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Veronika: „Aber auf jeden Fall hat mir Bildung geholfen“

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Religion - Profession - Subjekt(ivierung)

Zusammenfassung

Der erste Kontakt mit Veronika findet Anfang Januar 2020 statt. Sie kontaktiert mich per Telefon und gibt an, über einen Bekannten auf mein Forschungsvorhaben aufmerksam geworden zu sein. Da ich zwei Wochen später aufgrund eines Workshops in der Nähe ihres Wohnortes bin, vereinbaren wir für Ende Januar ein Vorgespräch in M-Stadt.

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Notes

  1. 1.

    Das direkte Zitat habe ich aus meinem Forschungstagebuch (FTB) entnommen. Alle darin festgehaltenen Dokumentationen, Beobachtungen und wörtlichen Zitate entstammen meinem Gedächtnis und sind daher durch meine Wahrnehmung und subjektiven Sichtweisen imprägniert. Alle Daten aus dem FTB, die ich als direkte Zitate kennzeichne, wurden unmittelbar, d. h. nach Möglichkeit direkt im Anschluss einer Interaktion im Tagebuch festgehalten und soweit möglich, wortwörtlich aus der Erinnerung notiert.

  2. 2.

    Da während eines der ersten Interviews, die im Rahmen dieser Studie geführt wurden, einmal ein Aufnahmegerät versagt hatte, kamen bei allen weiteren Interviews zur Sicherheit zwei Geräte zum Einsatz.

  3. 3.

    Diese Dynamik zeigt sich auch bei anderen Interviews. Die Interviewten antworten auf erzählexmanente Fragen eher selten ausführlicher, sondern begeben sich zumeist recht bald in eine Art ‚Frage-Antwort-Spiel‘. Trotz der relativen Offenheit der Fragen werden in diesem Interviewsegment weniger Erzählungen als vielmehr Argumentationen und Beschreibungen hervorgebracht (vgl. auch Kap. 5, Fn. 49).

  4. 4.

    In fachlichen Auseinandersetzungen wird anstelle des Begriffs der ‚Bekehrung‘ auch von ‚Konversion‘ gesprochen. In der Psychologie ist damit im weiten Sinne gemeint, dass sich das Leben eines Menschen, aus welchen Gründen auch immer, in erheblicher Art und Weise ändert, wobei eine Unterscheidung zwischen einer sich plötzlich vollziehenden und einer sich langsam zuspitzenden Bekehrung getroffen wird (vgl. Rohde 2013, S. 173). Aus theologischer Perspektive hingegen ist mit einer Bekehrung, ganz gleich, ob plötzlich geschehen oder langsam vollzogen, „grundsätzlich die radikale Hinkehr eines Menschen zu Gott“ (ebd., S. 174) gemeint. Auf letztere Beschreibung scheint auch Veronikas Beispiel zuzutreffen.

  5. 5.

    „Als Freikirchen werden christliche Kirchen und Gemeinschaften bezeichnet, die in Abgrenzung zu den Staats- bzw. Volkskirchen entstanden sind. Als typische Kennzeichen von Freikirchen gelten: die freiwillige Mitgliedschaft, das Laienengagement, die hohe Verbindlichkeit in Glaubensfragen und in der praktischen Lebensführung sowie eine grundsätzliche ökumenische Offenheit“ (Pöhlmann/Jahn 2015, S. 57).

  6. 6.

    Weshalb Veronika trotz ihres schon immer gehegten Wunsches, einmal Lehrerin zu werden, nach dem Abitur zunächst eine Ausbildung zur Physiotherapeutin anstrebt, bleibt unklar.

  7. 7.

    Weshalb die Biographin auch nach ihrem Masterabschluss noch in einem Masterstudiengang immatrikuliert ist, darauf geht sie im gesamten Interview nicht genauer ein.

  8. 8.

    Bei direkten Zitaten der Interviewten im Text, wird aufgrund der besseren Lesbarkeit auf die Transkriptionsregeln verzichtet.

  9. 9.

    Veronika hat ihm Rahmen ihres Studiums selbst schon Interviews geführt und Fragentechniken und Erzählabläufe sind ihr zumindest nicht fremd.

  10. 10.

    Im Gegensatz zu Annes Fall, in deren Biographie der Herkunftsort einen bedeutenderen Stellwert einnimmt (vgl. Abschn. 6.3).

  11. 11.

    Mit einer ‚Zeltmission‘ ist die Absicht verbunden, möglichst vielen Menschen das Evangelium außerhalb gewöhnlicher Kirchenstrukturen näherzubringen. Hierfür werden an einem bestimmten Ort und für eine gewisse Zeit ein oder mehrere Zelte aufgebaut, in denen für alle zugänglich das Evangelium verkündet wird. Zeltmissionen werden von verschiedenen christlichen Religionsgemeinschaften veranstaltet (vgl. Hall, J. 2008, S. 1834).

  12. 12.

    Veronika kommt zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal auf ihre Beschreibung der ‚alten Männer‘ zu sprechen (vgl. Abschn. 5.4.3 – Von „richtigen Christen“ und „nicht richtige[n]“ Anderen).

  13. 13.

    Inwiefern eine ‚Bekehrung‘ im freikirchlichen Sektor eine Voraussetzung für eine legitime Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft darstellt, kann an dieser Stelle nicht näher diskutiert werden. Eine spannende Frage wäre, ob vor jeder offiziellen Taufe zunächst eine inoffizielle ‚Bekehrung‘ stattgefunden haben sollte. In Veronikas Fall zumindest geht die Konversion der Taufe voraus (vgl. Abschn. 5.2).

  14. 14.

    Erst im erzählimmanenten Nachfrageteil geht Veronika auf die Rolle ihrer Mutter ein, die sie im Gegensatz zu ihrem Vater als verständnisvoll(er) und einfühlsam(er) präsentiert. Im Kontext ihrer Rückkehr aus Mauretanien erzählt die Biographin in Bezug auf ihre Mutter: „Und meine Mama hat dann gesagt: ‚Ja komm auch nach Hause, du musst das nicht durchhalten. Wenn es dir nicht gut geht, komm‘. Und dann hat die mich auch vom Flughafen abgeholt und meine Mama ist immer eine sehr so fürsorgliche Person“ (24/820–823).

  15. 15.

    Es ist aber auch möglich, dass die Enttäuschung über die Reaktion des Vaters so groß war, dass die Erinnerung an tröstende Momente und Verständnisbekundungen – die es vermutlich auch gegeben hat – aus Veronikas heutiger Perspektive von einem Gefühl der Ernüchterung überlagert wird. Darüber hinaus ist möglich, dass Veronika dem Interviewer gegenüber ihre Situation der Präsentationsstruktur gemäß besonders dramatisch darstellen möchte.

  16. 16.

    In Rousseaus (1782–1789/2012) autobiographischem Werk „Die Bekenntnisse“ wird dieses nicht selbst gewählte Schicksal beispielhaft dargestellt. Rousseau schreibt gleich zu Beginn: „Ich kostete meine Mutter das Leben, und meine Geburt war mein erstes Unglück“ (ebd., S. 11). Die Geburt wird für Rousseau rückblickend zu einem Auspizium für spätere, sein ganzes Leben durchziehende Unglückserfahrungen.

  17. 17.

    Mit einer ‚Großfamilie‘ werden in der Soziologie größere verwandtschaftliche Verbindungen über mehrere Generationen hinweg beschrieben. In der Alltagssprache wird der Begriff heute zumeist für eine ‚Kernfamilie‘ mit überdurchschnittlich vielen Kindern angewandt. Unter einer Kernfamilie wird in sozialwissenschaftlichen Kontexten eine Familienkonstellation verstanden, die auf einen Haushalt beschränkt ist und aus den Eltern und einem oder mehreren unmündigen und noch ledigen Kindern besteht. Als Klein- oder Großfamilie organisiert, ist sie in modernen Gesellschaften weitestgehend vom darüber hinaus existierenden Verwandtschaftssystem losgelöst (vgl. Bollmann 2012, S. 15). Dies trifft auf Veronika mit ihren sechs Geschwistern zu. Im öffentlichen und medialen Diskurs werden mit einer Großfamilie zahlreiche Klischees wie Bildungsferne, Migration, Religiosität, Armut, sowie Sippschaft und Clanstrukturen (vgl. auch Kap. 6, Fn. 18) assoziiert. Dies zeigen bspw. verschiedene Zeitungsartikel und Beiträge, die Themen wie „Großfamilien“, „kinderreiche Familien“ und „Kinderreichtum“ behandeln (vgl. exempl. Lehning 2020; Bora/Hinrichs 2019; Mittermeier 2018; Tietgen 2016). Angehörige von Großfamilien im modernen Sinne, deren Kinderzahl von der gewöhnlichen ‚Natalitätsnorm‘ abweicht, können sich aufgrund solcher Vorurteile und Stigmatisierungen mit (intersektioneller) Diskriminierung konfrontiert sehen. Mit ‚Natalitätsnorm‘ ist hier die in einer Gesellschaft offen oder implizit kommunizierte, jedoch immer präskriptiv vorhandene Vorstellung darüber gemeint, wie viele Kinder in einer Kernfamilie nach öffentlicher Meinung als ‚normal‘ gelten. Gerade und vorrangig in sogenannten ‚modernen Gesellschaften‘ können Natalitätsnormen je nach pro- oder antinatalistischen, bio- wie sozialpolitischen Mehrheitsverhältnissen und -meinungen stark variieren. In Deutschland dürfte es in Bezug auf die Frage intersektioneller Diskriminierung einen bedeutenden Unterschied machen, ob eine Person bspw. einer ‚muslimisch‘ markierten und frisch eingewanderten, oder einer schon seit unzähligen Generationen in Deutschland lebenden Großfamilie angehört.

  18. 18.

    Mit Stuart Hall (2004/2018c, S. 145) gesprochen handelt es sich bei ‚Hegemonie‘ um „eine Form von Macht, die auf der Führung einer Gruppe in vielen Handlungsfeldern gleichzeitig beruht, so dass ihre Vormachtstellung über breite Zustimmung verfügt und als natürlich und unvermeidbar erscheint“.

  19. 19.

    Wie Monika Wohlrab-Sahr und Anja Frank (2018, S. 455) darstellen, gehen religiöse Konversionen oftmals mit biographischen Krisen und Brüchen Hand in Hand. Während mit biographischen Krisen einerseits eine Empfänglichkeit für Religion einherginge, würden religiöse Erklärungsmuster biographische Brüche und Krisen mit neuen Bedeutungen versehen. „Religiöse Deutungen machen aus den Krisengeschüttelten ‚Suchende‘ und aus biographischen Krisen ‚Wendepunkte‘“. In Veronikas Erzählungen finden sich allerdings keine genaueren Anhaltspunkte, die auf eine biographische Krise der Eltern schließen lassen.

  20. 20.

    Veronikas Beschreibung der vollumfänglichen Lebensveränderung bezieht sich auf die Mutter, die auch ihr Äußeres nach der Bekehrung verändert zu haben scheint. Inwiefern die Mutter eine radikalere Veränderung als der Vater (der aufhört tanzen zu gehen) vollzogen hat, darauf geht die Biographin nicht genauer ein. Es ist gut möglich, dass die Mutter schon alleine aus geschlechtsspezifischen Gründen im Vergleich zum Vater eine von außen betrachtet größere Veränderung vollzogen hat bzw. vollziehen musste. Die Bezeichnung ‚kompletter Lebenswandel‘ scheint hier aber auf beide Elternteile zuzutreffen.

  21. 21.

    Nach Veronikas Darstellung nimmt der Vater die Mutter in eine Zeltmission mit. Es ist jedoch gut möglich, dass es sich bereits um eine von ihm besuchte und örtlich gebundene Freikirche gehandelt hat, die später dann auch die Kirchengemeinde der Familie geworden ist.

  22. 22.

    Wie Veronika an einer späteren Stelle im erzählimmanenten Nachfrageteil argumentiert, scheint die Mutter sich jedoch überwiegend der Position ihres Mannes untergeordnet zu haben: „[…] meine Mama ist immer eine sehr so fürsorgliche Person, die sich auch sehr von- unter meinen Papa unterordnet und da auch wenig (.) wenig Stirn geboten hat. Mittlerweile schon, aber früher nicht so“ (24/822–825).

  23. 23.

    So erzählt Veronika bspw., Auseinandersetzungen mit ihrem Vater „wütend“ (25/839) ausgetragen oder sich ihnen durch „anlügen“ (18/608) entzogen zu haben.

  24. 24.

    An späterer Stelle berichtet Veronika von einer Zeit, in der sie sich ganz bewusst von ihren Eltern bzw. von ihrem Vater distanziert habe. Sie argumentiert: „Aber eine Zeit lang habe ich mich dann irgendwie ganz von ihnen distanziert, weil wir immer so ganz krasse, also vor allem mein Papa und ich, so ganz krasse Diskussionen hatten, die echt dann irgendwie auch sehr laut wurden und ich dann nachher heulend raus, nach Hause gegangen bin und gemerkt habe: Oh ich will jetzt nichts mehr mit denen zu tun haben und so“ (34/1154–1158).

  25. 25.

    In dieser Tradition kann ‚Leiden‘ im Christentum eine bedeutende Rolle spielen, wie z. B. an der ‚Leidenstheologie‘ der deutschen Mystik oder anderen christlichen Strömungen deutlich wird, in deren Lehre ‚Leiden‘ eine besondere Gewichtung erhält (vgl. Jaspert 2017, S. 75).

  26. 26.

    Im ersten Brief Petrus heißt es bspw.: „Denn dazu seid ihr berufen, da auch Christus gelitten hat für euch und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußstapfen“ (Petr 2,24). Alle aufgeführten Bibelzitate sind der neusten Übersetzung der Lutherbibel (2017) entnommen.

  27. 27.

    Weil sich Veronika selbst als gläubig beschreibt und ihre Eltern auch deshalb wohl kaum von ihrem Glauben an sich abbringen möchte, ist mit der Formulierung, „ich muss die jetzt nicht bekehren vom Nicht-Glauben“ vermutlich gemeint, dass ihre Eltern nicht notwendig ihrer Meinung sein müssen.

  28. 28.

    Nach allgemeinem Verständnis wird ein Mensch im Christentum durch die Taufe Christ und tritt in die Gemeinschaft der Gemeinde ein (vgl. Alles 2008, S. 51).

  29. 29.

    Das Abendmahl wurde in der Geschichte der Freikirchen nicht immer konsequent praktiziert und ist im freikirchlichen Sektor je nach Denomination mehr oder weniger stark Teil der liturgischen Praxis. Wo das Abendmahl fest integriert ist, hat es eine wichtige und vergemeinschaftende Funktion: Das Abendmahl „ist eine Erinnerung an Gottes Handeln in Christus für die Menschheit. […] Es ist eine Erinnerung, die die Macht von Gottes Handeln hier und jetzt vergegenwärtigt, so daß die Glaubenden Gottes versöhnende Liebe neu erleben. Diese Auffassung der Erinnerung schafft Raum für die Betonung der Gegenwart Christi in der versammelten Gemeinde der Gläubigen. […] Wenn sie das Brot und den Wein nehmen, erfahren sie Gemeinschaft mit Christus und untereinander in ihren Herzen. Das A. ist ein Gemeinschaftsmahl im vollsten Stil“ (Halbrooks 2008, S. 39).

  30. 30.

    Damit ist gemeint, dass die Taufe auf Grundlage „einer von einer mündigen Person bewußt geäußerten Entscheidung (‚Pubertätsritus‘) vollzogen“ (Alles 2008, S. 52) wird, wie es im freikirchlichen Bereich verbreitet ist.

  31. 31.

    An späterer Stelle belegt Veronika ihre Erzählung indem sie bspw. beschreibt: „Und da hab ich mich aber immer gefragt: ‚Warum dürfen wir als Frauen nicht beten?‘ Und dann hab ich auch immer gedacht: ‚Oh, ich find das voll doof‘“ (13/446–448); „Also es gab- also Frau- bei Frauen war- Frauen konnten quasi irgendwie in der Gemeinde nur so Rollen übernommen wie so Fürsorgearbeiten, also so sich um die Kinder kümmern, Deko“ (14/458–460).

  32. 32.

    Diskriminierend in dem Sinne, dass sich hier „die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften mit einer Ungleichbehandlung, die auf Grund dieser angenommenen Eigenschaften als sozial erforderlich und erlaubt gilt“ (Hormel/Scherr 2016, S. 304), verknüpft. Als Legitimation und Grundlage dieser geschlechterspezifischen Ungleichbehandlung dienen nach Veronikas Aussage vor allem auch religiös begründete Wissensordnungen (vgl. Abschn. 5.4.3 – „Das wird halt immer mit der Bibel begründet“).

  33. 33.

    Jesus von Nazareth wird im Islam als ein bedeutender Prophet verehrt, gilt jedoch anders als im Christentum nicht als Sohn Gottes. Die christliche Trinität wird im Islam als polytheistisch abgelehnt (vgl. Fröhlich/Stodte 2013, S. 254).

  34. 34.

    Unter ‚kollektiver Identität‘ wird hier, mit Bernhard Giesen und Robert Seyfert (2013, S. 39) gesprochen, „eine gewisse Ähnlichkeit der Angehörigen einer Gemeinschaft im Unterschied zu den Außenstehenden“ verstanden. Ein vergemeinschaftendes Element in Veronikas Gemeinde ist offenbar eine bestimmte gemeindespezifische Bedeutung der Person Jesu. Damit ist nicht gesagt, dass sich die solcherart konstruierte kollektive Identität in der Ikone Jesu erschöpft. Sie bleibt vielmehr „eine unaufhebbar uneindeutige und vage Angelegenheit“ (ebd.).

  35. 35.

    Christlich-europäisch dominierte Erzählungen und Bilder, die ‚den Islam‘ und ‚die Muslime‘ als bedrohlich darstellen, reichen bis ins Mittelalter zurück und sind zu dieser Zeit noch hauptsächlich im Kontext kriegerischer Auseinandersetzungen entstanden, die sich als mehr oder weniger ‚christlich‘ bzw. ‚muslimisch‘ verstehende Herrscher und Allianzen auf relativer ‚Augenhöhe‘ geliefert haben. Eine neue Qualität, in der Muslime im Kontrast zum sich als ‚modern‘ und ‚überlegen‘ verstehenden Europa als rückständige sowie rassisierte ‚Andere‘ markiert werden, erhielt der europäische Diskurs über ‚den Islam‘ im Zuge der Machtverschiebungen des Kolonialismus und insbesondere gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Birgit Schäbler (2016) hat die bis heute nachwirkenden Folgen der im Jahr 1883 stattgefundenen sogenannten ‚ersten Islamdebatte‘ um den französischen Historiker und Orientalist Ernest Renan (1823–1892) in ihrem Buch „Moderne Muslime“ eindrücklich nachgezeichnet.

  36. 36.

    Um Hervorzuheben, dass die Bezeichnungen ‚Weiß‘ und ‚Schwarz‘ keine „Identitätskategorien oder Farben“ (Khakpour et al. 2020, S. 11) darstellen, sondern „den analytischen Blick auf rassisierte Unterscheidungen“ (ebd.) richten, werden beide Begriffe angelehnt an die aktuell gängige Schreibweise (vgl. Hamann 2016; Fischer, F./Čupić 2015) in dieser Studie (auch in adjektivischer Anwendung) großgeschrieben und in einfache Anführungszeichen gesetzt.

  37. 37.

    Der Topos des ‚alten weißen Mannes‘ ist in den vergangenen Jahren in den Medien immer wieder kontrovers diskutiert worden (vgl. Kaube 2019; Raether 2018) und ist im Sinne eines „flottierenden Signifikanten“ (Lévi-Strauss 2010) mittlerweile auch in der Alltagssprache angekommen. Sophie Passmann (2019) hat den ‚alten weißen Männern‘ ein gleichnamiges und nicht nur in feministischen Kreisen beachtetes Buch gewidmet (vgl. Basad 2019; Kerstan 2019).

  38. 38.

    Die Bezeichnung ‚Weiß‘ wird hierbei „nicht als biologischer Begriff verstanden […], sondern als gesellschaftspolitische Bezeichnung für Menschen, die aufgrund ihres Aussehens und ihrer historisch-sozialen Position strukturell privilegiert und machtvolle Subjekte rassistischer Diskurse sind“ (Fischer, F./Čupić 2015, S. 8).

  39. 39.

    Diese Interpretation liegt nahe, weil sich Veronika während ihres Studium intensiv mit Geschlechtersoziologie beschäftigt hat (vgl. Abschn. 5.4.5 – „Man muss es ja auch im Kontext sehen“) und dabei auch auf postkoloniale Theorien gestoßen sein könnte.

  40. 40.

    Zur Verwobenheit von Kolonialismus und (christlicher) Missionierung in (post)kolonisierten Gebieten der Welt vgl. Castro Varela/Dhawan 2020, S. 62–83; Paczensky 1994; Todorov 1985.

  41. 41.

    Während Veronika die Bezeichnung „doof“ für Ereignisse, die ihren Unmut bzw. Ärger hervorrufen, im Laufe des Interviews immer wieder und relativ häufig (17 Mal) benutzt, verweist das Adjektiv „menschengemacht“ in diesem Zusammenhang vermutlich auf eine sozialkonstruktivistische Denkweise, die sie sich als kollektive Wissensordnung erst während ihres Studiums im Kontext der Geschlechtersoziologie angeeignet zu haben scheint (vgl. Abschn. 5.4.5 – Man muss es ja auch im Kontext sehen).

  42. 42.

    Stuart Hall (2004/2018a, S. 169) versteht „Identifikation als Konstruktion, als ein Prozess, der niemals abgeschlossen ist, immer ‚prozesshaft‘ bleibt“.

  43. 43.

    Es wäre an dieser Stelle wohl zu viel, davon zu sprechen, dass Veronika ihre bis dahin eingenommene Subjektposition vollständig verlässt, ist sie doch (noch) nicht von allen Regeln ihrer Familie und Gemeinde unabhängig. Sie befindet sich vielmehr inmitten eines Prozesses der Loslösung. In Bezug auf den Prozess der Identifikation weist Hall (2004/2018a, S. 169) passend darauf hin: „Identifikation ist nicht determiniert in dem Sinn, dass sie ‚gewonnen‘ oder ‚verloren‘, festgehalten oder verlassen werden kann. Wenn auch nicht ohne determinierende Existenzbedingungen, einschließlich der materiellen und symbolischen Ressourcen, die dafür notwendig sind, ist Identifikation letztlich kontextabhängig, verankert in Kontingenz“.

  44. 44.

    „Identitäten sind Positionen, die das Subjekt ergreifen muss“ (Hall 2004/2018a, S. 173).

  45. 45.

    Dies zeigt sich bspw. daran, dass Veronika versucht hat, ihre Eltern davon zu überzeugen, dass die Art und Weise, wie sie glauben, „nicht gut ist“ (vgl. Abschn. 5.4.2 – Veronika macht heute ihr „Ding“), wie sie über die „alten weißen Männer“ ihrer Gemeinde spricht (vgl. Abschn. 5.4.4 – Von „richtigen Christen“ und „nicht richtige[n]“ Anderen) und dass sie das unproblematische Verhältnis ihrer Schwester Rachel gegenüber der Gemeinde zu irritieren scheint (vgl. Abschn. 5.4.2 – Veronikas Beziehung zu Rachel): „Identifikation ruft immer dieses Paradox hervor. Es ist von grausamer Ironie, dass man bei dem Versuch, sich anders zu positionieren, als man geprägt wurde, unbewusst dazu verdammt ist, Elemente des alten Selbst zu wiederholen, welches man überwinden will“ (Hall 2020, S. 37).

  46. 46.

    Veronika beschreibt an einer Stelle: „Also ich glaube, dadurch dass ich (.) durch diese Theorien und durch diese- auch meine Kommilitoninnen und so und die Gespräche gemerkt habe, dass (2) dass ich halt mehr Freiheiten haben kann, weil ich alles nicht mehr so streng denken muss. So und auch irgendwie mal nicht sonntags in den Gottesdienst zu gehen oder so, ne? War irgendwie toll“ (32–33/1108–1111).

  47. 47.

    Für diese Interpretation spricht auch, was Veronika gegen Ende des erzählimmanenten Nachfrageteils in Bezug auf ihr verändertes Bild über Muslime sagt: „Und das fand ich eigentlich ganz interessant, weil (.) es war ja irgendwie immer so, dass Moslems nicht- also, dass es nicht richtig ist und die sind ja alle so strikt und so. Und die unterdrücken ja alle ihre Frauen. (3) Und das und wenn wir dann [im Studium; Anm. B.R.-K.] auch irgendwie so verschiedene Studien dazu gelesen haben, auch irgendwie über Erziehungshandeln und so, war das halt gar nicht mehr so schwarz und weiß. Also irgendwie (2) hat das ja nicht unbedingt was mit der Religion zu tun, sondern mit- eher mit dem Milieu. Und das ist mir dann- und das ist mir dann eher klar geworden auch, als ich dann Bourdieu gelesen hab und was verstanden habe irgendwie. Dass das nicht unbedingt immer so mit der Religion zusammenhängt oder mit der Kultur“ (31–32/1073–1081).

  48. 48.

    Während des Interviews beschreibt die Biographin eine Situation, in der eine Frau aufgrund außerehelichen Geschlechtsverkehrs „aus der Gemeinde ausgestoßen“ (22/764) wird.

  49. 49.

    Es handelt sich bei den Ausführungen im erzählexmanenten Nachfrageteil nicht um ‚biographische Großerzählungen‘ (vgl. Fischer 2017, S. 144) im klassischen Sinne, sondern eher um „Small Stories“ (Bamberg 2007), d. h. kürzere bzw. kleinere Erzählungen, die eine deutlich erkennbarere, strengere aktualsprachliche und situationsbezogene Strukturiertheit aufweisen (vgl. Fischer 2017, S. 144). Bamberg (2007, S. 166 f.) schreibt in Bezug auf ‚Small Stories‘: „However, if we take narrating as an activity that takes place between people […], we are more strongly focusing on the present of ‘the telling moment’. This is the moment of narrating as a reaction to the immediate preceding past of the interaction, and at the same time forwardly oriented because it anticipates a response from the audience“. Ein Kritikpunkt, die hier produzierten Erzählungen an Bamberg angelehnt als ‚Small Stories‘ zu bezeichnen, könnte sich an der Frage entzünden, inwiefern die Interviewten aufgrund des bisherigen Interviewverlaufs, bei dem sich der Interviewer als sehr zurückhaltend präsentiert hat, jetzt, d. h. im erzählexmanenten Teil, überhaupt eine beachtenswerte Reaktion bzw. Antwort des Interviewers antizipieren. Die Interaktion bleibt im Sinne eines Frage-Antwort-Spiels auf den ersten Blick ja allemal vergleichsweise einseitig und auch die Asymmetrie zwischen Interviewten und Interviewer besteht nach wie vor. Die Dynamik, die sich in diesem Spiel des Fragens und Antwortens entwickelt, weißt jedoch klar erkennbare interaktive Momente auf, die offenbar dazu beitragen, die Struktur des bisherigen auf biographische Großerzählungen ausgerichteten Interviewverlaufs aufzubrechen und Raum für neue Aushandlungsprozesse und die Interviewasymmetrie aufweichende Effekte zu schaffen. So fällt das Gesagte bspw. deutlich kürzer aus und Argumentieren wird zur dominantesten Textsorte (vgl. jeweils Abschn. 5.5; Abschn. 6.5; Abschn. 7.5).

  50. 50.

    Der erzählexmanente Nachfrageteil wird in Veronikas Fall mit den Worten eingeleitet: „Ich hab jetzt noch Fragen, die spezifischer auf mein Vorhaben zugeschnitten sind. Die würde ich dir jetzt auch noch stellen. Da geht's vor allem auch um die Frage, also im Studium, inwieweit dir religiöse Vielfalt im Studium begegnet ist? Und auch was deine Erfahrungen sind, generell in deinem Leben zu religiöser Vielfalt, also auch mit anderen Religionen“ (36/1240–1244).

  51. 51.

    Inwiefern Religion und Pädagogik, sofern sie nicht auf abstrakte analytische Kategorien heruntergebrochen werden, in ihrer Gesamtheit überhaupt voneinander zu trennen sind und ob Religion ohne Pädagogik bzw. Pädagogik ohne Religion allgemein denkbar ist, bleibt eine spannende Frage (vgl. exempl. Oelkers/Osterwalder/Tenorth 2003; Prange 1996; Nipkow 1992; Oelkers 1990).

  52. 52.

    Werden die von der Biographin genannten Phänomene und Personen mit dem Zusatz Religion bei einer einschlägigen Suchmaschine im Internet eingegeben, so erscheinen zahlreiche Artikel, Beiträge und Verknüpfungen, die schon aufgrund ihrer bloßen Menge erste Mutmaßungen über die Existenz entsprechender Diskurse zulassen.

  53. 53.

    Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Debatte im Jahr 2010, als der damalige Bundespräsident Christian Wulff anlässlich seiner Rede „Vielfalt schätzen – Zusammenhalt fördern“ zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit betonte, dass der Islam mittlerweile auch zu Deutschland gehöre (vgl. Wulff 2010).

  54. 54.

    Was Veronika als Kind und junge Frau in ihrer Kirchengemeinde erfährt, kann mit Miranda Fricker (2023, S. 30) als „hermeneutische Ungerechtigkeit“ gelesen werden.

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Rensch-Kruse, B. (2024). Veronika: „Aber auf jeden Fall hat mir Bildung geholfen“. In: Religion - Profession - Subjekt(ivierung). Subjektivierung und Gesellschaft/Studies in Subjectivation. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-43875-3_5

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