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Religion, Profession und Subjekt im erziehungswissenschaftlichen Diskurs

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Religion - Profession - Subjekt(ivierung)

Zusammenfassung

Die Erziehungswissenschaft kann ganz grob gefasst als eine Disziplin verstanden werden, die auf der Grundlage verschiedenster sozialwissenschaftlicher Methoden vergangene und aktuelle Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsverhältnisse in unterschiedlichen pädagogischen Bereichen sowohl auf individueller, institutioneller als auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene untersucht, beschreibt und dokumentiert. Sie steht mit Isabell Diehm und Frank-Olaf Radtke (1999, S. 14) gesprochen „für eine disziplinäre Form der Beobachtung, Beschreibung, Beurteilung sowie Kritik der ‚Pädagogiken‘, der vorfindbaren (diskursiven) Praktiken und der Abschätzung ihrer Wirkung“. Neben forschenden, d. h. wissensgenerierenden Aktivitäten ist die erziehungswissenschaftliche Praxis auf die Bereiche Beratung und Entwicklung sowie auf die Ausbildung von Pädagog:innen und Nachwuchswissenschaftler:innen spezialisiert.

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Notes

  1. 1.

    Unter einer „Disziplin“ kann mit Rudolf Stichweh (1993, S. 241) „eine Forschungsgemeinschaft und ein Kommunikationszusammenhang von Wissenschaftlern und Gelehrten“ verstanden werden, „der durch gemeinsame Problemstellungen und Forschungsmethoden und nicht zuletzt durch die Entstehung effektiver Mechanismen disziplinärer Kommunikation zusammengehalten wird“.

  2. 2.

    ‚Schlaglichter‘ heben einen Gegenstand hervor, indem er heller angestrahlt wird als andere. Damit ist hier dem Wortsinn nach gemeint, dass einzelne Punkte aus der aktuellen Fachdiskussion eingehender beleuchtet werden, die, um im Bild zu bleiben, aufgrund ihres gegenwärtigen disziplininternen Aufleuchtens deutlich(er) ins Auge springen als andere. Das bedeutet, dass es in der Diskussion des aktuellen Forschungsstandes nicht um Vollständigkeit gehen kann, weil sich dieser permanent weiterentwickelt und eine erschöpfende Darstellung – zumal in der vorliegenden Arbeit und ihren begrifflichen Schwerpunkten – schon deshalb nicht möglich ist. Es handelt sich daher um ein selektives, d. h. an der Forschungsfrage orientiertes Schlaglichtwerfen, das an theoretischer wie method(olog)ischer Plausibilität interessiert ist.

  3. 3.

    Dies ist jedoch kein Proprium der Erziehungswissenschaft im Besonderen, sondern der „empirischen Sozialwissenschaft“ im Allgemeinen, denn von ihr „erhofft man sich klare Fakten über innerseelische und zwischenmenschliche Beziehungen. Weil aber die Beziehung zu einer übermenschlichen, göttlichen Wirklichkeit höchst spekulativ erscheint, wird religiösen Fragen nach wie vor häufig ausgewichen – besonders im vernunftbetonten Deutschland“ (Utsch 2006, S. 298).

  4. 4.

    Isabell Diehm (2017, S. 22) stellt hierzu fest, dass die Relevanz „der Kategorie ‚Religion‘ im Kontext von Migration […] im Rahmen erziehungswissenschaftlicher (empirischer) Forschung aktuell nicht mehr zu übersehen“ sei.

  5. 5.

    Paul Mecheril (2016, S. 15; Herv. i. O.) bezieht Religion explizit in den von ihm geprägten Neologismus „natio-ethno-kulturell“ ein, der u. a. darauf verweist, „dass die Konzepte von Nation, Ethnie/Ethnizität (und Rassekonstruktionen) sowie Kultur (und Religion) in Wissenschaft und Alltagsverständnissen oftmals diffus und zum Teil in unklarer Abgrenzung voneinander Gebrauch finden“. Obgleich Mecheril Religion zusammen mit Thomas-Olalde (2011, S. 36) an anderer Stelle als ein „Schlüsselthema“ politischer, medialer und wissenschaftlicher Diskurse um Migration ausgemacht hat und die immense Bedeutung des Religiösen für „Subjektivierungsdimensionen in gegenwärtigen Gesellschaften“ (ebd.) herausstellt, wird Religion in seiner Definition dennoch ‚nur‘ additiv und in Klammern gesetzt aufgeführt (vgl. Mecheril 2016, S. 15). In Mecherils theoretischem Konzept, das auf die Uneindeutigkeit(en), Interdependenz(en) und Konstruktion(en) migrationsgesellschaftlicher Zugehörigkeitsverhältnisse verweist, resp. diese aus einer bestimmten Perspektive zu untersuchen erlaubt, wird die Bedeutung von Religion damit durchaus herausgestellt. Um den im empirischen Material eindeutig identifizierbaren Kategorien gerecht(er) zu werden, könnte es für die Analyse von Zugehörigkeitskonstellationen – je nach Kontext und Gewichtung – jedoch angebracht sein, die jeweils im empirischen Material auffindbaren Differenzkonstruktionen und Zugehörigkeitsverhältnisse (variabel) aufzuführen. So ließe sich bspw. schärfer von ‚natio-religio-kultureller‘ Zugehörigkeit sprechen, wenn Religion als relevante Kategorie, bspw. im Kontext von ‚Nation‘ und ‚Kultur‘, zentral gesetzt wird (vgl. exempl. Abschn. 7.4.2 – Familie). Religion würde dann nicht mehr als eine den anderen Kategorien subordiniert bzw. mitgedacht erscheinende, sondern als eine gleichwertige, wenn freilich auch „interdependente Kategorie“ (Walgenbach 2012; vgl. auch Diehm/Rensch/Stošić 2022; Hummrich 2009, S. 241) in den Blick geraten.

  6. 6.

    Schweitzer (2003, S. 173) geht sogar so weit zu behaupten, dass „die gesellschaftliche Relevanz der Erziehungswissenschaft in der Gegenwart“ davon abhängig sei, „wie sie sich mit Religion als Gegenstand produktiv auseinander zu setzen vermag“.

  7. 7.

    Yasemin Karakaşoğlu bspw. greift in ihrer Studie zu religiösen „Orientierungen bei türkischen Lehramts- und Pädagogik-Studentinnen“ auf die „Dimensionen der Religiosität“ des Soziologen Charles Y. Glock (1969) zurück, weil diese ihr als „heuristisches Analyseinstrument“ für die eigene Untersuchung dienen (vgl. Karakaşoğlu-Aydın 2000, S. 123–126).

  8. 8.

    Der Begriff ‚Religion‘ ist ein christlich-europäisches Konstrukt, dessen Anwendung in außereuropäischen bzw. nicht christlichen Kontexten problematisch ist, da dort mitunter keine vergleichbaren Begriffe für die Beschreibung analoger Phänomene existieren, und so die Gefahr einer die Phänomene reduzierenden christlich-eurozentrischen Vereinnahmung besteht (vgl. Daniel 2016, S. 152 ff.; vgl. auch Chidester 2014; Fitzgerald 2000).

  9. 9.

    Die europäische Geschichte des Religionsbegriffes kann mit Jens Schlieter (2010, S. 13; Herv. i. O.) in aller Kürze so erzählt werden: „Die Bezeichnung ‚Religion‘ beginnt mit der Vorstellung von einer regelgemäßen Kultpraxis der Götterverehrung, nimmt weiter die Bestimmung des wahren Gottesglaubens an und spaltet sich gleichzeitig in Vorstellungen von wahrer und falscher Religion, wird dann in Klöstern mit moralischen Vorstellungen der richtigen Lebensführung des Ordens angereichert, um sich schließlich in der Reformation zur tiefsten Innerlichkeit des gottgläubigen Menschen zu wandeln, bis schlussendlich über die Kritik von Religion überhaupt und die Idee einer aufgeklärten Vernunft-Religion der Plural ‚Religionen‘ geläufig wird“.

  10. 10.

    Je nach theoretischer Position des Ansatzes wird der „Kommunikationsbegriff“, wie bspw. bei Helmut Schelsky und Thomas Luckmann, an das konkrete Handeln von Menschen gebunden, oder aber wie bei Niklas Luhmann, jenseits subjektbezogener Fragen behandelt (vgl. Firsching 1998, S. 235 ff.). „Welche theoretische Position man auch beziehen mag: Der Begriff ‘Kommunikationʼ scheint ein Potential und eine gewisse Adäquatheit zu besitzen, den Umgang mit dem Unabgeschlossenen und vielleicht Unabschließbaren, dem Fließenden und sich stets Verändernden, dem Unsicheren und Prekären, dem Perspektivischen und Reflexiven, dem Nicht-Identischen und Antagonistischen gerade in der ‘Moderneʼ (oder bei manchen schon: ‘Postmoderneʼ) zum Ausdruck zu bringen, scheint gerade darin seinen Realitätsbezug, seine Bezüge zur sozialen Wirklichkeit selbst zu haben – wobei die Wurzeln dieser Problematiken einmal primär im Bewußtsein des ‘modernenʼ Menschen und seiner privatisierten ‘Subjektivitätʼ (etwa: Schelsky; Luckmann), ein andermal zuerst in den ‘modernenʼ sozialen Prozessen, dann aber prinzipiell im sozialen Prozessieren selbst verortet werden (so Luhmann)“ (ebd., S. 238).

  11. 11.

    Mit Luhmann (2000, S. 77) kann Kommunikation immer dann als religiös gelten, „wenn sie Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrachtet“.

  12. 12.

    Das bedeutet jedoch nicht, dass Individualisierung bzw. Singularisierung per se zu einer Auflösung bzw. Destabilisierung von Gemeinschaften und Institutionen führen und soziale Kollektive ihren Einfluss auf die Lebensführung einzelner verlieren würden. Wie Reckwitz (2018, S. 10) beschreibt, „verbreiten sich vielerorts neue religiöse, auch fundamentalistische Gemeinschaften, vor allem im Christentum und im Islam, die jenseits der Amtskirchen“ eine besondere Stellung für sich reklamieren. Mit Singularisierungsprozessen können genauso gut neue Bedürfnisse nach sinnstiftender institutioneller Gebundenheit und Vergemeinschaftung einhergehen (vgl. Reckwitz 2019a, S. 42–47.).

  13. 13.

    „Die umfassende Privatisierung des Lebens außerhalb institutionell eng definierter Handlungsbereiche ist eine für die Sinnhaftigkeit des Einzeldaseins besonders bedeutsame Folge des hohen Grades der funktionalen Differenzierung der Sozialstruktur in den modernen Gesellschaften. Ihr Kernstück ist die Privatisierung der Religion“ (Luckmann 1996, S. 25).

  14. 14.

    Franz Hamburger (2018, S. 57) spitzt diese Entwicklung in der Aussage zu: „Der Islam ist für die ‚westliche‘ Welt zur zentralen Bedrohung geworden“.

  15. 15.

    Pädagogische Berufe weisen strukturelle Unterschiede u. a. in Bezug auf pädagogisches Wissen und Handeln auf, so dass es verschiedene Auffassungen darüber gibt, inwieweit sich schulische und außerschulische Berufsfelder mehr oder weniger unter die Kategorie ‚Profession‘ subsumieren lassen. Insbesondere für den Lehrer:innenberuf (vgl. Helsper 2016a; Radtke 2000; Reh 2004; Tenorth 2006; Terhart 2011), aber auch für die Erwachsenenbildung (vgl. Gieseke, W. 1996; Nittel 2000) und die Soziale Arbeit (vgl. Schütze 1992) findet sich hierzu einschlägige Literatur.

  16. 16.

    Mit Helsper (2014, S. 218) „lassen sich Professionalisierung, Professionalisierungsbedürftigkeit und Deprofessionalisierung“ im Anschluss an Oevermann wie folgt bestimmen: „Professionalisiert sind Berufe, die dem Typus stellvertretender Krisenlösung entsprechen und durch die skizzierten Strukturmerkmale gekennzeichnet sind. Deprofessionalisierung setzt ein, wenn derartige Berufe durch Außensteuerung und Kontrolle in ihrer Eigenstruktur bedroht werden. Professionalisierungsbedürftig sind Berufe, wenn sie dem Typus der stellvertretenden Krisenlösung entsprechen (z. B. Erzieher in der Elementarpädagogik), aber die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für professionelles Handeln nicht gegeben sind“. Letzteres gilt laut Oevermann für den Lehrer:innenberuf.

  17. 17.

    „Antinomien“ sind mit den Worten Helspers (2004b, S. 61) „auf der Ebene einer idealtypischen Rekonstruktion des Lehrerhandelns angesiedelt, wo sie Gegensatzpaare bzw. idealtypische, einander widersprechende Anforderungen darstellen, die gleichermaßen relevant sind und Anspruch auf Gültigkeit erheben können“.

  18. 18.

    Das Verhältnis von struktur- und kompetenztheoretischen Ansätzen kann als spannungsgeladen beschrieben werden. Obwohl beiden Ansätzen mitunter bescheinigt wird, dass sie sich in „praktisch nicht berührenden Bahnen“ (Baumert/Kunter 2006, S. 469) bewegen, hat zwischen prominenten Verterter:innen beider Ansätze eine zum Teil scharf geführte „Kontroverse über die ‚Richtigkeit‘ der grundlagentheoretischen Prämissen“ (Tillmann 2014. S. 315) stattgefunden (vgl. Baumert/Kunter 2006; Helsper 2007), die mit Klaus-Jürgen Tillmann (2014, S. 315) „auch als Konkurrenzkampf um den Einfluss auf die weitere Lehrerforschung und Lehrerbildung“ gedeutet werden kann. Bis auf wenige Ausnahmen (vgl. exempl. Hörnlein 2020; Combe/Paseka 2012) gibt es bis heute – trotz verschiedener Anknüpfungspunkte (vgl. Helsper 2007, S. 576) – keine ernsthaften Versuche, die Potenziale beider Ansätze füreinander fruchtbar zu machen.

  19. 19.

    Professionalisierung als biographische Phase der Aneignung eines bestimmten professionsspezifischen Wissens sowie des Erwerbs berufsbezogener Fertigkeiten lässt sich auch in drei aufeinander aufbauende und ergänzende Stadien differenzieren. Unterscheiden lassen sich dann das Studium als erste Phase der Lehrer:innenausbildung, als zweite Phase die Berufspraxis und als dritte Phase Fort- und Weiterbildungen (vgl. Dittrich 2020, S. 52 f.).

  20. 20.

    Da der Wissensbegriff, zumal im Horizont des Diskurses um die sogenannte „Wissensgesellschaft“ (vgl. Höhne 2009), äußerst diffizil ist und zahlreiche „Untiefen markiert“ (Kokemohr 2005, S. 108), soll hier nur insofern auf Wissenskonzepte eingegangen werden, als sie zum besseren Verständnis dieser ersten Phase der Professionalisierung beitragen.

  21. 21.

    Rainer Kokemohr (2005, S. 109) beschreibt „universitäres Studieren“ als einen „Prozess, in dem nahe gebrachte Wissensaussagen, um produktiv zu werden, nicht einfach rezeptiv erworben werden können, sondern in der Konkurrenz der Deutungskontexte kritisch rekonstruiert, modifiziert oder transformiert werden müssen“.

  22. 22.

    „Auch wenn Studienprogramme […] mitunter den Eindruck erwecken, es gäbe klar abgesteckte Wissensbereiche, so verhält es sich doch eher so, dass das Studium ein sehr individueller Arbeitsprozess ist, in dem die Studierenden ihre Auseinandersetzung mit den Gegenständen selbst gestalten und verantworten müssen. Die gesamte Arbeits- und Zeitplanung vollzieht sich in Eigenverantwortung, ebenso wie die Schwerpunkt- und Themensetzungen“ (Thompson 2020, S. 11).

  23. 23.

    Hierauf machen auch Mecheril und Klingler (2010, S. 85) aufmerksam, die den Ort der Universität als einen „Aufklärungsort“ verstehen, „an dem in Praxen der Infragestellung Bildungsprozesse“, d. h. „‚irgendwie sinnvollere‘ Welt- und Selbstverhältnisse, für diejenigen möglich“ seien, „die diese Praxen der Infragestellung betreiben oder an ihnen hörend, lesend und sprechend“ teilhätten.

  24. 24.

    Neben dem berufsbiographischen Ansatz bietet auch das überaus vielschichtige Konzept der ‚Bildungsbiographie‘ Anknüpfungspunkte an die Frage, wie Professionalisierung und Biographie miteinander verwoben sind (vgl. exempl. Ruokonen-Engler 2018; Diehm/Rensch/Stošić 2022).

  25. 25.

    Genannt seien hier z. B. die Texte „Erziehung nach Auschwitz“ und „Erziehung zur Mündigkeit“ von Theodor W. Adorno, die als Standardtexte der Erziehungswissenschaft vorausgesetzt werden können. Adorno (1966/1971, S. 93) hat mit Blick auf das dialektische Wesen der Aufklärung trotz seines tendenziellen Pessimismus daran festgehalten, dass „Autonomie“, d. h. „die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen“, das einzige Mittel „gegen das Prinzip von Auschwitz“ sei.

  26. 26.

    Für eine ausführliche Darstellung der wandlungsreichen (Ideen-)Geschichte des Subjekts vgl. Beer 2014.

  27. 27.

    Wie Reichertz (2010, S. 36) am Beispiel der homerischen Epen aufzeigt, entsteht bereits im antiken Griechenland „die Vorstellung eines geistigen rationalen Selbst, das in der Lage ist, den auch unwilligen Körper zu binden und zu bändigen“ (vgl. auch Horkheimer/Adorno 1969/2012, S. 50–87).

  28. 28.

    Dem klassischen Bildungsverständnis folgend wird ‚Bildung‘ mit Klafki (2007, S. 19) verstanden als die „Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung, die die Emanzipation von Fremdbestimmung voraussetzt oder einschließt, als Befähigung zur Autonomie, zur Freiheit eigenen Denkens und eigener moralischer Entscheidungen“.

  29. 29.

    Dieses Verständnis formulierte Friedrich Schleiermacher 1826 in seiner Vorlesung über Pädagogik wie folgt: „Der Mensch ist ein Wesen, welches den hinreichenden Grund seiner Entwicklung vom Anfange des Lebens an bis zum Punkt der Vollendung in sich selbst trägt“ (Schleiermacher 1826/2000, S. 10).

  30. 30.

    „Mit dem Tod Gottes im westlichen Kulturraum ist die Möglichkeit, sein Handeln frei zu gestalten, lange Zeit auf den Menschen übergegangen. Als Erben Gottes sind es vor allem oder besser: ausschließlich die menschlichen Akteure, die, glaubt man den Verheißungen der Aufklärung, bestimmen, welchen Weg ihre Lebensbahn nehmen soll“ (Reichertz 2010, S. 32; Herv. i. O.).

  31. 31.

    Hierauf verweist auch Adorno (1959/1979, S. 104), wenn er die „Idee der Bildung“ als in sich widersprüchlich beschreibt. Zwar habe sie als ihre Grundlage Freiheit und Autonomie, jedoch verweise sie zugleich auf eine jedem einzelnen Subjekt vorgegebene, heteronome Ordnung, an der allein es in der Lage sei, sich zu bilden (vgl. ebd).

  32. 32.

    In seiner berühmten Sentenz bringt Marx (1859/2008, S. 249) die Kritik an der klassischen Subjektphilosophie folgendermaßen auf den Punkt: „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt“.

  33. 33.

    Weder die Erziehungswissenschaft noch die Pädagogik können auf die Idee des autonomen Subjekts verzichten, sofern sie nicht selbst an ihren Grundfesten rütteln möchten. In Wimmers (2019, S. 44 f.; Herv. i. O.) Worten ist „dieses Konzept […] der Grund der Pädagogik der Moderne, ihr Zentrum, weil damit 1. ihr Ziel des gebildeten, aufgeklärten, mündigen Bürgers bestimmt wird, aber auch 2. ihr Problem einer Hervorbringung eines freien, moralischen Vernunftsubjekts. Zum 3. gründet darin aber auch ihre eigene Bedingung der Möglichkeit, nämlich die Voraussetzung eines selbsttransparenten Erziehersubjekts und damit 4. auch die Möglichkeit einer pädagogischen Handlungstheorie“.

  34. 34.

    Zum einen hat sich der u. a. auf Foucault zurückgeführte, aber tatsächlich von Jacques Lacan so formulierte „Tod des Subjekts“ (vgl. Keller 2012, S. 75; Fn. 9) bis heute nicht bewahrheitet, denn an den Meeresufern der Welt gibt es bekanntlich immer noch Menschen, die Gesichter in den Sand malen (vgl. Foucault 1966/1974, S. 462). Es ging Foucault aber auch gar nicht um die Extinktion des Subjekts, das laut Hannelore Bublitz (2014, S. 293; Herv. i. O.) „das Thema“ seiner „machthistorischen Analysen gewesen“ sei, sondern um die Zurückweisung dessen vorausgesetzter Autonomie und Souveränität. Die Metapher vom verschwindenden Gesicht im Sand steht hiernach nicht für den Menschen insgesamt, sondern für eine historische Formation, die ihn auf eine bestimmte Weise konstruiert und voranstellt. Foucault (1973/1981, S. 23) stellte in Bezug auf die Geschichtsschreibung fest, dass in ihr das Bestreben am Wirken sei, eine kontinuierliche Geschichte ohne Brüche zu zeichnen und so die Souveränität des Subjekts gegen alle Dezentrierungsbedrohungen aufrecht zu erhalten: „Die kontinuierliche Geschichte ist das unerläßliche Korrelat für die Stifterfunktion des Subjekts“. Mit Martin Saar (2013, S. 21) gesprochen kann die provokante Rede vom „Tod des Subjekts“ auch „als das Projekt einer anti-subjektphilosophischen Revision des Subjektbegriffs“ gelesen werden. Darüber hinaus wurde insbesondere in Bezug auf den Subjektbegriff relativ schnell darauf verwiesen, dass auch poststrukturalistische Ansätze darauf angewiesen seien, von einem „rationalen, auf Diskursivität angelegten Kern der Subjektivität“ auszugehen, weil „auch sie ihre Diagnosen mit einem argumentativen Gestus“ (Hopfner 1999, S. 11) vortrügen, womit deutlich werde, dass das „Problem menschlicher Subjektivität“ (ebd., S. 12) nicht zu hintergehen sei. Zum anderen und damit zusammenhängend wird, worauf Ehrenspeck (2001, S. 30) hinweist, poststrukturalistisches Denken zudem „über den selektiven Blick der Erziehungswissenschaft modifiziert und nicht selten entradikalisiert oder in argumentative Kontexte gestellt, die mit poststrukturalistischem Denken nicht kompatibel sind, wie etwa eine in der Pädagogik nach wie vor aufzufindende Orientierung an einem bewusstseinsphilosophisch orientierten Subjektbegriff“. Mit der Dynamisierung und Verzerrung poststrukturalistischer Theorien wird in diesem Sinne zugleich auch deren potenzielle Sprengkraft abgeschwächt.

  35. 35.

    Während außer Frage steht, wie fruchtbar eine Neujustierung und Reformulierung grundlegender Konzepte der Erziehungswissenschaft sind, zumal aufgrund aktueller Entwicklungen, so steht mit Blick auf den Begründungsversuch einer ‚poststrukturalistischen Erziehungswissenschaft‘ die Frage im Raum, ob es eine solche überhaupt geben kann. Poststrukturalistische Ansätze haben eine disziplinenübergreifende Entstehungsgeschichte und ihre Theoriekonzepte, Analyseperspektiven und Denkweisen können vielfältig angewandt werden. Nicht zuletzt darin besteht ihre Anziehungskraft und Stärke. Erziehungswissenschaftliche Fragestellungen, die auf poststrukturalistische Konzepte zurückgreifen, müssen auf deren Grundlagen zurückkommen und sie auf ihren jeweiligen Gegenstand bezogen, d. h. auf eine heuristische Weise, mehr oder weniger ‚radikal‘, anwenden. Im foucaultschen Sinne wird den Konzepten dadurch immer auch ‚Gewalt‘ angetan. Es ist daher fraglich, ab wann und unter welchen Bedingungen von einer ‚poststrukturalistischen Erziehungswissenschaft‘ die Rede sein kann, ohne eine zu hohe Messlatte anzusetzen, und ohne selbst in einen Modus zu geraten, der Heterogenität, Kontingenz und Offenheit, d. h. das poststrukturalistische „Denken der Differenz“ (Ehrenspeck 2001, S. 26; Herv. i. O.) selbst, ausschließt. So könnte bspw. von einer poststrukturalistisch revidierten oder je nach Kontext auch abgeschwächter von einer poststrukturalistisch informierten Erziehungswissenschaft die Rede sein, ohne sich dabei auf bestimmte, in jedem Fall einzuhaltende Grundvoraussetzungen festlegen zu müssen.

  36. 36.

    Frank (2015, S. 32) weist darauf hin, dass sich poststrukturalistisches Denken „kritisch an den Strukturalismus anschließt und ohne diese Herkunft nicht verstanden werden kann“. Für eine genauere Auseinandersetzung mit der Entstehungsgeschichte des Poststrukturalismus und seinem strukturalistischen Erbe vgl. exempl. Frank 2015; Münker/Roesler 2012; Ehrenspeck 2001.

  37. 37.

    Für eine Kritik an der hier zugrunde gelegten Formel vom „Scheitern von Sinn“ vgl. Keller 2012.

  38. 38.

    „Das so entworfene Subjekt konstituiert sich in Kräfteverhältnissen der Macht und als Wirkung von Macht. Macht ist demnach das, was das Subjekt – in seiner je spezifischen historischen und gesellschaftlichen Form – erst hervorbringt, bildet und formt. Eingebettet in komplexe Machtverhältnisse unterliegt das Subjekt historischen Produktionsverhältnissen und kulturellen Sinnstiftungsprozessen. Es ist Wirkung und nicht Urheber einer gesellschaftlichen Ordnung“ (Bublitz 2014, S. 294).

  39. 39.

    In der gleichen Weise, in der es nicht die eine poststrukturalistische Theorie gibt, existiert auch nicht das eine poststrukturalistische Subjektkonzept. Moebius und Reckwitz (2018, S. 21 f.) schlagen daher vor, Poststrukturalismus „nicht als reine Theorie“, sondern „als ein Ensemble von Heuristiken der Forschung und der Analyse konkreter Gegenstände“ zu betrachten. Als Minimalkonsens poststrukturalistischer Ansätze sind mit Ehrenspeck (2001, S. 25) insbesondere deren „Metaphysik- und Systemkritik“ zu nennen.

  40. 40.

    „Das Subjekt wird ‚dezentriert‘, indem es seinen Ort als Null- und Fixpunkt des philosophischen und humanwissenschaftlichen Vokabulars verliert, es erweist sich selbst in seiner Form als abhängig von gesellschaftlich-kulturellen Strukturen, die ihm nicht äußerlich sind und in deren Rahmen es seine Gestalt jeweils wechselt: Sprachspiele, symbolische Ordnungen, psycho-soziale Konstellationen und technisch-mediale Strukturen“ (Reckwitz 2010a, S. 13).

  41. 41.

    Als ‚Kultur‘ werden hierbei „die impliziten gesellschaftlichen Wissensordnungen, die zentralen Codes und Unterscheidungen, die sie strukturieren, und die den Raum möglicher Praktiken und Diskurse sowie schließlich auch Subjektformen abstecken“ (Reckwitz 2010a, S. 18) gefasst.

  42. 42.

    Zum Begriff der ‚Identität‘ vgl. auch Eickelpasch/Rademacher 2004; Delitz 2018.

  43. 43.

    Ricken (2013, S. 33) beschreibt ‚Subjektivierung‘ als Benennungsversuch desjenigen Prozesses, „in dem Menschen bzw. Individuen sich in Wissens-, Macht- und Selbstpraktiken als ein Subjekt zu verstehen lernen, d. h. die Deutungsfigur des ‚Subjekts‘ auf sich zu beziehen lernen, von anderen für sich selbst – in Handlungen und Selbstverständnissen – verantwortlich gemacht werden und schließlich sich selbst entlang dieser Vorgaben zu verstehen und zu gestalten“.

  44. 44.

    Mit Saar (2013, S. 17) gesprochen ist die Theorie der Subjektivierung „eine Perspektive, der es um das (konkrete) Werden und Gewordensein von (konkreten) Subjekten geht“.

  45. 45.

    Aus einer diskursanalytischen Perspektive kann auch nach der historischen ‚Geburt des Subjekts‘ und der damit zusammenhängenden ‚Geburt der Biographie‘ als diskursive Formationen gefragt werden. Mit dem ‚Tod des Subjekts‘ als historischer Formation müsste in dieser Hinsicht auch der ‚Tod der Biographie‘ verbunden sein. Dass Biographie als Konzept und Gegenstand der Erkenntnis, wie auch Peter Alheit und Bettina Dausien (2009) feststellen, eine Zukunft zu haben scheint, kann als ein weiteres Indiz dafür gelesen werden, dass das Subjekt als Erkenntniskategorie noch lange nicht ausgedient hat (vgl. ebd., S. 285; vgl. auch Kap. 2, Fn. 34).

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Rensch-Kruse, B. (2024). Religion, Profession und Subjekt im erziehungswissenschaftlichen Diskurs. In: Religion - Profession - Subjekt(ivierung). Subjektivierung und Gesellschaft/Studies in Subjectivation. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-43875-3_2

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