Zusammenfassung
Die Spieltheorie analysiert strategische Interaktionen, die grundlegend in allen Sozialwissenschaften sind. Dabei wird von zielorientiert handelnden Akteuren ausgegangen wie Personen oder Organisationen, die bestimmte Rationalitätsanforderungen erfüllen. In der evolutionären Spieltheorie sind diese restriktiven Annahmen verzichtbar. Die evolutionäre Spieltheorie ist dabei keineswegs nur für die Biologie, sondern auch für die Sozialwissenschaften von Bedeutung. Zwar geht es dort nicht im biologischen Sinne um Vererbung, wohl aber um kulturelle und soziale Evolution. Soziale Normen und Institutionen, Verhaltensweisen, kulturelle Muster, sprachliche Idiome, Organisationsstrukturen, technische Innovationen und Ideen können sich durch Lernen und Nachahmung ausbreiten. Bei der Imitation können „Fehler“ oder Mutationen auftreten. Erfolgreiche Strategien (z. B. eine soziale Norm oder Institution) werden häufiger imitiert, während erfolglose Strategien verschwinden. Der dynamische Prozess mündet eventuell in einem Gleichgewicht, das mit Mitteln der evolutionären Spieltheorie analysiert werden kann. Dabei spielt der Begriff des „evolutionär stabilen Gleichgewichts“ oder ESS eine Schlüsselrolle. In diesem Beitrag werden einige Grundzüge der Analyse von Gleichgewichten evolutionärer Spieltheorie skizziert.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Notes
- 1.
Axelrod (1987) hat in seiner viel zitierten Arbeit zur „Evolution von Kooperation“ in mehreren Turnieren verschiedene Strategien in wiederholten Gefangenendilemmaspielen gegeneinander antreten lassen. In dem „ökologischen Turnier“ erzielten die Strategien Punkte, die den Anteil der Strategie in der nachfolgenden Generation festlegten. So konnten sich erfolgreiche Strategien ausbreiten, während weniger erfolgreiche verschwanden. Nach 1000 Generationen stellte sich die „Tit-for-Tat“-Strategie („wie du mir, so ich dir“) als Sieger heraus. Ein kurzer Überblick dazu findet sich in Diekmann (2016: Kap. 7). Siehe dazu auch weiter unten.
- 2.
Ein Nash-Gleichgewicht ist eine Kombination von Strategien (ein „Strategienprofil“), sodass kein Spieler einen Anreiz hat, einseitig seine Strategie zu verändern. Angewandt auf das Beispiel des einmaligen, nicht-wiederholten Gefangenendilemmas: Wenn beide Spieler nicht kooperieren (wechselseitige Defektion), dann hat keiner der beiden Spieler ein Interesse, seine Strategie zu wechseln, solange der andere Spieler bei seiner Strategie bleibt. Wechselseitige Nicht-Kooperation ist im Gefangenendilemma ein Nash-Gleichgewicht.
- 3.
Eine reine Strategie heißt, dass die Strategie mit Wahrscheinlichkeit eins gewählt wird. Bei einer „gemischten“ Strategie werden alternative Strategien j = 1, …,m mit Wahrscheinlichkeiten pj gespielt, wobei sich die Wahrscheinlichkeiten zu eins summieren.
- 4.
Im „Chicken-Spiel“ haben beide Spieler jeweils die Wahl zwischen C („Cooperation“) und D („Defection“). Defektion ist die ausbeuterische, nicht-kooperative Strategie.
- 5.
E bezeichnet den Erwartungswert, die erwartete Auszahlung, die die in der Klammer zuerst aufgeführte Strategie erhält. Beispielsweise ist E(J,I) die erwartete Auszahlung an J bei der Interaktion der Strategien I und J.
- 6.
Jedenfalls nicht von einzelnen Mutanten. Kommen aber Mutanten in Gruppen („Clustern“), dann wäre es durchaus denkbar, dass die Eindringlinge die Einheimischen verdrängen, auch wenn (i) zutrifft.
- 7.
Der „Schatten der Zukunft“ verweist auf den Wert zukünftiger Auszahlungen. Wenn es in der Sequenz wiederholter Spiele nach jedem Spiel eine Wahrscheinlichkeit gibt, dass der Fortgang der Sequenz abgebrochen wird, sind künftige Auszahlungen weniger sicher als gegenwärtige Auszahlungen. Das Maß für den „Schatten der Zukunft“ ist der Diskontfaktor, ein Wert größer null und kleiner als eins, analog der Diskontierung in einer Zinseszinsrechnung.
- 8.
Das „Public Good Game“ ist ein verallgemeinertes Gefangenendilemma. Im „Volunteer’s Dilemma“ genügt einer von n Spielern, um das Kollektivgut herzustellen (Diekmann 1985). In beiden Spielsituationen besteht ein Anreiz zum Trittbrettfahren. Siehe zu diesen Varianten sozialer Dilemmas Einführungen in die Spieltheorie, z. B. Diekmann (2016).
- 9.
Modelle evolutionärer Spieltheorie werden in zahlreichen Disziplinen eingesetzt. Von den Verkehrswissenschaften, die z. B. den Spurwechsel von Autofahrern untersuchen (Ji und Levinson 2020), bis hin zu Arbeiten über das Wachstum von Tumoren in der Medizin (Wölfl et al. 2022). Siehe auch den Überblick von Sandholm (2017).
Literatur
Axelrod, R. (1987 bzw. 1984). Die Evolution der Kooperation. München: Oldenbourg. https://doi.org/10.1524/9783486851748.
Dawkins, R. (1988). Das egoistische Gen. Berlin: Springer.
Diekmann, A. (1985). Volunteer’s dilemma. Journal of Conflict Resolution 29, 605–610.
Diekmann, A. (2016). Spieltheorie. Einführung, Beispiele, Experimente (4. Aufl.). Reinbek: Rowohlt.
Gintis, H. (2000). Game Theory Evolving. A Problem-Centered Introduction to Modeling Strategic Interaction. Princeton, N.J.: Princeton University Press.
Ji, A., & Levinson, D. (2020). A review of game theory models of lane changing. Transportmetrica A: Transport Science 16 (3), 1628–1647. https://doi.org/10.1080/23249935.2020.1770368.
Mackie, G. (1996). Ending Footbinding and Infibulation: A Convention Account. American Sociological Review, 61, 999–1017. https://doi.org/10.2307/2096305.
Maynard Smith, J. (1976). Evolution and the Theory of Games. American Scientist, 64, 41–45.
Maynard Smith, J. (1982). Evolution and the Theory of Games. Cambridge: Cambridge University Press. https://doi.org/10.1017/CBO9780511806292.
Maynard Smith, J., & Price, G. R. (1973). The Logic of Animal Conflict. Nature, 246, 15–18. https://doi.org/10.1038/246015a0.
Nax, H. H., & Perc, M. (2015). Directional learning and the provisioning of public goods. Scientific Reports, 5, 8010. https://doi.org/10.1038/srep08010.
Newton, J. (2018). Evolutionary game theory: A renaissance. Games, 9 (31), https://doi.org/10.3390/g9020031.
Parker, G. A. (1970). The Reproductive Behavior and the Nature of Sexual Selection in Scatophaga stercoraria L. (Diptera Scatophagidae): II. The Fertilization Rate and the Spatial and Temporal Relationships of Each Sex Around the Site of Mating and Oviposition. The Journal of Animal Ecology, 39, 205–228. https://doi.org/10.2307/2896.
Sandholm, W. H. (2017). Evolutionary Game Theory. In R. A. Meyers (Eds.), Encyclopedia of Complexity and Systems Science. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-642-27737-5_188-3.
Tarde, G. (2008 bzw. 1890) Die Gesetze der Nachahmung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Young, H. P. (1998). Individual Strategy and Social Structure: An Evolutionary Theory of Institutions. Princeton: Princeton University Press. https://doi.org/10.2307/j.ctv10h9d35.
Tutić, A. (2021). Stochastic evolutionary dynamics in the Volunteer’s Dilemma. Journal of Mathematical Sociology. https://doi.org/10.1080/0022250X.2021.1988946.
Wickler, W., & Seibt, U. (1991). Das Prinzip Eigennutz. Zur Evolution sozialen Verhaltens. München: Piper.
Wölfl, B., te Rietmole, H., Salvioli, M., Kaznatcheev, A., Thuijsman, F., Brown, J. S., … Stanková, K. (2022). The Contribution of Evolutionary Game Theory to Understanding and Treating Cancer. Dynamic Games and Applications, 12, 313–342. https://doi.org/10.1007/s13235-021-00397-w.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2024 Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Diekmann, A. (2024). Evolutionäre Spieltheorie. In: Hammerl, M., Schwarz, S., Willführ, K.P. (eds) Evolutionäre Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-43624-7_9
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-43624-7_9
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-43623-0
Online ISBN: 978-3-658-43624-7
eBook Packages: Social Science and Law (German Language)