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Einleitung: Alexis de Tocqueville – Demokrat wider Willen?

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Tocqueville und der Individualismus in der Demokratie
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Zusammenfassung

In diesem Buch erfolgt eine umfassende Analyse des Individualismus bei Tocqueville. Der Individualismus wird als das problème fondamental in Tocquevilles Demokratietheorie herausgearbeitet, indem seine Werke in den Blick genommen und auf relevante Textstellen untersucht werden. Hierbei kann gezeigt werden, dass zentrale destabilisierende Faktoren der Demokratie, wie ein übersteigertes Wohlstandsstreben, der Anpassungsdruck durch die öffentliche Meinung und ein Rückzug ins Private, der in Politikverdrossenheit mündet, eine Folge des Individualismus sind. Aber auch (re-)stabilisierende Faktoren, wie die Pressefreiheit, die richterliche Gewalt oder die Religion, können auf den Individualismus als Zentrum von Tocquevilles Demokratietheorie zurückgeführt werden, wodurch sich vermeintliche werkimmanente Spannungen auflösen lassen. Durch eine zusätzliche Untersuchung der autobiographischen Bezüge zu Tocqueville selbst, die ihn als Politiker, Privatperson und Theoretiker in den Blick nimmt, wird auch Tocquevilles persönliches Verhältnis zum Individualismus beleuchtet.

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Notes

  1. 1.

    Zur besseren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit das generische Maskulinum verwendet. Die im Folgenden verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich – sofern nicht anders kenntlich gemacht – auf alle Geschlechter.

  2. 2.

    Manfred G. Schmidt bezeichnet Tocquevilles Amerika-Schrift als „eine brillant geschriebene, sozialwissenschaftliche Maßstäbe setzende Interpretation der Gesellschaft […]“ (Schmidt 2019: 115). Laut Schmidt ist sie auch in der neueren Demokratie-Forschung der Soziologie, der Politikwissenschaft und der Geisteswissenschaft gegenwärtig (vgl. Schmidt 2019: 115). Für ihn „kann eine ernsthafte Debatte über Vorzüge und Nachteile der Demokratie ohne Tocquevilles brillantes Werk De la Démocratie en Amérique nicht geführt werden“ (Schmidt 2019: 120).

    Peter Graf Kielmansegg verweist entsprechend darauf, dass man Tocqueville als eine Schlüsselfigur von Schmidts Demokratietheorie-Buch sehen kann (vgl. Kielmansegg 2013: 457). Für Harald Bluhm und Skadi Krause ist Tocqueville der klassische Analytiker der modernen Demokratie (vgl. Bluhm und Krause 2016a: 11 ff.) und auch Karlfriedrich Herb und Oliver Hidalgo beschreiben Tocqueville als eine im öffentlichen Diskurs der USA allgegenwärtige Figur, die nahezu „Kultstatus“ genießt (vgl. Herb und Hidalgo 2005: 146 ff.).

  3. 3.

    Karlfriedrich Herb merkt zu Recht an, dass wer heute nach der Zukunft der Demokratie fragt, Tocquevilles Reflexionen gerade wegen ihrer Unentschiedenheit bedenken sollte (vgl. Herb 2006: 9). Keine ideologisch- weltanschauliche Unsicherheit oder logische Inkonsistenz, sondern vielmehr ein differenziertes Feingespür für all die Ambivalenzen der Demokratie muss Tocquevilles Denken unterstellt werden. Nicht seine Analyse ist uneindeutig, unklar oder gar unpräzise, sondern vielmehr die Demokratie selbst – in diesem Punkt ist Tocquevilles Argumentation wichtiger denn je.

  4. 4.

    Auch Steven Bilakovics betont, dass sich Tocqueville unsicher über den Ausgang der (amerikanischen) demokratischen Geschichte ist: „Tocqueville held, in sum, that the national story of America would be no straightforward or predictable narrative“ (Bilakovics 2019: 370).

  5. 5.

    Harald Bluhm schreibt hierzu: „Die Analyse der vorhandenen Demokratien, zeitgenössischer demokratischer Umwälzungen macht die Stärke von Tocquevilles erfahrungswissenschaftlichem politischen Denken aus. Es wird von einem stereoskopischen Blick getragen, der neben Vorteilen immer auch Nachteile, Kehrseiten von Institutionen, Ideen und auch von Leidenschaften erkennt. Dieser differenzierende, analytische Blick geht auf eine soziale Lagerung zwischen zwei Zeiten, zwei Gesellschaftsformen zurück“ (Bluhm 2005: 70).

  6. 6.

    Zu Tocqueville und Guizot: vgl. Hancock 2004: 49 ff.

  7. 7.

    Ausgehend von Tocquevilles Selbstbezeichnung als Liberaler der neuen Art beschäftigt sich Bruce James Smith mit Tocquevilles Liberalismus und fragt danach, wie Tocquevilles neuer Liberalismus aussieht, was ihn von einem alten Liberalismus unterscheidet und weshalb Tocqueville der Auffassung war, dass es einen neuen Liberalismus braucht (vgl. Smith 1991: 63–64).

    Roger Boesche sieht eine Zuordnung Tocquevilles zum Liberalismus unter anderem dadurch gerechtfertigt, dass sich Tocqueville für Meinungs- und Pressefreiheit, Chancengleichheit, ein Recht auf Eigentum und eine repräsentative Regierung einsetzt (vgl. Boesche 1983: 281–282).

  8. 8.

    Dass sich Tocquevilles Gedanken immer wieder auf aktuelle Phänomene und politiktheoretische oder gesellschaftliche Debatten anwenden lassen, und dass unter anderem darin die Faszination besteht, die Tocqueville auf seine Leserschaft ausübt, bringt Michael Hereth treffend und gelungen formuliert auf den Punkt: „Die Gedanken dieses Mannes nachzudenken und sich mit ihnen kritisch auseinanderzusetzen, ist kein archivarisches Unternehmen allein, das Besonderheiten des Liberalismus des 19. Jahrhunderts für den Feinkostladen intellektueller Gourmets des 20. Jahrhunderts aufbereitet. Tocqueville hat sich aufgrund seiner französischen und amerikanischen Erfahrungen mit der Krise Europas auseinandergesetzt, und wer diese Auseinandersetzung nachvollzieht, gewinnt jenseits der einzelnen ausformulierten Sätze des Werkes des großen Franzosen einen Teil jener distanziert-teilnehmenden Sensibilität für Unordnungsphänomene, die Tocquevilles Denken auszeichnet“ (Hereth 1981: 10).

  9. 9.

    Gleichzeitig lassen sich in Tocquevilles Demokratiestudie auch vereinzelt Elemente finden, die dem vorausgreifen, was die radikale Demokratietheorie heute fordert – etwa im Zusammenhang mit dem Konzept der Volkssouveränität oder dem Stellenwert von Gefühlen im Politischen. Dazu mehr im Hauptteil dieser Arbeit.

  10. 10.

    So schließt John C. Koritansky aus Tocquevilles Beschäftigung mit dem Individualismus nicht zu Unrecht eine Nähe zum Liberalismus und eine Rechtfertigung, Tocqueville weniger als konservativen, denn als liberalen Denker zu lesen (vgl. Koritansky 1986: 3). Dies erscheint zunächst paradox, hebt Tocqueville doch nicht die positiven, sondern die negativen Aspekte des Individualismus hervor und stuft ihn als Gefahr für die Demokratie ein. Beim zweiten Nachdenken ergibt sich hieraus jedoch ein Vorschlag, den Tocquevilleschen Liberalismus komplexer, reflektierter zu denken und ihn nicht als blind, sondern aufmerksam gegenüber den Gefahren zu charakterisieren, die sich aus der Verbindung von Individualismus als Teil des Liberalismus und Demokratie ergeben. Auch Oliver Hidalgo hält fest, dass Tocqueville ein alternatives Verständnis zum klassischen Liberalismus entwickelt und ihn nicht aufgrund der vorhandenen Probleme und Herausforderungen vorschnell abschreiben will. In seinem Beitrag arbeitet Hidalgo zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Vorteile heraus, die er in Tocquevilles Theorie gegenüber deliberativen Demokratietheorien, insbesondere gegenüber Philippe Schmitters postliberaler Demokratie sieht, wobei er anmerkt, dass Schmitters Vorschlag stark an das erinnere, was Benjamin Barber unter „starker Demokratie“ verstünde (vgl. Hidalgo 2006a: 49–50).

  11. 11.

    Ein eindeutig negativ konnotiertes Phänomen ist der Individualismus bei Tocqueville auch für Louis Dumont, der Tocquevilles Feingespür für die Gefahren betont, die mit dem Individualismus einhergehen. Laura Janara betont, dass Tocqueville davor warnt, mit Individualismus radikale Unabhängigkeit und individuelle Stärke zu assoziieren (vgl. Janara 2002: 130). Demgegenüber stimmt Gilles Lipovetsky Tocqueville zwar in seiner These zu, dass der Individualismus das öffentliche Leben schwächt. Für ihn bleibt der Individualismus (generell, nicht nur bei Tocqueville) aber ein überwiegend positives Phänomen (vgl. Audier 2007: 77). Oliver Zunz stuft Tocquevilles Haltung zum Individualismus als ambivalent ein (vgl. Zunz 1995: 102) und bezieht damit eine Position, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit widerlegt werden soll. Dies gilt auch für die Interpretation von Dana Villa, die Tocqueville zwar als Kritiker des Individualismus einstuft, in seiner Wertschätzung individueller Rechte aber eine Begründung für eine ambivalente Haltung sieht (vgl. Villa 2005: 659).

  12. 12.

    Françoise Mélonio betont in diesem Zusammenhang die Schlagkraft von Tocquevilles Analysen des Individualismus, indem sie festhält, dass die Wechselbeziehung zwischen fortschreitendem Individualismus und Machtausdehnung heute im Zentrum der Reflexion über demokratische „Antinomien“ steht, zu Tocquevilles Zeiten aber eine völlig neue Idee war: „La corrélation entre les progrès de l’individualisme et l’extension du pouvoir est aujourd’hui au foyer de la réflexion sur les ‚antinomies‘ démocratiques. Du temps de Tocqueville, l’idée était nouvelle“ (Mélonio 1993: 111).

  13. 13.

    Gisela Riescher hebt Tocquevilles konstruktive Fragestellungen, die gesellschaftlichen und politischen Ordnungskonzeptionen sowie die Vorhersage künftiger Entwicklungslinien hervor und ordnet Tocqueville basierend darauf in die Reihe der Klassiker der Politischen Theorie ein, wenngleich sie unterstreicht, dass es nicht seine Auflagenstärke ist, die ihn bis heute in Fachkreisen berühmt macht (vgl. Riescher 1998: 84).

  14. 14.

    Claus Offe nennt Tocqueville einen „Meister der Ambivalenz“ (Offe 2004: 18). Müller und Bluhm halten gewissermaßen die Ambivalenz der Ambivalenz fest, wenn sie mit Blick auf Tocqueville schreiben: „Was manch einem als kritikwürdige Ambivalenz gelten mag, macht für andere gerade seine Attraktivität aus“ (Bluhm und Müller 2005: 443). Aurelian Craiutu weist darauf hin, dass Tocqueville selbst die Ambivalenz seiner Theorie durchaus bewusst war, mehr noch: Craiutu hält sie für Absicht, halte Tocqueville doch nichts von politischen Kategorien, Verallgemeinerungen und Reduzierungen (vgl. Craiutu 2005: 603).

  15. 15.

    Tocqueville bemerkte die Resonanz, die sein Werk in den unterschiedlichsten politischen und politiktheoretischen Lagern hatte, selbst (vgl. OT V: 429).

    Die konservativen und liberalen Elemente in Tocquevilles Hauptwerk hat bereits Susanne Achtnich in ihrer Dissertation herausgearbeitet (vgl. Achtnich 1987).

    Tilman Mayer und Thomas Wolf zeigen die liberalen, deliberativen und konservativen Elemente in Tocquevilles Denken auf (vgl. Mayer und Wolf 2004: 97 ff.). Vor allem die deliberativen Elemente, die das Autorenpaar anhand von Privat- und Gemeinschaftsinteresse sowie Partizipation durch politische Vereinigungen ausmachen (vgl. Mayer und Wolf 2004: 102), bilden eine interessante Ergänzung zur Diskussion.

    Einen relativ aktuellen Überblick über die liberalen und konservativen Interpretationen von Tocquevilles Werk gibt Skadi Krause, wobei sie in Bezug auf die konservativen Aneignungen vor allem die Verteidigung der Religion, der Sitten und der lokalen Autonomie sowie Tocquevilles Prognose des Konflikts zwischen den USA und Russland als Elemente anführt, für die sich konservative Leser begeistern konnten (vgl. Krause 2017a: 15).

  16. 16.

    Die wohl prominenteste Interpretation, die in Tocqueville einen Kommunitaristen sieht, legten Bellah et al. in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor (vgl. Bellah et al. 1985).

    Auf deutscher Seite bearbeitet Harald Bluhm die Frage, inwieweit Tocqueville als Vordenker des Kommunitarismus bezeichnet werden kann (vgl. Bluhm 2019a: 56), wobei er zum Ergebnis kommt, dass Tocqueville teilweise als Kommunitarist gelten könne (vgl. Bluhm 2019a: 70).

    Gegen eine kommunitaristische Lesart Tocquevilles wendet sich im deutschsprachigen Kontext Grit Straßenberger, die den Gemeinsinn als ein aufgeklärtes Gefühl gegenseitiger Abhängigkeit entlarvt und zeigt, dass dieser – allem kommunitaristischen Wunschdenken zum Trotz – sogar destabilisierende Effekte haben kann (vgl. Straßenberger 2005: 83–93).

  17. 17.

    Zu den Unterschieden zwischen der eher liberalen Tocqueville-Rezeption in Frankreich und der tendenziell kommunitaristischen Auslegung in Amerika siehe Audier 2007: 78 ff.

  18. 18.

    Gegen eine einseitige Interpretation wendet sich Harald Bluhm. Er betont die charakteristische Ambivalenz der Assoziationen, wie etwa im Falle von bürgerlichen Vereinen, Initiativen und Bewegungen (vgl. Bluhm 2011: 250).

  19. 19.

    In einem anderen Zusammenhang sucht Hennis nach dem „roten Faden […], um uns im Werk Tocquevilles zurechtzufinden“ (Hennis 1981: 88) und findet ihn beim Thema der Knechtschaft (vgl. Hennis 1981: 88). Die Knechtschaft als Leitmotiv von Tocquevilles Werk zu benennen, weicht insofern nicht so weit von der These der vorliegenden Arbeit ab, als der sanfte Despotismus der wichtigste systemische Faktor unter den Entstehungsgrundlagen und Wirkungsbereichen des Individualismus ist (vgl. 3.1.7.) und die beiden Phänomene eng miteinander zusammenhängen. Da es allerdings erst der Individualismus ist, der den sanften Despotismus überhaupt ins Leben ruft, wie gezeigt werden wird, ist der Individualismus als Schlüsselthema von Tocquevilles Demokratietheorie auszumachen.

  20. 20.

    Die Religion wird deshalb als eine der wichtigsten Bewältigungsstrategien gegen den Individualismus und seine Konsequenzen thematisiert (vgl. 4.7.).

  21. 21.

    Wie negativ konnotiert der Individualismus für Tocqueville ist, hebt auch Bellah hervor, indem er den „more positive, even celebratory tone“ (Bellah 1991: 331) betont, den Ralph Waldo Emerson in Abgrenzung zu Tocqueville anschlägt, wenn er zur gleichen Zeit über den Individualismus schreibt (vgl. Bellah 1991: 331).

    Auch Harvey Mansfield und Delba Winthrop halten fest, dass der Individualismus für Tocqueville eindeutig negativ besetzt ist: „But Tocqueville uses the term pejoratively to refer to the weakness of individuals in a democratic society” (Mansfield und Winthrop 2004: 3). Siehe hierzu auch: Volkmann-Schluck 1974: 163–166.

  22. 22.

    In der Debatte zwischen Kommunitarismus und Liberalismus benennt Rainer Forst die Auseinandersetzung mit Tocquevilles Theorie seitens Denkern wie Bellah als Klassiker (vgl. Forst 1993: 181–182).

  23. 23.

    Eine Ausnahme ist etwa die Dissertation von Susanne Gervers, die eine detaillierte Untersuchung von Tocqueville als Politiker unternimmt und dabei auf Brüche zwischen seinen liberal-republikanischen Ansichten als Theoretiker und seinem Agieren als Politiker hinweist (vgl. Gervers 1995). Freilich blendet diese Arbeit Tocquevilles Ansichten als Privatperson aus und geht den individualismusrelevanten Punkten nicht im Detail nach – dennoch bietet sie umfangreiche Einblicke in Tocquevilles Dasein als Politiker und stellt einen Nexus zu seiner Theorie her. Auch die berühmte Monographie „Alexis de Tocqueville: Leben und Werk“ von André Jardin nimmt Tocqueville sowohl als Theoretiker (vgl. z. B. Jardin 2005: 166 ff.; 201 ff. sowie 225 ff.), als Politiker (vgl. Jardin 2005: 255 ff.; 307 ff. sowie 376 ff.) und auch als Privatperson (vgl. Jardin 2005: 36 ff.; 55 ff. sowie 324 ff.) detailliert in den Blick. Jardins Ausführungen zu Tocquevilles Biografie sind erhellend und suchen bisheute ihresgleichen. Ausgehend von Jardins Überlegungen wird Tocqueville – zugeschnitten auf die individualismusrelevanten Faktoren – auch im Rahmen dieser Arbeit in den drei unterschiedlichen Rollen analysiert, um sein Verhältnis zum Individualismus besser verstehen zu können, aber auch umgekehrt, ausgehend vom Individualismus, Rückschlüsse auf den Zusammenhang von Privatperson, Theoretiker und Politiker ziehen zu können.

  24. 24.

    Mit Blick auf Tocquevilles Hauptwerk Über die Demokratie in Amerika und seine Erinnerungen konstatiert Peter Augustine Lawler, dass Tocqueville in seinem Hauptwerk am Ende versöhnter mit den Grenzen und Herausforderungen der Demokratie zu sein scheint, als dies in seinen Erinnerungen der Fall ist, wobei Lawler die unterschiedliche Positionierung Tocquevilles auf rhetorische Gründe zurückführt und mit der jeweiligen Intention des Buches, also der Rolle, in der Tocqueville schreibt, verknüpft (Lawler 1993: 125). Hieraus lässt sich ableiten, dass auch Lawler über Tocquevilles verschiedene Rollen nachdenkt, wobei er mit Blick auf die Grenzen der Demokratie Unterschiede sieht, die sich hinsichtlich der individualismusrelevanten Aspekte, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit behandelt werden, so nicht bestätigen lassen.

    Den Ansatz, Fragen, Probleme oder Ungereimtheiten des einen Werks durch einen Blick in eine andere Schrift zu klären, verfolgt auch Matthias Bohlender. Er unternimmt den Versuch, Tocquevilles Rechtfertigung der Kolonialisierung Algeriens (wesentlich in seiner Schrift Gedanken über Algerien vertreten) mittels seiner sozialen und politischen Analyse der Demokratie in Amerika, also durch Tocquevilles Ausführungen in seinem Hauptwerk zu erklären (vgl. Bohlender 2005: 523).

  25. 25.

    Die verschiedenen Versuche, Tocqueville als Analytiker der modernen Ambivalenz zu verteidigen und etwaige innere Widersprüche oder Spannungen zu rechtfertigen, legt Oliver Hidalgo detailliert dar. So verweist er unter anderem auf die These, dass Tocquevilles verschiedene Intentionen angeblich eine übergeordnete Fragestellung verhindert hätten oder dass Brüche und Widersprüche unvermeidlich seien, weil er stets Vor- und Nachteile sowie lang- und kurzfristige Entwicklungen im Blick gehabt hätte (vgl. Hidalgo 2006b: 10 f.). Erklärungsansätze dieser Art greifen jedoch, wie auch Oliver Hidalgo festhält, zu kurz. Es existiert ein problème fondamental in Tocquevilles politischer Theorie und entgegen der bisher vorgelegten Interpretationen möchte diese Arbeit zeigen, dass es sich dabei um den Individualismus und seine Wirkungen in der Demokratie handelt.

  26. 26.

    Auch Arthur Kaledin weist bereits daraufhin, dass in Tocquevilles Theorie psychologische Aspekte auftauchen, die eine politische Funktion haben und macht die Unsicherheit und Angst des demokratischen Menschen als zentralen Bestandteil von Tocquevilles Demokratietheorie aus (vgl. Kaledin 2005: 62). Laura Janara konstatiert, dass in Tocquevilles Demokratiestudie soziale Beziehungen die Mentalität der breiteren Gesellschaft reflektieren und macht dies am Beispiel der familiären Strukturen fest. Auch sie sieht eine psychologische Verbindung zwischen den systemischen Strukturen und individuellen Praktiken und Beziehungen (vgl. Janara 2002: 44).

  27. 27.

    In ihrer Dissertationsschrift „Was heißt Individualisierung? Die Antworten soziologischer Klassiker“ thematisiert Flavia Kippele die Positionen von Karl Marx und Friedrich Engels, Ferdinand Tönnies, Georg Simmel, Émile Durkheim, Max Weber sowie Norbert Elias ausführlich. Von Tocqueville fehlt selbst in einem eigens für die Positionen im Frankreich des 19. Jahrhunderts vorgesehenen Kapitel jede Spur. Hier benennt Kippele Auguste Comte als zentrale Figur (vgl. Kippele 1998: 170–173).

    Ein Gegenbeispiel zu dieser nüchternen Bestandsaufnahme liefert Luke Philip Plotica, der Tocqueville in seinem Buch „Nineteenth-Century Individualism and the Market Economy: Individualist Themes in Emerson, Thoreau and Sumner“ ein eigenes, zumindest kurzes Unterkapitel einräumt (vgl. Plotica 2018: 26 ff.).

  28. 28.

    Zur frühen Tocqueville-Rezeption in England und Amerika: vgl. Amos 1994: 99 ff.

    Saguiv A. Hadari geht in seiner Dissertationsschrift der Frage nach, weshalb Tocquevilles Werke den Status der Klassiker erreicht haben und nimmt dafür Tocquevilles Methode näher in den Blick (vgl. Hadari 1989: 2).

  29. 29.

    Vgl. Bluhm und Krause: „Während sich die deutsche Forschung eher sporadisch Alexis de Tocqueville zuwendet, kann man im angelsächsischen Sprachraum – vor allem in den USA – und in Frankreich auf eine lange Tradition der Tocqueville-Rezeption zurückblicken. Immer wieder geben dort originelle Interpretationen und Neuauflagen seiner Werke Anlass zu regen Debatten […]“ (Bluhm und Krause 2005: 551). Auch wenn diese Feststellung vor über 15 Jahren erfolgt ist und in der Zwischenzeit zahlreiche deutschsprachige Werke zu Tocqueville publiziert wurden, bleibt die Aussage aktuell. Sowohl in politiktheoretischen und philosophischen Fachdebatten als auch in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext bleibt Tocqueville hierzulande vergleichsweise unberührt (vgl. hierzu auch Herb und Hidalgo 2005: 156), weshalb das Autorenpaar Bluhm und Krause auch 2016 die Feststellung wiederholt und Tocquevilles randständiges Daseinin Deutschland noch einmal bemängelt (vgl. Bluhm und Krause 2016a). Als Gründe für Tocquevilles stiefmütterliche Behandlung in Deutschland nennen Bluhm und Müller drei Gründe: nationale Klassikerkonkurrenz (gemeint sind Karl Max und Max Weber), Stil und Solitärexistenz, also die Tatsache, dass Tocqueville keine eigene Schule geprägt habe (vgl. Bluhm und Müller 2005: 443). Ausländische Tocqueville-Interpreten überschätzen Tocquevilles Bedeutung in Deutschland gelegentlich. So nennt der US- amerikanische James T. Schleifer die deutsche Tocqueville-Rezeption in einem Atemzug mit der französischen und englischen Beachtung von Tocquevilles Werk (vgl. Schleifer 2018: 124), was sicherlich zu optimistisch bemessen ist. Demgegenüber bemerkt Serge Audier, dass Tocqueville im 21. Jahrhundert vor allem in Frankreich, Kanada und den USA wiederentdeckt wird und führt als Beleg bekannte Denker aus den jeweiligen Ländern an, die maßgeblich von Tocqueville inspiriert wurden und ihn als Einfluss benennen. Die Rede ist unter anderem von Michael Sandel, Benjamin Barber, Charles Taylor, Bruce Ackerman, Claude Lefort, Marcel Gauchet und François Furet (vgl. Audier 2007: 71).

    In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich auch die amerikanische Schriftstellerin Flannery O’Connor von Tocquevilles Ideen inspirieren lassen, wie Jerome C. Foss gezeigt hat (Foss 2020: 317 sowie 320).

    Die Wirkungsgeschichte von Tocqueville in Amerika nimmt Thomas Clark näher in den Blick (vgl. Clark 2004: 155 ff.).

    Mit der Wirkungsgeschichte von Tocqueville in Europa setzt sich Urs Marti näher auseinander, wobei er mit Europa Frankreich, Deutschland und England meint (vgl. Marti 2004: 135 ff.). Mit Blick auf den Individualismus sind vor allem die Ausführungen zum von Marti festgestellten Vereinnahmungsversuch seitens Friedrich von Hayek spannend, die er, genau wie Raymond Aron, als ungerechtfertigt deklariert (vgl. Marti 2004: 146–147).

  30. 30.

    In seinem berühmten Text über die Wirkung von Tocqueville in Deutschland hält Theodor Eschenburg Mitte der 1970er-Jahre fest, dass Tocqueville „für Deutschland verschollen war“ (Eschenburg 1976: 927). Erst nach 1945 sind Auszüge des zweiten Bandes der Démocratie en Amérique in deutscher Sprache publiziert worden, eine vollständige Übersetzung des zweiten Bandes blieb bis 1976 aus (vgl. Eschenburg 1976: 880).

  31. 31.

    Ein passendes Beispiel hierfür findet sich im ersten deutschsprachigen Handbuch zu Tocqueville, das 2021 erschienen ist. So wird hier bereits im ersten Absatz des Vorworts die Wichtigkeit des Individualismus betont. Er wird – gemeinsam mit der Tyrannei durch die öffentliche Mehrheit – als die große Gefahr der Demokratiebenannt (vgl. Campagna/Hidalgo und Krause 2021a: VIII). Im eigens für den Individualismus vorgesehenen Eintrag muss der Verfasser Sven Seidenthal dann allerdings wieder auf die vor rund fünfzig Jahren veröffentlichte, französischsprachige Monographie von Jean-Claude Lamberti (vgl. Lamberti 1970) verweisen, um weiterführende Literatur zu Tocquevilles Individualismus zu benennen (vgl. Seidenthal 2021: 206). Lebow bezeichnet den Individualismus bei Tocqueville mit Blick auf unsere zeitgenössischen Herausforderungen an die Demokratie sogar als „the most relevant feature of his grand opus […]“ (Lebow 2018: 111) und für Kateb sind Platon und Tocqueville „the greatest students of democratic individualism“ (Kateb 2003: 275).

    In einem französischsprachigen Begriffslexikon zu Tocqueville, das von Anne Amiel herausgegeben wurde, werden auf gerade einmal 57 Textseiten nur die wichtigsten Begriffe von Tocqueville erläutert. Der Individualismus ist mit immerhin zweieinhalb Seiten ein Begriff, der nicht nur erläutert wird, sondern auch relativ viel Platz einnimmt (vgl. Amiel 2002: 36 ff.).

  32. 32.

    In den Vereinigten Staaten sind allein im Zeitraum zwischen 2000 und 2006 fünf verschiedene Übersetzungen von Democracy in America erschienen (vgl. Krause 2017a: 9).

  33. 33.

    Tocqueville und Marx werden allgemein oft miteinander verglichen und auf Gemeinsamkeiten überprüft oder voneinander abgegrenzt. So betont Edward T. Gargan in seiner Dissertation, dass die Revolution von 1848 für beide Denker eine enorme Bedeutung in Bezug auf ihre persönlichen Überzeugungen und theoretischen Schriften hatte, beide aber völlig verschiedene Schlussfolgerungen daraus zogen (vgl. Gargan 1955: 303). Auch Raymon Aron bringt Tocqueville und Marx im ersten Kapitel von „Über die Freiheiten“ miteinander ins Gespräch (vgl. Aron 1968: 11 ff.). Neben Dittgen, Gargan und Aron stellen im 21. Jahrhundert Charles Taylor und Harald Bluhm Tocqueville und Marx gegenüber. Bei Taylor werden hierzu Identitäts- und Entfremdungsfragen in den Blick genommen, um sich Gedanken über den 11. September zu machen und Bluhm befasst sich mit dem Verständnis von Assoziationen bei Tocqueville und Marx (vgl. Taylor 2002 und Bluhm 2011). Oft wird das Autorenpaar auch durch weitere Denkerinnen und Denker ergänzt, so etwa jüngst um Max Weber bei Baumert (vgl. Baumert 2022), um Montesquieu und Comte in einem bekannten Werk von Aron (vgl. Aron 1971), um Durkheim bei Poggi (vgl. Poggi 1972), um Arendt bei Reinhardt (vgl. Reinhardt 1997), um Mill bei Bluhm (vgl. Bluhm 2019b) oder um von Stein bei Steinert und Treiber (vgl. Steinert und Treiber 1975), um nur einige Beispiele zu nennen.

  34. 34.

    In wohl prominentester Form setzt sich Ralf Dahrendorf intensiv mit der Frage auseinander, wie viel Tocqueville in Riesmans einsamer Masse steckt (vgl. Dahrendorf 1965: 321 ff.).

  35. 35.

    Später schreibt Robert N. Bellah mit Blick auf „Habits of the Heart: Individualism and Commitment in American Life“ selbst: „Our research was in many ways a continuing conversation with Tocqueville as well as with our fellow citizens“ (Bellah 1991: 329).

  36. 36.

    Mit Tocquevilles Spätwerk befasst sich Richard Herr intensiv, wobei vor allem seine detaillierte Analyse der einzelnen Bestandteile des Spätwerks und des Verhältnisses von Über die Demokratie in Amerika und Der alte Staat und die Revolution beachtenswert sind (vgl. Herr 1962: 42 f.).

  37. 37.

    Gleich auf der ersten Seite seiner Erinnerungen schreibt Tocqueville selbst: „Diese Erinnerungen werden für mich eine geistige Entspannung sein und nicht ein literarisches Werk. Ich schreibe sie nur für mich nieder. Diese Schrift wird ein Spiegel sein, in dem ich meine Zeitgenossen und mich selbst zu meinem Vergnügen wiedererkennen werde, nicht ein für die Öffentlichkeit bestimmtes Gemälde. Nicht einmal meinen besten Freunden werde ich sie zeigen; denn ich will mir die Freiheit wahren, mich sowohl wie sie ohne Beschönigung zu schildern. Ich will die geheimen Motive, die uns, sie und mich wie die anderen, zum Handeln bewegten, ehrlich erforschen und darstellen, wie ich sie sehe. Ich möchte, mit einem Worte, daß meine Erinnerungen meine aufrichtige Meinung ausdrücken“ (ER 11). Neben seinen Briefwechseln lassen also auch Tocquevilles Erinnerungen auf ungeschönte, intime Einsichten in seine privaten Beziehungen, Wahrnehmungen und Überzeugungen hoffen.

  38. 38.

    Cheryl Welch hat 2006 bereits darauf aufmerksam gemacht, dass Tocqueville-Interpreten dazu neigen, sich auf ein Werk, meist auf Über die Demokratie in Amerika zu konzentrieren (vgl. Welch 2006: 2). Diesem Befund folgend, legt die vorliegende Arbeit Wert darauf, eine vergleichende Perspektive auf verschiedene Werke von Tocqueville einzunehmen, um den Individualismus zu verstehen, wenngleich einige der zentralsten Textstellen freilich in Über die Demokratie in Amerika zu finden sind.

  39. 39.

    Die Arbeit folgt damit einer gängigen Vorgehensweise in der zeitgenössischen Tocqueville-Forschung, so etwa im Falle des 2017 erschienenen Sammelbands von Skadi Krause, in dem im Beitrag von Dirk Jörke selbst die Zitate von Tocqueville oder anderen Interpreten seiner Texte von Skadi Krause übersetzt wurden (vgl. Jörke 2017: 108).

  40. 40.

    Mit den Herausforderungen, die sich bei der Übersetzung von Tocquevilles Hauptwerk ergeben, befasst sich Arthur Goldhammer ausführlich (vgl. Goldhammer 2006: 139–166). Auch Patrick J. Deneen geht auf Änderungen in der Konnotation Tocquevillescher Begriffe ein, die sich durch die Übersetzungen ergeben und stellt zur Disposition, ob eher „restless“ oder „restive“ der passende englische Begriff ist, um zu übersetzen, was Tocqueville mit „inquiet“ meint (vgl. Deneen 2004: 77, beziehungsweise Endnote 1 S. 89).

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Strömel, S.R. (2023). Einleitung: Alexis de Tocqueville – Demokrat wider Willen?. In: Tocqueville und der Individualismus in der Demokratie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-43664-3_1

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