass zu einem geringen Anteil auch Aufenthaltstitel vergeben wurden, die auf prekäre Lebenssituationen hinweisen. Wie aus Tabelle 2.2 hervorgeht, wurden im Jahre 2018 zwanzig Aufenthaltstitel aufgrund von dringenden humanitären Gründen vergeben, fünf aufgrund von rechtlichen oder tatsächlichen GründenFootnote 16 und ebenfalls fünf aufgrund von außergewöhnlicher Härte.

Im Zusammenhang mit der Vergabe der Aufenthaltstitel wurde auch überprüft, ob es nach der Dreifachkatastrophe von 2011 in Fukushima zu einer erhöhten Vergabe von Aufenthaltstiteln an japanische Personen in Deutschland kam und so Hinweise darauf bestehen, dass Japanerinnen und Japaner Japan aufgrund dieses Ereignisses in Richtung Deutschland verlassen haben. Bei der Betrachtung der Anzahl der vergebenen Aufenthaltstitel in den Jahren 2010 bis 2018 kann für das Jahr 2011 kein signifikanter Anstieg verzeichnet werden. Es fällt allerdings auf, dass sich die Aufenthaltstitel im Jahr 2011 in ihrer Art von den zuvor betrachteten Titeln der Jahre 2016 bis 2018 unterscheiden. Ein Vergleich mit den Aufenthaltstiteln des Jahres 2010 zeigt allerdings, dass diese bereits im Jahr vor der Dreifachkatastrophe vergeben wurden, weshalb sowohl in Hinblick auf die Anzahl der vergebenen Titel als auch in Hinblick auf ihre Art kein Hinweis auf eine erhöhte Anzahl von japanischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland aufgrund der Dreifachkatastrophe vorliegt.

Tabelle 2.2 Aufenthaltstitel prekärer Lebenssituationen unter Japanerinnen und Japanern in Deutschland für die Jahre 2016 bis 2018

Im Rahmen vom 2005 verabschiedeten „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz – ZuWG)“Footnote 17 wurde das System der Titelvergabe bzw. die möglichen zu beantragenden Titel überarbeitet. Mit Artikel 1, dem sogenannten Aufenthaltsgesetz, wurde die Anzahl der vorherigen möglichen Aufenthaltstitel auf die befristete Aufenthaltserlaubnis und die unbefristete Niederlassungserlaubnis reduziert. Zwar wird in Hinblick auf die Aufenthaltserlaubnis noch nach Aufenthaltsgrund (Ausbildung, Erwerbstätigkeit, humanitäre Gründe, familiäre Motive) unterschieden, doch können Studierende nach Abschluss ihres Studiums zur Arbeitssuche ein Jahr länger in Deutschland bleiben. Nach fünf Jahren Aufenthalt ohne Unterbrechung in Deutschland können Zugewanderte einen unbefristeten Aufenthaltstitel erhalten. Dabei ist der Aufenthalt in Hinblick auf die Niederlassungserlaubnis an keinen Zweck gebunden, allerdings an Voraussetzungen geknüpft. Diese sind laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BaMF) im Allgemeinen die Führung eines befristeten Aufenthaltstitels seit mindestens fünf Jahren, die Sicherung des Lebensunterhaltes für sich und die Familie, die Einzahlung von Beiträgen zur Rentenversicherung über mindestens sechzig Monate, ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache und die Integration in die deutsche Gesellschaft.Footnote 18 Dabei weichen die Voraussetzungen je nach Migrationstypus voneinander ab und unterstreichen damit, die bereits von Hoesch und Heckmann genannte Prämisse, dass Integration von der Form der Migration bedingt werden kann. So erhalten Personen, die ein Studium oder eine Berufsausbildung in Deutschland erfolgreich abgeschlossen haben, die Niederlassungserlaubnis, wenn sie „seit zwei Jahren einen Aufenthaltstitel zur Beschäftigung als Fachkraft (mit Berufsausbildung oder akademischer Ausbildung) oder als Forschender besitzen, einen Arbeitsplatz inne haben, 24 Monate Pflichtbeiträge in einer Rentenversicherung geleistet haben und über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen“Footnote 19, während Selbstständige eine Niederlassungserlaubnis zwar auch verkürzt, aber erst nach drei Jahren erhalten können, wenn sie beruflich erfolgreich sind und den Lebensunterhalt ihrer Familie sichern können.Footnote 20

Unter Berücksichtigung der Angaben im „Kaigai Zairyū Hōjinsū Chōsa Tōkei (Annual Report on Japanese Nationals Living Abroad)“, der Angaben des Sōmushō Tōkei Kyoku und der Daten der GENESIS-Datenbank lässt sich schlussfolgern, dass Japanerinnen und Japaner gemäß ihren offiziellen Angaben wegen der Arbeit, des Studiums und der Familie, bei Letzterem im Zuge von Ehegattennachzug und Kindesnachzug, nach Deutschland kommen.

2.1.2 Migrationstheorien in Hinblick auf japanische Migrantinnen und Migranten

Zur Erörterung der Ursachen und Motive von Migration sind im Laufe der Jahre zahlreiche Theorien, Modelle und Erklärungsansätze entstanden, die mit der Zeit komplexer wurden und mittlerweile häufig die Mikro-, Meso- und Makro-Ebene einbeziehen. Als Beginn der expliziten Migrationsforschung wird Ernst Georg Ravensteins Artikel „The Laws of Migration“ von 1885 gesehen. Auf Ravensteins Migrationsgesetzen basieren die heutigen Push- und Pull-Modelle. Diese stellen ein mikroökonomisches Modell dar, das auf der Annahme beruht, dass Migrationswillige ihre Situation verbessern wollen und ihre Entscheidungen rational und insbesondere unter ökonomischen Erwägungen treffen. Dies wird auch mit dem Prinzip des „ökonomischen Rationalismus“ (Ewers 1931: 39) beschrieben. Der Ausdruck „push and pull factors“ wurde das erste Mal 1944 von dem schwedischen Ökonomen Gunnar Myrdal verwendet. In „An American Dilemma. The Negro Problem and Modern Democracy“ erfasst er mit diesem Konzept die Gründe der Migration afroamerikanischer Personen vom Süden der USA in den Norden seit dem Bürgerkrieg. Im Rahmen des Push- und Pull-Modells bewegen Push-Faktoren Migrationswillige dazu, ihren Heimatort bzw. ihr Heimatland zu verlassen. Zu diesen Faktoren zählen politische Unterdrückung, ärmliche Lebensverhältnisse und geringe wirtschaftliche Möglichkeiten. Pull-Faktoren hingegen ziehen sie an einen anderen Ort. Hierzu zählen das Arbeitsangebot, die Aussicht auf einen höheren Lebensstandard und politische Freiheit. Die Suche nach Arbeit stellt in den klassischen Migrationstheorien, die Migration aus einem ökonomischen Blickwinkel betrachten, den Hauptgrund für Migration dar. Das Bild der nach besseren Lebensbedingungen in Form von besserer Arbeit oder Arbeit im Allgemeinen suchenden Migrantinnen und Migranten ist in der Migrationsforschung immer noch vorherrschend. Wie in der Einleitung bereits erwähnt, handelt es sich bei den größten Gruppen Zugewanderter in Deutschland um ehemalige Gastarbeiter und Geflüchtete. Deren Migration liegen meist klassische Push-Faktoren wie Arbeitslosigkeit, geringes Einkommen, Krieg und Diskriminierung zugrunde. Entsprechende Pull-Faktoren sind bessere Verdienstmöglichkeiten und Jobangebote, Sicherheit sowie Frieden. Im historischen Kontext lassen sich verschiedene Anlässe und Gründe für Migration von Japanerinnen und Japanern ausmachen. So beschränkte sich die japanische Migration zunächst auf eine mehr oder weniger unfreiwillige Migration einiger weniger Individuen. In der Mitte des 14. Jahrhunderts handelte es sich um japanische Piraten, wakō, die sich auf ihren Beutezügen in China und Korea niederließen. Im 16. Jahrhundert reisten zudem japanische Händler nach Ost- und Südostasien und gründeten Niederlassungen unter anderem in Vietnam und Siam. Diese Personen waren ausschließlich Männer, die ortsansässige Frauen heirateten. In der sakoku-Periode kamen Fischer und Matrosen hinzu, die im Pazifik Schiffbruch erlitten und von Walfängern oder russischen Händlern gerettet wurden. Da die Tokugawa-Regierung nicht gestattete, dass sie nach Japan zurückkehrten, verbrachten sie den Rest ihres Lebens im Ausland (Befu 2010: 32–34). Darüber hinaus erreichte im frühen 17. Jahrhundert eine diplomatische Mission den Ort Coria del Río im Süden Spaniens, um die politischen Verbindungen zwischen Japan und dem Westen zu festigen und Handelsbeziehungen zu Europa aufzubauen. Da Japan noch während der Reise dieser Delegation im Jahre 1614 ein Edikt erlassen hatte, dass alle dem Christentum angehörenden Personen aus Japan verbannte, waren die durchweg katholischen Mitglieder der Mission in Spanien gezwungen zwischen ihrem Glauben und der Rückkehr in ihr Heimatland zu wählen (Abraham und Serradilla-Avery 2010: 105–106; 115).

Die eben genannten klassischen Push- und Pull-Faktoren greifen für die Gruppe der bereits in Abschnitt 1.2 genannten dekasegi. Mit der Öffnung Japans zum Westen setzte eine umfangreichere Migration ein. Die dekasegi wanderten auf Plantagen nach Hawaii sowie Nord- und zu einem späteren Zeitpunkt Südamerika aus. Ihre Migration war von ärmlichen Lebensverhältnissen im Heimatland angetrieben und beruhte auf der Hoffnung auf bessere Arbeitsbedingungen im Zielland und darauf, Geld an die im Heimatland verbliebenen schicken zu können. Neben diesen gingen seit 1883 auch mittellose Studierende an die Westküste der USA. Es handelte sich überwiegend um alleinstehende junge Männer, die hofften, dass sie das auf ihrer Reise Erlernte in Japan gewinnbringend einsetzen könnten (Sakata 2015a: 19). Sowohl die Wanderung der dekasegi als auch die der Studierenden zur damaligen Zeit war, ähnlich wie bei den Arbeitsmigrantinnen und -migranten der 1950er und 1960er Jahre in Deutschland, nicht als permanente Migration vorgesehen.

Im Kontrast zu der Migration der dekasegi stand nach der Öffnung Japans die Migration von ausgewählten Personen, die im Ausland Informationen zur Modernisierung des Landes sammeln sollten. Diese Migrationsform fällt in den Bereich der Migration von Eliten. In diesem Zusammenhang reisten 1862 auch erstmals offiziell Japaner im Rahmen der Takeuchi-Mission sowie zehn Jahre später im Rahmen der Iwakura-Mission nach Deutschland, um Elemente zur Modernisierung des japanischen Staates zu identifizieren. Es folgten Vertreter aus Politik und Wirtschaft sowie Studierende. Neben diesen Migrationsformen spielte auch die Heiratsmigration eine Rolle. Während im 16. und 17. Jahrhundert westliche Männer in Japan „Ehen auf Zeit“ eingingen, begannen im 19. Jahrhundert japanische Frauen ihren Männern in den Westen zu folgen (Hardach-Pinke 1988: 38).

An den zuletzt genannten Beispielen zeigt sich bereits, dass klassische Push- und Pull-Faktoren die Migration von Japanerinnen und Japanern nur bedingt erklären können, da diese Personen nicht (unbedingt) aufgrund von lebensbedrohlichen sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Umständen in eine industrialisierte Nation auswanderten und damit nicht dem in der Migrationsforschung vorherrschenden Bild der Migrantin bzw. des Migranten entsprechen. Dies gilt auch für Japanerinnen und Japaner der neueren Migrationsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Zielke kommt zwar zu dem Ergebnis, dass die Wanderung der Japanerinnen und Japaner nach Düsseldorf nicht von individuellen Faktoren bestimmt, sondern „mit dem alles andere in den Schatten stellenden Ziel des wirtschaftlichen Erfolges für Japan im Wirtschaftsgeist des japanischen Volkes begründet“ (Zielke 1982: 130) sei, doch mag dies nur auf die japanischen Expatriates und ihre Familien zutreffen. Glebe et al. (1999: 426) stellen in Hinblick auf die Gruppe japanischer Zugewanderter in Deutschland und Großbritannien Ende der 1990er Jahre Folgendes fest:

The Japanese living in Britain and Germany belong to the relatively small group of generally highly skilled, high waged migrants. They are part of a transitory transnational élite, which over recent decades has settled in major cities in the developed world. The function of such personnel is to maintain and strengthen the global exchange of goods, capital and services.

Aus dieser Schilderung wird deutlich, dass hier die japanischen Expatriates stellvertretend für die japanische Migration stehen. Diese Gruppe fand aufgrund ihrer zunehmenden Anzahl und vor dem Hintergrund der Internationalisierung in den 1980er Jahren Beachtung und wurde wie bei Glebe et al. (1999) mithilfe von Findlays Theorie der Migrationskanäle (migration channel approach) (1990), Salts Internal Labour Market-Ansatz (1988) und Sassens Forschung zu global cities (1991) untersucht. Nach Findlays (1990) Theorie der Migrationskanäle senden entweder Arbeitsvermittlungsagenturen, Headhunter oder international aktive Unternehmen Arbeitskräfte für eine begrenzte Zeit ins Ausland. Dabei wandern die Zugewanderten nicht aus ärmeren Regionen in reichere, sondern umgekehrt von reicheren in ärmere oder in Länder mit einem ähnlichen Entwicklungsniveau. Der Grund dafür wird in der Steuerung der Migration durch verschiedene Institutionen auf der Meso-Ebene gesehen. Diese Institutionen fungieren als Migrationskanäle, indem sie erstens Informationen und Ressourcen zur Migration bereitstellen, zweitens als Gatekeeper die Größe und Zusammensetzung des Migrationsstromes regulieren und drittens potentielle Migrierende zur Auswanderung motivieren (vgl. Findlay und Li: 1998). Salt (1990) hat auf die vergleichbare Rolle von internen Arbeitsmärkten („Internal Labour Markets“, ILMs) innerhalb von Unternehmen hingewiesen. In diesem Fall erfolgt Migration in Form von Versetzungen innerhalb eines Unternehmens zwischen dessen verschiedenen Niederlassungen. Sassen sieht einen engen Zusammenhang zwischen der Migration in die globalen Zentren und der Bedeutungszunahme transnationaler Unternehmen im Zuge der Globalisierung. Transnationale Unternehmen verlagern laut Sassen (1991) ihre Zentralen in die Metropolen der global cities und fordern hochqualifizierte, spezialisierte Arbeitskräfte an, wodurch eine ganze Industrie angelagerter spezialisierter Dienstleistungsunternehmen, ein sogenanntes ethnisches Business, entsteht. Auf einer untergeordneten Ebene wird Düsseldorf zu diesen global cities gezählt und weist ein solches ethnisches Business auf (Montag 2001: 9).

Ökonomische Push- und Pull-Faktoren wurden somit in Hinblick auf japanische Expatriates und auch für die Gruppe der dekasegi berücksichtigt. Allerdings kann bei Selbstständigen nicht unbedingt davon ausgegangen werden, dass sie von Anfang an vorhatten, sich in Deutschland selbstständig zu machen. Eine Selbstständigkeit wäre ihnen auch in Japan möglich gewesen, sodass sich die Frage stellt, was den Anlass gab, nach Deutschland zu gehen. Ähnliche Fragen lassen sich in Hinblick auf die Personen stellen, die aushilfsweise in japanischen Restaurants arbeiten. Auf diese verwies Kitabayashi (2006: 32) und merkte an, dass sie in Deutschland weniger verdienten als in Japan und eine unsicherere Position innehätten. Eine Antwort hierauf könnten Untersuchungen zu den japanischen Migrantinnen und Migranten in Australien geben. Diese ziehen neben ökonomischen Überlegungen weitere Push- und Pull-Faktoren in Betracht, die nicht mehr zu den klassischen zählen. So ist die Migration von Japanerinnen und Japanern nach Australien seit den frühen 1990er Jahren von dem Wunsch eines angenehmeren Lebens geprägt. Bei der Wahl des Zielortes achten die prospektiven Migrierenden vermehrt auf eine ausgeglichene Work-Life-Balance und beziehen ansprechende Gestaltungsmöglichkeiten der Freizeit, ein angenehmes Wohnumfeld, ein mildes Klima und ansprechende Ausbildungsmöglichkeiten für die eigenen Kinder in ihre Entscheidungsfindung mit ein (vgl. Satō 1993; Mizukami 2010; Hamano 2014; Nagatomo 2015). Nagatomo (2015: 52) erläutert dieses Phänomen unter den japanischen Migrationsbewegungen wie folgt:

In the 1990s when Japan began to suffer the impact of an economic downturn a new type of migrant emerged. Although numbers of semi-retired migrants were increasing in the late 1980s amongst the wealthier Japanese middle class, younger generations also began to emigrate in this period. Underpinning this new form of migration was an emphasis on lifestyle factors […]. While it is difficult to categorically distinguish ‘lifestyle migrants’ from the overall population of contemporary Japanese outbound migrants, it is reasonable to suggest that lifestyle migration accounts for a substantial proportion of this population beyond those who migrate simply in order to marry a non-Japanese partner.

Aus diesem Auszug wird die Definitionsproblematik von Lifestyle-Migrierenden deutlich. In ihrem Artikel „Migration and the Search for a Better Way of Life. A Critical Exploration of Lifestyle Migration“ gehen Michaela Benson und Karen OReilly (2009) auf Lifestyle-Migration als Analysekategorie ein und verorten diese Migrationsform in ihrem historisch-sozialen Kontext. Unter Lifestyle-Migrantinnen und -Migranten verstehen sie „relatively affluent individuals of all ages, moving either part-time or full-time to places that, for various reasons, signify, for the migrant, a better quality of life“ (Benson und OReilly 2009: 609). Dabei verweisen sie auf ethnographische Studien, aus denen hervorgeht, dass die Erzählpersonen ihr Leben vor der Migration als negativ empfunden haben und im Rahmen ihrer Beschreibung der Umstände, die zur Migration führten, auf Flucht-Metaphern zurückgreifen (Benson und OReilly 2009: 609). Sie kommen zu folgendem Schluss: „The fundamental features of the different lifestyles sought thus include the re-negotiation of the work-life balance, quality of life, and freedom from prior constraints“ (Benson und OReilly 2009: 609). Lifestyle-Migrantinnen und -Migranten stellen die Vorteile des Migrationszieles häufig den empfundenen Mängeln ihres Heimatlandes gegenüber. Nagatomo identifiziert in seiner Untersuchung der japanischen Zugewanderten in Australien vier Schlüsselfaktoren, die die Personen dazu veranlasst haben, zu migrieren. Dies sind: „the lure of a relaxed Australian lifestyle, the sense that values of freedom and individualism pervade Australian society, gender equality in Australia, and the promise of escape from the high population density of Japanese cities and Japanese bureaucracy“ (Nagatomo 2015: 98). Auch Mizukami geht in seiner Untersuchung japanischer Zugewanderter auf deren Migrationsgründe ein. Im Rahmen seiner Untersuchung unterteilt er die Gruppe japanischer Zugewanderter allerdings in immigrants bzw. permanent residents und sojourners. Diese Unterteilung ähnelt der in dieser Arbeit getroffenen Differenzierung zwischen dauerhaft ansässigen Japanerinnen und Japanern und temporär Ansässigen, die insbesondere von der Gruppe der japanischen Expatriates repräsentiert werden. Während mit 16 von 18 Personen der Großteil der befragten sojourner aufgrund der Versetzung durch die Firma nach Australien gelangt ist, sind die Gründe unter den befragten dauerhaft ansässigen Japanerinnen und Japanern vielfältig und beinhalten auch auf das angenehme Klima bezogene Antworten. Darüber hinaus geben zwei Personen an, dass die Lebenshaltungskosten in Australien niedriger seien als in ihren vorherigen Aufenthaltsländern (Japan und die USA). Einer von ihnen erfuhr dies durch einen Freund und erklärte, dass es für ihn in Japan unvorstellbar sei, ein Haus zu besitzen, während er sich in Australien eines leisten könne (Mizukami 1993: 11–12). Auch Sakai Junko sieht in ihrer Untersuchung „Japanese Bankers in the City of London“ aus dem Jahre 2000 Lifestyle-Faktoren als Grund für die Auswanderung. Schon in den 1970er Jahren wanderten Japanerinnen aufgrund von Lebensumständen, denen sie sich nicht fügen wollten, aus. Sakai stellt fest, dass in dieser Gruppe die Migration durch Enttäuschung über Arbeitsbedingungen und einengende familiäre Verhältnisse sowie ein idealisiertes Bild des Westens begründet war:

the idea that women could have more freedom in Western countries than in Japan was their main motivation. These women came to Britain to gain their freedom when they were young, which they thought was impossible in Japan. They thought that they could not bear to live with the situation of women as it then was in Japan. (Sakai 2000: 214)

Sie bezeichnet diese Frauen als „spiritual migrants“ (Sakai 2000: 214), um sie von den „economic migrants“ (Sakai 2000: 214) der Nachkriegszeit zu unterscheiden. Das charakteristische Unterscheidungsmerkmal ist hier, dass diese Frauen nicht aus wirtschaftlichen Gründen migrierten, sondern aufgrund einer, wie Sakai (2000: 214) sagt, „constructed illusion about the West and Japan“, ihre Motivation lag in der Vorstellung begründet, dass Frauen im Westen mehr Freiheiten hätten als in Japan. Dies ähnelt dem späteren Konzept des „Imagined West“ von Fujita Yuiko. Fujita begleitete angehende Künstlerinnen und Künstler nach London und New York. Diese wanderten nicht aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen aus Japan aus, sondern, wie sie feststellt, aus kulturellen und werden daher von ihr als bunka imin bezeichnet (Fujita 2008b: 23). Fujita (2008a: 6) stellt in Anlehnung an Appadurai heraus, dass junge Japanerinnen und Japaner mithilfe der modernen Technologien sowie unter dem Einfluss der Medien eine Sehnsucht nach der Ferne entwickeln, welche die Entscheidung auszuwandern begünstigt. Sie kamen durch die Medien mit ihren Sehnsuchtsorten in Kontakt und formten aufgrund der Bilder, die sie sahen, eine – meist idealisierte – Vorstellung von diesen Orten (Fujita 2008a: 12–15). Dies bezeichnet Fujita (2004) als imagined West. In Hinblick auf die Migrationsmotivation greift Fujita ebenfalls auf das Push- und Pull-Modell zurück. Als Push-Faktoren identifiziert sie die steigende Jugendarbeitslosigkeit und die strukturelle Marginalisierung von Frauen in der japanischen Gesellschaft. Des Weiteren stellt sie fest, dass manche Japanerinnen es vorziehen, ins Ausland zu gehen, statt in Japan zu heiraten. Aus den Erzählungen geht hervor, dass viele das Gefühl hätten, sich in einer Sackgasse zu befinden, da sie weder eine Zukunft hinsichtlich ihrer Karriere noch in Hinblick auf Heirat sehen. Daher betrachten sie die Auswanderung als Möglichkeit, ihre Lebenssituation zu verbessern. Viele der interviewten Personen werden dabei finanziell von ihren Eltern unterstützt (Fujita 2008b: 32, 38–39). Als Pull-Faktoren nennt sie die kulturellen Gelegenheiten in New York und London – den Zielen der Migrierenden –, die englische Sprache sowie günstigere Studienmöglichkeiten im Ausland (Fujita 2008b: 40–41).

Der Wunsch nach einem Leben frei von repressiven Rollenerwartungen und Gesellschaftskonformität erinnert an Hoffmann-Nowotnys „Theorie struktureller und anomischer Spannungen“ (1970). Es handelt sich um eine strukturalistisch-behavioristische Theorie, die gesellschaftliche Spannungen als Ursachen von Migration annimmt. Gemäß dieser Theorie werden Widersprüche zwischen dem, was die Personen wollen, und dem, was gesellschaftlich möglich ist, durch Ortsveränderungen aufzulösen versucht. Düvell (2006: 106) verweist in diesem Zusammenhang auf Zugewanderte, die nicht ökonomische, sondern kulturelle Überlegungen in den Vordergrund stellen und als Grund für ihre Migration nennen. Dies zeige sich beispielsweise bei kulturellen, religiösen und/oder sexuellen Minderheiten, die in ein anderes Land auswandern, weil sie dort günstigere kulturelle Rahmenbedingungen für die Verwirklichung ihres Lebensstils vorfinden. Er bezeichnet diese gedankliche Konstruktion als Theorie der Differenz (Düvell 2006: 106).

Neben lebensstilorientierten Gründen geht Mizukami in seiner Untersuchung auch auf die Zufriedenheit der permanent und temporär Ansässigen ein. Er fragte sie bezüglich ihrer Zufriedenheit in Hinblick auf ihre Lebensumstände (Geräumigkeit der Unterkunft, Einkaufs- und Freizeitmöglichkeiten, öffentliche Verkehrsmittel, nachbarschaftliche Beziehungen, Bildungsmöglichkeiten für die Kinder), ihre Arbeitssituation (allgemeine Arbeitsbedingungen, Anzahl der Überstunden und Urlaubstage, Arbeitssicherheit) und in Hinblick auf die Ernährung im Gastland (Mizukami 1993: 17–28). Die Lebenszufriedenheit bzw. Unzufriedenheit an einem bzw. mit einem Ort wird im Rahmen der place utility theory und des Stressanpassungsansatzes (Stress-Threshold) betrachtet (vgl. Wolpert 1965; Brown und Moore 1970; Simmons 1986). Die Zugewanderten bewerten ihren Aufenthaltsort anhand des Nutzens des Ortes (place utility), und zwar gemessen an ihren Bedürfnissen und Erwartungen (aspiration level). Sinkt nun der Nutzen eines Ortes unter das Erwartungsniveau, entsteht Anpassungsdruck (stress threshold), der durch Migration aufgelöst werden kann (Brown und Moore 1970: 1, 6, 10).

Während die Migration bei den japanischen Expatriates und ihren Familien laut Zielke (1982: 50) meist nach der Heirat und der Geburt des ersten Kindes stattfindet und von den betroffenen Familien häufig als Bruch in der Biographie empfunden wird, verweist Düvell (2006: 106–107) darauf, dass eine Migration zum Zeitpunkt von Brüchen in der Biographie, zum Beispiel nach einer Scheidung, dem Bankrott des Unternehmens und der Arbeitslosigkeit, wahrscheinlicher ist als bei ungebrochenen Verläufen (Düvell 2006: 106–107).

Neben den Push- und Pull-Faktoren und den bestehenden (internen) Verbindungen zwischen den Arbeitsmärkten Deutschlands und Japans sollen weitere Faktoren in Hinblick auf die Migration von Japanerinnen und Japanern berücksichtigt werden. An Findlays Theorie der Migrationskanäle und Salts Internal-Labour-Market-Ansatz können Erkenntnisse aus der Migrationssystemtheorie angeknüpft werden. Die Migrationssystemtheorie geht auf Mabogunje (1970) zurück und schließt sowohl die Mikro-, als auch die Meso- und Makro-Ebene mit ein. Migrationssysteme sind laut Kritz und Zlotnik (1992: 1) Systeme von zwei oder mehr Staaten, die historisch, kulturell und wirtschaftlich eng miteinander verbunden sind. Auch wenn nicht grundlegend davon ausgegangen werden kann, dass Migrationskanäle und interne Arbeitsmärkte in jedem Fall ein Migrationssystem konstituieren, zeigt sich doch, dass die japanischen Expatriates und ihre Familien eines generieren. Die grenzüberschreitenden internen Arbeitsmärkte der japanischen Handelshäuser und multinationalen Unternehmen stellen eine Verbindung zwischen den Märkten zweier oder mehrerer Staaten dar. Neben geographisch und politisch-kulturell begründeten Migrationssystemen verweisen Kritz und Caces (1992) außerdem auf transnationale Systeme, in denen wissenschaftliches und technisches Fachpersonal ein spezifisches Migrationssystem darstellen, innerhalb dessen die Bewegung von Gütern, Wissen, Talent und Expertise mit der Bewegung jener Menschen gleichgesetzt wird, die die Träger dieser Qualitäten sind. Daher werden auch Studierende als Migrantinnen und Migranten verstanden (Kritz und Caces 1992: 233).

Auch der Transfer von Personen im Rahmen eines Working-Holiday-Abkommens kann als Migrationssystem gewertet werden. Im Jahre 1980 trat Japan dem Working-Holiday-System bei. Nach dem japanischen Außenministerium „ermöglicht das Working Holiday-System [basierend auf bilateralen Vereinbarungen] der Jugend der Partnerländer bzw. Regionen die Einreise zu Urlaubszwecken, während die Aufenthaltskosten durch eine begleitende Arbeit gedeckt werden“Footnote 21. Das erste Land, mit dem Japan dieses Abkommen traf, war Australien. Als Nächstes folgten 1985 Neuseeland und 1986 Kanada. Erst 1999 kam dann mit Südkorea ein weiteres Land hinzu. Ein Jahr später folgten schließlich Frankreich und Deutschland. Insgesamt haben mittlerweile 26 Länder ein Working-Holiday-Abkommen mit Japan. Ein Merkmal von Migrationssystemen sind spezifische Infrastrukturen, die unter anderem aus Netzwerken früherer Migrierter, Arbeitsvermittlungsbüros, Unternehmen, Reisebüros oder Entwicklungshilfeorganisationen bestehen können (Düvell 2006: 96–97). Somit sind sowohl beim Studierendenaustausch als auch in Hinblick auf das Working-Holiday-System die Bedingungen eines Migrationssystems gegeben.

Daneben weisen deutsche Städte – in Bezug auf japanische Zugewanderte allen voran Düsseldorf – Migrationsnetzwerke auf. Nach der Öffnung Japans zum Westen und noch vor dem Ersten Weltkrieg entwickelten sich in Berlin und München japanische communities. Der Erste Weltkrieg brachte die Entwicklung einer japanischen Infrastruktur zum Stillstand, als aber in den 1920er Jahren wieder Beziehungen zu Japan aufgenommen wurden, ließen sich in Berlin auch wieder Studierende nieder. Auch Kaufleute und Bankiers kamen nach Berlin, wählten in größerer Zahl jedoch Hamburg (Bieber 2014: 94). 1932 gründete sich die Vereinigung japanischer Akademiker in Deutschland für japanische Wissenschaftler, die sich länger im Land aufhielten. Außerdem entstand der Japanische Verein in Deutschland, der aufgrund seines Informationsdienstes von Bieber (2014: 109) als „ausgesprochene Propagandaorganisation“ bezeichnet wird. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Japan konnten aufgrund des Zweiten Weltkriegs nicht aufrechterhalten werden. Die letzten in Deutschland befindlichen Japanerinnen und Japaner wurden nach der Niederlage Deutschlands mit der Transsibirischen Eisenbahn in ihr Heimatland zurückgeschickt (Bieber 2014: 1059). Erst in den 1950er Jahren spielte die japanische Migration durch die erneute Ansiedlung japanischer Firmen in Deutschland wieder eine Rolle. Hatte der Schwerpunkt in der Vorkriegszeit in Hamburg auf Handel und in Berlin auf Politik und Studium gelegen, war Berlin nun aufgrund seiner Besetzung und Teilung eine Enklave und verlor seine Position als Zentrum der japanischen Firmen (Nakagawa 2006: 35–36). Stattdessen konkurrierten nun Hamburg, Düsseldorf und Frankfurt miteinander. Da die heutige Landeshauptstadt Düsseldorf neben ihrer Nähe zu Bonn, der damaligen neuen Hauptstadt, weitere zahlreiche Standortvorteile aufwies, verlagerten die japanischen Firmen ihren Schwerpunkt nach Düsseldorf (Nakagawa 2006: 35–36, 38, 50–55; Yanai 2013: 84; Kitabayashi 2006: 24). Es entwickelte sich eine japanische Infrastruktur, die im Sinne von Breton (1964) als vollständig angesehen werden kann. Dies bedeutet, dass die japanischen Zugewanderten Institutionen und Dienstleistungen des Aufnahmelandes nicht in Anspruch nehmen brauchen, da die ethnische community alle Wünsche der Zugewanderten in Hinblick auf Bildung, Arbeit, Nahrung, Kleidung, ärztliche Versorgung oder Versorgung im Alter erfüllt (Breton 1964: 194).

Diese so etablierten Netzwerke werden im Rahmen der Migrationsnetzwerkstheorie betrachtet, welche die Mikro-, Meso- und Makroebene miteinander verknüpft. Migrationsnetzwerke sind laut Massey und García España (1987: 733) „a web of social ties that links potential migrants in sending communities to people and institutions in receiving areas“. Sie stellen eine Form von akkumulierten Sozialkapital dar und können aus Familienmitgliedern, Verwandtschaft, Freundinnen und Freunden, aber auch einfach Personen aus derselben Herkunftsregion bestehen (Massey und García España 1987: 734). Castles und Miller (1998: 26) merken an, dass diese sozialen Netzwerke komplex und oft auch ambivalent sind, indem sie unter anderem aus Anwältinnen und Anwälten, vermittelnden Personen und Schmugglerinnen und Schmugglern bestehen können. Diese Personen konstituieren eine Industrie und können als „both helpers and exploiters of migrants“ (Castles und Miller 1998: 26) im Interesse der Migrierenden handeln oder sich ihre Not zu Nutze machen. Dadurch können Migrationsnetzwerke die Entscheidung zur Migration und den Migrations- und Niederlassungsprozess erleichtern oder erschweren. In diesem Zusammenhang etablieren Zugewanderte auch ihre eigene soziale und ökonomische Infrastruktur, das ethnische Business (Castles und Miller 1998: 26). Es heißt, dass Migrierende, die über Netzwerke im Zielland verfügen, schneller Zugang zu den Ressourcen dieses Landes erhalten und somit zügiger strukturell integriert werden. Dabei ist es wichtig, die richtige Person zum richtigen Zeitpunkt zu kennen, wobei Personen mit demselben ethnischen Hintergrund, aber auch Mitglieder der Aufnahmegesellschaft von Nutzen sein können. Neben positiven Effekten auf den Migrations- und Eingliederungsprozess können Netzwerke aber ebenso negative Effekte ausüben. Beispielsweise können die Mitglieder einer ethnischen Gruppe daran gehindert werden, diese zu verlassen, zur Unterstützung des Netzwerkes gezwungen sein und sich Gruppenzwang ausgesetzt sehen. Darüber hinaus ist es möglich, dass die Netzwerke nicht über benötigte Informationen und Ressourcen verfügen, zum Beispiel weil die betreffende Gruppe marginalisiert ist, wodurch die soziale Mobilität oder die Integration gefährdet sein können (vgl. Portes und Sensenbrenner 1993). Somit können Migrationsnetzwerke entweder die Migrationsentscheidung begünstigen oder die Integration in die Aufnahmegesellschaft behindern. Hier schließen die Binnenintegrationsthese sowie der assimilationstheoretische Ansatz an, der in Abschnitt 2.2.6 näher betrachtet wird. Sollte keinerlei Sozialkapital vorhanden sein und dieses auch nicht durch Organisationen auf der Meso-Ebene ersetzt werden, ist es möglich, dass sich Migrierende allein auf ihr Humankapital verlassen (Düvell 2006: 103). Im Humankapitalansatz von Larry Sjaastad (1962) wird der Schwerpunkt auf die Qualifikationen und besonderen Fähigkeiten des Individuums gelegt. Er besagt, dass die potentiell Migrierenden Zeit und Geld in eine Ausbildung sowie den Erwerb von Qualifikationen investiert haben und nun eine Kosten-Nutzen-Analyse aufstellen, die soziale, psychische und monetäre Aufwände berücksichtigt. Dies gilt es mit Sicherheit in Hinblick auf Personen zu berücksichtigen, die als Studierende nach Deutschland gelangten. Außerdem wird in der Forschung der hohe Bildungsgrad von Japanerinnen und Japanern im Allgemeinen und japanischen Migrantinnen und Migranten hervorgehoben.

Eng mit der Humankapitaltheorie verbunden ist die Sozialkapitaltheorie, die durch Pierre Bourdieu (1983), James S. Coleman (1988) und Robert Putnam (1994) in den 1980er und 90er Jahren verbreitet wurde. In dieser Theorie geht es um das Individuum und seine sozialen Beziehungen sowie um die daraus entstehenden Folgen für die Gesellschaft und das politische System. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1983: 191; Hervorhebung im Original) war der erste, der ein systematisches Konzept von Sozialkapital entwickelte und definierte dieses als die

Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.

Nach Bourdieu lässt sich Sozialkapital prinzipiell in Finanz- und Humankapital (ökonomisches, kulturelles, symbolisches Kapital) umwandeln, wobei er Sozialkapital nach Quantität und Qualität beurteilt. In Hinblick auf die Qualität muss berücksichtigt werden, dass die Ressource abhängig von dem Umfang des ökonomischen, kulturellen und symbolischen Kapitals ist, welches diejenigen besitzen, mit denen die Person in Beziehung steht; in Hinblick auf die Quantität muss auf Granovetters (1973) Theorie zu starken und schwachen Bindungen (weak ties, strong ties) verwiesen werden. Als starke Bindungen gelten dabei Beziehungen zwischen engen Freundinnen und Freunden sowie Verwandten, während schwache Bindungen von Beziehungen zu Bekannten repräsentiert werden. Besonders hilfreich sind schwache Bindungen bei der Arbeits- und Wohnungssuche sowie der beruflichen Karriere. Im Rahmen der Sozialkapitaltheorie wird zum einen danach unterschieden, wie eng die (Verwandtschafts-)Beziehung ist und welche moralischen Ansprüche demnach an den Kontakt in einem anderen Land gestellt werden können. Zum anderen ist jeweils zu untersuchen, wie viele Kontakte eine Person hat. Und drittens ist die Zusammensetzung von beidem zu berücksichtigen. Denn zehn lose Kontakte, die einem zwar Informationen, aber keine konkrete Hilfe bieten, sind nicht so viel Wert, wie ein enger Kontakt, der eine Unterkunft bereitstellt. Allerdings gilt auch umgekehrt, dass eine Person, zu der eine enge Beziehung besteht und die einem daher zwar eine Unterkunft schuldet, aber wenig Wissen über offene Arbeitsstellen hat, in dieser Frage weniger nützlich ist als zehn lose Kontakte, die vereint über ein Vielfaches an Informationen verfügen (Düvell 2006: 100). Coleman (1988: 95) betrachtet Sozialkapital als sozialstrukturelle Ressource individueller und kollektiver Akteurinnen und Akteure, durch die diese ihre Ziele leichter erreichen können, und untersucht dabei Sozialkapital insbesondere in Form von Verpflichtungen und Erwartungen sowie in Form von Informationskanälen und den gesellschaftlichen Normen. Er kommt zu dem Schluss, dass den meisten Formen von Sozialkapital gemeinsam ist, dass die Personen, die Sozialkapital generieren, nur von einem geringen Teil dieses erzeugten Sozialkapitals profitieren, weshalb die Investition in Sozialkapital zurückgeht (Coleman 1988: 119). Putnam (2000) stellt in seinem Modell von Sozialkapital insbesondere Vereins-, Verbands- und Parteistrukturen in den Vordergrund (Putnam 2000: 16).

2.2 Theoretische Grundlagen „Integration“

Nachdem nun der Begriff „Migration“ erläutert und ein Überblick über die wichtigsten Migrationstheorien gegeben wurde, wird in diesem Kapitel der Begriff „Integration“ expliziert und anschließend die Entwicklung der Integrationsforschung anhand der wichtigsten Theorien aufgezeigt.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die USA Ziel zahlreicher Einwanderinnen und Einwanderer. Die Sozialwissenschaft, die sich zu dieser Zeit noch in ihren Anfängen befand, griff dieses Phänomen auf und begann, sowohl die Ursachen und Motive für die Wanderung als auch mit zunehmender Niederlassung der Zugewanderten ihre Gründe für den Verbleib sowie ihr Verhalten bezüglich einer Eingliederung in die bestehende Gesellschaft zu untersuchen. Hieraus entwickelte sich der in der Migrationssoziologie angesiedelte Strang der Integrationstheorien, deren Entwicklung im Folgenden betrachtet wird. Hierzu gehören unter anderem Konzepte zum Ethnischen Pluralismus und Multikulturalismus (Abschnitt 2.2.3), die aus der Kritik an den frühen Assimilationstheorien (Abschnitt 2.2.2) hervorgingen. Neben diesen Ansätzen darf das Konzept des kanadischen Forschers John W. Berry nicht unberücksichtigt bleiben (Abschnitt 2.2.4). Im Anschluss an die Theorien zum Ethnischen Pluralismus bzw. Multikulturalismus werden die neuesten Erkenntnisse der Integrationsforschung erläutert, die unter den Begriff „Transnationalismus“ (Abschnitt 2.2.5) gefasst werden. Abschließend wird der Fokus von der US-amerikanischen Forschung mit ihren Pionierarbeiten auf die Integrationsforschung im deutschsprachigen Raum (Abschnitt 2.2.6) gelegt.

2.2.1 Begriffserläuterung „Integration“

Integration bedeutet im Allgemeinen „Eingliederung eines Teiles in ein Ganzes“ und in Bezug auf Migration „Eingliederung neuer Bevölkerungsgruppen in bestehende Sozialstrukturen und die Art und Weisen, wie diese neuen Bevölkerungsgruppen mit dem bestehenden System sozio-ökonomischer, rechtlicher und kultureller Beziehungen verknüpft werden“ (Heckmann et al. 2000: 8). Wie aus den nachfolgenden Kapiteln hervorgehen wird, sind die Integrationskonzepte aus der Assimilationsforschung (Abschnitt 2.2.2.1, 2.2.2.2 und 2.2.2.3) entstanden. Pionierarbeit leisteten Forscherinnen und Forscher zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA. Vorangetrieben wurde die Integrationsforschung hierzulande insbesondere von Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny, Hartmut Esser und Friedrich Heckmann.

Friedrich Heckmann, der 1985 durch die Etablierung der Sektion Migration und ethnische Minderheiten in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und die Mitbegründung des europäisches forum für migrationsstudienFootnote 22 im Jahre 1993 die Institutionalisierung der Migrations- und Integrationsforschung in Deutschland wesentlich vorantrieb, legt in „Integration von Migranten. Einwanderung und neue Nationenbildung“ den aktuellen Stand des Integrationskonzeptes in Deutschland dar. Heckmann (2015: 82) sieht Integration als

Mitgliedschaftserwerb von Zuwanderern in den Institutionen, sozialen Beziehungen und sozialen Milieus der Aufnahmegesellschaft. Integration als Prozess der Mitgliedschaftswerdung und Angleichung der Lebensverhältnisse entwickelt sich schrittweise entlang der Dimensionen der strukturellen, kulturellen, sozialen und identifikativen Integration. Sie erfordert Integrationsleistungen der Migranten und bedarf der Offenheit und Förderung seitens der Aufnahmegesellschaft. Sie ist somit ein wechselseitiger, wenngleich nicht gleichgewichtiger Prozess, der über Generationen verläuft. Integration als Zustand und Ergebnis soll heißen, dass volle und gleichberechtigte gesellschaftliche Mitgliedschaft einer zugewanderten Gruppe in der Aufnahmegesellschaft besteht und sich die Lebensverhältnisse angeglichen haben. Ethnische Herkunft und Migrationshintergrund spielen für Ressourcenverteilung und die Strukturierung sozialer Beziehungen keine Rolle mehr.

In seiner Definition finden sich alle Aspekte der Integration wieder, die für diese Arbeit von Bedeutung sind. Nach der soziologischen Systemtheorie und dem in ihr ausgeführten Konzept der funktionalen Differenzierung nach Niklas Luhmann gibt es in der modernen Gesellschaft verschiedene autonome Funktionssysteme, in die das Individuum im Verlauf seines Lebens inkludiert ist. Diese Funktionssysteme lassen sich wie bei Esser vier verschiedenen Dimensionen zuordnen (Abschnitt 2.3). Dies sind die strukturelle, kulturelle, soziale und identifikative Dimension. Letztere wurde von Esser als emotionale Dimension bezeichnet. Bei der Betrachtung der Gesellschaft als Gebilde aus verschiedenen Funktionssystemen zeigt sich, dass nicht jede Person in allen Systemen inkludiert sein muss und dass eine nur teilweise Inklusion auch durch den Staat mittels der Vergabe bestimmter Aufenthaltstitel begünstigt werden kann.Footnote 23 Eine wichtige Kritik an Essers Modell zielt darauf ab, dass es die Bringschuld bei den Zugewanderten verortet, da strukturelle Ungleichheiten und Diskriminierungen keine Beachtung finden und Esser zudem die multiple Inklusion, die Beteiligung an beiden Sozialsystemen, also an Aufnahmegesellschaft und ethnischer Gruppe, für nahezu ausgeschlossen hält (Esser 2006: 25, 27).Während zu Beginn der Integrationsforschung ausschließlich von den Zugewanderten Bemühungen zur Eingliederung erwartet wurden, werden heute von beiden Seiten, also von Zugewanderten und Aufnahmegesellschaft, Anstrengungen zur Eingliederung der Neuankömmlinge eingefordert. Dieses Verständnis findet sich auch in Heckmanns Theorie wieder (Heckmann 2015: 82). Dies bedeutet, dass keine Integration erfolgen kann, wenn die Neuankömmlinge nicht bereit oder willens sind, Teil der Gesellschaft zu werden, aber auch, dass Integration ebenso ausbleibt, wenn die bestehende Gesellschaft den Eingliederungsprozess der Neuankömmlinge nicht fördert. Darüber hinaus geht Heckmann auf Integration als Prozess und als Zustand bzw. Ergebnis ein. Dabei versteht er unter „Prozess“ den Verlauf der Integration über Generationen. Dieser Aspekt wird in dieser Arbeit nicht betrachtet, da die Analyse permanent ansässiger Japanerinnen und Japaner der ersten Generation im Mittelpunkt steht.

Neben der sozialwissenschaftlichen Definition von Esser bestehen auch politische; die Bundesregierung definiert Integration wie folgt:

Integration ist ein langfristiger Prozess, der zum Ziel hat, alle Menschen, die dauerhaft und rechtmäßig in Deutschland leben, in die Gesellschaft einzubeziehen. Ziel der staatlichen Integrationspolitik ist, den Zuwanderern die gleichen Chancen auf Teilhabe in wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Bereich (sic) wie der einheimischen Bevölkerung zu ermöglichen. Zuwanderer haben die Pflicht, die deutsche Sprache zu erlernen sowie die Verfassung und die Gesetze zu kennen, zu respektieren und zu befolgen. Gleichzeitig muss den Zuwanderern ein gleichberechtigter Zugang möglichst zu allen gesellschaftlichen Bereichen ermöglicht werden.Footnote 24

Beim Vergleich dieser und der sozialwissenschaftlichen Definition wird deutlich, dass Politik und Wissenschaft die Vorstellung teilen, dass verschiedene Teile der Gesellschaft ein Ganzes bilden und dass zwischen diesen Teilen Zusammenhalt bestehen sollte. So liege eine gelungene soziale Integration nur dann vor, wenn die Zugewanderten „integraler Bestandteil“ der Gesellschaft geworden sind (Halisch und Wüst 2013: 208–209). Auch in diese Definition findet das Konzept verschiedener Integrationsdimensionen Eingang: zum einen die strukturelle und soziale Dimension in der Teilhabe an wirtschaftlichen und sozialen Bereichen, zum anderen die kulturelle sowie identifikative Dimension in den Anforderungen an die Zugewanderten, die deutsche Sprache zu erlernen sowie die deutsche Verfassung zu verinnerlichen. Ebenso werden Ansprüche sowohl an die Zugewanderten als auch an die Aufnahmegesellschaft gestellt. Der Schwerpunkt in Hinblick auf die Anforderungen liegt allerdings bei den Zugewanderten und die Formulierungen haben assimilatorische Anklänge. In welchem Maße kulturelle und identifikative Aspekte der Aufnahmegesellschaft durch die Zugewanderten übernommen werden sollen, geht aus Wagners (2020: 41) integrationsorientiertem Ansatz hervor, in dem der Identität des Einzelnen ein größeres Gewicht zugesprochen wird als einer kollektiven Identität. Dabei müsse allerdings für jeden Einzelfall geprüft werden, ob die persönlichen Interessen dem kollektiven Interesse vorzuziehen sind, was sich „insbesondere in Grenzfällen zuvörderst im Rahmen eines Abwägungsprozesses“ (Wagner 2020: 41) entscheide.

Die Wahrung der ethnischen Identität mit ihren kulturellen Gepflogenheiten ist möglich, solange sie im Einklang mit dem Grundgesetz steht. Integration in diesem Sinne schließt die Ermöglichung von Diversität im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die Akzeptanz bestimmter Staatsstrukturen wie Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit, die Religionsfreiheit, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, soweit nicht die Rechte anderer verletzt werden, sowie die Abwesenheit von Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes, der sexuellen Orientierung, der Herkunft, der Hautfarbe, einer etwaigen Behinderung oder religiöser oder politischer Anschauungen ein.Footnote 25 Neben diesen rechtlich normierten Werten bilden auch soziale Normen und Werte, die sich in Gepflogenheiten und Umgangsformen äußern, den Rahmen, innerhalb dessen kulturelle Prägungen und Verhaltensweisen ausgelebt und Meinungen geäußert werden können, ohne dass Ressentiments zwischen Aufnahmegesellschaft und Zugewanderten aufkommen. Hierzu gehören nicht-diskriminierende Konventionen für den Umgang zwischen Frauen und Männern sowie Erwartungen an das Verhalten im öffentlichen Raum, am Arbeitsplatz oder bei privaten Kontakten.Footnote 26

Im folgenden Kapitel wird die historische Entwicklung der Integrationsforschung über ihre Hauptstationen, also von den Assimilationstheorien über Multikulturalismus-Konzepte bis zum Transnationalismus, dargelegt.

2.2.2 Assimilationstheorien

Eingang in die Soziologie fand der Begriff „Assimilation“ über die Arbeiten US-amerikanischer Migrationssoziologinnen und -soziologen Ende des 19. Jahrhunderts. Richmond Mayo-Smith, Professor für Politische Ökonomie und Sozialwissenschaften an der Columbia-Universität in New York, verwendete den Begriff in seiner Abhandlung über Einwanderung im Jahre 1890. Darin bezeichnete er die Integration der Zugewanderten durch die sprachliche, politische und ideelle Amerikanisierung als „assimilation“ (Aumüller 2009: 29–30). Ab 1900 veröffentlichte die Soziologin Sarah E. Simons eine Artikelserie über soziale Assimilation im „American Journal of Sociology“ und leistete damit ebenfalls Pionierarbeit in diesem noch jungen Forschungsbereich. Laut Aumüller (2009: 30) war den frühen migrationssoziologischen Studien in den USA gemein, dass sich die Autorinnen und Autoren „gegen Vorstellungen einer biologischen Verschmelzung der Zuwanderergruppen“ (Aumüller 2009: 30) wandten. Dies geschah, da sie eine Ehe zwischen den Ende des 19. Jahrhunderts eingewanderten Asiatinnen und Asiaten sowie den indianischen Ureinwohnerinnen und -einwohnern und den Farbigen mit Angehörigen der europäischen Zuwanderungsgesellschaft ablehnten. Ab 1910 hatte sich der Begriff Assimilation im US-amerikanischen Migrationsdiskurs als „Amerikanisierung“ etabliert. Erst mit den nachfolgenden migrationssoziologischen Forschungen der Chicagoer Schule wurde der Begriff „Assimilation“ in den 1920er Jahren wissenschaftlich systematisiert (Aumüller 2009: 30). Die Chicagoer Schule begründete mit den Arbeiten der US-amerikanischen Soziologen Robert E. Park und Ernest W. Burgess die klassische Assimilationstheorie (Classic Assimilation Theory, kurz CAT) (Abschnitt 2.2.2.1). Es folgte die Theorie der segmentierten Assimilation (Segmented Assimilation Theory, kurz SAT) (Abschnitt 2.2.2.2), deren wichtigste Vertreter die Migrationsforscher Alejandro Portes und Min Zhou (1993) sind. Aus der Kritik an der SAT gingen schließlich die neueren, unter dem Begriff der „New Assimilation Theory“ (NAT) zusammengefassten Assimilationstheorien (Abschnitt 2.2.2.3) hervor, zu deren wichtigsten Vertretern Richard Alba und Victor Nee (1997, 2004) gehören.

2.2.2.1 Classic Assimilation Theory

Die Anfänge der Integrationsforschung begründet die Assimilationsforschung in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Während europäische Staaten zu dieser Zeit steigende Zahlen an wegziehenden Personen vermerkten, zog es Millionen in die USA. Insbesondere die Stadt Chicago stellte zu dieser Zeit mit ihren zahlreichen ethnischen communities einen idealen Forschungsgegenstand dar, dem sich die Chicago School of Sociology in besonderem Maße widmete. Sie erforschte mithilfe empirischer Feldforschung insbesondere die Beziehungen und Anpassungsprozesse zwischen menschlichen Gemeinschaften und ihrer Umwelt. Zunächst entstand in den 1920er Jahren die klassische Assimilationstheorie, die durch die US-amerikanischen Soziologen Robert E. Park und Ernest W. Burgess begründet worden war. In ihrem 1921 veröffentlichten Werk „Introduction to the Science of Sociology“ definieren sie Assimilation wie folgt:

Assimilation is a process of interpenetration and fusion in which persons and groups acquire the memories, sentiments, and attitudes of other persons or groups, and, by sharing their experience and history, are incorporated with them in a common cultural life. (Park und Burgess 1921: 735)

Auf Park geht auch ein Modell eines Assimilationsprozesses zurück, welches als „race relations cycle“ (Park 1950: 138) bezeichnet wird und unter diesem Begriff bekannt geworden ist. Dabei handelt es sich um ein Phasenmodell, bei dem die Anpassung der Zugewanderten an die Aufnahmegesellschaft als unvermeidbarer und irreversibler Prozess verstanden wird. Zu Beginn seines Aufsatzes „Our Racial Frontier on the Pacific“ werden im Anschluss an die Überschrift und noch vor dem Einleitungstext die einzelnen Phasen des Modells benannt: „contact, competition, accomodation and eventual assimilation“ (Park 1950: 138). Im letzten Kapitel des Artikels geht er näher auf die einzelnen Phasen des race relations cycle ein. Neue Formen der Kommunikation lösen frühere Entdeckungsreisen und Missionsfahrten als Informationsquelle über „fremde Welten“ ab. Die zunehmende Alphabetisierung der Weltbevölkerung führt dazu, dass sich Menschen überall auf der Welt über Länder, weit von ihnen entfernt, informieren können. Der Stummfilm zeigt Bilder von und Geschichten über fremde Völker, lässt so eine Sehnsucht nach dem Fremden entstehen und nimmt diesem gleichzeitig das Furchteinflößende (Park 1950: 149). Vor dem Hintergrund eines zunehmenden wirtschaftlichen Drucks löst dies unter den Menschen eine Motivation zur Migration aus, die durch neue technologische Gegebenheiten wie der verbesserten Dampfschifffahrt in größerem Maße durchgeführt werden kann. Ähnlich wie heutzutage unter dem Einfluss des Internets und technologischer Errungenschaften im Transportwesen, die Flüge erschwinglich machen, rückt die Welt auch hier näher zusammen. Dadurch kommen Menschen verschiedener Kulturen in vermehrtem Maße miteinander in Kontakt, was wiederum neue Formen des Wettbewerbs und des Konflikts hervorbringt. Hierzu heißt es: „The exchange of commodities involves in the long run the competition of goods and of persons. The result is a new distribution of population and a new and wider division of labor“ (Park 1950: 150). Während Park den Konflikt nicht als eigenständige Phase aufführt, sondern im Zusammenhang mit dem Wettbewerb erläutert, sehen neuere Arbeiten, die Parks Forschung in Hinblick auf den race relations cycle analysiert haben, den Konflikt als dritte Phase an (Aumüller 2009: 54, Farwick 2009: 27, Hoesch 2018: 84). Zunächst spielen sich die Kontakte auf ökonomischer Ebene ab, indem Güter ausgetauscht werden und Handelsbeziehungen entstehen. Der sich dabei formende Wettbewerb um Waren und um Arbeitskräfte bzw. Arbeitsplätze kann im Rahmen der Akkomodation, der dritten Phase nach Park, wieder zurückgehen. Durch regelmäßigen Kontakt im Alltag gewöhnen sich die Gruppen aneinander und aus den Handelsbeziehungen entstehen zwischenmenschliche Beziehungen: Das Entstehen persönlicher Beziehungen über die Phasen des Kontakts, des Konflikts und der Akkomodation lasse sich auch von Einfuhrbeschränkungen, Immigrationsbeschränkungen und „racial barriers“ (Park 1950: 150) nicht aufhalten.

Die letzte Phase der Assimilation zeige sich nach Park besonders auf Hawaii: „In the Hawaiian Islands, where all the races of the Pacific meet and mingle on more liberal terms than they do elsewhere, the native races are disappearing and new peoples are coming into existence“ (Park 1950: 151).

Neben Park und Burgess leisteten auch der US-Amerikaner William I. Thomas und der aus Polen stammende Florian Znaniecki mit ihrem fünfbändigen Werk „The Polish Peasant in Europe and America“ zwischen 1918 und 1920 einen wichtigen Beitrag zu den klassischen Assimilationstheorien. Ebenfalls angesiedelt in Chicago und Angehörige der Chicagoer Schule, untersuchten sie polnische Bäuerinnen und Bauern vor ihrer Migration im Heimatland und schließlich nach ihrer Ankunft in den USA. Mithilfe von Briefen, die sie mit ihren in Polen verbliebenen Familienmitgliedern austauschten, sowie in den letzten beiden Bänden zunehmend mithilfe von Material aus Zeitungen und von Institutionen zeichnen sie ein Bild der polnischen community vom Ende des 19. Jahrhunderts an in den USA. Um das Verhalten der Zugewanderten im Aufnahmeland zu verstehen, erachteten Thomas und Znaniecki (1920: 342) es für notwendig, die Situation der Migrierten in ihrem Herkunftsland zu erfassen. Vor dem Hintergrund, dass die Zugewanderten aus Dorfgemeinschaften stammten, in denen Landwirtschaft betrieben wurde und sich im Verlauf des Lebens nicht viel änderte bzw. selten auftretende Änderungen von der Gemeinschaft aufgefangen wurden, fanden sie sich nun in der neuen Gesellschaft entwurzelt wieder, was Thomas und Znaniecki (1920:343) als „disorganized“ bezeichnen. Daher finden sie sich im Aufnahmeland zusammen und formen neue Institutionen bzw. eine „Polish-American society“ (Thomas und Znaniecki 1920: 343). Diese Organisation der Migrantinnen und Migranten umfasst aber nicht alle im Land befindlichen, sodass sich bei jenen, die außen vor bleiben, eine vermehrte Abwendung von moralischem Verhalten zeige (Thomas und Znaniecki 1920: 343). Diese Abtrünnigkeit manch polnischer Migrantinnen und Migranten beruhe auf der Auflösung der Bezüge zur ethnischen Gruppe, „which gave the individual a sense of responsibility and security because he belonged to something“ (Thomas und Znaniecki 1920: 344; Hervorhebung im Original), und ihre Amerikanisierung könne nach Thomas und Znaniecki am besten durch wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Zugewanderten und weiteren Nationalitäten im Aufnahmeland gefördert werden, was wiederum zur Lösung USA-interner Probleme beitragen würde (Thomas und Znaniecki 1920: 344).

Weitere Phasenmodelle finden sich auch bei Shmuel N. Eisenstadt (1954) und Milton M. Gordon (1964). Diese beiden wichtigen Vertreter der frühen Assimilationstheorien reagierten mit ihren Werken bereits auf die Kritik an den bisher bekannten Assimilationsmodellen. Shmuel N. Eisenstadt (1954: 1) definiert Migration in seiner Studie „The Absorption of Immigrants. A Comparative Study Based Mainly on the Jewish Community in Palestine and the State of Israel“ als „physical transition of an individual or a group from one society to another“. Dieser Vorgang geht mit dem Loslösen von der gewohnten sozialen Umgebung und dem Beitritt zu einer anderen, fremden Umgebung einher. Den Migrations- und Eingliederungsvorgang unterteilt er in drei Phasen, denen er charakteristische psychosoziale Merkmale zuordnet:

First, the motivation to migrate – the needs or dispositions which urge people to move from one place to another; second, the social structure of the actual migratory process, of the physical transition from the original society to a new one; third, the absorption of the immigrants within the social and cultural framework of the new society. (Eisenstadt 1954: 1)

Anlass zur Migration gibt die Frustration im Heimatland (feeling of frustration and inadequacy) und ähnlich wie bei Lifestyle-Migrantinnen und -Migranten die Hoffnung auf ein andernorts besseres Leben. Die Migrantinnen und Migranten gehen mit einer bestimmten Erwartungshaltung in das Zielland. Diese mag von Person zu Person variieren, doch hoffen alle, dass sie dort ein besseres Leben führen können. Im Aufnahmeland angekommen, können Realität und Erwartung stark divergieren. Es ist auch möglich, dass die Zugewanderten mit manchen Aspekten ihres vorherigen Lebens zufrieden waren und sich daher auch nach der Migration noch mit ihrem Heimatland verbunden fühlen (Eisenstadt 1954: 2). Eisenstadt unterscheidet dabei vier Teilbereiche (four main spheres), in denen die zugewanderte Person im Heimatland eine gewisse Frustration verspüren kann:

First, he may feel that his original society does not provide him with enough facilities for and possibilities of adaptation, i.e., that he cannot maintain a given level of physical existence or ensure his, or his family’s, survival within it. Secondly, and even more frequently, his migration may be prompted by the feeling that certain goals, mainly instrumental in nature (e.g., economic or other satisfactions) cannot be attained within the institutional structure of his society of origin. […] Thirdly, the immigrant may feel that within the old society he cannot fully gratify his aspirations to solidarity, i.e., to complete mutual identification with other persons and with the society as a whole. […] Fourthly, he may feel that his society of origin does not afford him the chance of attaining a worthwhile and sincere pattern of life, or of following out a progressive social theory, or at any rate does so only partially. (Eisenstadt 1954: 3)

Diesen im Zitat beschriebenen Teilbereichen ähneln die heutigen Dimensionen der Integration (vgl. Abschnitt 2.3). Die Zugewanderten mögen mit ihrer beruflichen Situation im Heimatland (second sphere) unzufrieden sein, wie Arbeitsmigrantinnen und -migranten, und diese im Zielland zu verbessern suchen, doch in Hinblick auf ihr Familienleben erfüllt und so noch mit der Familie im Heimatland verbunden sein. Diese empfundene Unzufriedenheit in einem oder mehreren Teilbereichen nehme Einfluss auf den Migrations- und Integrationsprozess (Eisenstadt 1954: 3–4). Da die Motive zur Migration und die Vorstellung vom Zielland den Migrations- und Integrationsprozess bestimmen, ist es nach Eisenstadt (1954: 4) notwendig, diese genauer zu betrachten, um das Verhalten der Zugewanderten im Aufnahmeland und ihre Einstellung diesem gegenüber zu verstehen.

Während in der ersten Phase die Zeit vor der Migration betrachtet wurde, beschäftigt sich die zweite Phase mit dem eigentlichen Migrationsprozess und der Ankunft im Aufnahmeland. Dabei sieht er die Wanderung nicht einfach als physische Bewegung an, sondern als psychosozialen Prozess, der mit einem Statusverlust einhergeht. Die Migrierenden lassen ihre sozialen Beziehungen im Heimatland zurück und werden mit veränderten Rollenerwartungen, Verhaltensmustern und Werten konfrontiert. Dies bezeichnet Eisenstadt als Desozialisierung (desocialization), da das, was den Zugewanderten während ihres Aufwachsens vermittelt wurde, womit sie also sozialisiert wurden, an Bedeutung verliert. Dies löst Unsicherheit und Angst aus, die durch die Annahme neuer sozialer Rollen und Verhaltensweisen, also durch Resozialisierung (resocialization), überwunden werden müssen (Eisenstadt 1954: 6). Diese Resozialisierung ist die dritte Phase. In dieser Phase sollen die Zugewanderten die Sprache des Aufnahmelandes erlernen, um sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Wie bei der Sozialisation im Herkunftsland sei es für die Zugewanderten wichtig, die Sitten und Verhaltensweisen der Aufnahmegesellschaft zu erlernen sowie ihre Werte und ihr Selbstbild der Aufnahmegesellschaft anzupassen. Mit diesem Prozess der Resozialisierung gehe die Abwendung von der ethnischen Gruppe und die Zuwendung zur Aufnahmegesellschaft einher (Eisenstadt 1954: 7). Diese Phase bezeichnet Eisenstadt als den Prozess der Absorption der Zugewanderten in das soziale und kulturelle System des Aufnahmelandes (Eisenstadt 1954: 9). Nur wenn dieser Prozess gelinge, seien die Zugewanderten als „fully-functioning member[s]“ (Eisenstadt 1954: 9) in die Aufnahmegesellschaft integriert. Eisenstadt reagiert an dieser Stelle jedoch auf die Kritik an den bestehenden Assimilationskonzepten und räumt ein, dass dieser Prozess nicht immer reibungslos und erfolgreich verläuft, sondern die Strukturen der Aufnahmegesellschaft einen Beitrag zum Erfolg der Eingliederung der Zugewanderten in die bestehende Gesellschaft leisten können. Die Akkulturationsanforderungen, die die bestehende Gesellschaft an die Zugewanderten stellt, können die Eingliederung erleichtern oder behindern; ebenso können Zugewanderte bestimmte Vorstellungen von der Aufnahmegesellschaft haben. Laut Eisenstadt (1954: 10) stimmen die Anforderungen der Aufnahmegesellschaft und die Vorstellungen der Zugewanderten nur in ganz seltenen Fällen überein. Daher müssten nicht nur, wie zuvor erwähnt, der Migrationsanlass und die Vorstellungen der Zugewanderten betrachtet werden, sondern auch die Aufnahmegesellschaft mit ihren Anforderungen an die Zugewanderten und deren Möglichkeiten zur Entfaltung (Eisenstadt 1954: 11). Schließlich geht er der Frage nach, wann Zugewanderte als „fully absorbed“ (Eisenstadt 1954: 11) betrachtet werden können. Dabei verweist er auf den damaligen Forschungsstand und merkt an, dass die bestehenden Arbeiten diese Frage entweder nicht behandeln oder, in wenigen Fällen, dieses Thema lediglich anschneiden. Eisenstadt leitet aus der zum damaligen Zeitpunkt bestehenden Forschung folgende drei Indikatoren (main indices) einer vollständigen Aufnahme (full absorption) ab: „(a) acculturation; (b) satisfactory and integral personal adjustment of the immigrants; and (c) complete dispersion of the immigrants as a group within the main institutional sphere of the absorbing society“ (Eisenstadt 1954: 11).

Eisenstadt (1954: 14) selbst konstatiert, dass Akkulturation und/oder persönliche Anpassung als Indikator nicht ausreichen. Der Schlüssel liege im dritten Indikator, er merkt aber an, dass dieser in der Realität nur äußerst selten verwendet werden könne (Eisenstadt 1954: 15). In Hinblick auf diesen spricht er davon, dass sich Identitäten nicht schnell oder gar plötzlich auflösen lassen, sondern sich über längere Zeit wandeln. Daraus ergebe sich bei einer größeren Migrationsbewegung eine pluralistische Struktur bzw. ein Netzwerk von Substrukturen, bestehend aus unterschiedlichen ethnischen Subsystemen mit ihren eigenen Identitäten. Dabei dürften Anforderungen an die Zugewanderten in Hinblick auf neue Verhaltensweisen gestellt werden, die in der Aufnahmegesellschaft als universell gelten, doch diese Ansprüche dürften nicht in Hinblick auf zweitrangige, alternative Rollen (secondary alternative rôles) gestellt werden (Eisenstadt 1954: 15). Diese alternativen Rollen sollten allerdings nicht die Struktur und den Zusammenhalt der Gesellschaft erschüttern (Eisenstadt 1954: 15–16). Er schlussfolgert, dass die bisher verwendeten Indikatoren nicht herangezogen werden können und sie auch nicht zum Vergleich von verschiedenen Ländern verwendet werden dürfen, da bei diesen Vergleichen davon auszugehen sei, dass die einzelnen Indikatoren wie Erwerb der Sprache des Aufnahmelandes, Schulbesuch, Einbindung in den Arbeitsmarkt, in jedem Land anders zu bewerten sind. So müssten sie vor dem Hintergrund eines Pluralismus der Gesellschaften betrachtet werden, wobei in der einen Aufnahmegesellschaft das Erlernen der Sprache des Aufnahmelandes für das Zurechtfinden in der neuen Gesellschaft am wichtigsten ist, während es in der anderen Aufnahmegesellschaft wichtiger sein kann, die Kleidung an die Mehrheitsgesellschaft anzupassen (Eisenstadt 1954: 16–17). Eisenstadt (1954: 19) wirft auch die Frage nach der ethnischen community und ihrem Einfluss auf die Eingliederung der Zugewanderten auf:

It has generally been implicitly assumed that the mere existence of such a distinct community, with its distinct patterns of behaviour, values, etc., is a sign of lack of adaptation. Numerous data, however, contradict this assumption, and thus support our analysis. It is not the mere existence of such an ethnic community but the extent to which its structure is balanced in relation to the total social structure, that is a negative index of adaptation.

Als balanced kann eine ethnische Gruppe nach Eisenstadt angesehen werden, wenn sie in den grundlegenden Werten mit der Aufnahmegesellschaft übereinstimmt und ihre Abgrenzung von der Aufnahmegesellschaft im gesetzlichen Rahmen der Aufnahmegesellschaft verläuft (Eisenstadt 1954: 19).

Zehn Jahre nach der Veröffentlichung von Eisenstadts Studie erschien Milton M. Gordons Werk „Assimilation in American Life. The Role of Race, Religion and National Origin“ (1964). Darin beschäftigt sich Gordon in erster Linie mit der Beziehung zwischen den ethnischen Subgruppen und der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft. Nach Gordon (1964: 37–39) setzt sich die amerikanische Gesellschaft aus vielen ethnischen Subgruppen (ethnic subsocieties) mit eigenen sozialen Strukturen und Identitäten zusammen. In Hinblick auf eine geschichtete Gesellschaft führt Gordon (1964: 51) den Begriff der ethclass, die „intersection of the vertical stratification of ethnicity with the horizontal stratification of social class“, ein, um die Folgen einer ethnischen Differenzierung in der amerikanischen Gesellschaft aufzuzeigen.

Wie andere Assimilationstheorien zuvor legt auch Gordons Ansatz die Annahme einer amerikanischen Mehrheitsgesellschaft (core society bzw. bei ihm core subsociety) der weißen protestantischen Bevölkerung Amerikas zugrunde, an die es sich vonseiten der Zugewanderten anzupassen gilt (Gordon 1964: 74). Dabei merkt er allerdings an, dass geringfügige Einflüsse durch jüngere Gruppen Zugewanderter auf die Mehrheitsgesellschaft sowie Unterschiede zwischen der oberen und unteren Mittelklasse zum Zwecke der Definition einer Mehrheitsgesellschaft außen vorgelassen werden müssten (Gordon 1964: 72–73). Er erstellt ein Assimilationsmodell mit sieben Indikatoren (cultural assimilation, structural assimilation, marital assimilation, identificational assimilation, attitude receptional assimilation, behavior receptional assimilation, civic assimilation; vgl. Gordon 1964: 71). Dieses kann genutzt werden, um die Assimilation der Zugewanderten an die Mehrheitsgesellschaft und -kultur oder ihre Anpassung an den „melting pot“ zu erfassen (Gordon 1964: 75). Unter Melting Pot versteht Gordon ein neues kulturelles System, das aus einer Mischung aus Sitten, Gewohnheiten und Werten der Zugewanderten und der Aufnahmegesellschaft hervorgeht, wobei beide Gruppen sowohl sozial als auch kulturell miteinander verschmelzen (Gordon 1964: 74). Da Gordon davon ausgeht, dass Menschen gleicher sozialer Klassen sich ähnlich verhalten und ähnliche Wertvorstellungen teilen, ist nicht unbedingt die ethnische Zugehörigkeit, sondern eher die Klassenzugehörigkeit für die kulturellen Verhaltensweisen wesentlich. Allerdings spielt die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe bei der Entwicklung eines Zugehörigkeitsgefühls sowie sozialer Beziehungen eine wichtige Rolle, da dies über die ethnische Gruppe erfolge. Hierin sieht er den ausschlaggebenden Punkt im Assimilationsprozess. Die erste Phase, die kulturelle Assimilation, beinhaltet nach Gordon (1964: 77) die Aneignung der Sprache und der Verhaltensweisen des Aufnahmelandes durch die Zugewanderten. Die kulturelle Assimilation trete laut Gordon auch unabhängig von den übrigen Assimilationsprozessen auf. Die zweite Phase, die strukturelle Assimilation, stellt den wichtigsten Prozess dar und beinhaltet schon bei Gordon die Eingliederung in die wichtigsten Strukturen der Aufnahmegesellschaft wie den Arbeitsmarkt sowie die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und die Besetzung von Positionen in Organisationen und Institutionen. Die strukturelle Assimilation führt bei Gordon stets zur kulturellen Assimilation und somit zu weiteren Phasen der Assimilation, wodurch die Teilhabe an den zentralen Strukturen der Aufnahmegesellschaft entscheidend für den Erfolg des Assimilationsprozesses ist, denn mit einer erfolgreichen strukturellen Assimilation ergeben sich die übrigen Prozesse auf ganz natürliche Weise (Gordon 1964: 81). Die zweite Phase der strukturellen Assimilation führt laut Gordon (1964: 80) unweigerlich zu einer hohen Anzahl an interethnischen Ehen, insbesondere unter Angehörigen der folgenden Generationen. Im Rahmen der interethnischen Ehe lösen sich schließlich ethnische Identitäten auf und die Zugewanderten gehen durch die identifikatorische Assimilation, auch identifikationale Assimilation (Esser 1980: 69) oder identifikative Assimilation (Heckmann 2015: 197), in der Mehrheitsgesellschaft auf. Vorurteile und Diskriminierung sind schließlich obsolet (5. und 6. Phase), da die Nachfahren der Zugewanderten von der Mehrheitsgesellschaft nicht mehr zu unterscheiden sind und primäre Beziehungen zwischen Nachkommen und Mehrheitsgesellschaft ein „Wir-Gefühl“ verstärken. Wenn der Assimilationsprozess soweit vorangeschritten ist, bleiben auch Wertkonflikte und Machtkämpfe in der Phase der zivilen Assimilation aus, da die Zugewanderten in der Mehrheitsgesellschaft aufgegangen sind (Gordon 1964: 80).

Im Gegensatz zu den vorherigen Assimilationstheorien greift Gordon in Hinblick auf den Erfolg des Assimilationsprozesses den Umstand auf, dass Zugewanderte aufgrund von räumlicher Segregation und aufgrund von Diskriminierungen vonseiten der Mehrheitsgesellschaft in den unteren gesellschaftlichen Klassen verbleiben können und sich der Assimilationsprozess dadurch trotz Anpassungsleistungen vonseiten der Zugewanderten verzögert (Gordon 1964: 78). Dies hatten die vorherigen klassischen Assimilationstheorien verneint.

Gordon verweist neben der Möglichkeit der Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft und dem Aufgehen in einem Melting Pot auch auf die Möglichkeit des kulturellen Pluralismus: „Theoretically, it would be possible to apply the analysis model of variables with reference to carrying out the goal-system of ‚cultural pluralism‘ as well. However, this would be rather premature at this point since the concept of cultural pluralism is itself so meagerly understood“ (Gordon 1964: 75). Das Konzept des kulturellen Pluralismus beschreibt im Gegensatz zum Melting Pot eine Gesellschaft, in der sowohl die Zugewanderten als auch die Mehrheitsgesellschaft ihre kulturelle Identität bewahren (Gordon 1964: 38). Obwohl er das Konzept des kulturellen Pluralismus für unausgereift hält, betrachtet er in einem späteren Kapitel die Verbindung zwischen demselben und den sieben Indikatoren, wobei er zu dem Ergebnis kommt, dass die strukturelle Assimilation die Schlüsselvariable sei (Gordon 1964: 157).

Mit den Arbeiten von Park und Burgess, Thomas und Znaniecki, Eisenstadt und Gordon sind die wichtigsten Vertreter der frühen Assimilationstheorien in diesem Kapitel vorgestellt worden, im nächsten Kapitel wird die Entwicklung der Assimilationstheorien vor dem Hintergrund der sogenannten „New Immigration“ (Hoesch 2018: 85) in den USA betrachtet.

2.2.2.2 Segmented Assimilation Theory

Vor dem Hintergrund der new immigration in den USA, also der Einwanderung nach dem Erlass des Immigration and Naturalization Act aus dem Jahre 1965, durch den die Quotenregelung abgelöst und durch liberalere Bestimmungen ersetzt wurde, kam es zu vermehrter Kritik an den Annahmen der CAT. Unter den Migrantinnen und Migranten der jüngeren Migrationsbewegungen befanden sich überwiegend Zugewanderte aus asiatischen und südamerikanischen Ländern, insbesondere Mexiko. Die Kritik beruhte in erster Linie darauf, dass die Nachfahren der neu Zugewanderten anderen Eingliederungsmustern folgten als die zweite und dritte Generation der vorherigen aus Europa stammenden Zugewanderten (Hoesch 2018: 85). Die empirischen Beobachtungen wiesen nicht mehr auf eine irreversible Anpassung im Ablauf der Generationen hin. In ihrem Aufsatz „The New Second Generation. Segmented Assimilation and Its Variants“ aus dem Jahre 1993 verweisen Alejandro Portes und Min Zhou (1993: 82) auf drei verschiedene Eingliederungsformen:

One of them replicates the time-honored portrayal of growing acculturation and parallel integration into the white middle-class; a second leads straight in the opposite direction to permanent poverty and assimilation into the underclass; still a third associates rapid economic advancement with deliberate preservation of the immigrant community’s values and tight solidarity.

Diese drei Möglichkeiten des Eingliederungsverlaufes bezeichnen sie als segmentierte Assimilation (segmented assimilation). Sie beobachteten also, dass ein Teil der Personen aus der neuen zweiten Generation im amerikanischen „Mainstream“ aufging, sich ein anderer Teil hingegen an die Unterschichten und Subkulturen in den Städten anpasste und ein weiterer Teil eine strukturelle Assimilation, bei gleichzeitiger Beibehaltung ihrer ethnischen Identität, aufwies. Die Assimilation an die Unterschicht und die Subkulturen bezeichnen Portes und Zhou (1993: 83) als Abwärtsassimilation (downward assimilation), da die Anpassung bzw. Assimilation nicht an hohe, sondern an niedrige soziale Strata verläuft. Faktoren, die eine derartige Anpassung begünstigen, sind ihnen zufolge (1) die Hautfarbe, (2) die Wohngegend (location) und (3) das Fehlen von Aufstiegsmöglichkeiten (absence of mobility ladders). In Hinblick auf die Hautfarbe (1) wirkt sich diese im neuen sozialen Umfeld auf eine Begünstigung der Abwärtsassimilation insofern aus, als sie zum Anlass für Diskriminierung und Vorurteil wird. Die Ansiedlung von Neuankömmlingen in Wohngegenden (2) der Unterschichten begünstigt die downward assimilation in zweierlei Hinsicht. Zum einen setzt die Mehrheitsgesellschaft die Zugewanderten dadurch mit der einheimischen Unterschicht gleich, zum anderen kommt die zweite Generation der Zugewanderten mit der marginalisierten Jugend der Aufnahmegesellschaft in Kontakt. Im Zuge ihrer Sozialisation passen sie sich dieser Subkultur an. Das Fehlen von Aufstiegsmöglichkeiten (3) wirkt sich durch die Umstrukturierung der Wirtschaft, weg von Tätigkeiten in der Industrie hin zu Tätigkeiten im Technologie-Sektor bzw. solchen Tätigkeiten, die eines hohen Bildungsabschlusses bedürfen, auf die Anpassung der Zugewanderten an die Aufnahmegesellschaft aus. Die Umstrukturierung der Wirtschaft bewirkt einen graduellen Wegfall der Mittelschicht. Die Nachkommen der Zugewanderten können ihren Lebensunterhalt meist nur mit Arbeit im unteren Sektor sichern oder müssen erhebliche Belastungen auf sich nehmen, um in das oberste Wirtschaftssegment aufzusteigen. Erwerbstätigkeiten dazwischen sind rar. Sind ihre Eltern nicht in der Lage, die finanziellen Mittel für eine universitäre Ausbildung ihrer Kinder aufzubringen, bleibt diesen meist nur eine Arbeit im unteren Segment. Dies aber widerspricht den Werten und Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft, die eine Tätigkeit im obersten Segment wertschätzen (Portes und Zhou 1993: 84–85). Neben Förderprogrammen verschiedener Gruppen Zugewanderter, zum Beispiel dem Cuban Loan Program für kubanische Geflüchtete, sehen Portes und Zhou insbesondere in interethnischen Netzwerken und Orientierungen eine Möglichkeit zur Vermeidung einer downward assimilation.

Im Sinne des Sozialkapitals liefern interethnische Netzwerke die Ressourcen zur Vermittlung von Arbeitsplätzen und sorgen so für sozioökonomischen Erfolg und eine strukturelle Integration. Dies spiegelt sich im dritten Ausgang der Anpassung wider und wird als „parallele Integration“ oder „selektive Akkulturation“ bezeichnet (vgl. Portes und Rumbaut 2001). Die zuvor durch eine gut organisierte ethnische community vor Ort geschaffenen günstigen Bedingungen stehen jedoch nicht allen Gruppen ethnischer Minderheiten zur Verfügung. Im Fall einer ethnischen community, die Vorurteilen vonseiten der Aufnahmegesellschaft ausgesetzt ist und deren Organisation erschwert oder verhindert wird, sehen Portes und Zhou große Nachteile. Denn in diesem Fall treffen die Neuankömmlinge auf eine reactive subculture der früheren Generationen. Ihr Einfluss auf die Neuzugewanderten ist besonders stark, da er von Individuen desselben Ursprungs, gewissermaßen von Gleichgesinnten stammt. Dieser Einfluss kann dazu führen, dass die erste Generation sozioökonomisch nicht aufsteigt (Portes und Zhou 1993: 87).

Zusammengefasst sieht die Segmented Assimilation Theory (SAT) drei mögliche Varianten des Assimilationsprozesses:

  1. 1.

    Die Anpassung an den Mittelschicht-geprägten Mainstream

  2. 2.

    Die downward assimilation und die daraus folgende Marginalisierung

  3. 3.

    Die „parallele Integration“ oder auch „selektive Akkulturation“

Laut Hoesch (2018: 86) bezog sich die Kritik an der SAT in erster Linie darauf, dass die Abzweigung der zweiten Generation in die downward assimilation oder die parallele Integration als wahrscheinlicher angesehen wurde als die Anpassung an die Mainstream-Mittelschicht. Im folgenden Kapitel wird auf die jüngste Strömung der Assimilationstheorien eingegangen, deren wichtigste Vertreter, Richard Alba und Victor Nee, die Assimilationstheorie in ihren Arbeiten (1997, 2004) vehement gegen Kritik verteidigen.

2.2.2.3 New Assimilation Theory

An der Assimilationstheorie wurde kritisiert, dass ihr Konzept ethnozentristisch sei und unverhältnismäßige Forderungen an die Zugewanderten stelle, die bemüht seien, ihre kulturelle und ethnische Identität zu wahren. Um diese Kritik zu entkräften und die Assimilationstheorie in modifizierter Form zu bewahren, griffen Richard Alba und Victor Nee (1997, 2004) Annahmen der SAT auf und begründeten so die NAT:

Yet, whatever the deficiencies of earlier formulations and applications of assimilation, we hold that this social science concept offers the best way to understand and describe the integration into the mainstream experienced across generations by many individuals and ethnic groups, even if it cannot be regarded as a universal outcome of American life. (Alba und Nee 1997: 828)

Aus dem Zitat wird deutlich, dass sie davon ausgehen, dass die Assimilation an den Mainstream weiterhin als eine Form der Integration bestehen bleibt (Alba und Nee 2004: 25). Als von der Regierung erlassenes normatives Programm lehnen sie Assimilation allerdings ebenfalls ab, sehen Assimilation aber dennoch als bedeutsamen sozialen Prozess, der bei der Interaktion zwischen Zugewanderten und Aufnahmegesellschaft erfolgen kann. Daher bleibt Assimilation für sie bei der Analyse des Eingliederungsverhaltens ein Schlüsselkonzept (Alba und Nee 1997: 828). Kritik am Assimilationskonzept entgegnen sie Folgendes:

In der Geschichte des Konzeptes (der Assimilation: Anm. d. Verf.) gab es allerdings ohnehin niemals eine einheitliche und stabile Auffassung dessen, was Assimilation meint. […] Zudem ist das, was mit Assimilation gemeint war, durch seine Kritiker und auch durch seine Vertreter im Laufe der Zeit so verzerrt und unklar geworden, daß der Begriff mittlerweile kaum noch angemessen die Erfahrungen reflektiert, auf deren Grundlage er vermutlich entstanden ist. Im allgemeinen [sic] wird Assimilation so dargestellt, als ob es sich um einen unidirektionalen, unumkehrbaren radikalen Prozeß der Simplifikation handele: Ethnische Minderheiten werfen alle Insignien ab, durch die sie sich von anderen unterscheiden, und werden zu einer Art Kopie der ethnischen Mehrheit. In dieser Sichtweise wird im Verlauf des Assimilationsprozesses eine interessante Welt der Verschiedenheit durch die Langeweile sozialer und kultureller Homogenität ersetzt. (Alba und Nee 2004: 25)

Sie räumen allerdings ein, dass sich dieses Verständnis auch in den Arbeiten der Assimilationsforscher wiederfinde, die Assimilation als analytisches Konzept verstanden hätten und den „weitverbreiteten populären Glauben an die Überlegenheit der anglo-amerikanischen Kultur“ (Alba und Nee 2004: 26) teilten. Diese einseitige Sicht verkenne allerdings, dass die amerikanische Kultur selbst nicht homogen sei und ein wechselseitiger Austausch zwischen Zugewanderten und Mehrheitsgesellschaft bestehe (Alba und Nee 2004: 26).

Alba und Nee heben hervor, dass sich bereits in einigen klassischen Arbeiten zur Assimilation die Berücksichtigung sozialer Transformationsprozesse sowie Reaktionen auf durch die Zuwanderung entstandene gesellschaftliche Probleme finden lassen, wie zum Beispiel die Konzeption der Mainstream-Gesellschaft als „zusammengesetzte Kultur“ („composite culture“) in den Arbeiten der Chicagoer Schule (Alba und Nee 2004: 26). Im Gegensatz dazu, so lautet ihre Kritik am Multikulturalismus, unterstelle dieser „mehr oder weniger autonome kulturelle Zentren, die an autonome ethnische Gruppen gebunden und durch eine weit geringere wechselseitige Durchdringung des kulturellen Lebens gekennzeichnet sind“ (Alba und Nee 2004: 27). Sie aber würden sich in ihrer Neuformulierung des Assimilationskonzeptes auf das Verständnis von Assimilation der Chicagoer Schule berufen. Dieses ging „von der Annahme einer in sich diversifizierten Kerngesellschaft aus, in der Menschen unterschiedlichen ethnischen und rassischen Ursprungs mit je verschiedenem kulturellen Erbe eine gemeinsame Kultur hervorbringen, die auf Dauer eine geteilte nationale Lebensführung ermöglicht“ (Alba und Nee 2004: 27). Dieses Verständnis von Assimilation rücke bei berühmten Vertretern wie Milton M. Gordon in den Hintergrund, da sie sich auf den Strukturfunktionalismus bezögen, in dem die „Gesellschaft als ein weitgehend homogenes Sozialsystem konzipiert [ist], das durch Zentralwerte und -normen integriert ist und in dem ein stabiles Gleichgewicht zwischen den Strukturen und Funktionen der Teilsysteme die soziale Ordnung gewährleistet“ (Alba und Nee 2004: 27). Sie kritisieren über dies an Gordons Konzept, dass es hohe Anforderungen an Zugewanderte stelle, wie insbesondere die Aufgabe ihrer ethnischen Identität. Dies beinhalte sogar das Auslöschen von Erinnerungen an die Familie, was der Tradition US-amerikanischer Familien widerspreche, die ihre Ahnen und ihre Wurzeln in Ehren hielten. Dieser Ansatz unterliege dem „alten“ Assimilationskonzept, „demzufolge die anglo-amerikanische Kultur und Gesellschaft der Mittelschichten – die vermeintliche Kerngesellschaft – den End- und Zielpunkt der Assimilation bildet“ (Alba und Nee 2004: 27).

Neben der Rückbesinnung auf das Assimilationsverständnis der Chicagoer Schule wollen sie ebenfalls veränderte sozioökonomische Rahmenbedingungen wie den demographischen Wandel in ihrem Konzept berücksichtigen. Sie erläutern ihr Verständnis von Assimilation wie folgt:

In unserer Konzeption verstehen wir Assimilation als Prozeß der Abnahme und, vielleicht auch an irgendeinem entfernten Endpunkt, der Auflösung ethnischer Differenz und daran gebundener sozialer und kultureller Unterschiede. Abnahme meint dabei, daß eine ethnische Unterscheidung ihre einschneidende soziale Relevanz in dem Sinne verliert, daß die Zahl der sozialen Gelegenheiten, für die sie bedeutsam ist, abnimmt und sich diese Gelegenheiten auf immer weniger Bereiche des sozialen Lebens beschränken. (Alba und Nee 2004: 27)

In ihrer Erläuterung des Konzeptes betonen sie, dass sich Individuen in ihrem Verständnis im Zeitverlauf immer weniger als Zugehörige ethnischer Gruppen wahrnehmen, sondern vielmehr in kontextspezifischer Weise, sodass Assimilation nach diesem Verständnis nicht das Verschwinden von Ethnizität bedeuten muss (Alba und Nee 2004: 28). Zudem halten sie für ihr Konzept fest, dass Assimilation nicht unbedingt als einseitiger Prozess verstanden werden muss, da die Grundzüge des gesellschaftlichen Mainstreams im Zuge der Assimilation an diesen auch verändert werden können (Alba und Nee 2004: 28).

Zum besseren Verständnis ihres Konzepts von Assimilation erläutern sie drei auf Grenzziehungen bezogene soziale Prozesse: Grenzüberschreitung, Grenzverwischung und Grenzverschiebung. Laut Hoesch (2018: 86) gaben die in der SAT verankerten Grenzziehungen Anlass zur Kritik, da dort das Konzept der Ethnie zu starr und eng angelegt war und deshalb Prozesse wie die Grenzverschiebung (boundary shifting) und die Grenzverwischung (boundary blurring) nicht ausreichend erfasst wurden. Alba und Nee (2004: 29–30) erläutern Grenzüberschreitung, Grenzverwischung und Grenzverschiebung wie folgt:

Grenzüberschreitung liegt der klassischen Version der Assimilation des einzelnen Individuums zugrunde: Jemand bewegt sich von einer Gruppe in eine andere, ohne dabei irgendeine Veränderung der Grenze selbst zu bewirken (obgleich, wenn solche Grenzüberschreitungen in großem Umfang und in eine Richtung erfolgen, dies natürlich die Sozialstruktur verändert). Eine Grenze zu verwischen bedeutet, daß das soziale Profil einer Grenze sowie die Klarheit der damit verbundenen sozialen Unterscheidungen verschwimmt und damit ihre Distinktionskraft verlorengeht: Es wird immer schwieriger, die Zugehörigkeit von Individuen zu der einen oder anderen Seite einer Grenze festzustellen. […] Der Prozeß der Grenzverschiebung schließlich meint die Verlagerung sozialer Grenzen in der Weise, daß Bevölkerungen, die zunächst auf der einen Seite einer Grenze angesiedelt waren, sich nun auf der anderen Seite wiederfinden: vormalige Außenseiter werden zu Insidern.

Dabei würden auch veränderte sozioökonomische Rahmenbedingungen wie der demographische Wandel zu einer veränderten Wahrscheinlichkeit der Assimilationsausgänge führen und die Assimilation an den Mainstream mitunter sogar begünstigen.

Mit der Darstellung der New Assimilation Theory, die von Alba und Nee begründet wurde, finden die Ausführungen zu Assimilationstheorien ihren Abschluss. Im Folgenden werden nun die Konzepte des Ethnischen Pluralismus und Multikulturalismus erläutert.

2.2.3 Ethnischer Pluralismus und Multikulturalismus

Nicht nur Milton M. Gordons Hauptwerk aus dem Jahre 1964 reagierte auf die Kritik an den frühen Assimilationstheorien, sondern aus der normativen Kritik selbst entstand auch eine neue Strömung in der Integrationsforschung, bestehend aus dem „Ethnischen Pluralismus“ und „Multikulturalismus“, die sich klar von den Assimilationstheorien abgrenzen. Diese können in normativ und sozialphilosophisch ausgeprägte sowie stärker empirisch-analytisch orientierte Ansätze unterteilt werden und werden in den beiden nachfolgenden Kapiteln näher betrachtet.

2.2.3.1 Sozialphilosophischer Ansatz

Trotz aller Verfeinerungen im Verlauf der Zeit wurde den Assimilationstheorien stets vorgeworfen zu ethnozentristisch zu sein und die Bringschuld ausschließlich bei den Zugewanderten zu sehen. Gesellschaftliche Veränderungen in den USA führten jedoch zu einem Wandel in der Integrationsforschung. In den 1960er Jahren kam das sogenannte ethnic revival auf, eine starke Rückbesinnung ethnischer Gruppen auf sich selbst. Den Zugewanderten wurde im Verlauf der Zeit bewusst, dass ihre Anpassungsbemühungen erfolglos blieben. Die aufkommenden Bürgerrechtsbewegungen bemühten sich um eine bessere Integration, radikalisierten sich aber über die Zeit und sahen nicht mehr „Anpassung und Gleichberechtigung als Voraussetzung für eine soziale und gesellschaftliche Integration der benachteiligten Minderheiten […], sondern politische Macht“ (Hoesch 2018: 94).

Mit ihrem Buch „Beyond the Melting Pot. The Negroes, Puorto Ricans, Jews, Italians and Irish of New York“ von 1963 starteten Nathan Glazer und Daniel Patrick Moynihan die Debatte um den ethnischen Pluralismus in den USA. Sie erklären hierin die Idee des amerikanischen Melting Pot für obsolet (Glazer und Moynihan 1963: Preface). Anhand der Entwicklung wichtiger ethnischer Gruppen in New York, die im Titel ihres Werkes genannt werden, zeigen Glazer und Moynihan auf, dass die anglo-protestantische Kultur nur eine unter vielen ist. Unter Bezugnahme auf interethnische Ehen, die sozioökonomische Entwicklung der ethnischen Gruppen, die Bedeutung der Familie in diesen Gruppen und abweichende Verhaltensweisen unter den Gruppenmitgliedern weisen sie Unterschiede zwischen den Gruppen nach. Glazer und Moynihans Werk erschien nahezu zeitgleich mit Gordons Hauptwerk, auf welches bereits im vorherigen Kapitel eingegangen wurde. Während Gordon immer noch von einer anglo-protestantischen core society ausgeht, in der die Zugewanderten aufgehen sollten, stellen Glazer und Moynihan heraus, dass die anglo-protestantische Kultur keineswegs den Kern der amerikanischen Gesellschaft darstellt, sondern neben weiteren Kulturen existiert und gegenüber diesen keineswegs einen Anspruch auf Vorherrschaft begründen kann. Laut Hoesch (2018: 94) zeigt sich in ihrem Werk ein wissenschaftlicher Paradigmenwechsel vom Konzept der Assimilation zum Multikulturalismus bzw. Ethnischen Pluralismus, der sich empirisch in der Integrationspolitik der klassischen Einwanderungsländer wie den USA und Kanada sowie weiteren Ländern, in denen der Großteil der Bevölkerung von Zugewanderten abstammt, zeige.

Während in den USA eine Rückbesinnung ethnischer Gruppen auf sich selbst erfolgte, waren in Kanada Konflikte zwischen anglophoner Mehrheit und frankophoner Minderheit und verschiedenen indigenen Gruppen entfacht. Diese führten zu einer Debatte um das Verhältnis zwischen Individual- und Gruppenrechten, auf welche die Arbeit des kanadischen Philosophen Charles Taylor Einfluss nahm (Hoesch 2018: 95):

The thesis is that our identity is partly shaped by recognition or its absence, often by the misrecognition of others, and so a person or group of people can suffer real damage, real distortion, if the people or society around them mirror back to them a confining or demeaning or contemptible picture of themselves. Nonrecognition or misrecognition can inflict harm, can be a form of oppression, imprisoning someone in a false, distorted, and reduced mode of being. (Taylor 1994: 25; Hervorhebung im Original)

Anhand der Beispiele der Unterdrückung von Frauen durch das Patriarchat, der Farbigen in weißen Gesellschaften und des Kolonialismus stellt er fest: „Within these perspectives, misrecognition shows not just a lack of due respect. It can inflict a grievous wound, saddling its victims with a crippling self-hatred. Due recognition is not just a courtesy we owe people. It is a vital human need“ (Taylor 1994: 26). Nachdem Identität seit der Antike eine Frage des Standes war, hängt diese mit der Auflösung der Ständegesellschaft Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr vom sozialen Status ab, sondern von einem neuen Verständnis von Identität als etwas Individuellem. Taylor (1994: 28) bezeichnet dieses neue Konzept als „individualized identity“, dem eine Authentizität innewohne, die nur die Trägerin oder der Träger selbst erkennen können. Nach Taylor (1994: 32) definieren Individuen ihre Identität immer im Dialog oder in der Auseinandersetzung mit anderen Individuen oder Gruppen. Zum einen entwickele sich die eigene Identität auf persönlicher Ebene im Dialog oder der Auseinandersetzung mit Personen, die als wichtig erachtet würden, zum anderen auf gesellschaftlicher Ebene im Austausch mit der Gruppe. Im Zuge des Aufbrechens der Ständegesellschaft verbreitete sich die Idee der Gleichheit der Menschen, die jedem menschlichen Wesen Würde zuerkenne (politics of equal dignity). Taylor betrachtet im folgenden Verlauf seines Aufatzes die gesellschaftliche Ebene genauer und stellt der „Politik der gleichwertigen Würde“ (politics of equal dignity) die „Politik der Differenz“ (politics of difference) gegenüber:

With the politics of equal dignity, what is established is meant to be universally the same, an identical basket of rights and immunities; with the politics of difference, what we are asked to recognize is the unique identity of this individual or group, their distinctness from everyone else. (Taylor 1994: 38)

Mit der Zeit sei jedoch eine neue Zwei-Klassen-Gesellschaft entstanden. Zwar werde jetzt nicht mehr aufgrund des Ranges innerhalb der Ständeordnung diskriminiert, dafür jedoch aufgrund der sozioökonomischen Situation. Da diese nicht selbst geschaffen, sondern beispielsweise vererbt werden kann, weicht die Politik gelegentlich von der sogenannten Differenz-Blindheit (difference-blindness) der politics of dignity ab. Die Differenz-Blindheit besagt, dass Jedem individuelle Besonderheiten zu eigen sind und diese keinem zum Nachteil ausgelegt werden dürften. Das heißt, dass niemand diskriminiert werden darf. Um dies zu gewährleisten, seien jedoch positive Diskrimierungsmaßnahmen laut Taylor überall dort sinnvoll, wo strukturelle Nachteile dieser Gruppen eindeutig nachgewiesen sind. Beiden Politiken liegt die Annahme von einem universal human potential zugrunde, die sicherstellt, dass den Menschen Respekt gebühre. Letztlich geraten allerdings die „Politik der Differenz“ und die „Politik der gleichwertigen Würde“ dort in Konflikt, wo erstere durch positive Diskriminierungsmaßnahmen gegen das Prinzip der Nicht-Diskriminierungen verstoße und wo letztere durch absolute Gleichbehandlung individuelle Identitäten gefährde (Taylor 1994: 43). Taylor (1994: 43) führt diesen Gedanken weiter aus:

The claim is that the supposedly neutral set of difference-blind principles of the politics of equal dignity is in fact a reflection of one hegemonic culture. As it turns out, then, only the minority or suppressed cultures are being forced to take alien form. Consequently, the supposedly fair and difference-blind society is not only inhuman (because suppressing identities) but also, in a subtle and unconscious way, itself highly discriminatory.

Mithilfe eines historischen Rückblicks auf die Anfänge der politics of equal dignity bei Rousseau und Kant zeigt Taylor (1994: 44) auf, dass diese homogenisierend wirkt. Diese Homogenisierung der Gesellschaft wird von den Vertreterinnen und Vertretern der politics of difference angegriffen. Am Beispiel von Kanada und den Konflikten zwischen franko- und anglophonen kanadischen Personen veranschaulicht er die Problematik zwischen liberalen Ansichten und der politics of difference und schließt:

There is a form of the politics of equal respect, as enshrined in a liberalism of rights, that is inhospitable to difference, because (a) it insists on uniform application of the rules defining these rights, without exception, and (b) it is suspicious of collective goals. […] I call it inhospitable to difference because it can’t accommodate what the members of distinct societies really aspire to, which is survival. This is (b) a collective goal, which (a) almost inevitably will call for some variations in the kinds of law we deem permissible from one cultural context to another. (Taylor 1994: 60–61)

Daher hätten die Vertreterinnen und Vertreter der politics of difference mit ihrer Kritik an dieser Form des Liberalismus recht, doch gäbe es glücklicher Weise weitere Formen des Liberalismus, die eine Gleichbehandlung gegenüber Partikularinteressen zum Schutze einer Kultur abwägen (Taylor 1994: 61).

2.2.3.2 Empirisch-analytisch orientierte Ansätze

Neben Taylors sozialphilosophischem Multikulturalismus-Ansatz existiert auch eine stärker empirisch-analytisch ausgeprägte Forschungsrichtung, welche die ethnischen communities untersucht und ein Gegenmodell zu den Assimilationstheorien bildet. Dies spiegelt sich in der Debatte um die Segregationsthese der Assimilationstheorie und der Binnenintegrationsthese wider. Die Segregationsthese der Assimilationstheorie besagt, dass ethnische communities die Integration behindern. Dementsprechend werden Kontakte zu Landsleuten als Assimilationshindernis und damit als Integrationshindernis angesehen (vgl. Abschnitt 2.2.6). Die Binnenintegrationsthese hingegen besagt, dass Selbstorganisationen die harten Assimilationsanforderungen abmildern und so den Integrationsprozess erleichtern können (vgl. Elwert 1982). Es geht in diesen Ansätzen also um die Frage, unter welchen Bedingungen ethnische Strukturen die Integration der Zugewanderten in ethnische Gemeinschaften fördern oder behindern. Die Binnenintegrationsthese knüpft dabei an sozialpsychologische und soziologische Ansätze an. Im deutschsprachigen Raum wurde diese Debatte im Jahre 1981 vom Soziologen Hartmut Esser ausgelöst. In seiner Habilitationsschrift, die in der Tradition der Assimilationstheorien steht, legt er dar, dass die Teilhabe an ethnischen communities die Integration behindere und nur Assimilation zum Integrationserfolg führe. Auf Essers Beitrag zur Integrationsforschung wird in Abschnitt 2.2.6 ausführlich eingegangen. Den Theorien und Thesen bezüglich einer „Ghetto-Bildung“ durch die Selbstorganisation von Migrantinnen und Migranten im Aufnahmeland stellt Georg Elwert 1982 in seinem Artikel „Probleme der Ausländerintegration. Gesellschaftliche Integration durch Binnenintegration?“ das folgende Argument entgegen: „Eine stärkere Integration der fremdkulturellen Einwanderer in ihre eigenen sozialen Zusammenhänge innerhalb der aufnehmenden Gesellschaft – eine Binnenintegration also – ist unter bestimmten Bedingungen ein positiver Faktor für ihre Integration in eine aufnehmende Gesellschaft“ (Elwert 1982: 718). Unter Binnenintegration versteht er

den Zustand, in dem für das Glied einer durch emische (kulturimmanente) Grenzen definierten Subkultur der Zugang zu einem Teil der gesellschaftlichen Güter einschließlich solcher Gebrauchswerte wie Vertrauen, Solidarität, Hilfe usw. über soziale Beziehungen zu anderen Gliedern dieser Subkultur vermittelt ist. (Elwert 1982: 720)

Außerdem erklärt er: „Es folgt aus der Definition, daß notwendigerweise verschiedene Intensitäten einer Binnenintegration differenziert werden können. Binnenintegration ist nicht automatisch mit ‚eng zusammenwohnen‘ gleichzusetzen. Der Ghetto-Begriff, wie er heute in der Diskussion steht, wirft beides durcheinander“ (Elwert 1982: 720). Er betont, dass seine These nicht neu, sondern bereits von Park und Miller 1925 in Chicago entwickelt und unter Berücksichtigung von Louis Wirths Arbeit über das Ghetto sowie durch Thomas’ und Znanieckis bereits genannte umfassende Arbeit zur polnischen community in Chicago diskutiert worden sei. Mitte des 19. Jahrhunderts, genauer 1861, habe sie außerdem bereits Friedrich von Bodelschwingh vertreten (Elwert 1982: 718). Seit den 1930er Jahren sei sie zwar nicht vergessen, aber doch aus politisch-pragmatischen Gründen empirisch nicht weiter berücksichtigt worden (Elwert 1982: 718). Erst in Norbert Elias’ empirischer Untersuchung „The Established and the Outsiders“ aus dem Jahre 1965 finde sie wieder über den Machtaspekt Eingang in die Diskussion. In manchen Arbeiten sei laut Elwert bereits meist unbeabsichtigt ein Zusammenhang zwischen Binnenintegration und gesellschaftlicher Integration belegt worden. Es fehle nur an einer Begründung für das scheinbare Paradoxon gesellschaftlicher Integration durch Integration in ethnische Institutionen. Diese Begründung skizziert er, in dem er drei unter bestimmten Bedingungen auftretende positive Effekte von Binnenintegration hervorhebt: Erstens sieht er einen Zusammenhang zwischen der Binnenintegration und der Entwicklung von Selbstbewusstsein, zweitens sieht er positive Effekte zwischen Binnenintegration und der Vermittlung von Alltagswissen und drittens zwischen Binnenintegration und der Etablierung von sogenannten pressure groups. Außerdem fügt er noch einen weiteren Zusammenhang hinzu, den Zusammenhang von „Binnenintegration und Selbstbild des Einwanderers bezüglich des Statussystems seiner Herkunftsgesellschaft“ (Elwert 1982: 723). Diesen Zusammenhang verdeutlicht er am Beispiel der Japaner in den USA. Der Status als Bauer sei in der japanischen Gesellschaft nicht negativ besetzt, sodass die japanischen Zugewanderten, die überwiegend bäuerlicher Herkunft seien, dieses Heterostereotyp nicht übernehmen. Sie vermieden den Kontakt zur Aufnahmegesellschaft, um sich der stigmatisierenden Fremdeinschätzung nicht auszusetzen, und würden durch ihre hohe Statusaspiration, wenn Unterstützung vonseiten der community vorhanden ist, erfolgreich (Elwert 1982: 723).

Elwert argumentiert weiter, dass mithilfe der Binnenintegration das Selbstbewusstsein der Zugewanderten gestärkt werden kann, denn im Zuge der Migration kann das Selbstbewusstsein Schaden nehmen, da im Verlauf der Sozialisation vormals Erlerntes seine Bedeutung verliert. Die Folge sind Verunsicherung, Depressionen und psychische Erkrankungen. Die ethnische Gruppe aber vermag die Verunsicherten aufzufangen. Dabei ist Selbstbewusstsein

immer auch kulturelle Identität und damit auch das Wissen zu einer bestimmten Gruppe zu gehören; zugleich ist es auch abhängig von der Bestätigung und Spiegelung der Identität durch andere Menschen. Ohne Bewertung, Anerkennung oder Korrektur durch andere, also in der Isolation, wird das Selbstbewusstsein zerstört und desintegriert sich die Identität. Selbstbewusstsein kann man weitaus leichter unter denen bewahren oder erwerben, die die gleiche kulturelle Identität und den gleichen sozialen Status haben und mit denen man in den gewohnten kulturellen Verhaltensmustern verkehren kann. (Elwert 1982: 721)

Eine Verbindung zwischen Binnenintegration und Alltagswissen besteht darin, dass Migrantennetzwerke grundlegendes Wissen über den Alltag, Institutionen und das erwünschte Verhalten vermitteln können. Personen, die bereits in der Situation waren und beispielsweise als Zugewanderte zum Ausländeramt gehen mussten, können nach Elwert (1982: 722) eher unterscheiden, welche Informationen benötigt werden.

Des Weiteren ist auch der Zusammenhang zwischen der Binnenintegration und der Bildung von Organisationen, die die Interessen der Zugewanderten vertreten, sogenannten pressure groups, relevant. Sie üben eine Funktion als Interessenvertreter aus (Elwert 1982: 722).

Elwert (1982: 724–725) geht auch auf Faktoren ein, die die gesellschaftliche Integration von Zugewanderten mithilfe der Binnenintegration verhindern können. Dies sind erstens die Existenz von Gewaltmonopolen innerhalb der ethnischen community, zweitens Isolatbildung und drittens Vorurteile vonseiten der ethnischen community, die verfestigt werden.

Die bis heute bestehende Kontroverse zwischen Esser und Elwert zu diesem Thema wird als „Esser-Elwert-Debatte“ bezeichnet. An die Binnenintegrations- und Segregationsthese schließen mittlerweile zahlreiche empirisch-analytische Studien an, die sich der Erforschung ethnischer Netzwerke, Enklaven und Migrantenorganisationen widmen. Sie erforschen die Entstehung dieser Strukturen und ihren Einfluss auf die Integration der Zugewanderten. In Hinblick auf die Herstellung und auf das Aufrechterhalten von Zusammenhalt in der ethnischen Gemeinschaft wird in der Integrationsforschung ebenfalls auf das Konzept des Sozialkapitals zurückgegriffen. Ging es in der Migrationstheorie in Hinblick auf Sozialkapital in erster Linie um persönliche Beziehungen zum Aufnahmeland, die die Wahrscheinlichkeit einer Migration erhöhen, steht in Hinblick auf die Eingliederung von Zugewanderten, wie oben erläutert, die Frage im Zentrum, ob vorhandenes Sozialkapital die Integration erleichtert oder behindert und unter welchen Bedingungen welches Ergebnis erzielt wird. Granovetter (1973: 1370–1371) stellt in seiner Theorie zu starken und schwachen Bindungen fest, dass je besser sich zwei Personen kennenlernen, sie umso mehr Bekannte teilen, sodass eine Gemeinschaft, in der die Mitglieder durch starke Beziehungen verbunden sind, als geschlossen angesehen werden kann. Er geht weiter davon aus, dass schwache Beziehungen für den Informationsfluss bedeutender sind, da schwache Beziehungen als brückenbildendes (bridging) Sozialkapital zwischen der geschlossenen Gemeinschaft und ihrer Umwelt fungieren. Putnam (2000: 20–22) griff diese Theorie auf und meint, dass brückenschlagendes Sozialkapital als Integrationsmotor fungiert, während bindendes Sozialkapital zur Mobilitätsfalle werden kann.

2.2.4 John W. Berry: Integration als Akkulturationsstrategie

Der Kanadier John W. Berry erforscht seit den 1960er Jahren Akkulturation und durch Akkulturation hervorgerufenen Stress (acculturative stress). Seiner Theorie legt er die ursprüngliche Definition von Akkulturation von Redfield, Linton und Herskovits (1936: 149) zugrunde: „acculturation comprehends those phenomena which result when groups of individuals having different cultures come into continuous first-hand contact with subsequent changes in the original culture patterns of either or both groups“. Obwohl davon ausgegangen wird, dass Akkulturation in beiden in Kontakt kommenden Gruppen oder Individuen Veränderungen hervorruft, zeigt sich im Diskurs und den Studien eine Tendenz zu einem stärkeren Wandel innerhalb einer Gruppe. Diese Gruppe, die stärker von diesem Wandel betroffen ist, bezeichnet er als „acculturating group“ (Berry 1997: 7) oder „non-dominant group“ (Berry 2005: 701). Aufbauend auf das Konzept der psychologischen Akkulturation (psychological acculturation) von Graves (1967) entwickelt er das Konzept der Einstellungen zur Akkulturation (acculturation attitudes) (vgl. Berry et al. 1989) oder auch der Akkulturationsstrategien (acculturation strategies) (vgl. Berry 1997). Bereits 1974 identifiziert er vier Akkulturationsstrategien: die Assimilation, die Separation, die Integration und die Marginalisierung (vgl. Ausführungen zu Esser in Abschnitt 2.2.6). Um sagen zu können, welche Strategie eine Gruppe oder ein Individuum verfolgt, müsse berücksichtigt werden, inwieweit diese Gruppe oder das Individuum seine kulturelle Identität bewahren möchte (cultural maintenance) und inwiefern die Gruppe bzw. das Individuum soziale Beziehungen zur Mehrheitsgesellschaft (larger society) aufnehmen möchte (contact and participation) (Berry 1997: 9).

Die vier verschiedenen Akkulturationsstrategien lassen sich dadurch wie folgt beschreiben:

From the point of view of non-dominant groups, when individuals do not wish to maintain their cultural identity and seek daily interaction with other cultures, the Assimilation strategy is defined. In contrast, when individuals place a value on holding on to their original culture, and at the same time wish to avoid interaction with others, then the Separation alternative is defined. When there is an interest in both maintaining one’s original culture, while in daily interactions with other groups, Integration is the option; here, there is some degree of cultural integrity maintained, while at the same time seeking to participate as an integral part of the larger social network. Finally, when there is little possibility or interest in cultural maintenance (often for reasons of enforced cultural loss), and little interest in having relations with others (often for reasons of exclusion or discrimination) the Marginalisation is defined. (Berry 1997: 9; Hervorhebung im Original)

Diese Möglichkeiten können von der Gruppe oder dem Individuum aber nicht immer frei gewählt werden, vielmehr gibt die Mehrheitsgesellschaft häufig Akkulturationsstrategien vor (vgl. Abschnitt 3.2). Werden diese Akkulturationsstrategien von der Mehrheitsgesellschaft auferlegt, spricht Berry von Segregation und nicht von Separation. Im Falle der Assimilation wird der „Melting Pot“ zum „Pressure Cooker“, wohingegen der Begriff „Marginalisierung“ bereits eine Akkulturationsform beschreibt, die die betroffene Person nicht frei wählt, sodass der Begriff auch vom Standpunkt der Mehrheitsgesellschaft zutreffend ist (Berry 1997: 10). Die „Integration“ sei die einzige Akkulturationsstrategie, die von einem Individuum frei gewählt und gleichzeitig von der Mehrheitsgesellschaft verfolgt werden kann. Dies ist aber nur unter der Bedingung möglich, dass die Mehrheitsgesellschaft kultureller Diversität und somit dieser Akkulturationsform offen gegenübersteht und Zugewanderten möglichst ohne Diskriminierung entgegentritt (vgl. Berry 1991). Nach Berry bedarf es dabei der Übernahme der grundlegenden Werte der Aufnahmegesellschaft vonseiten der Zugewanderten, während das Zielland seine Institutionen nach den Bedürfnissen der Neuankömmlinge ausrichten muss (Berry 1997: 11).

Des Weiteren können die phänotypischen Merkmale eines Individuums Einfluss auf die Akkulturationsform nehmen. Als Beispiel nennt er hier Koreanerinnen und Koreaner in Kanada sowie Türkinnen und Türken in Deutschland, die sich aufgrund äußerer Merkmale Vorurteilen und Diskriminierung vonseiten der Aufnahmegesellschaft ausgesetzt sehen. Dies kann dazu führen, dass sie eine Assimilation verwehren (Berry 1997: 11). Ein weiterer Faktor, der auf die Wahl der Akkulturationsstrategie Einfluss nimmt, ist die Aufenthaltsdauer (Berry 1997: 12).

In seinem Artikel „Immigration, Acculturation, Adaptation“ aus dem Jahre 1997 stellt Berry ein Akkulturationsmodell vor, das veranschaulicht, dass Kulturkontakte auf politische, soziale und ökonomische Strukturen Einfluss nehmen, kulturelle Institutionen verändern und zu einem veränderten Äußeren der Zugewanderten führen kann. Dies wiederum nimmt Einfluss auf die psychologische Akkulturation des Individuums. Dabei können die Faktoren auf der Gruppenebene sowie die Faktoren auf der individuellen Ebene vor und nach der Akkulturation Einfluss auf den Akkulturationsprozess der Zugewanderten nehmen. Hierbei wirken vermittelnde und moderierende Faktoren (mediating und moderating variables), die manchmal auch beides zugleich sind (Berry 1997: 15).

Berrys Ausführungen zufolge dürfen in einer Untersuchung zur Akkulturation von Zugewanderten die Beschreibung der Herkunftsgesellschaft und die der Aufnahmegesellschaft nicht fehlen (vgl. Kapitel 3). In Hinblick auf die Herkunftsgesellschaft spielen dabei insbesondere die kulturellen Charakteristika eine wichtige Rolle, „in part to understand (literally) where the person is coming from, and in part to establish cultural features for comparison with the society of settlement as a basis for estimating […] cultural distance“ (Berry 1997: 16; Hervorhebung im Original). Die kulturelle Distanz besagt, wie unterschiedlich zwei Kulturen in Hinblick auf ihre Sprache, Religion und weitere kulturelle Faktoren sind. Dabei ist davon auszugehen, dass eine Eingliederung umso schwieriger ist, je höher die kulturelle Distanz ist: „Greater cultural distance implies the need for greater culture shedding and culture learning, and perhaps large differences trigger negative intergroup attitudes, and induce greater culture conflict leading to poorer adaptation“ (Berry 1997: 23).

Um einschätzen zu können, bis zu welchem Grad die Migration freiwillig erfolgte, ist es notwendig, die politische, ökonomische und demographische Situation des Herkunftslandes aufzuzeigen (Berry 1997: 16). Mit Blick auf die Aufnahmegesellschaft muss die Einstellung der Gesellschaft bezüglich Einwanderung und Pluralismus dargelegt werden, denn dies nimmt Einfluss auf die Einstellung der Zugewanderten in Hinblick auf ihr Eingliederungsverhalten. Dabei ist zu beachten, dass es in einer pluralistischen Gesellschaft Unterschiede bezüglich der Akzeptanz bestimmter Gruppen gibt. Die Gruppen, die eine geringe Akzeptanz erfahren, sind Feindlichkeit, Ablehnung und Diskriminierung ausgesetzt, was dazu führt, dass ihre Eingliederung auf lange Sicht erschwert ist (Berry 1997: 17). Bei der Berücksichtigung der Gruppenakkulturation muss der physische, biologische, ökonomische, soziale und kulturelle Wandel der Gruppe dargelegt werden. Physische Faktoren beziehen sich auf eine eintretende Urbanisierung und eine steigende Bevölkerungsdichte. Biologische Veränderungen beziehen sich auf einen Wandel im Essverhalten sowie die Gefahr, neuen Krankheiten ausgesetzt zu sein, die die gesamte Gruppe in Mitleidenschaft ziehen können. Ökonomische Veränderungen können einen Statusverlust oder neue Arbeitsmöglichkeiten für die gesamte Gruppe bedeuten. Der soziale Wandel kann für die Zugewanderten einen Verlust der community, aber neue, wichtige Freundschaften mit sich bringen. Schließlich beinhaltet der kulturelle Wandel bezogen auf die Gruppe Veränderungen bei der Ernährung und der Kleidung bis hin zu Sprachwechsel, Glaubenswechsel und einem grundlegenden Wandel im Wertesystem (Berry 1997: 17).

Treten beim Einleben in das neue Umfeld Probleme auf, erfährt das Individuum einen Kulturschock, wobei Berry hierfür die Bezeichnung des „acculturative stress“ (Berry 2005: 708) bevorzugt. Auch wenn das Konzept des Kulturschocks älter ist, zieht er den Begriff des „acculturative stress“ aus zwei Gründen vor. Zum einen sei der Begriff „Schock“ ausschließlich negativ konnotiert, während der Begriff „Stress“ sowohl eine negative (Disstress) als auch positive (Eustress) Bedeutung haben kann. Zum anderen verdeutliche der Begriff „Akkulturation“, dass zwei Kulturen an diesem Prozess beteiligt sind, während der Begriff „Kultur“ sich nur auf eine beziehe. Hat das Individuum nun aber beim Einleben mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, können die Veränderungen, die mit dem neuen kulturellen Umfeld einhergehen, die Bewältigungsstrategien des Individuums übersteigen und zu ernsthaften psychischen Störungen wie einer schweren Depression und Angstzuständen führen.

2.2.5 Transnationalismus

Eine weitere Theorie stellt der Transnationalismus dar. Anfang der 1990er Jahre beobachteten US-amerikanische Anthropologinnen und Anthropologen sowie Ethnologinnen und Ethnologen die Migrationsverläufe von mexikanischen, karibischen und philippinischen Arbeitsmigrantinnen und -migranten in den USA. Basierend auf diesen Beobachtungen stellten sie fest, dass das Verhalten dieser Gruppen von bisher beobachteten Migrationsmustern abwich, denn „diese Migrant_innen bewegten sich gewissermaßen zwischen den Welten, hatten Bindungen und Beziehungen in beide Richtungen, waren Teile transnationaler sozialer Netzwerke und waren eben nicht eindeutig als dem Herkunftsland oder dem Aufnahmeland zugewandt zu kategorisieren“ (Hoesch 2018: 114). Zuvor waren Migrationsforscherinnen und -forscher davon ausgegangen, dass Migrantinnen und Migranten, die sich in einem Land niederließen, ihre Verbindungen zum Heimatland aufgaben und ihre transnationalen Verbindungen somit ausgelöscht wurden (Glick Schiller, Basch und Szanton Blanc 1995: 51). Die Beobachtungen in Hinblick auf die Migrationsverläufe der mexikanischen, karibischen und philippinischen Arbeitsmigrantinnen und -migranten in den USA bildeten nun die Grundlage für den Ansatz des Transnationalismus, den Glick Schiller, Basch und Szanton Blanc (1995: 48) wie folgt definieren: „Transnational migration is the process by which immigrants forge and sustain simultaneous multi-stranded social relations that link together their societies of origin and settlement“. Als Transmigrantinnen und -migranten gelten demzufolge Personen, „whose daily lives depend on multiple and constant interconnections across international borders and whose public identities are configured in relationship to more than one nation-state“ (Glick Schiller, Basch und Szanton Blanc 1995: 48). Sie können nicht als temporär ansässig bezeichnet werden, da sie sich niederlassen und Teil des wirtschaftlichen und politischen Systems sowie des Alltags im Aufnahmeland sind, wobei sie aber ebenso Kontakte zu anderen Ländern wahren, monetäre Überweisungen in ihr Heimatland oder andere Länder tätigen sowie lokale und nationale Ereignisse in ihren Herkunftsländern beeinflussen (Glick Schiller, Basch und Szanton Blanc 1995: 48). Als Ursachen für die Entstehung transnationaler Migrationsformen werden drei miteinander verknüpfte Faktoren gesehen:

(1) a global restructuring of social capital based on changing forms of capital accumulation has lead to deteriorating social and economic conditions in both labor sending and labor receiving countries with no location a secure terrain of settlement; (2) racism in both the United States and Europe contributes to the economic and political insecurity of the newcomers and their descendants; and (3) the nation building projects of both home and host society build political loyalties among immigrants to each nation-state in which they maintain social ties. (Glick Schiller, Basch und Szanton Blanc 1995: 50)

Die Bildung sogenannter „transnationaler sozialer Räume“ (vgl. Pries 1996) wird durch das Voranschreiten der Technik sowie durch Innovationen bei Transport und Kommunikation erleichtert, wenn nicht sogar erst ermöglicht. Während Transmigrantinnen und -migranten es unmöglich finden oder ablehnen, sich vollständig auf die Aufnahmegesellschaft einzulassen, gibt es Herkunftsstaaten, die das Fortbestehen der Beziehungen zwischen Heimatland und den Migrierten fördern, da sie sie als Ressource und Wählerpotential betrachten. Durch die Beziehungen innerhalb der transnationalen sozialen Räume entstehen multilokale soziale, wirtschaftliche, politische und religiöse Netzwerke, die zwar einerseits „identitätsstiftend seien und zwei oder mehrere Gesellschaften auch langfristig miteinander zu verbinden in der Lage sind“ (Schulte und Treichler 2010: 65), doch andererseits den Transmigrantinnen und -migranten abverlangen, Werte und Kulturen der beteiligten Länder zu vereinen. Hoesch (2018: 115) merkt an, dass frühere Integrationstheorien, insbesondere assimilatorische Ansätze und zum Teil Multikulturalismustheorien, eine „Leitkultur“ annähmen, die identitätsstiftend sei und einen Orientierungsrahmen für das eigene Handeln biete. Dies sei beim Transnationalismus jedoch nicht der Fall.

2.2.6 Integrationsforschung im deutschsprachigen Raum

Die theoretischen Grundlagen der Migrationsmodelle für den deutschsprachigen Raum lieferte Hans-Joachim Hofmann-Nowotny mit seinen Arbeiten „Migration. Ein Beitrag zu einer soziologischen Erklärung“ (1970) und „Soziologie des Fremdarbeiterproblems. Eine theoretische und empirische Analyse am Beispiel der Schweiz“ (1973). Für ihn war die Assimilation gleichbedeutend mit der Partizipation an der Kultur und die Integration gleichbedeutend mit der Partizipation an der Gesellschaft, wodurch der Integrationsprozess im Wesentlichen von der Aufnahmegesellschaft determiniert war (vgl. Hoffmann-Nowotny 1970).

Vor dem Hintergrund der Niederlassung zahlreicher sogenannter „Gastarbeiter“ begann sich Anfang der 1980er Jahre die Politik mit Eingliederungskonzepten auseinanderzusetzen. Auslöser hierfür war die allmählich einkehrende Erkenntnis, dass die Gastarbeiter, die seit den 1950er Jahren durch Anwerbeabkommen nach Deutschland gelangt waren und ursprünglich als flexibel einsetzbare und anspruchslose Arbeitskräfte angesehen worden waren, nun doch nicht in ihre Heimatländer zurückkehren würden. Stattdessen zogen sie in ihre eigenen Wohnungen und nahmen Institutionen wie Schulen für ihre Kinder und Gesundheitsdienste in Anspruch (Geiß 2013: 197). Jedoch erst 2006, ein halbes Jahrhundert nach der Ratifizierung des ersten Gastarbeiter-Anwerbeabkommens, befasste sich die Bundesregierung zum ersten Mal auf höchster politischer Ebene mit der Migrationsthematik und lud zum ersten Integrationsgipfel ins Bundeskanzleramt ein (Engin 2013: 201).

Während Hoffmann-Nowotny zwar den Anstoß zur Beschäftigung mit Migrantinnen und Migranten im deutschsprachigen Raum gab und seine Unterschichtungsthese „gewissermaßen in das Alltagsvokabular all derer eingewandert ist, die sich regelmäßig aus wissenschaftlichen, politischen oder pädagogischen Gründen mit Migration befassen“ (Bade, Bommes und Oltmer 2004: 201), spielen die Ausführungen über Integration des Soziologen Hartmut Esser bei deutschen Eingliederungskonzepten eine wichtige Rolle. Laut Schulte und Treichler (2010: 47) kommt ihm der „Charakter einer Referenzposition in der soziologischen Integrationsforschung“ zu. Da Esser den Begriff „Assimilation“ verwendet und sich für diese einsetzt, ist seine Forschung aus soziologischer Sicht umstritten. Dennoch ist sein „mehrdimensionales Integrationskonzept“, wie Elwert (2015: 39) anmerkt, „zum Standardmodel in der deutschen Integrationsforschung geworden“. Trotz aller Kritik an Esser kann eine nähere Betrachtung dieses Modells nicht ausbleiben. In seiner Habilitationsschrift „Aspekte der Wanderungssoziologie. Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten“ identifiziert Esser (1980: 25) die Frustration im Herkunftsland als Motiv zur Migration und versteht unter Assimilation „Angleichung“ der verschiedenen Gruppen in bestimmten Eigenschaften. Ist eine Person migriert, erfolge laut Esser (1980: 106) zunächst eine Akkomodation und dann die Akkulturation. Unter Akkomodation versteht er die „Anpassung des Körpers an äußere Bedingungen oder die kognitive Anpassung durch Schaffung neuer Wahrnehmungsschemata“ (Esser 1980: 106) und unter Akkulturation die „Anpassung aufseiten der Zuwanderer“ (Esser 1980: 106). Erst im Anschluss an die Akkulturation folge die Integration durch die Erfahrung eines Status der Gleichberechtigung von migrierter Person und Aufnahmegesellschaft. Seine Arbeiten weisen eine Nähe zu den Theorien von Shmuel N. Eisenstadt und Milton M. Gordon auf. In seiner Habilitationsschrift identifiziert er zwei zentrale Hypothesen: die Personenhypothese und die Umwelthypothese. Die Personenhypothese besagt:

Je intensiver die Motive des Wanderers in bezug auf eine bestimmte Zielsituation, je stärker die subjektiven Erwartungen eines Wanderers sind, dass diese Zielsituation über assimilative Handlungen und/oder assimilative Situationen erreichbar ist, je höher die Handlungsattributierung für assimilative Handlungen ist und je geringer der Widerstand für assimilative Handlungen ist, umso eher führt der Wanderer – ceteris paribus – assimilative Handlungen aus. (Esser 1980: 211)

Dies bedeutet, dass Zugewanderte bereit sind, sich zu assimilieren, wenn ihnen dies insofern von Nutzen ist, als das sie ihr Migrationsziel erreichen. Die Umwelthypothese lautet:

Je mehr assimilative Handlungsopportunitäten dem Wanderer im Aufnahmesystem offenstehen, je geringer die Barrieren für assimilative Handlungen im Aufnahmesystem sind und je weniger nicht-assimilative Handlungsalternativen nicht-assimilativer Art verfügbar sind, umso eher führt der Wanderer – ceteris paribus – assimilative Handlungen aus. (Esser 1980: 211)

Dies besagt, dass die Assimilation von Zugewanderten begünstigt wird, wenn den Zugewanderten Möglichkeiten zur Assimilation, zum Beispiel zur sprachlichen Assimilation durch die Bereitstellung von Sprachkursen, zur Verfügung stehen und ihnen die Möglichkeit, eine weitere Eingliederungsform zu wählen, verwehrt bleibt. So könnte das Fehlen einer ethnischen community eine Assimilation begünstigen.

In Anlehnung an David Lockwood (1972) unterscheidet Esser (2006: 23–24; Hervorhebung im Original) zwischen der Sozialintegration und der Systemintegration als dem

Bezug auf die Individuen und ihre Beziehungen zu einem bestehenden gesellschaftlichen Kontext, darunter auch die Beziehungen zu anderen Individuen, und de[m] Bezug auf ein soziales System und dessen Zusammenhalt als kollektive Einheit insgesamt. Der erste Aspekt wird als Sozialintegration bezeichnet, der zweite als Systemintegration.

Bei der individuellen Sozialintegration unterscheidet Esser zwei mögliche Zugehörigkeiten von Migrantinnen und Migranten zu sozialen Systemen, und zwar (a) die Zugehörigkeit zur Aufnahmegesellschaft und (b) zur ethnischen Gruppe. Ähnlich wie bei John W. Berrys Akkulturationskonzept (vgl. Abschnitt 2.2.4) ergeben sich daraus vier verschiedene Typen der Sozialintegration, die in Abb. 2.1 dargestellt sind.

Abb. 2.1
figure 1

(Quelle: Graphik entnommen aus Esser 2006: 25)

Typen der individuellen Sozialintegration.

Wie aus der obigen Graphik ersichtlich, sind die vier Typen der Sozialintegration bei Esser die Assimilation, die multiple Inklusion, die Segmentation und die Marginalität.

Er erläutert die einzelnen Typen in Hinblick auf ihre Bedeutung für die Eingliederung der migrierten Person wie folgt:

Die Marginalität bezeichnet den Fall der Exklusion aus allen sozialen Bezügen, die Segmentation den des Einschlusses in die ethnische Gruppe, aber des Ausschlusses aus der Aufnahmegesellschaft. Die Assimilation bezieht sich entsprechend auf den Einschluss in die Aufnahmegesellschaft und den gleichzeitigen Ausschluss aus der ethnischen Gruppe und die multiple Inklusion auf die Beteiligung an beiden sozialen Systemen. (Esser 2006: 25; Hervorhebung im Original)

Somit entspricht die multiple Inklusion dem gängigen Verständnis von Integration und wurde von Berry entsprechend auch so bezeichnet. Esser (2006: 25) zufolge ist die Assimilation der „einzige Fall der ‚Angleichung‘ allein an die Aufnahmegesellschaft“, da alle anderen Formen „irgendeine Art der Nicht-Angleichung“ (Esser 2006: 25) beinhalten, im Falle der „multiplen Inklusion auch jene, die die ‚Assimilation‘ voraussetzt, aber sich darin nicht erschöpft“ (Esser 2006: 25).

Die verschiedenen Typen verdeutlicht er am Beispiel der Staatsangehörigkeit: die Marginalität kennzeichnet „dann die ‚staatenlosen‘ Migranten, die multiple Inklusion entsprechend diejenigen mit ‚doppelter Staatsangehörigkeit‘ und die Segmentation bzw. die Assimilation jeweils Migranten mit nur einer Staatsangehörigkeit, [der] des Herkunftslandes oder [der] des Aufnahmelandes“ (Esser 2006: 25). So lässt sich auch mit anderen Aspekten der Integration verfahren, jedoch ist es nicht immer möglich, logische Besetzungen zu finden:

Bei manchen Merkmalen ist eine multiple Inklusion leichter möglich als bei anderen, wie bei den kulturellen Gewohnheiten, der Sprache oder den sozialen Kontakten gegenüber der Bildung, der Arbeitsmarktplatzierung, der Familienzugehörigkeit oder der emotionalen Identifikation, und bei einigen wäre sie so gut wie ausgeschlossen, wie bei der Heirat oder der Religion. (Esser 2006: 25–26)

Bildung, Heirat, Religion und Ähnliches bezeichnet er als „Merkmale, auf die sich die Inklusion und die Exklusion beziehen können“ (Esser 2006: 26). Diese Merkmale sind die sogenannten Integrationsindikatoren. Sie lassen sich in unterschiedlichen inhaltlichen Dimensionen zusammenfassen: Diese sind die kulturelle, strukturelle, soziale und – bei Esser – emotionale Dimension. Die kulturelle Dimension bezieht sich auf die Kulturation als Übernahme von Wissen, Fertigkeiten, kulturellen Vorstellungen und normativ-mentalen „Modellen“. Die strukturelle Dimension bezieht sich auf die Platzierung in die Aufnahmegesellschaft als „die Übernahme bzw. die Gewährung von Rechten, die Einnahme von Positionen in (relevanten) Bereichen des jeweiligen sozialen Systems, etwa in Bildung und Arbeits- und Wohnungsmarkt, und als Zugang zu relevanten Institutionen und Verteilungsnetzwerken“ (Esser 2006: 26). Die soziale Dimension bezieht sich auf die Interaktion als „die Aufnahme von sozialen (Primär-)Beziehungen und die Inklusion in familiäre Zusammenhänge und (Freundschafts-)Netzwerke sowie, ganz besonders, die inter- oder intraethnische Heirat“ (Esser 2006: 26) und die emotionale Dimension bezieht sich schließlich auf die Identifikation als „die Entwicklung gewisser, auch emotional besetzter, Loyalitäten zum jeweiligen sozialen System und Einordnungen der eigenen Identität“ (Esser 2006: 26):

Entsprechend können vier inhaltliche Dimensionen bei den vier Typen der individuellen Sozialintegration von Migranten unterschieden werden: die kulturelle Marginalität, Segmentation, Assimilation und multiple Inklusion, die sich auf die Kulturation, die strukturelle [Marginalität, Segmentation, Assimilation und multiple Inklusion: Anm. d. Verf.], die sich auf die Platzierung, die soziale [Marginalität, Segmentation, Assimilation und multiple Inklusion: Anm. d. Verf.], die sich auf die Interaktion und die emotionale [Marginalität, Segmentation, Assimilation und multiple Inklusion: Anm. d. Verf.], die sich auf die Identität bzw. die Identifikation beziehen. (Esser 2006: 26)

Anhand des Beispiels der Sprache veranschaulicht er den Bezug der vier inhaltlichen Dimensionen auf die vier Typen der individuellen Sozialintegration. In Abb. 2.2 sind die Grundprozesse, inhaltlichen Dimensionen sowie Merkmale bzw. Indikatoren und die vier Typen der individuellen Sozialintegration dargestellt.

Sprache gilt als Aspekt der Kulturation und zählt somit zur kulturellen Dimension. In Hinblick auf die Sozialintegration von Zugewanderten können sprachliche Marginalität, Segmentation, Assimilation und multiple Inklusion unterschieden werden:

Die sprachliche Marginalität wäre dann der Fall des „limited bilingualism“, bei dem keine der beiden Sprachen kompetent beherrscht wird […]. Sprachliche Segmentation und Assimilation würden die beiden Fälle der Monolingualität bezeichnen und die kompetente Bilingualität („fluent bilingualism“) wäre die multiple sprachliche Inklusion […]. (Esser 2006: 26)

Abb. 2.2
figure 2

(Quelle: in Anlehnung an Esser 2006: 27)

Grundprozesse, inhaltliche Dimensionen, Merkmale bzw. Indikatoren der individuellen Sozialintegration von Zugewanderten.

Es wird deutlich, dass alle vier Dimensionen mit allen vier Typen der individuellen Sozialintegration kombiniert werden können. Eine migrierte Person könnte in der strukturellen Dimension assimiliert sein, in der kulturellen segmentiert, in der sozialen multipel inkludiert und in der emotionalen marginalisiert. Andererseits könnte eine migrierte Person auch in allen Dimensionen segmentiert, assimiliert, inkludiert oder marginalisiert sein. Ältere Konzepte gingen von einem Stufenmodell aus, bei dem die migrierte Person zunächst segmentiert und am Ende assimiliert ist (vgl. Park 1950; Gordon 1964).

2.3 Dimensionen der Integration

Nachdem im vorherigen Kapitel wegbereitende Stationen der Integrationsforschung und grundlegende Integrationskonzepte im deutschsprachigen Raum aufgezeigt wurden, befasst sich das folgende Kapitel mit den vier Dimensionen der Integration, die auch Integrationsstufen genannt werden und sich ebenfalls in den Integrationsmonitorings der betrachteten deutschen Kommunen wiederfinden lassen. Die Integrationsdimensionen orientieren sich wiederum, ebenso wie das Verständnis von Integration im normativ-politischen Bereich, im Allgemeinen an den Forschungen des Soziologen Hartmut Esser. Nach dem Aufzeigen der Interdependenz der vier Dimensionen untereinander in Abschnitt 2.3.1 geben die anschließenden Abschnitt 2.3.2 bis 2.3.5 zunächst einen Überblick über die vier Dimensionen der sozialen Integration. Dabei werden diese zunächst definiert und ihre Relevanz für die Eingliederung bzw. Integration der Migrantinnen und Migranten wird aufgezeigt. Anschließend werden ihre Indikatoren näher erläutert.

2.3.1 Interdependenz der vier Dimensionen

Wie in Abschnitt 2.2.6 erläutert, lassen sich den konzeptionellen Dimensionen der Sozialintegration in der allgemeinen Soziologie, der Platzierung, Kulturation, Interaktion und Identifikation, vier Dimensionen der individuellen Eingliederung von Zugewanderten zuordnen. Diese sind (1) die soziale, (2) die strukturelle, (3) die kulturelle und (4) die identifikative Dimension. Diese vier Dimensionen sind interdependent und kausal miteinander verbunden (vgl. Esser 2001). Heckmann (2015: 82) sieht den Kern des Integrationsprozesses in der strukturellen Integration und so in der Platzierung in gesellschaftlichen Kerninstitutionen wie der Wirtschaft, der Bildung und dem Staat. Um diese Platzierung zu erreichen, benötigen die Zugewanderten bestimmte kulturelle Kompetenzen, zu denen insbesondere sprachliche Fertigkeiten gehören, sodass die strukturelle und kulturelle Dimension miteinander verbunden sind und sich aufeinander beziehen. Auch auf die soziale Dimension hat die kulturelle Integration insbesondere durch den Spracherwerb Einfluss. Gleichzeitig wirkt sich das Knüpfen von Kontakten, das durch vorhandene Sprachkompetenzen erleichtert werden kann, förderlich auf die kulturelle Dimension aus, da kulturelle Kompetenzen durch interethnische Kontakte erworben werden können. Außerdem kann das Knüpfen von Kontakten die strukturelle Dimension durch eine mithilfe von Beziehungen erreichte günstigere Platzierung stärken. Durch eine erfolgreiche Eingliederung in die strukturelle und soziale Dimension, also die Platzierung in gesellschaftliche Institutionen und die Aufnahme sozialer Kontakte, soll sich schließlich ein Gefühl des Dazugehörens entwickeln, welches das Zentrum der identifikativen Dimension darstellt. Mit der „entwickelten identifikativen Integration“ (Heckmann 2015: 195) ist nach Heckmann der Integrationsprozess abgeschlossen.

An anderer Stelle heißt es, dass die Migrationsforschung wie auch die Assimilationsforschung (vgl. Abschnitt 2.2.2) von einem Phasenmodell der Integration von Zugewanderten ausgeht (vgl. Heckmann 1992), bei dem die Zugewanderten zu Beginn ihres Integrationsprozesses sprachliche Fähigkeiten sowie die Sitten und Gebräuche des Aufnahmelandes erlernen und/oder Arbeitsverhältnisse eingehen. So erfolgt zum Beispiel im Falle von Arbeitsmigrantinnen und -migranten zunächst ein funktionaler Lern- und Anpassungsprozess, der auch hier mit Akkomodation bezeichnet wird. Im Anschluss an diese Akkomodation findet eine Akkulturation statt, also eine Veränderung von Werten, Normen und Einstellungen der Zugewanderten, welche die überwiegende Übernahme der Kultur der Mehrheitsgesellschaft beinhalten kann. Als Vollendung dieses Integrationsprozesses wird in der Bundesrepublik laut Beger (2000: 96) die Einbürgerung gesehen, sodass neben der wirtschaftlichen und sozialen Integration auch eine kulturelle und identifikative Integration von der Einbürgerungsbewerberin bzw. dem Einbürgerungsbewerber erwartet wird (Beger 2000: 96).

2.3.2 Soziale Dimension

Die soziale Integrationsdimension erstreckt sich auf die private Ebene und betrachtet die persönlichen Beziehungen zwischen Zugewanderten und Mehrheitsgesellschaft. Diese Beziehungen können Freundschaften, Partnerschaften, Ehen und Mitgliedschaften in Vereinen sein (Heckmann 2015: 181).

Soziale Integration wird als ein wichtiger Schritt im Integrationsprozess gesehen, da Indikatoren der sozialen Integration Auskunft über Beziehungen zwischen Gruppen geben und sie so etwas darüber aussagen, ob die Zugewanderten in der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert sind oder nicht und ob sie sich dieser öffnen oder sich weitgehend auf ihre eigene ethnische Gruppe stützen (Heckmann 2015: 181). Zumeist bemisst sich die soziale Integration an der Art und Intensität der sozialen Beziehungen von Zugewanderten und der einheimischen Bevölkerung (Haug 2010: 5). Dies findet sich in der Theorie der sozialen Distanz wieder (vgl. Steinbach 2004).

Als Schlüsselindikator für Integration in der sozialen Dimension gelten die interethnische Eheschließung (Heckmann 2015: 184; Esser 2006: 26) sowie eheähnliche Beziehungen oder Partnerschaften zwischen deutschen und ausländischen Personen (Nottmeyer 2010: 1).Footnote 27 Interethnische und intraethnische Partnerschaften werden dabei wie folgt definiert:

Partnerships are only designated as inter-ethnic if they are between immigrants and native German citizens. Partnerships within immigrant groups – for example, between two immigrants of Turkish origin or between a Polish man and a Ukrainian woman – are designated as intra-ethnic partnerships, even though the individuals may have different ethnic roots. (Nottmeyer 2010: 113)

Bernhard Nauck hält diesbezüglich fest, dass die Wahl der Ehepartnerin bzw. des Ehepartners „weitreichende Folgen für den eigenen Eingliederungsprozess und eigene weitere Mobilitätsoptionen des/der Heiratenden, für den Sozialisations- und Akkulturationsprozess der aus dieser Verbindung hervorgehenden Kinder und für die Ausgestaltung der familialen Solidarpotenziale“Footnote 28 hat. Allgemein wird davon ausgegangen, dass Partnerschaften und Eheschließungen auf starker wechselseitiger Akzeptanz beruhen. Von Eheschließungen abgesehen, die beispielsweise aufgrund von Abmachungen getroffen wurden, kann diese Annahme auch als plausibel gelten. Die Bedeutung von interethnischen Partnerschaften für die Integration wird mithilfe der Theorie der sozialen Distanz begründet. Im Gegensatz zum Arbeitsplatz und dem Freundeskreis ist der private Bereich derjenige, in dem ein interethnischer Wandel zuletzt stattfindetFootnote 29. Interethnische Partnerschaften und Eheschließungen zwischen Zugewanderten und Personen des Aufnahmelandes ohne Migrationshintergrund werden als soziale Annäherung zwischen den Gruppen gewertet (Heckmann 2015: 184). Beim Eingehen einer interethnischen Partnerschaft oder sogar Ehe wird von einer erhöhten Wahrscheinlichkeit zur Auflösung klarer Herkunftsbeziehungen ausgegangen. Diese wiederum erhöhe die Chancen auf eine Identifizierung mit der Mehrheitsgesellschaft (Heckmann 2015: 189).

In der Forschung zu interethnischen Ehen in Deutschland wird die Datenlage bemängelt, die sich bei einer Auswertung bestehender Statistiken wie des Sozio-Oekonomischen Panels als unzureichend erweist, da zum Beispiel bei Konsulats- und Auslandsehen eine Untererfassung vorliegt (Haug 2006: 82). Rother (2008) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass zusätzliche Informationen zu interethnischen Ehen von Nutzen sein können. Dies sind zum einen Angaben zum Ort des Kennenlernens und zum anderen Angaben zum Land, in dem die Ehe geschlossen wurde.

Ein weiterer wichtiger Indikator der sozialen Integration sind interethnische Freundschaften. Als soziologisches Konzept ist Freundschaft

eine besonders persönlich gefärbte Form direkter sozialer Beziehungen, die – ohne spezifische Rollenverpflichtung – freiwillig und auf längere, nicht fixierte Dauer eingegangen wird. Der Freundschaft fehlt eine klare Zielbezogenheit gemeinsamen Handelns. Sie hat die Tendenz, sich auf alle Angelegenheiten der Partner auszudehnen. Die aufeinander einwirkenden Sinnbeziehungen […] der Freundschaftspartner werden nicht aus ihren sonstigen sozialen Rollen abgeleitet, vielmehr stehen sich Freunde als Persönlichkeiten, als ‚ganze Menschen‘ gegenüber. (Hartfiel und Hillmann 1972: 224)

Hartfiel und Hillmann (1972: 224) weisen auch darauf hin, dass Freundschaften stabilisierend und entlastend wirken und so den Akkulturationsstress reduzieren können. Neben einer gewissen Ähnlichkeit müssen Personen auch über unterschiedliche Eigenschaften verfügen, um eine Freundschaft einzugehen und ihren Erhalt zu sichern (Haug 2010: 17; Heckmann 2015: 182). Das Zustandekommen von interethnischen Freundschaftsbeziehungen hängt vom Bildungs- und sozioökonomischen Status sowie von Zahlenverhältnissen und Gelegenheitsstrukturen ab. Rein rechnerisch ist es wahrscheinlicher, dass Zugewanderte Freundschaften zu Personen der Mehrheitsgesellschaft eingehen, sodass es als Wunsch nach Homogenität verstanden wird, wenn Freundinnen und Freunde innerhalb der eigenen Herkunftsethnie gefunden werden (Heckmann 2015: 182). Interethnische Freundschaften in segregierten Wohngebieten werden als unwahrscheinlicher angesehen (vgl. Farwick 2011), während Schulklassen mit einem höheren Migrantenanteil eine höhere Anzahl an interethnischen Freundschaften fördern können. Dabei hat sich gezeigt, dass Zugewanderte mit höherer Schulbildung mehr Freundschaftsbeziehungen zu deutschen Personen haben als sogenannte bildungsferne Personen. Außerdem werden gute Sprachkenntnisse der Zugewanderten als Voraussetzung für das Zustandekommen einer Freundschaft angesehen, sodass hier auch die kulturelle Dimension berührt wird (Heckmann 2015: 182–183).

Ein weiterer wichtiger Indikator der sozialen Dimension ist die Partizipation in Organisationen und die Mitgliedschaft in Vereinen. Gerade Sportvereine betonen ihren Beitrag zur Integration von Zugewanderten oder Personen mit Migrationshintergrund in die Gesellschaft – „Sport ist nicht Mittel zur Integration, Sport ist Integration“Footnote 30 – und auch die Politik sieht den Sport als Integrationsmotor wie durch entsprechende Programme deutlich wirdFootnote 31.

Zwei Konzepte spielen eine wichtige Rolle dabei, die Relevanz der Partizipation in Organisationen und der Mitgliedschaft in Vereinen für die Eingliederung der Zugewanderten in die Aufnahmegesellschaft zu begründen. Dies ist zum einen die Binnenintegration der Mitglieder in einen Verein bzw. die binnenintegrative Leistung von Vereinen. Diesem Konzept liegt die Annahme zugrunde, dass Personen, die Mitglieder in diesen Vereinen sind, gleichzeitig sozial in die jeweilige Wahlgemeinschaft integriert sind. Dies bedeutet, dass die Mitgliedschaft im Verein mit der sozialen Integration des Individuums in den jeweiligen Verein gleichgesetzt wird (Braun 2006: 4498). Das andere Konzept ist das der sogenannten Außenintegration der Mitglieder in die Gesellschaft bzw. der außenintegrativen Leistungen von Vereinen. Hierbei wird allgemein davon ausgegangen, dass „Vereine ihre Mitglieder grundsätzlich in die Gesellschaft integrieren“ (Lehmann 2001: 174). Braun (2006: 4498) spricht diesbezüglich von einer „Transferannahme“, also von der Annahme, dass der „Einzelne aufgrund seines sozialen Einbezugs in einen Verein bestimmte soziale und politische Orientierungen, die ihn befähigten, sich auch in andere gesellschaftliche Kontexte zu integrieren bzw. in diese integriert zu werden“ (Braun 2006: 4498), erwirbt.

Des Weiteren werden Essers vier Integrationsdimensionen (Abschnitt 2.2.6) auf die Einbindung in das Vereinsleben übertragen. In Hinblick auf die soziale Dimension wird auch hier wie schon bei den Indikatoren der interethnischen Eheschließung und der interethnischen Freundschaften davon ausgegangen, dass bürgerschaftliches Engagement sowie die Partizipation in Vereinen vielfältiger Art eine Annäherung zwischen Zugewanderten und Personen der Aufnahmegesellschaft bewirkt. Vereine bieten die Gelegenheit der Herstellung von Kontakten zwischen Zugewanderten und Personen der Aufnahmegesellschaft. Im Vereinsleben können zudem Kompetenzen und Fertigkeiten erworben werden, die der kulturellen Dimension zuzurechnen sind, wie Sprachfertigkeiten und Kenntnisse über Institutionen des Aufnahmelandes, die bei der Akkulturation eine wichtige Rolle spielen. Zusätzlich wirkt sich nach dieser Theorie eine Vereinsmitgliedschaft positiv auf die Integration in der strukturellen Dimension aus, da das bürgerschaftliche Engagement bzw. die Mitgliedschaft in Vereinen bei Platzierungsprozessen relevant sein können, indem in der Organisation oder im Verein unter den Mitgliedern Informationen über freie Arbeitsstellen ausgetauscht werden oder in der Organisation bzw. dem Verein erworbene Kompetenzen im Erwerbsleben eingesetzt werden können. Schließlich wird auf der identifikativen Ebene davon ausgegangen, dass bürgerschaftliches Engagement und somit die Mitgliedschaft und Partizipation in Vereinen das Zugehörigkeits- und Verbundenheitsgefühl von Zugewanderten zur Aufnahmegesellschaft stärkt (Nobis 2013: 49).

Ein weiterer Indikator der sozialen Dimension ist die Inanspruchnahme der ethnischen community. In Hinblick auf diese gehen die Positionen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auseinander. Zum einen vertreten unter anderem Esser (1980) und Heitmeyer (1998: 452) die sogenannte „Assimilations-These“, die besagt, dass ethnische Gruppen und Identitäten zur Entstehung von „Parallelgesellschaften“ oder „ethnischen Ghettos“ und damit zu einer verstärkten Fragmentierung und Entsolidarisierung der Bevölkerung führen können (vgl. Abschnitt 2.2.3.2). Dieser Annahme steht die Binnenintegrationsthese gegenüber, die von Elwert (1982) aufgestellt wurde. Diese besagt, dass ethnische Strukturen in der Aufnahmegesellschaft den Akkulturationsstress zu Beginn reduzieren und so zu einer erleichterten Integration beitragen können. Elwerts Argumentation wurde ausführlich in Abschnitt 2.2.3.2 erläutert. Auch Heckmann (1981; 1992) besetzt die ethnische community in seinen Arbeiten positiv.

Das Konzept der Binnenintegration geht auf die Forschung der Chicagoer Schule (vgl. Abschnitt 2.2.2) zurück, die feststellte, dass Zugewanderte im Aufnahmeland zunächst Selbsthilfeorganisationen und anschließend religiöse Einrichtungen gründen. Heckmann sieht auch heute noch, dass diese Einrichtungen auf die speziellen Bedürfnisse der Zugewanderten ausgerichtet sind. Allgemein wird angenommen, dass zu Beginn der Akkomodation ein gewisses Maß an Inanspruchnahme ethnischer Netzwerke und Dienstleistungen akzeptabel ist, dieses aber mit Verlauf des Aufenthalts zurückgehen und schließlich gänzlich zum Erliegen kommen sollte.

Mit dem Indikator der „Inanspruchnahme der ethnischen community“ wurden alle Indikatoren der sozialen Dimension beschrieben und ihre Bedeutung für die Integration der Zugewanderten aufgezeigt. Das folgende Kapitel behandelt die strukturelle Integration.

2.3.3 Strukturelle Dimension

Die Partizipation an Institutionen der Aufnahmegesellschaft wie dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und dem Bildungssystem, kurz die strukturelle Integration, gilt als elementar für die Integration migrierter Personen in die Gesellschaft.

Für Zugewanderte wurde nachgewiesen, dass diese aufgrund der Migration von einem niedrigen sozioökonomischen Status betroffen sind. Das heißt, ihnen stehen geringere finanzielle Ressourcen zur Verfügung als der Mehrheitsbevölkerung, sie sind überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen, es mangelt ihnen an sozialer Integration und ihnen stehen geringere Bildungschancen zur Verfügung (Pettrup 2007: 19). Diese Benachteiligung wiederum wirkt sich negativ auf die Gesundheitschancen der Zugewanderten aus (Pettrup 2007: 19). Wenn aber Zugewanderte als Mitglieder der Gemeinschaft anerkannt werden und Gleichberechtigung bezüglich gesellschaftlicher Chancen und des Zugangs zu den Institutionen der Aufnahmegesellschaft erfahren, gelten sie als integriert (Heckmann 2015: 95).

In der strukturellen Dimension nimmt der Indikator „Einbindung in den Arbeitsmarkt“, ob durch Anstellung oder Selbstständigkeit, ebenso wie die Teilhabe am Bildungswesen eine Schlüsselfunktion ein: „Hierbei ist die Integration im Bereich der Bildung und Erwerbstätigkeit eine herausragende Dimension“ (von Below 2003: 7), denn die „Möglichkeit zur Partizipation am Erwerbsleben bildet eine entscheidende Grundlage für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung und gesellschaftliche Teilhabe“Footnote 32. Die Einbindung in den Arbeitsmarkt wird wie auch schon bei Gordon (vgl. Abschnitt 2.2.2.1) sogar als relevantester Indikator für die gesamte Sozialintegration angesehen, da das durch die Arbeit erwirtschaftete Einkommen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht und die Einbindung in den Arbeitsmarkt sowie die Partizipation an gesellschaftlichen Prozessen den gesellschaftlichen Status von Personen bestimmt (Heckmann 2015: 95). Dabei ist allerdings zu beachten, dass neben arbeitssuchenden Personen pensionierte Personen, Studierende und Hausfrauen bzw. Hausmänner ebenfalls nicht in den Arbeitsmarkt eingebunden sind (Stichs 2008: 11). Unter Berücksichtigung der allgemeinen Berechnung der Erwerbstätigenquote werden Personen vom 15. bis zum 65. Lebensjahr einbezogen, sodass Rentnerinnen und Rentner von der Anwendung dieses Indikators ausgenommen sind.

Neben der Partizipation an der Institution Arbeitsmarkt spielt, wie oben bereits erwähnt, auch die Partizipation an der Institution Bildungssystem eine herausragende Rolle für die Integration in die Aufnahmegesellschaft. Die Teilhabe am Bildungswesen, auch in Form des Erwerbs von Bildungszertifikaten, gilt als eine unabdingbare Voraussetzung für die Sozialintegration, da in der kulturellen Dimension Wissen und Fertigkeiten, insbesondere Sprachfertigkeiten, und in der strukturellen Dimension berufliche Positionen erworben werden müssen (Becker 2011: 11). Die Teilhabe am Bildungswesen ist folglich für die Sozialintegration von Zugewanderten insofern relevant, als eine erfolgreiche Bildungskarriere und die Art des Bildungsabschlusses den Zugang zum Arbeitsmarkt und somit die beruflichen Chancen im Allgemeinen als auch den Übergang von der Schule in die Ausbildung beeinflussen. Somit nimmt die Teilnahme am Bildungswesen einen wesentlichen Einfluss auf die soziale Platzierung der Absolventinnen und Absolventen und entscheidet über ihre soziale Mobilität (Haug 2003: 9).Footnote 33

Ein weiterer wichtiger Indikator im Bereich der strukturellen Integration ist die Einbindung in den Wohnungsmarkt. Dabei ist zunächst relevant, dass die Zugewanderten ebenso wie die Mehrheitsbevölkerung in diesen integriert, also nicht obdachlos, sind. In Hinblick auf das Niederlassungsverhalten der Migrantinnen und Migranten wird in der Forschung insbesondere ein Augenmerk darauf gelegt, ob es zu einer Anhäufung von Zugewanderten bzw. Zugewanderten einer Nation in einem bestimmten Stadtbereich kommt und ob eine ethnische Infrastruktur entsteht bzw. vorhanden ist, denn im Sinne der Theorie der sozialen Distanz stellen weniger segregierte Stadtteile oder Nachbarschaften bessere Bedingungen für Kontakt und Begegnung dar als stärker segregierte (Farwick 2011: 31). Allerdings muss dabei auch berücksichtigt werden, ob es sich um freiwillige oder unfreiwillige Segregation, wie sie bereits in der Forschung zu japanischen Migrantinnen und Migranten in Düsseldorf aufgezeigt wurde (vgl. Abschnitt 1.2), handeltFootnote 34. Nicht nur die Einbindung in das Erwerbsleben und die Teilhabe am Bildungswesen sind miteinander verknüpft, sondern die von der Einkommenslage direkt abhängige ökonomische Situation bestimmt auch maßgeblich die Chancen auf dem Wohnungsmarkt. Die Wohnqualität ist wiederum zu einem hohen Grad für die Lebenszufriedenheit der Personen verantwortlich, weshalb darauf geachtet wird, dass Migrantinnen und Migranten denselben Zugang zum Wohnungsmarkt haben wie die Mehrheitsgesellschaft und somit auf diesem nicht diskriminiert werden.Footnote 35

Im Rahmen der kommunalen Integrationskonzepte wird auch der Integrationsindikator „Soziale Sicherung und Hilfe in Problemlagen“ berücksichtigt. Der Begriff „Soziale Sicherheit“ beinhaltet den Schutz vor „Krankheit, Erwerblosigkeit, Altersarmut oder dem Verlust von Eigentum und Produktionsmitteln“Footnote 36. Dies erfolgt zum einen durch die Sozialversicherung, welche die Pflichtversicherungen der Kranken-, Renten-, Pflege-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung beinhaltet, aber auch Leistungen von staatlichen und kommunalen Verwaltungen wie die Sicherung der Familie und von Kindern, die soziale Sicherung des Wohnens und die Sozialhilfe. Erst dieser Schutz ermöglicht die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in Deutschland.Footnote 37 Im Rahmen der kommunalen Integrationskonzepte werden in Hinblick auf diesen Indikator die Inanspruchnahme von Leistungen aus dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) und XII (SGB XII) betrachtet. Eine Einbürgerung ist für Personen, die SGB II- (Grundsicherung für Arbeitssuchende) und SGB XII-Leistungen (Sozialhilfe) beziehen, nicht möglich, da dies ein Hinweis darauf ist, dass die beziehende Person ihren Lebensunterhalt nicht selbstständig bestreiten kann.Footnote 38 Seit Januar 2020 ist die Eingliederungshilfe durch die Änderung im BundesteilhabegesetzFootnote 39 nicht mehr Teil der Sozialhilfe im SGB XII, sodass Menschen mit Behinderung hier ausgenommen sind.

Integration und Gesundheit hängen insofern zusammen, als dass eine Integration in die gesundheitliche Versorgung erfolgen muss und ein funktionierendes Gesundheitswesen Zugewanderten Zugang zu allen relevanten Leistungen bieten mussFootnote 40. Migration kann sowohl Chancen als auch Belastungen für die Gesundheit bergen. Wenn beispielsweise nach erfolgter Migration die Integration in die Aufnahmegesellschaft nicht oder nicht ausreichend gelingt, kann dies zu Akkulturationsstress führen und die Migration kann als belastend, verunsichernd und krankmachend erlebt werden (Pettrup 2007: 19). Häufig sind die Gesundheitschancen von Migrantinnen und Migranten von sozialer Ungleichheit beeinträchtigt, da präventive Regelangebote der gesetzlichen Krankenversicherung oft für einen bestimmten Kulturkreis und den sozialen Mittelstand konzipiert sind (Pettrup 2007: 19). Vorsorge und Prophylaxe sind in vielen Herkunftsländern nicht von herausragender Bedeutung bzw. oft nicht kulturell mit durch Sozialisation vermittelten Handlungsmustern gesichert (Pettrup 2007: 20). So wird davon ausgegangen, dass ethno-medizinische Hintergründe wie die Nutzung nichtwestlicher traditioneller Medizin ebenso wie die Umstände der Migration einen Einfluss auf die gesundheitliche Situation haben. Als Gesundheit beeinflussende Faktoren gelten unter anderem der erfolgreiche Umgang mit Risiken und Belastungen wie auch körperliche, materielle, psychische, soziale und kulturelle Widerstandsressourcen zur Bewältigung von Spannungszuständen. Wenn individuelle psychosoziale Ressourcen sowie unterstützende Strukturen vorhanden sind, können entsprechende Bewältigungsstrategien erlernt werden. Zu diesen Unterstützungsstrukturen zählen Netzwerke der ethnischen community und intakte Familien, die bei der Bewältigung von Akkulturationsstress helfen können (Pettrup 2007: 20).

2.3.4 Kulturelle Dimension

Die kulturelle Dimension umfasst die Akkulturation der Zugewanderten an die Aufnahmegesellschaft sowie zu einem gewissen Teil die Anpassung der Aufnahmegesellschaft an die neue gesellschaftliche Realität, das heißt an die multikulturelle Vielfalt in der Aufnahmegesellschaft. Neben dem Spracherwerb und der Werteannäherung zählen auch das Medienverhalten der Zugewanderten sowie der Aspekt der Religion zu dieser Dimension (Heckmann 2015: 159).

Die Anpassung der Zugewanderten an die Gepflogenheiten und Praktiken im Alltag der Aufnahmegesellschaft ist insofern für die Integration relevant, als sie ein Leben in der Aufnahmegesellschaft ermöglicht. Ohne Kenntnisse über die alltäglichen Abläufe, den Umgang miteinander und die Möglichkeiten des Zugangs zu bestimmten Positionen bliebe den Zugewanderten eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben der Aufnahmegesellschaft verwehrt. Dies kann sich in einem Rückzug der Zugewanderten von der Aufnahmegesellschaft niederschlagen, was auch als Separation (vgl. Abschnitt 2.2.4) oder Segregation (vgl. Abschnitt 2.2.6) bezeichnet wird, oder in einer Ausgrenzung der Zugewanderten vonseiten der Aufnahmegesellschaft, was auch mit dem Begriff Marginalisierung (vgl. Abschnitt 2.2.4) oder Marginalität (vgl. Abschnitt 2.2.6) ausgedrückt wird.

Der Spracherwerb ist die „zentrale Dimension des funktionalen kulturellen Kompetenzerwerbs“ (Heckmann 2015: 161). Ihm kommt sogar eine Schlüsselfunktion im gesamten sozialen Integrationsprozess zu (Esser 2006: 11). So sind Fertigkeiten in der Sprache des Aufnahmelandes notwendig, um sich im Alltag verständigen und im neuen Lebensumfeld orientieren zu können. Außerdem sind das Absolvieren einer erfolgreichen Schulkarriere sowie der Erhalt entsprechender Bildungsabschlüsse und somit auch der Erfolg auf dem Arbeitsmarkt an sprachliche Kompetenzen geknüpft (Esser 2006: 11, 52). Gerade beim Erwerb von Bildungsqualifikationen und für die Positionierung auf dem Arbeitsmarkt und somit für die strukturelle Dimension, die Esser als Schlüsseldimension betrachtet, ist das Erlernen der Sprache des Aufnahmelandes für Zugewanderte von herausragender Bedeutung (Esser 2006: 53).

In der Forschung wurde festgestellt, dass sich das Vorhandensein einer großen ethnischen Gruppe und ihre Konzentration an einem Ort (vgl. Chiswick und Miller 1996), Vorurteile und Diskriminierung (Portes und Rumbaut 2001: 235) sowie eine linguistische und kulturelle Distanz zwischen den Sprachen und Sprecherinnen und Sprechern (vgl. Chiswick und Miller 2004) negativ auf den Spracherwerb auswirken können. Außerdem wird Sprache als Teil der persönlichen und sozialen Identität angesehen, sodass sie mit der identifikativen Dimension verbunden ist, indem sie „Ausgangspunkt für gelebte Gemeinsamkeiten und für gefühlte Zugehörigkeit sein kann“Footnote 41. Die identifikative Dimension der Sprache deutet darauf hin, dass nicht nur die sprachlichen Fertigkeiten in der Sprache des Aufnahmelandes, sondern auch die Präferenzen für eine Sprache Aussagekraft bezüglich des Integrationsgrades haben. So kann angenommen werden, dass bei einem hohen Integrationsgrad und einem starken Integrationswunsch die Sprache des Aufnahmelandes in vielen Situationen bevorzugt wird, während dies bei geringer oder nicht gewünschter Integration seltener der Fall ist. Hier ist also von Sprachpräferenzen und -kompetenzen (oder Fertigkeiten) als Merkmalsträger für Integration auszugehen.

Kulturelle Integration wird auch als Werteannäherung, also als Anpassung von Werten, Normen und kulturell motivierten Verhaltensweisen in unterschiedlichem Grade an die Mehrheitsbevölkerung verstanden. Wie bereits in Abschnitt 2.2.1 erläutert, orientiert sich diese Anpassung an der freiheitlich-demokratischen Grundordnung sowie an sozialen Normen und Werten. Seit etwa den 1970er Jahren zeigt sich ein Trend des Wertewandels hin zu mehr Pluralisierung und Individualisierung von Werten, Normen, Lebensformen und Lebensstilen, insbesondere innerhalb der westlichen Gesellschaften, aber auch in Japan. In der Integrationsforschung wird erwartet, dass dieser Wertewandel auch unter den Gruppen Zugewanderter stattfindet (Heckmann 2015: 163). Hierbei muss allerdings berücksichtigt werden, dass nicht jede zugewanderte Person große Unterschiede zur Mehrheitsbevölkerung aufweist. Inwieweit sich Tendenzen der Mehrheitsbevölkerung in einer ethnischen Minderheit fortsetzen, hängt auch von der Distanz zwischen diesen beiden Gruppen ab: So können kulturelle Unterschiede zwischen Minderheitengruppe und Mehrheitsgesellschaft in ihrem Ausmaß variieren. Im Fall der japanischen Zugewanderten weisen diese bereits im Bereich der Demographie eine Ähnlichkeit zu deutschen Personen auf. Japan ist ebenfalls wie Deutschland eine alternde Gesellschaft und die Geburtenrate in Japan lag im Jahre 2019 bei 1,36 Kindern pro Frau.Footnote 42 Zum Vergleich betrug die deutsche Geburtenrate 2019 1,53 Kinder pro Frau.Footnote 43 Laut Heckmann (2015: 164) fördert eine geringere kulturelle Distanz Akkulturation, da Lernaufwand und emotionale Barrieren niedriger sind.

Ein weiterer Integrationsindikator im Bereich der kulturellen Dimension ist das Medienverhalten der Migrierten, denn „Art und Intensität der Mediennutzung sind eine alltagskulturelle Praxis, die Ausdruck bestimmter kultureller Orientierungen sind, aber auch diese kulturellen Orientierungen wiederum beeinflussen“ (Heckmann 2015: 165). So zeige die Untersuchung der Mediennutzung von Migrantinnen und Migranten den Stand und die Entwicklung von kulturellen Integrationsprozessen auf. In der Vergangenheit hatte sich in Migrantencommunities eine Eingewandertenpresse herausgebildet; in der heutigen Zeit ist es Zugewanderten durch die Entwicklung der Technik jedoch möglich, von zuhause aus ohne großen Aufwand auf ethnische Medien und entsprechende Inhalte zurückzugreifen. Darüber hinaus werden Medien im Einwanderungsland den kulturellen Bedürfnissen der Zugewanderten angepasst oder neu produziert. Zugewanderte haben die Möglichkeit, ausschließlich die Medien der Aufnahmegesellschaft oder ausschließlich die ethnischen Medien zu konsumieren oder beide Medienwelten zu nutzen (Heckmann 2015: 165–166). Es wird angenommen, dass eine Nutzung der ethnischen Medien Zugewanderte in ein „Medienghetto“ führe und die Integration behindere (vgl. Schneider und Arnold 2006). Geißler (2010: 11; Hervorhebung im Original) führt zur Mediennutzung durch Zugewanderte aus:

Die Nutzung der deutschen Medien ist für Migranten unabdingbar, denn ohne Kenntnisse über die aktuellen Vorgänge in Deutschland und deren Hintergründe ist eine angemessene Wahrnehmung ihrer Teilnahmechancen nicht möglich. Die Ethnomedien stellen eine sinnvolle Ergänzung der deutschen Mainstreammedien dar, denn die deutschen Medien sind angesichts der ethnischen Vielfalt nicht in der Lage, die Bedürfnisse der diversen Migrantengruppen nach einer „Brücke zur Heimat“, nach informativen und emotionalen Kontakten mit ihrer Herkunftskultur und Sprache zu befriedigen. Dazu fehlt den deutschen Medien sowohl der Platz als auch die journalistische Kompetenz. Interkulturell integrativ ist also ein Medien-Mix bei der Nutzung durch Migranten – die komplementäre Nutzung sowohl der deutschen als auch der ethnischen Medien.

Geißler (2005) unterscheidet zwischen drei Formen der medialen Integration von ethnischen Minderheiten: mediale Segregation, assimilativ mediale Integration und interkulturelle mediale Integration. Unter der medialen Segregation versteht er die ausschließliche Nutzung ethnischer Medienangebote und die Entstehung ethnischer Teilöffentlichkeiten, durch die sich Zugewanderte gegenüber der Aufnahmegesellschaft und den Mainstreammedien abschotten. Diese Abschottung wird auch mit dem Begriff „Medienghetto“ bezeichnet. Die assimilative mediale Integration ist nach Geißler das Gegenstück zur medialen Segregation. In diesem Fall existieren keine ethnischen Teilöffentlichkeiten, weil keine ethnischen Medien existieren. Die Zugewanderten bekleiden wichtige Positionen im Mediensystem, vertreten dabei aber keine ethno-spezifischen Interessen, da sie sich soziokulturell angeglichen haben (Geißler 2005: 73). Beide Modelle seien nicht brauchbar, da die mediale Segregation die „erwünschte Integration der ethnischen Minderheiten [verhindert] […] und die assimilative mediale Integration den psychischen Befindlichkeiten und Interessen großer Teile der Migranten [widerspricht], die nicht völlig mit ihrer Herkunftskultur brechen möchten“ (Geißler 2005: 73). Die Lösung sei die interkulturelle mediale Integration. In diesem Modell nutzen die Zugewanderten auch die Medien der Mehrheitsgesellschaft und werden von diesen auch repräsentiert, und zwar mit ihren ethnospezifischen Interessen. Ethnische Medien sind also vorhanden. Die Medien vermitteln, dass Mehrheitsgesellschaft und ethnische Gruppen aufeinander angewiesen sind, verdeutlichen, dass Zuwanderung für die gesellschaftliche Entwicklung notwendig ist, weisen aber gleichzeitig auf die Notwendigkeit einer strukturellen und kulturellen Integration hin. Die ethnischen Medien thematisieren ethnospezifische Interessen und Probleme und bemühen sich um eine diskriminierungsfreie Sprache (Geißler 2005: 74–76).

Ein weiterer Indikator, der im Rahmen der kulturellen Dimension berücksichtigt wird, ist die Religion. Dieser Aspekt ist mit der weltanschaulichen Anpassung sowie mit dem Konzept von kultureller Distanz verknüpft. Während die Assimilation in Bezug auf den Integrationsindikator „Religion“ die Konversion bedeuten würde, ist im Rahmen eines integrationsorientierten Ansatzes davon auszugehen, dass die Zugewanderten ihre Religion beibehalten können. Dies steht auch im Einklang mit dem deutschen Grundgesetz, das Glaubensfreiheit gewährt, solange die religiösen Weltanschauungen mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in Einklang stehen. Dabei stehen sich die Lager der Vertreterinnen und Vertreter der Binnenintegrationsthese und des assimilationstheoretischen Ansatzes in der Frage gegenüber, wie sehr sich die Religionen der Aufnahmegesellschaft und der Zugewanderten unterscheiden dürfen, um die Integration nicht zu behindern. Aus der Perspektive der Binnenintegration wird ein positiver Effekt ethnischer Vergemeinschaftung erwartet und aus der Perspektive des assimilationstheoretischen Ansatzes wird eine Entstehung von Parallelgesellschaften erwartet. Ebenso wie bei der Partizipation in Organisationen und der Mitgliedschaft in Vereinen wird im Falle der Religionsgemeinschaften unter Zugrundelegung des Sozialkapitalansatzes von Robert Putnam (2000) davon ausgegangen, dass die Religionsgemeinschaften gegenseitiges Vertrauen stärken und damit die Grundlage für die Integration in die Aufnahmegesellschaft legen. Anhängerinnen und Anhänger der letzteren Position fürchten, dass soziale Gruppen, die sich nicht an die Werte, Normen und Eigenheiten der Zuwanderungsgesellschaft anpassen, den sozialen Zusammenhalt der politischen Gemeinschaft untergraben könnten. Uneinigkeit herrscht in diesem Zusammenhang auch darüber, inwieweit die steigenden Kontakte zwischen den verschiedenen Gruppen Integrationsprobleme eher lösen oder verschärfen. In Anlehnung an Putnams Sozialkapitalansatz und die Prämisse, dass in jedem Falle gegenseitiges Vertrauen notwendig sei, wird davon ausgegangen, dass es vor allem Freiwilligennetzwerke wie Vereine sind, die dieses Vertrauen stärken und somit eine Grundlage für Integration auch in (religiös) pluralisierten Gesellschaften schaffen (Pickel 2012: 223).

2.3.5 Identifikative Dimension

Die auf die Identität bezogene Integration, im Folgenden identifikative Integration (bei Esser auch emotionale Dimension, vgl. Abschnitt 2.2.1) genannt, bezeichnet die Entwicklung eines persönlichen Zugehörigkeitsgefühls zur Gesellschaft und Kultur, in welche die migrierten Personen eingewandert sind, also eine Identifizierung mit dieser Gesellschaft und Kultur der Aufnahmegesellschaft. Dieses Zugehörigkeitsgefühl ist für Nationalstaaten besonders relevant, um einen Zusammenhalt der Bevölkerung bzw. ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu generieren und so den Staat zu erhalten. Identifikative Integration als Prozess und Zustand ist ein Aspekt der Entwicklung sozialer Identität bei Zugewanderten. Zugewanderte verlagern ihren Lebensmittelpunkt durch die Migration in eine andere Gesellschaft. Dabei bringen sie aufgrund ihrer Sozialisation ihre eigene nationale und/oder ethnische Identität mit. Durch die neuen Einflüsse und Mitgliedschaften in der Aufnahmegesellschaft und den Vergleich mit der neuen Referenzgruppe der „Anderen“, der Mehrheitsgesellschaft, im Aufnahmeland durchlaufen sie einen sozialpsychologischen Vorgang, der zu einer neuen sozialen Identität führen kann (Heckmann 2015: 193–194).

Der Integrationsindikator der subjektiven Zugehörigkeitsgefühle bezieht sich auf die Konstituierung von sozialer Identität. Die subjektiven Zugehörigkeitsgefühle Zugewanderter können sich auf die Herkunftsgesellschaft beziehen und können in diesem Fall im Sinne eines eindimensionalen Konzepts von ethnischer Identität (vgl. Schnell 1990) als ethnische Identität oder auch als ethnische Identifizierung verstanden werden. Beziehen sich die Zugehörigkeitsgefühle der Zugewanderten gleichzeitig sowohl auf die Herkunftsgesellschaft bzw. die ethnische Gemeinschaft im Aufnahmeland (ethnische community) als auch auf die Aufnahmegesellschaft, wird dies als duale Identifizierung bezeichnet. Sollten sich die Zugehörigkeitsgefühle ausschließlich auf die Aufnahmegesellschaft beziehen, liegt eine Assimilation vor, während von einer Marginalität gesprochen wird, wenn sich die Zugewanderten weder der Heimat- noch der Aufnahmegesellschaft zugehörig fühlen (Heckmann 2015: 194–196). Für eine identifikative Integration ist Gegenseitigkeit notwendig: Die Zugewanderten müssen bereit sein, neue Identifikationen und Mitgliedschaften einzugehen, während die Aufnahmegesellschaft willens sein muss, die Migrierten als Mitglieder der Gesellschaft zu akzeptieren.

Einbürgerung wird als „Prozess und Akt des Mitgliedschaftserwerbs in der politisch-rechtlich selbständigen Gebietskörperschaft eines Staates definiert“ (Heckmann 2015: 124). Mit der Einbürgerung geht nicht nur ein rechtlicher Statuswechsel einher, sondern auch ein „soziales Handeln, dessen ‚subjektiver Sinn‘, d. h. dessen Motive, Wahrnehmungen und Handlungsentscheidungen für Integration von Interesse sind“ (Heckmann 2015: 124). Die Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit ist für Integration insofern relevant, als sie die Grundlage für die Partizipation an allen staatsbürgerlichen und politischen Rechten bildet, wodurch sie die vollumfängliche Teilnahme an Politik und Gesellschaft erst ermöglichtFootnote 44. Forscherinnen und Forscher gehen davon aus, dass die Entscheidung, sich einbürgern zu lassen, Ausdruck einer Integrationsbereitschaft und Abschluss einer „gelungenen“ Integration ist (Diehl 2005: 331; Beger 2000: 96).

Mit dem Aspekt der Einbürgerung ist der Indikator der politischen Partizipation verbunden. Auch hier sind die Teilhabechancen relevant. Diese manifestieren sich vor allem in der Repräsentation von Anliegen in der Politik. Politische Partizipation und Mitbestimmung im politischen System sind somit ein „Grundelement des demokratischen Gesellschaftssystems“Footnote 45. Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft erlernen Prozesse politischer Teilhabe im Rahmen ihrer Sozialisation, während Zugewanderte diese im Zuge ihrer Akkulturation erlernen. Kommt es zu einer erfolgreichen gesellschaftlichen Integration, kann sich dies positiv auf das Interesse an politischer Unterstützung und den Wunsch nach politischer Teilhabe vonseiten der Zugewanderten auswirken. Umgekehrt hemmt allerdings mangelnde Integration das Interesse an politischer Unterstützung und mangelnde Integration kann zur Entstehung von Unzufriedenheitsgefühlen führen, die das politische Desinteresse verstärken (Caballero 2009: 73–74). Jedoch ist die „Möglichkeit der politischen Partizipation auf allen Ebenen (Bund, Länder und Kommunen) […] in der Bundesrepublik Deutschland an die vollen Bürgerrechte, und damit an die deutsche Staatsbürgerschaft gebunden“Footnote 46. Wilmes wertet den Ausschluss von Zugewanderten ohne deutsche Staatsangehörigkeit aus dem politischen System sogar als „Demokratiedefizit“Footnote 47, da ohne den Einbezug dieser Personen die bestehenden repräsentativen Institutionen immer weniger die realen Verhältnisse in der Bevölkerung abbilden. Die politischen Partizipationsmöglichkeiten für Drittstaatlerinnen und -staatler, zu denen Japanerinnen und Japaner zählen, sind auf informelle Beteiligungsmöglichkeiten sowie auf Ausländer- und Integrationsbeiräte beschränktFootnote 48.