Berlin wurde als Forschungsort gewählt, weil es eine Erforschung der Aktivitätsräume von Jugendlichen differenziert nach Quartiersmerkmalen ermöglicht. Es gibt ausgeprägte Unterschiede zwischen den Nachbarschaften, was die soziale Zusammensetzung der Bewohnerschaft betrifft. Jenseits der durchschnittlichen Quartiere gibt es sowohl eine Reihe von marginalisierten sowie privilegierten Nachbarschaften (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, Referat IA, Stadtentwicklungsplanung 2019). Auch nach ihrer Lage im Verhältnis zum Stadtzentrum unterscheiden sich die Quartiere. Zentrale Nachbarschaften sind durch eine deutlich höhere Dichte, was Baustruktur, Einwohner*innen, Infrastruktur und ÖPNV-Netz betrifft, gekennzeichnet als Quartiere zum Stadtrand hin (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2020). Durch eine gezielte Stichprobenziehung lässt sich in Berlin daher empirisch überprüfen, welchen Einfluss der soziale Status und die Lage des Wohnquartiers auf die Aktivitätsräume von Jugendlichen haben.

Neben diesen allgemeinen sozialen und räumlichen Differenzierungen, die in Berlin im Vergleich zu anderen Städten besonders ausgeprägt sind, ist Berlin als Stadt auch durch eine Reihe von weiteren Eigenarten gekennzeichnet. Tobias Müller (2009) verweist darauf, „dass Berlin, wegen seiner Größe, seiner infrastrukturellen Ausstattung und wegen seiner Polyzentralität eine Sonderstellung unter allen Städten in Deutschland einnimmt“ (Tobias Müller 2009: 62). Neben dem ehemaligen Zentrum im Westen Berlins mit einer hohen Geschäftsdichte um den Kurfürstendamm und dem ehemaligen Ost-Zentrum am Alexanderplatz gibt es eine Reihe weiterer Subzentren in den jeweiligen Stadtteilen (vgl. Ahlfeldt und Wendland 2008).Footnote 1 Die Polyzentralität bezieht sich dabei nicht nur auf die Nahversorgung, auch Parkanlagen, Gaststätten und kulturelle Angebote sind nicht nur im Zentrum oder bestimmten Szene-Vierteln zu finden. Im Bereich der Infrastruktur ist die Zentralität daher weniger ausgeprägt. Die Dichte von Bebauung, Bevölkerung und des ÖPNV-Angebots folgen jedoch eher einer mono- als polyzentralen Struktur.

Hinzu kommt die jahrzehntelange Ost-West-Trennung der Stadt im Zuge der Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach dem Beitritt der DDR zur BRD im Jahr 1990 wurde Berlin zwar wieder als eine Gesamtstadt regiert und verwaltet. Auch war den Bewohner*innen nun wieder die Freizügigkeit gegeben, den jeweils anderen Teil der Stadt zu betreten und zu nutzen. Doch sind städtebauliche, baustrukturelle, sozialräumliche und politische Unterschiede zwischen Stadtteilen im ehemaligen Westen und Osten der Stadt nach wie vor sichtbar. In Ostberliner Stadtteilen finden sich mehr Großsiedlungen als im Westen,Footnote 2 das östliche Zentrum ist geprägt vom Umbau zur sozialistischen Stadt (vgl. Häussermann und Kapphan 2002: 59 ff.) und das Netz der Trams erstreckt sich noch immer fast ausschließlich auf das ehemalige Ostberlin. Auf sozialräumlicher Ebene lässt sich feststellen, dass im Westen der Stadt der Anteil an Personen mit Migrationshintergrund deutlich größer ist als im Osten (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, Referat IA, Stadtentwicklungsplanung 2017). Und ein Blick auf die Wahlergebnisse zeigt, dass die Linkspartei im Durchschnitt in den Ostberliner Wahlkreisen deutlich häufiger gewählt wird als in den Westberliner, das Gleiche gilt auch für die AfD (vgl. z. B. Bömermann 2017).Footnote 3 Eine Studie von Scheiner (1999) – die weiter unten ausführlicher diskutiert wird – belegt, dass zehn Jahre nach der Wiedervereinigung Berlins Unterschiede in der Wahrnehmung und den Aktivitätsräumen zwischen Ost- und Westberliner*innen fortbestehen.Footnote 4

Berlin eignet sich also, um die Bedeutung von allgemeinen Wohnquartiermerkmalen für jugendliche Aktivitätsräume zu erforschen. Zugleich ist Berlin durch historisch bedingte stadtstrukturelle Eigenschaften ein Sonderfall unter deutschen Großstädten. Es stellt sich daher die Frage, ob diese Eigenarten Berlins sich auch im räumlichen Verhalten der Jugendlichen niederschlagen. Sind die Freizeitaktivitäten von Jugendlichen auf die Subzentren ausgerichtet? Schlägt sich die ehemalige Ost-West-Teilung der Stadt auch in den Aktivitätsräumen von Ost- bzw. Westberliner Jugendlichen nieder? Um diese Fragen zu beantworten und die im vorangegangenen Kapitel herausgearbeiteten Hypothesen mit Blick auf die spezifischen Merkmale Berlins zu modifizieren oder zu ergänzen, müssen verschiedene Aspekte der Stadtstruktur detailliert erörtert werden.

Eine Betrachtung der baulichen Dichte und der Lage der verschiedenen Zentren gibt Auskunft darüber, in welchen Bereichen der Stadt sich Infrastruktur konzentriert. Diese Bereiche bieten Jugendlichen attraktive Gelegenheiten für Freizeitaktivitäten. Dies gilt insbesondere, wenn in den Subzentren auch Shoppingmalls vorhanden sind. Neben den Einkaufszentren sind auch Grünflächen wichtige öffentliche Orte für die jugendliche Freizeitgestaltung. Die Verteilung beider Raumtypen im Stadtgebiet soll daher analysiert werden. Verteilen sie sich der polyzentralen Struktur folgend in der ganzen Stadt oder bestehen Konzentrationen in bestimmten Stadtgebieten? Müssen Jugendliche für den Besuch einer Shoppingmall ins Stadtzentrum und für einen Spaziergang im Grünen an den Stadtrand fahren?

Auch die räumliche Verteilung von jugendbezogener Infrastruktur hat Einfluss auf die Aktivitätsräume von Jugendlichen. Die offenen Bereiche von Jugendfreizeiteinrichtungen sind beliebte Orte und werden genutzt, um zu chillen und Freund*innen zu treffen. Das Angebot von Jugendzentren richtet sich häufig an Jugendliche aus Familien mit niedrigerem sozialen Status. Gibt es in marginalisierten Quartieren daher eine größere Dichte dieser Einrichtungen? Dies würde die Ausrichtung der Aktivitäten von Jugendlichen unterer sozialer Schichten und benachteiligter Quartiere auf die eigene Nachbarschaft stützen. Auch die Schulhöfe werden außerhalb der Unterrichtszeiten für Freizeitaktivitäten genutzt. Die Verteilung der Schulen im Stadtgebiet ist darüber hinaus auch relevant, da der Besuch einer weiter entfernten Schule zu sozialen Kontakten und Freizeitaktivitäten in anderen Teilen der Stadt führen kann. Wichtig ist dabei nach Schulformen zu analysieren. Gibt es Bereiche in der Stadt, in denen keine Gymnasien vorhanden sind? Müssen Schüler*innen in manchen Stadtteilen längere Wege zurücklegen, um eine Schule ihrer gewünschten Schulform zu erreichen?

Die Analysen zur allgemeinen und jugendbezogenen Infrastruktur verdeutlichen, wie attraktive Orte für die jugendliche Freizeitgestaltung in Berlin verteilt sind. Sie spiegeln das Potential, die Anreize, welche der Stadtraum bietet. Ob die Orte genutzt werden, hängt jedoch zum einen von den individuellen Bedürfnissen und Aktivitäten der Jugendlichen ab. Zum anderen stellt sich die Frage nach ihrer Erreichbarkeit. Daher ist eine Betrachtung der Berliner Mobilität notwendig. Wie gut sind weiter entfernte Teile der Stadt mit der Verkehrsinfrastruktur, die Berlin bietet, zu erreichen? Wie uneingeschränkt sind Verkehrsmittel für Jugendliche nutzbar?

Neben diesen Untersuchungen zur physischen Struktur, soll auch die sozialräumliche Struktur Berlins und die Lage von marginalisierten und privilegierten Quartieren eingehend untersucht werden. Auf die Relevanz der sozialen Zusammensetzung von Quartieren für die Ausprägung der Aktivitätsräume wurde im vorangegangenen Kapitel hingewiesen: Die Aktivitätsräume von Bewohner*innen marginalisierter Quartiere sind eher auf die eigene Nachbarschaft ausgerichtet. Dieser Effekt könnte durch Lage und Anbindung des Quartiers noch verstärkt werden. Für die Frage der aktivitätsräumlichen Segregation sind Lage und zusammenhängende Gebiete der verschiedenen Quartierstypen relevant. Sind benachteiligte Quartiere Inseln in der Innenstadt? Dann kommen ihre Bewohner*innen mit anderen sozialräumlichen Kontexten in Kontakt, sobald sich ihre Bewegungsradien vergrößern. Oder gibt es große zusammenhängende Bereiche benachteiligter Nachbarschaften in Berlin?

Aus der Aufarbeitung der physischen und sozialräumlichen Struktur Berlins und ihrer Eigenarten ergeben sich wichtige allgemeine Annahmen zur Modifikation der im vorangegangenen Kapitel aufgestellten Hypothesen. Weitere wichtige Hinweise liefern die bisher wenigen empirischen Untersuchungen, die das Freizeitverhalten und die Aktivitätsräume von Jugendlichen in Berlin untersuchen. Mit ihrer Hilfe lässt sich prüfen, ob die mit Bezug auf die Stadtstruktur Berlins Spezifizierung der Hypothesen empirisch stichhaltig ist. Abschließend werden die zentralen Erkenntnisse des Kapitels zusammengefasst.

3.1 Zentrale Dichte, polyzentrale Infrastruktur

Die städtebauliche Struktur Berlins ist Ergebnis ihrer wechselhaften Geschichte. So ist auch die Polyzentralität historisch bedingt durch die sukzessiven Stadterweiterungen durch Eingemeindungen umliegender Städte und die jahrzehntelang andauernde Ost-West-Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg. Zugleich verdichten sich Baustruktur und Bevölkerung – wie in jeder anderen Stadt – im Zentrum, das durch dichtere Baustrukturtypen gekennzeichnet ist als die äußeren Stadtbereiche. Die Polyzentralität bezieht sich in erster Linie auf die Infrastruktur, die sich nicht nur in der Innenstadt konzentriert, sondern auch in den Subzentren vieler Stadtteile.

Die Subzentren sind auch Standorte der vielen Einkaufszentren in der Stadt. Diese sind beliebte Freizeitorte von Jugendlichen zum Chillen und Freund*innentreffen. Für diese Aktivitäten nutzen Jugendliche auch Parks und andere Grünflächen, welche ebenfalls in der gesamten Stadt vorhanden sind. Grundsätzlich müssen Jugendliche in allen Teilen der Stadt demnach keine weiten Wege zurücklegen, um diese beiden Raumtypen für ihre Freizeitaktivitäten zu nutzen.

3.1.1 Dichte und Zentren

Die Strukturen von Städten sind geprägt durch die Geschichte menschlicher Gesellschaft im Allgemeinen und die Geschichte menschlicher Bautätigkeit im Besonderen. Für Berlin war das enorme Wachstum, das die Stadt gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfuhr, besonders prägend (vgl. Peters 1995: 120). Der Aufstieg zu einer Industrie- und Großstadt brachte einen enormen Bevölkerungszuwachs mit sich und in den zentralen Stadtteilen entstand parallel „die für Berlin typische dichte Blockbebauung mit engen, teilweise mehreren aufeinander folgenden Hinterhöfen“ (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2020: 06.07). Die 1920 erfolgte Eingemeindungen der umliegenden Ortschaften zu einem neuen Groß-Berlin brachten auch eine Vergrößerung der Siedlungsfläche (vgl. Peters 1995: 150). Die hinzugewonnenen Flächen wurden unter anderem auch für gestaltete Freiräume, wie Parks, genutzt. So entstanden „die großen Volksparks und Kleingartenanlagen, die sich ringförmig um den Innenstadtkern der Jahrhundertwende erstreckten“ (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2020: 06.07).

Die gewachsenen Strukturen der Stadt wurden dann im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstört, das betraf z. B. schätzungsweise 30 % der Wohngebäude (vgl. Hoffmann 1998: 47). Weitere Veränderungen der städtebaulichen Struktur Berlins brachten die Stadtentwicklung im Westen ebenso wie im Osten der Stadt nach der Teilung mit sich. In Westberlin wurde zunächst massiv beschädigte Bausubstanz abgerissen und ganze Blöcke somit umgestaltet und durch Neubauten ersetzt. Dabei wurde auch die Wohndichte verringert. Zusätzlich wurden am Stadtrand große Wohnsiedlungen angelegt. Um der Wohnungsnot nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs zu begegnen, wurde auch in Ostberlin auf Abriss und dem Neubau von Großsiedlungen gesetzt. In beiden Teilen Berlins wurde mit der Zeit aber auch der Altbau-Bestand als erhaltenswert erachtet und statt weiterem Abriss wurde eine behutsame Sanierung umgesetzt (vgl. Häussermann und Kapphan 2002: 76; Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2020: 06.07). Die Zeit nach der Wiedervereinigung der Stadt war vor allem geprägt durch den Umzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlin und der Entstehung des Regierungsviertels im Zentrum Berlins. Optimistische Wachstumsprognosen führten zunächst zur Planung und teilweisen Umsetzung neuer Vorstadtsiedlungen (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2018). Nachdem es dann nicht zu dem erwarteten Bevölkerungszuwachs kam, wurde die Wohnungsbautätigkeit zurückgefahren. Statt auf Siedlungsbau wurde vermehrt auf Bestandssanierung und Nachverdichtung gesetzt (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2020: 06.07).

Die aktuelle Bau- und Stadtstruktur ist Ergebnis dieser von Wachstum, Zerstörung und Teilung geprägten Geschichte Berlins. Der von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen herausgegebene UmweltatlasFootnote 5 stellt für Berlin sechs Baustrukturtypen heraus.Footnote 6 Der Baustrukturtyp der durchgehende Blockrandbebauung mit (zum Teil durch Sanierungen stark veränderten) Gebäuden aus den Jahren 1870 bis 1918 beschränkt sich weitestgehend auf das Gebiet innerhalb des S-Bahn-Rings sowie einige unmittelbar außerhalb anschließende Gebiete (z. B. Friedenau und Gesundbrunnen) (s. Abb. 3.1; vgl. auch (Brake 2012: 258 f.)). Abseits dieser durchgehenden Bebauung im und um den S-Bahn-Ring finden sich noch vereinzelte Inseln mit Blockrandbebauung in den Zentren von Stadtteilen, die ehemals eigene Ortschaften waren (z. B. Köpenick oder Spandau). Die Wohnbebauung außerhalb dieses zentralen Bereichs bis hin zum Stadtrand ist geprägt durch Zeilenbau aus der Zwischen- und Nachkriegszeit sowie Einfamilienhausgegenden und Großsiedlungen. Größere Gebiete letzteren Baustrukturtyps finden sich innerhalb des S-Bahn-Rings nur in Friedrichshain und Mitte, der Großteil liegt im östlichen Bereich zum Stadtrand hin, aber auch im Norden, Westen und Süden am Rand der Stadt. Im äußeren Siedlungsbereich ist die Wohnbebauung auch häufiger durchbrochen von Gebieten ohne Wohnbebauung, hier prägen einerseits Grün- und Freiflächen und andererseits Gebieten mit vornehmlich gewerblicher Nutzung die Stadtstruktur.

Abbildung 3.1
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Karte der räumlichen Verteilung der Strukturtypen (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2020)

Abbildung 3.2
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Karte der Bevölkerungsdichte (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2020)

Abbildung 3.3
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Karte der baulichen Dichte (Geschossflächenzahl) (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2020)

Entsprechend gestaltet sich sowohl die bauliche als auch die Bevölkerungsdichte (s. Abb. 3.2 und 3.3). Geschossflächenzahl (GFZ) sowie BevölkerungszahlenFootnote 7 zeugen von einer hohen Dichte im Zentrum der Stadt und einem markanten Abfall der Dichte ab der Grenze des S-Bahn-Rings. In den äußeren Bereichen Berlins gibt es vor allem an den Standorten der Großsiedlungen vereinzelte Inseln höherer Dichte (z. B. in Marzahn-Hellersdorf). Die höhere Dichte im Zentrum ist nicht überraschend und kennzeichnend für große Städte.

Der „Stadtentwicklungsplan Zentren“ der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt (2016b) weist für Berlin 83 städtische Zentren (s. Abb. 3.4) aus. Neben den beiden Zentrumsbereichskernen im ehemaligen Ost- und Westteil der Stadt, gibt es acht weitere Hauptzentren. Diese liegen teilweise am Rande des inneren Stadtbereichs, teilweise aber auch zum Stadtrand hin. Auch die Stadtteil- und Ortsteilzentren befinden sich sowohl im Zentrum als auch im äußeren Stadtbereich. Viele der Zentren außerhalb der Innenstadt sind ehemalige Stadtzentren eingemeindeter Orte (z. B. Spandau) (vgl. Brake 2012: 273). Sie sind daher auch Orte mit besonderer städtebaulicher Prägung und dienen der Identifikation mit dem Stadtteil (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt 2016b: 8). Die unterste Hierarchieebene der Ortsteilzentren bietet nur eine Grundversorgung mit Waren und Dienstleistungen und ist nicht immer ans S- und U-Bahnnetz angeschlossen. Aber bereits die Stadtteilzentren sind gut per ÖPNV zu erreichen und bieten neben einem erweiterten Waren- und Dienstleistungsangebot auch soziale und kulturelle Infrastruktur (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2019b: 40 f.).

Insgesamt konstatiert der „Stadtentwicklungsplan Zentren“ der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, dass diese polyzentrale Struktur eine gute wohnungsnahe Grundversorgung in den meisten Teilen der Stadt ermöglicht. Mit Sorge wird allerdings die Entwicklung der kleinen und mittelgroßen Zentren gesehen. Während die beiden großen Zentrumsbereiche im Westen (zwischen Wilmersdorfer Straße und Bahnhof Zoo) und im Osten (zwischen Potsdamer Platz, Friedrichsstraße und Alexanderplatz) der Stadt und weitere Hauptzentren (z. B. in Spandau und Köpenick) einen deutlichen Zuwachs der Verkaufsflächen zwischen 2010 und 2015 verzeichneten, findet sich bei den Stadtteil- und Ortsteilzentren nur eine geringe Zunahme oder sogar Abnahme (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt 2016b: 15 ff.). Trotz dieser Entwicklung, welche die Bedeutung der Hauptzentren gegenüber den Subzentren stärkt, ist durch die vielen Zentren eine fußläufige Nahversorgung der Bevölkerung in den allermeisten Teilen der Stadt sichergestellt.

3.1.2 Einkaufszentren und Grünflächen

Mit Blick auf die Jugendlichen ist vor allem die Verteilung großer Einkaufszentren und Grün- bzw. Freiflächen von Interesse, da diese (teil-)öffentlichen Raumtypen von Jugendlichen in ihrer Freizeit bevorzugt aufgesucht werden, wie im vorangegangenen Kapitel bereits dargelegt wurde. Für die fast 70 Einkaufszentren („Shoppingmalls“)Footnote 8 in BerlinFootnote 9 ergibt sich laut Brake (2012: 272 f.) eine bemerkenswerte räumliche Verteilung. In den meisten Städten befinden sich Shoppingmalls entweder in Randlagen oder im Stadtzentrum (vgl. Dörhöfer 2008; Krüger und Walther 2007). In Berlin sind sie jedoch der polyzentrischen Stadtstruktur folgend über große Teile des Stadtgebiets verteilt und „integriert“ in bereits bestehende Subzentren.

Abbildung 3.4
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(Eigene Darstellung, Quelle: OpenStreetMap/berlin.de)

Karte der Einkaufszentren und Stadtzentren.

In den offiziellen Dokumenten und Karten der Stadtverwaltungen Berlins werden Einkaufszentren nicht gesondert ausgewiesen. Daher war für eine kartografische Darstellung und Auswertung der Standorte von Einkaufszentren eine eigene Recherche und Zusammenstellung von Daten in einem GIS-Layer notwendig. Durch eine Abfrage von Objekten mit den Namen „mall“ des Open Street Map Kartenprojektes konnten die meisten Einkaufszentren im Stadtgebiet erfasst werden. Abgeglichen und ergänzt wurde der GIS-Layer mit einer Liste von berlin.de.Footnote 10 Die 95 Objekte beinhalten nicht nur klassische, große Shoppingmalls, sondern auch kleinere „Passagen“. Deren Erscheinungsbild und Konsumangebot ist zwar häufig weniger attraktiv. Da sie aber ebenfalls überdachte Zwischenräume besitzen, kommen sie als geschützte Aufenthaltsräume für Jugendliche nichtsdestotrotz in Frage und sollen hier daher auch als Einkaufszentren gelten.

Abbildung 3.5
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Karte der Grünversorgung (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2020)

Die Darstellung der gewonnenen Daten als Karte belegt die Aussage von Brake (2012) (s. Abb 3.4). Viele der kartierten Shoppingmalls befinden sich im Zentrum oder in und am S-Bahn-Ring, aber auch in den Bezirken jenseits des S-Bahn-Rings gibt es viele Standorte; dort dann häufig in den Stadtteilzentren. Eine eindeutige Konzentration in der Innenstadt oder nur in bestimmten Bereichen der Stadt ist nicht auszumachen, auch wenn es eine höhere Dichte innerhalb des S-Bahn-Rings und im östlichen äußeren Bereich gibt. Zu beachten ist jedoch, dass sich die Einkaufszentren stark in ihrer Größe und Atmosphäre (vgl. Dörhöfer 2008) und dadurch möglicherweise auch in ihrer Attraktivität für Jugendliche unterscheiden. Große, moderne Shoppingmalls sind in den letzten Jahren vor allem im Stadtzentrum entstanden, z. B. die Bikini-Mall am Breitscheidplatz, die Mall of Berlin am Leipziger Platz oder das Alexa-Einkaufszentrum am Alexanderplatz.

Obwohl insgesamt 35 % des Berliner Stadtgebietes aus Wald, Grün- und Freiflächen besteht (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2020: 06.01), zählt Berlin zu den Städten mit eher wenig „grüner Infrastruktur“ (vgl. Richter et al. 2017). Die Grünflächenausstattung pro Einwohner*innen zählt im Vergleich mit anderen deutschen Städten zu den geringsten, zugleich liegt Berlin im Mittelmaß bei der Erreichbarkeit öffentlicher Grünflächen (vgl. Richter et al. 2016). Wie zu erwarten, ist die Versorgung mit Grünflächen in den Innenstadtbereichen Berlins mit ihrer überwiegend dichten Blockrandbebauung deutlich schlechter als in den Bereichen außerhalb des S-Bahn-Rings, wo die Bebauung aufgelockert wird durch größere grüne unbebaute Flächen (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2020: 06.05). Auch zeigt sich, dass marginalisierte Quartiere schlechter mit Grünflächen versorgt sind als eher privilegierte Nachbarschaften (vgl. Kleinschmit et al. 2011).Footnote 11

Als Grundlage für diese Bewertungen dient die Relation der Grünfläche zur Bevölkerungszahl im Einzugsbereich (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2020: 06.05).Footnote 12 Grundsätzlich finden sich aber in allen Stadtteilen, auch in der Innenstadt, größere (z. B. Tiergarten, Tempelhofer Feld), mittlere (z. B. die Volksparks) und kleinere Grünflächen (s. Abb. 3.5). Mit der Einschätzung, weite Teile der Innenstadtquartiere seien mit Grünflächen unterversorgt, wird auf die potenzielle Übernutzung dieser Flächen der Naherholung hingewiesen (vgl. Jung 2019: 51 f.) – ein Problem, das sich in vielen deutschen Großstädten aufgrund von anhaltendem Zuzug und Nachverdichtung ergibt (vgl. Dosch 2018). Inwiefern diese Übernutzung von Jugendlichen als negativ wahrgenommen wird und dazu führt, dass sie auf weiter entfernt gelegene Grünflächen für ihre Freizeitgestaltung ausweichen, lässt sich mithilfe der vorliegenden Forschung und Literatur nicht klären. Es lässt sich jedoch vermuten, dass sportliche Freizeitaktivitäten durchaus negativ betroffen sind, wenn z. B. zu wenig öffentliche Sportplätze im Verhältnis zur Bevölkerungsdichte im Quartier vorhanden sind. Beim Treffen mit Freund*innen und dem Beobachten anderer Jugendlicher mag die hohe Nutzungsdichte eines Parks sogar zuträglich sein, möglicherweise spielt hierbei aber auch das Image eines Parks und sein übliches Publikum eine Rolle (z. B. ist der Mauerpark im Prenzlauer Berg besonders beliebt bei jungen Erwachsenen). Naturinteressierte Jugendliche zieht es wahrscheinlich in die größeren Waldgebiete am Stadtrand (z. B. Grunewald) oder in Brandenburg. Je nach Aktivitäten werden also andere Grünflächen genutzt.

3.1.3 Zusammenfassung

Was bedeutet diese Verteilung von Dichte, Infrastruktur, Einkaufszentren und Grünflächen für das Freizeitverhalten von Jugendlichen in Berlin? Innerhalb des S-Bahn-Rings ergibt sich durch die höhere Bebauungs-, Bevölkerungs- und Zentrendichte und eine höhere Dichte an infrastrukturellem Angebot (Nahversorgung, kulturelle und soziale Angebote) und eine höhere Dichte an potenziellen sozialen Kontakten. Die Folge sind kürzere Wege für die Nutzung von Infrastruktur und die Pflege von sozialen Kontakten (vgl. Kemper et al. 2012). Wie Studien zeigen sind die Aktivitätsräume von Personen in dichten, innerstädtischen Quartieren kleiner (vgl. Chen und Akar 2016; Chen et al. 2017).

Durch die polyzentrale Struktur Berlins ist jedoch auch ein großes Angebot an Infrastruktur jenseits des Stadtzentrums in den Subzentren verfügbar. Dort finden sich auch die für die jugendliche Freizeitgestaltung relevanten Einkaufszentren. Ein differenziertes Angebot an Grünflächen ist ebenfalls in allen Teilen der Stadt vorhanden und die Präferenz für bestimmte Arten von Grünflächen kann wohnortnah umgesetzt werden. Andererseits unterscheiden sich die einzelnen Einkaufszentren und Grünflächen in ihrer Attraktivität für Jugendliche. Bestimmte große, moderne Shoppingmalls und innerstädtische Parks mit einem hippen Image sind möglicherweise Anziehungspunkte für Jugendliche aus dem ganzen Stadtgebiet. Diese Qualitätsunterschiede lassen sich jedoch durch die vorhandenen Daten nicht auf einer allgemeinen Ebene bestimmen und darstellen.

Tabelle 3.1 Ergänzung der Hypothesen: Stadt- und Infrastruktur

Mit Blick auf diese Erkenntnisse muss die Hypothese 2.b modifiziert werden (s. Tab. 3.1). Durch die polyzentrale Struktur Berlins sind die Freizeitaktivitäten von Jugendlichen weniger stark aufs Stadtzentrum ausgerichtet als in monozentralen Städten. Neben Schul- und Wohnstandort haben auch die Subzentren einen Einfluss auf die räumliche Ausrichtung der Freizeit. Der geringere Fokus aufs Stadtzentrum wird auch dadurch gestützt, dass sich zwei für die jugendliche Freizeitgestaltung wichtige Raumtypen, nämlich Shoppingmalls und Grünflächen, im ganzen Stadtgebiet befinden. Aus dieser Verteilung ergibt sich eine weitere Hypothese (H2.c): Da diese Raumtypen bei Jugendlichen sehr nachgefragt sind und das Angebot zugleich überall in der Stadt vorhanden ist, wird es auch von Jugendlichen in allen Teilen der Stadt genutzt. Allgemein sind die Jugendlichen nicht gezwungen weite Wege zurückzulegen und bestimmte Teile der Stadt aufzusuchen, um diese Raumtypen zu nutzen. Zugleich gibt es einzelne Einkaufszentren oder Parks im inneren Bereich der Stadt mit besonderer Attraktivität für Jugendliche. Die in Hypothese 3.b enthaltene Aussage, dass eine zentrale Wohnlage zu einem kleineren Aktivitätsraum führt, ist – zusammen mit der allgemein höheren Dichte im Zentrum – für Berliner Jugendliche mit Skepsis zu betrachten, wenn auch nicht gänzlich zu verwerfen. Dies unterstreicht, wie wichtig es ist, das Merkmal der Wohnlage im Bezug zum Stadtzentrum in den empirischen Analysen dieser Arbeit zu überprüfen.

3.2 Jugendbezogene Infrastruktur

Neben der allgemeinen Infrastruktur, wie Einkaufszentren und Parks, die sich Jugendliche aneignen und für ihre Freizeitaktivitäten nutzen, besitzt Berlin auch Infrastruktur, die explizit auf Kinder und Jugendliche ausgerichtet ist. Zunächst sind hier Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen (meist als Jugendzentren oder Jugendklub bekannt), die von der Stadt sowie kirchlichen und privaten Trägern betrieben werden, zu nennen. Diese sind meist offen für alle Jugendliche, teilweise aber auch ausgerichtet auf bestimmte Personengruppen (z. B. Mädchen). Das Angebot umfasst je nach Einrichtung offene Bereiche, in denen sich Jugendliche aufhalten und Gleichaltrige treffen können, und organisierte Angebote, wie Workshops und Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themen (z. B. Tanzen, Musik, Basteln, etc.). Nicht selten können in und um Jugendfreizeiteinrichtungen auch Spiel- und Sportgeräte und -orte genutzt werden (z. B. Kickertisch, Tischtennisplatte, Basketballplatz). Oberflächlich betrachtet sind Jugendzentren in allen Bereichen der Stadt vorhanden. Eine detaillierte Auswertung nach Quartierstatus belegt jedoch eine höhere Konzentration in marginalisierten Quartieren. Jugendliche in diesen Quartieren müssen daher im Schnitt weniger weite Wege zurücklegen, um das Angebot von Jugendfreizeiteinrichtungen zu nutzen.

Daneben sind auch die Schulen relevante Orte für das Freizeitverhalten und die Aktivitätsräume von Jugendlichen. Sie sind neben dem Zuhause für alle schulpflichtigen Jugendlichen der zweite Fixpunkt der täglichen Routinen und wichtiger Sozialisationsraum (vgl. Hummrich und Kramer 2017; Zschach und Pfaff 2014). Für viele Jugendliche sind Schulen jenseits der Unterrichtszeiten auch Freizeitorte, weil dort an die Schule angegliederte, organisierte Freizeitbeschäftigungen stattfinden oder auch, weil das Schulgelände als öffentlich zugänglicher Ort für Sport und Geselligkeit genutzt wird. Zudem werden an Schulen soziale Kontakte geknüpft und Freundschaften entstehen (vgl. Alleweldt 2009). Liegen die besuchten Schulen in weiter entfernten Stadtteilen, können sie Brücken zu Kontakten und Freizeitaktivitäten in diesen Teilen der Stadt bilden.

Welche Schule besucht wird, hängt von den Bildungsaspirationen der Familien und den Leistungen der Schüler*innen ab: Leistungsstärkere Schüler*innen aus Familien mit mittlerem und hohem sozialen Status wählen meist Schulen mit einer Oberstufe, für leistungsschwächere Schüler*innen aus statusniedrigeren Haushalten kommen eher Schulen ohne Oberstufe in Frage. Grundsätzlich sind beide Schultypen in allen Teilen der Stadt vorhanden. Weitere Unterschiede in Angebot und Nachfrage ergeben sich durch unterschiedliche Profile und Images der Schulen. So werden besonders leistungsorientierte Schulen mit besonderem Profil auch von bildungsbewussten Eltern aus weiter entfernten Teilen der Stadt gewählt. Diese qualitativen Differenzen im Schulangebot können jedoch nicht auf einer allgemeinen Ebene nachgezeichnet werden, werden aber bei der Stichprobenziehung und Auswertung der Daten dieser Forschung reflektiert.

Abbildung 3.6
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(Eigene Darstellung, Quelle: Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung Berlin e.V. 2016)

Karte der Jugendfreizeiteinrichtungen.

3.2.1 Jugendfreizeiteinrichtungen

Jugendfreizeiteinrichtungen sind die einzigen Orte in der Stadt, die explizit für die Freizeitbeschäftigung von Jugendlichen vorgesehen sind. Eine vollständige Liste aller Einrichtungen öffentlicher und privater Träger gibt es nicht. Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie verweist auf Anfrage auf die Broschüre der Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung Berlin e.V. (2016) als umfangreiche Aufstellung aller Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen in Berlin. Durch mehrere Aufbereitungsschritte konnte diese Broschüre in eine Tabelle transformiert und anschließend über die Adressangaben in QGIS geocodiert werden. Anhand der Angaben in der Broschüre zu den einzelnen Einrichtungen und ergänzende Internetrecherchen wurden die Einrichtungen danach kategorisiert, ob sich ihr Angebot auch an Jugendliche oder vornehmlich an Kinder richtet und ob sie auch ein offenes Angebot oder ausschließlich ein Programmangebot mit festen Terminen haben.

Die Darstellung als Karte zeigt, dass die 316 sozialen und kulturellen Einrichtungen mit Angeboten für Jugendliche grundsätzlich in der gesamten Stadt vorhanden sind (s. Abb. 3.6). Eine höhere Dichte an Jugendfreizeiteinrichtungen findet sich erwartungsgemäß in den Gebieten mit einer höheren Bevölkerungsdichte, also vor allem im Innenstadtbereich. Im Südwesten und Südosten, in den Bereichen mit großen See- und Waldflächen und kaum Besiedlung, befinden sich keine Einrichtungen.Footnote 13

Die Auswertung der Standorte der Jugendzentren nach dem sozialen Status der lebensweltlich orientierten Räume (LOR) zeigt, dass es in den privilegierten Quartieren unterdurchschnittliche viele Einrichtungen gibt, während es in den marginalisierten Quartieren überdurchschnittlich viele sind (s. Tab. 3.2). Eine gleichmäßige Verteilung aller Jugendfreizeiteinrichtungen auf alle Lebensweltlich orientierte Räume würde eine Quote von 0,71 Einrichtungen pro LOR ergeben. Während die vielen LOR mit einem mittleren Status diese Quote annähernd erreichen, liegt sie für die Quartiere mit hohem Status nur bei 0,25, für LOR mit (sehr) niedrigem Status jedoch bei 0,98 bzw. 1,10.Footnote 14

Tabelle 3.2 Verteilung Jugendzentren nach LOR-Status. (Eigene Berechnungen, Quelle: Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung Berlin e.V. 2016)

Eine Unterscheidung nach Jugendzentren mit offenen Angeboten und Jugendzentren, die ausschließlich ein terminiertes Programm für Workshops, Kurse, regelmäßige Gruppen usw. anbieten, ist interessant, sprechen sie doch möglicherweise unterschiedliche Gruppen von Jugendlichen an. So sind Jugendeinrichtungen mit offenem Bereich (z. B. ein Café mit Billard- und Kickertisch) interessanter für Jugendliche mit eher spontaner und unstrukturierter Freizeitgestaltung, denen beispielsweise das Treffen von Freund*innen wichtig ist. Workshops und Kurse machen Jugendfreizeiteinrichtungen attraktiv für Jugendliche, die sich in ihrer Freizeit kreativ betätigen und bilden wollen. Dass diese unterschiedliche Freizeitgestaltung schicht- und geschlechtsspezifisch ist, wurde im vorangegangenen Kapitel dargestellt. Die Jugendfreizeiteinrichtungen mit offenem Angebot sind ähnlich ungleich verteilt wie die Gesamtmenge der Einrichtungen: unterdurchschnittliche viele befinden sich in den privilegierten, überdurchschnittlich viele in den marginalisierten Quartieren.

Diese ungleiche Verteilung ist nicht überraschend, sind doch Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen Teil der Jugendarbeit. Diese richtet sich in ihren Zielen der Förderung junger Menschen zwar grundsätzlich an alle Kinder und Jugendlichen, häufig stehen aber Jugendliche aus statusniedrigen Familien im Fokus (vgl. Oskamp 2013). Da diese häufig in marginalisierten Quartieren wohnen, gibt es dort mehr Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen. Förderprogramme zur sozialen Stabilisierung benachteiligter Quartiere, wie das Städtebauförderprogramm „Soziale Stadt“, stellen Mittel für Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen bereit (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung 2010). Die Finanzierung von Freizeiteinrichtungen für Kinder und Jugendliche in benachteiligten Quartieren wird dadurch erleichtert und es besteht ein Anreiz sie in eben jenen Quartieren zu schaffen.

3.2.2 Schulen

Schulgelände sind teilweise nicht umzäunt oder ummauert und der Zugang ist daher jenseits der Unterrichtszeiten offen. Sie sind somit von Jugendlichen als Freiraum theoretisch nutzbar, auch wenn dies aus versicherungstechnischen Gründen nicht immer gern gesehen wird (vgl. Derecik 2015: Abschn. 4.6).Footnote 15 Als Freizeitorte sind sie für Jugendliche vor allem attraktiv, da sie von anderen Altersgruppen nicht genutzt werden. Mit Blick auf ihre Funktion als Raum für jugendliche Freizeitaktivitäten ist nicht von einer ungleichen räumlichen Verteilung auszugehen, da Schulen allgemein über das gesamte Stadtgebiet verteilt sind. Räumlich ungleich verteilt sind jedoch Bildungschancen, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

Schulen sind nicht nur als Orte für die jugendliche Freizeitgestaltung außerhalb der Unterrichtszeiten relevant. Sie können auch Brücken zu Kontakten und Freizeitaktivitäten in anderen Teilen der Stadt bilden, wenn nicht eine wohnortnahe Schule besucht wird. Durch eine ungleiche räumliche Verteilung von attraktiven Schulen sind insbesondere bildungsorientierte Familien der Mittel- und Oberschicht, bereit weitere Schulwege für ihre Kinder in Kauf zu nehmen. Es ist eine komplexe Frage, ob in allen Teilen der Stadt ein ähnlicher Zugang zu Schulbildung gegeben ist. Die Verteilung der Schulen nach den in Berlin angebotenen weiterführenden Schulformen zu betrachten, ist an dieser Stelle nicht ausreichend, um das Angebot räumlich zu beschreiben.Footnote 16 Gymnasien bieten bildungsorientierten Familien zwar grundsätzlich eine höhere Bildung, aber Leistungsorientierung und Qualität der Schulen variieren auch innerhalb der Schulformen. Dies ist verknüpft mit der vorhandenen Schulsegregation in Berlin. Schüler*innen unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft sind ungleich verteilt auf die vorhandenen Schulen (vgl. Helbig und Nikolai 2017; Jurczok 2019). Schulen mit einem überdurchschnittlichen Anteil an Schüler*innen mit Migrationshintergrund und Schüler*innen aus sozial benachteiligten Familien sind häufig personell schlechter ausgestattet und haben eine geringere Bildungsqualität als Schulen mit einem durchschnittlichen oder unterdurchschnittlichen Anteil an Schüler*innen dieser Gruppen (vgl. Helbig und Nikolai 2019). Die Attraktivität von Schulen und die resultierende Schulwahl sind also nicht primär bedingt durch die Schulform.

Drope & Jurczok (2013: 500 f.) konstatieren, dass sich Schulen in ihrer Attraktivität primär dadurch unterscheiden, ob sie eine eigene Oberstufe haben. In der Regel besitzen neben Gymnasien auch jene Integrierten Sekundarschulen, welche aus Gesamtschulen entstanden sind, eine eigene Oberstufe (vgl. auch Helbig und Nikolai 2017). Eine Auswertung von Jurczok (2019: 120 ff.) zeigt, dass in allen Stadtbezirken Gymnasien und Integrierte Sekundarschulen mit Oberstufe vorhanden sind, es aber doch deutliche Unterschiede gibt. So sind z. B. im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf über 80 % der weiterführenden öffentlichen Schulen Gymnasien oder Integrierte Sekundarschulen (ISS) mit Oberstufe, während es in Marzahn-Hellersdorf weniger als 50 % sind. Neukölln wiederum hat zwar den zweitgeringsten Anteil an Gymnasien, durch die hohe Anzahl an ISS mit Oberstufe liegt der Anteil an Schulen mit Oberstufe jedoch sehr nahe am Mittelwert aller Berliner Bezirke. Weitere Unterschiede zwischen den Bezirken ergeben sich bei ergänzenden Schulmerkmalen (z. B. Abiturnote, Unterrichtsausfall) und der Zusammensetzung der Schülerschaft (vgl. Jurczok 2019: 122 ff.).

Abbildung 3.7
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(Eigene Darstellung, Quelle: Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, 2019)

Karte aller öffentlichen Schulen der Sekundarstufe.

Um die räumliche Verteilung von Schulen mit und ohne Oberstufe als Karte abzubilden, wurde ein Layer mit öffentlichen Schulen vom Geodatenportal FIS-Broker der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen heruntergeladen.Footnote 17 In dem Layer ist die Schulform für jede Schule angegeben, bei den Integrierten Sekundarschulen (ISS) fehlt jedoch die Angabe, ob eine Oberstufe vorhanden ist. Durch einen Abgleich mit einer Liste der Internetseite sekundarschulen-berlin.deFootnote 18 konnte diese Information ergänzt werden. Insgesamt gibt es in Berlin deutlich mehr Schulen (Gymnasien, ISS, Gemeinschaftsschulen) mit Oberstufenzugang (151) im Vergleich zu Schulen ohne eigene Oberstufe (62). Die Kartendarstellung zeigt, dass es im Westen und Südwesten außerhalb des S-Bahn-Rings fast keine Schulen ohne Oberstufe gibt (s. Abb. 3.7). Dies betrifft aber sowohl die Bezirke Charlottenburg-Wilmersdorf, Steglitz-Zehlendorf und Tempelhof-Schöneberg, die kaum benachteiligte LOR aufweisen, als auch Spandau, das durch eine ganze Reihe benachteiligter Gebiete geprägt ist. Auch im dichtbesiedelten Friedrichshain-Kreuzberg gibt es kaum Schulen ohne Oberstufe, obwohl es auch hier eine Reihe marginalisierter LOR gibt. Größere Bereiche ohne Oberstufen-Schulen existieren nur in den Gebieten mit größeren Grünflächen zum Stadtrand hin. Auch in den eher benachteiligten Gebieten im nördlichen und südlichen Innenstadtbereich sowie am östlichen und westlichen Stadtrand sind Schulen mit Oberstufe vorhanden. Eine schlechtere Versorgung von bestimmten Stadtteilen scheint auf dieser Betrachtungsebene nicht gegeben.

Geht man von einer ausreichenden Versorgung aller Stadtteile mit den angebotenen Schulformen aus, können Eltern in allen Teilen der Stadt eine wohnortnahe Schule der gewünschten Schulform für ihre Kinder wählen. Die Schulsegregation wäre dann begründet durch das Angebot unterschiedlicher Schulformen. Schüler*innen aus leistungsorientierten Familien mit höherem sozialen Status wählen ein Gymnasium oder eine Integrierte Sekundarschule mit Oberstufe, Schüler*innen aus statusniedrigeren Familien eine Schule ohne Oberstufe. Zusätzlich spiegelt sich in der Zusammensetzung der Schülerschaft in den Schulen beider Schulformen der umliegende Sozialraum, wodurch sich die residentielle Segregation ins Schulsystem übersetzt. In den Schulen marginalisierter Quartiere sind die Schüler*innen häufiger aus statusniedrigeren Familien, in weniger benachteiligten Quartieren ist ihr Anteil geringer. Die Schulsegregation geht in Berlin aber deutlich über die Segregation der Wohnorte hinausFootnote 19 und hat seit der Berliner Schulreform 2010/2011 sogar noch zugenommen Baur und Häussermann (2009).

Ursache dieser deutlichen schulischen Segregation ist vor allem die freie Schulwahl, welche es Eltern ermöglicht, Wunschschulen anzugeben. Im Zuge der Berliner Schulreform zum Schuljahr 2010/2011 wurde den Schulen die Möglichkeit gegeben, bei Übernachfrage 60 % der neuen Schüler*innen nach Grundschulnote und weiteren Kriterien auszuwählen. Die Folge des dadurch verstärkten Wettbewerbs zwischen den Schulen ist eine verstärkte Profilierung der einzelnen Schulen. Die Präferenzen der Familien aus den mittleren und oberen Schichten für bestimmte profilierte Schulen führen daher zu der verstärkten Segregation (vgl. Jurczok 2019). Zudem sind die Unterschiede zwischen den Schulformen durch die Zusammenfassung von Haupt-, Real- und Gesamtschulen nicht abgeschafft, sondern existieren informell weiter. Die Schulen differenzieren sich im reformierten Schulsystem danach, ob eine eigene Oberstufe vorhanden und aus welchem alten Schultyp eine Integrierte Sekundarschule hervorgegangen ist. Es zeigt sich, dass ISS, die aus Hauptschulen mit einem hohen Anteil an Schüler*innen mit einer LernmittelbefreiungFootnote 20 entstanden sind, noch immer einen hohen Anteil dieser Schüler*innen aufweisen (vgl. Helbig und Nikolai 2017).

Neben Schulform und Schulprofil zeigt sich auch der Sozialraum relevant für die Schulwahl. Gut informierte Eltern aus mittleren und oberen Schichten identifizieren die Attraktivität einer Schule auch durch den umgebenden Sozialraum (vgl. Clausen 2006; Mayer und Koinzer 2019). Die Wohnortnähe der Schule ist zwar ebenfalls wichtig, gebildete Eltern in marginalisierten Quartieren schicken ihre Kinder jedoch eher zu weiter entfernten Schulen, sollten jene in der Wohnumgebung nicht attraktiv genug erscheinen (vgl. Jurczok und Lauterbach 2014; Mayer und Koinzer 2019). Im Gegensatz dazu fällt die Schulwahl bei Eltern mit geringerer Bildung in der Regel sehr lokal aus. Insgesamt entsteht so eine verstärkte Konzentration von Schüler*innen aus gebildeteren Elternhäusern an Schulen in nicht-benachteiligten Quartieren und auf der anderen Seite von Schüler*innen aus weniger gebildeteren Elternhäusern an Schulen in benachteiligten Quartieren (vgl. Jurczok und Lauterbach 2014).Footnote 21 An Schulen in marginalisierten Quartieren mit einer Schülerschaft, die überwiegend aus benachteiligten Familien kommt, entsteht so ein Lernumfeld, dass zusätzlich benachteiligend wirken kann (vgl. Baur und Häussermann 2009; Baur 2013).

3.2.3 Zusammenfassung

Wie sind diese Erkenntnisse aus den Analysen zur Verteilung von Jugendfreizeiteinrichtungen und Schulen im Hinblick aufs Freizeitverhalten und die Aktivitätsräume von Jugendlichen einzuordnen? Auf den ersten Blick sind Freizeiteinrichtungen für Jugendliche im gesamten Stadtraum Berlins vorhanden – in zentralen ebenso wie in peripheren, in marginalisierten genauso wie in nicht-marginalisierten Gebieten. Das Gleiche gilt für Schulen bzw. ihre Außengelände in ihrer Funktion als Freiflächen für Freizeitaktivitäten. Es gibt also keine größeren, besiedelten Gebiete in der Stadt, in denen diese beiden Raumtypen den Jugendlichen als Orte für ihre Freizeitaktivitäten nicht zur Verfügung stehen. Insofern ist die Hypothese 2.c (s. Tab. 3.3) um diese beiden Raumtypen zu ergänzen. Die verfügbaren Daten geben keine Auskunft zur Qualität und Zugänglichkeit und damit Attraktivität der einzelnen Jugendzentren und Schulhöfe für Jugendliche. Die Auswertung muss daher auf einer allgemeinen, nicht differenzierenden Ebene verbleiben. Es erscheint aber unwahrscheinlich, dass einzelne Schulgelände und Jugendfreizeiteinrichtungen eine ähnliche Anziehungskraft besitzen wie bestimmte angesagte Parks oder Shoppingmalls und Jugendliche aus weiter entfernten Stadtteilen anlocken.

Tabelle 3.3 Ergänzung der Hypothesen: Jugendbezogene Infrastruktur

Die Jugendfreizeiteinrichtungen lassen sich nicht hinsichtlich ihrer individuellen Qualität differenzieren, jedoch lässt sich ihre Verteilung nach Quartieren genauer betrachten. Diese zeigt eine überdurchschnittliche Dichte an Jugendzentren in marginalisierten und eine unterdurchschnittliche in privilegierten Quartieren. Jugendliche, die den offenen Bereich oder das Programmangebot einer Jugendfreizeiteinrichtung nutzen wollen und in einem privilegierten Quartier wohnen, müssen also einen weiteren Weg zurücklegen als jene aus benachteiligten Quartieren. Umgekehrt haben Jugendliche aus benachteiligten Quartieren seltener einen Anreiz, ihr Quartier zu verlassen, um das Angebot von einem Jugendzentrum zu nutzen. Meist befinden sich gleich mehrere Einrichtungen in ihrem Quartier. Die angenommenen schichtspezifischen Unterschiede in Größe und Quartiersbezogenheit der Aktivitätsräume von Jugendlichen werden demnach durch die räumliche Verteilung von Jugendzentren in Berlin gestützt. Dies gilt in besonderer Weise für statusniedrigere Jugendliche, die ihre Freizeit häufiger mit unstrukturierten Freizeitaktivitäten, wie Chillen oder Freund*innentreffen, verbringen. Die offenen Bereiche von Jugendfreizeiteinrichtungen bieten für diese Aktivitäten attraktive Räume. Diese Erkenntnisse verdeutlichen, wie wichtig es ist, den Einfluss des sozialen Status des Wohnquartiers auf jugendliche Aktivitätsräume zu prüfen (H3.b).

Die räumliche Verteilung der Schule lässt sich mit den vorliegenden Daten nur nach Schulform jedoch nicht nach Qualität darstellen. Neben der Schulform sind auch die individuellen Schulprofile und der umgebende Sozialraum der Schulen ausschlaggebend für die Attraktivität der Schulen. Mittel- und Oberschichtsfamilien wählen auf Grundlage dieser Kriterien besonders leistungsorientierte Schulen für ihre Kinder. Dadurch kommt es zur Segregation im Berliner Schulsystem. Der Anteil an Schüler*innen aus benachteiligten Familien ist in den Schulen benachteiligter Quartiere meist höher als in den umliegenden Nachbarschaften. Die eingeschränkten Kontaktmöglichkeiten zu Jugendlichen anderer sozialer Schichten, die sich aus der residentiellen Segregation ergeben, setzen sich an den Schulen fort. Schulen sind Orte, an denen Jugendliche täglich andere Jugendliche treffen und so Freundschaften entstehen und sich soziale Netzwerke bilden. Gerade integrierte Sekundarschulen mit Oberstufe könnten Orte sein, wo Kontakte zwischen Schüler*innen aus marginalisierten und nicht-marginalisierten Familien entstehen. Doch wenn statushöhere Eltern ihre Kinder gezielt auf soziale homogene Gymnasien oder ISS schicken und dafür auch weitere Schulwege in Kauf nehmen, dann konzentrieren sich Kinder aus statusniedrigeren Elternhäusern an anderen Schulen. Kontakt zwischen Schüler*innen verschiedener sozialer Herkunft vermitteln Schulen dann nicht mehr.

Es ist also anzunehmen, dass Jugendliche aus Familien der Mittel- und Oberschicht, die in marginalisierten Quartieren wohnen, einen weiteren Schulweg haben, da ihre Eltern sie an Schulen in nicht-benachteiligten Quartieren anmelden. Da sie zumindest einen Teil ihrer sozialen Kontakte auch über die Schule knüpfen und sowohl die Schule als auch die Kontakte einen Einfluss auf die räumliche Verteilung der Freizeitaktivitäten haben, sind größere Aktivitätsräume zu erwarten. Auf der anderen Seite ist die Schulwahl von statusniedrigeren Familien weniger durch eine Bewertung von Schulprofil und umgebenden Sozialraum geprägt; Wohnortnähe steht im Vordergrund. Die Ausrichtung der Aktivitätsräume und sozialen Kontakte von Jugendlichen aus benachteiligten Familien auf das eigene Wohnquartier werden also durch die Schulwahl untermauert. Diese Erkenntnisse unterstreichen die in Hypothese 2.b formulierte Annahme, dass der Schulstandort die Ausrichtung von Freizeitaktivitäten und Freundeskreisen prägt. Durch die markante Berliner Schulsegregation und das unterschiedliche Schulwahlverhalten der verschiedenen sozialen Schichten, scheint diese Hypothese auf Berlin in besonderem Maße zuzutreffen. Auch die Annahme von kleineren Aktivitätsräumen Jugendlicher aus marginalisierten Quartieren und Familien findet damit eine Bestätigung und erscheint für Berlin als stichhaltige Hypothese (H3.b).

3.3 Verkehrsinfrastruktur und Mobilität

Wie gezeigt wurde, sind für Jugendliche relevante Freizeitorte in allen Bereichen Berlins vorhanden. Die Wege zum nächsten Einkaufszentrum, Park oder Jugendzentrum sind meist kurz und können von Jugendlichen daher zu Fuß oder mit dem Fahrrad, Roller oder Skateboard zurückgelegt werden. Zugleich gibt es aber auch in der Freizeit Anlässe, weiter entfernte Orte jenseits des eigenen Stadtteils aufzusuchen: Besonders attraktive Parks und Shoppingmalls oder Freund*innen in anderen Stadtteilen. Wie gut sind diese für Jugendliche zu erreichen? Hier spielt der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) eine große Rolle, da er den Jugendlichen ermöglicht, auch weitere Strecken selbstständig und ohne Begleitung ihrer Eltern zurückzulegen. Die Erreichbarkeit anderer Bereiche der Stadt hängt für Jugendliche daher von der Qualität des ÖPNV ab. Wichtig sind auch die Fahrtkosten: Teure Ticketpreise sind für Jugendliche – insbesondere aus ärmeren Familien – eine Hürde bei der Nutzung des ÖPNV.

3.3.1 Qualität des Berliner ÖPNV

Als Metropole bietet Berlin seinen Bewohner*innen ein breites Spektrum an öffentlichen Verkehrsmitteln.Footnote 22 Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) betreiben Bus-, Straßen- und U- bzw. Hoch-Bahn-Linien sowie Fähren auf der Spree und einigen der Seen im Stadtgebiet.Footnote 23 Eng verknüpft mit den BVG-Linien ist der S- und Regionalbahnverkehr der Deutschen Bahn (DB), der bedeutsam ist sowohl für die Anbindung des Berliner Umlands als auch für die Verbindung der einzelnen Teile der Stadt untereinander. Eine besondere Rolle spielt hierbei die sogenannte „Ringbahn“, eine ringförmige S-Bahn-Strecke, die in beide Richtungen den inneren Stadtbereich umfährt. Sie diente bei ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert der Verbindung verschiedener Kopfbahnhöfe von Zugstrecken aus verschiedenen Himmelsrichtungen und verknüpft heute noch die Linien der verschiedenen Bezirke miteinander (vgl. Fabian 2000). Seit 2018 betreibt die BVG mit „BerlKönig“ auch ein Ride-Sharing- bzw. Ride-Pooling-Angebot innerhalb des östlichen S-Bahn-Rings.Footnote 24

Im Sinne einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung hat sich die Stadt Berlin mit dem Stadtentwicklungsplan Verkehr 2025 zum Ziel gesetzt, den ÖPNV und den nicht-motorisierten Individualverkehr (NMIV) zu stärken (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung 2011; Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt 2013).Footnote 25 Ein von Greenpeace e.V. (2017) herausgegebener Vergleich nachhaltiger Mobilität in deutschen Städten kommt in der Bewertung des Berliner ÖPNV zu einem positiven Ergebnis.Footnote 26 Das Netz des öffentlichen Personennahverkehrs ist in Berlin gut ausgebaut, nur im Westteil der Stadt gibt es größere Lücken. Die Erreichbarkeit einer Station des Tram-, U- oder S-Bahnverkehrs ist im Vergleich der Städte durchschnittlich: 65 % der Berliner Bevölkerung hat im Umkreis von 600 Meter um das eigene Zuhause Anschluss an den schienengebundenen ÖPNV. Im Vergleich deutscher Städte hat Berlin mit 27 % den höchsten Anteil an ÖPNV im Modal Split.Footnote 27

Auch ein Monitoring-Bericht des Center Nahverkehr Berlin (2017) zur Umsetzung des Berliner Nahverkehrsplans bescheinigt dem Berliner ÖPNV eine gute Qualität, was die Zugangsstandards betrifft. Die Vorgaben des Nahverkehrsplan 2014–2018 (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt 2014a) für Erschließung, Bedienung und Verbindung werden von den Verkehrsunternehmen überwiegend erfüllt (vgl. Center Nahverkehr Berlin 2017: Kap. 2). In 87 % der dicht besiedelten Stadtgebiete erreichen Bewohner*innen eine Haltestelle des ÖPNV, die im Mindesttakt bedient wird, innerhalb von 300 Meter; in weniger dicht besiedelten Gebieten beträgt die Entfernung 400 Meter (vgl. Center Nahverkehr Berlin 2017: 5). Der Mindesttakt ist für die Hauptverkehrszeit (6:00 bis 9:00 Uhr; 14:00 bis 19:00 Uhr) mit 10 Minuten für S-Bahn, U-Bahn sowie Express-Bus und -Straßenbahnlinien und mit 20 Minuten für alle weiteren Bus- und Straßenbahnlinien vorgegeben. Dieser Mindesttakt wird nur auf wenigen Abschnitten einzelner Bus-, Straßenbahn- und S-Bahnlinien vorwiegend in dünn besiedelten Gebieten am Stadtrand nicht erfüllt. Vor allem auf den U-Bahnlinien sowie einigen S-Bahn-, Bus- und Tramlinien erfolgt eine dichtere Taktung (vgl. Center Nahverkehr Berlin 2017: 8 f.). Der Zentrumsbereich wird von über 99 % der Haltestellen innerhalb von 60 Minuten mit maximal zwei, meist nur einem Umstieg erreicht. Eine Karte der Erreichbarkeit zeigt, dass die Zentrenbereiche von vielen Haltestellen im Süden, Südwesten und Westen innerhalb von bis zu 20 Minuten erreichbar sind (s. Abb. 3.8). Im Norden, Osten und Südosten ist die Fahrtdauer für die meisten Haltestellen zwischen 20 und 40 Minuten. Eine Fahrtdauer von über 40 Minuten bis zum Zentrumsbereich betrifft nur wenige Haltestellen am Stadtrand. Die Vorgabe, dass ein Hauptzentrum innerhalb von 40 Minuten erreicht wird, erfüllen ebenfalls jeweils um die 99 % der Haltestellen. Doch auch hier differenzieren sich die Fahrzeiten und es zeigt sich, dass größere Bereiche am Stadtrand im Norden (Reinickendorf), Nordosten (Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf), Südost (Neukölln) und Süden (Tempelhof-Schöneberg) weniger gut angeschlossen sind. Hier wird nur die Mindestvorgabe von 40 Minuten erreicht und nicht wie in anderen peripheren Bereichen unterschritten (s. Abb. 3.9) (vgl. Center Nahverkehr Berlin 2017: 10 ff.).

Abbildung 3.8
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Karte der ÖPNV-Erreichbarkeit der Zentrenbereiche (Center Nahverkehr Berlin 2017)

Abbildung 3.9
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Karte der ÖPNV-Erreichbarkeit der Hauptzentren (Center Nahverkehr Berlin 2017)

In einem Vergleich europäischer Städte fällt die Bewertung des Berliner ÖPNV weniger positiv aus.Footnote 28 Der im innerdeutschen Vergleich hohe Anteil an ÖPNV im Modal Split ist im europäischen Vergleich gering. Es wird ein Zusammenhang mit den hohen Ticketpreisen in Berlin angenommen. Berlin hat die zweithöchsten Ticketpreise im ÖPNV der verglichenen Städte.Footnote 29 Insgesamt auf Platz drei landet Berlin jedoch im Bereich des NMIV („active mobility“). Sowohl was die zurückgelegten Wege zu Fuß als auch mit dem Fahrrad angeht, hat Berlin jeweils den dritthöchsten Anteil nach Paris und Amsterdam bzw. nach Amsterdam und Kopenhagen (Kodukula et al. 2018).

3.3.2 Zugänglichkeit des ÖPNV

Das für eine deutsche Großstadt gute ÖPNV-Angebot mit einer hohen Taktung und guten Haltestellenabdeckung dürfte dem jugendlichen Bedürfnis nach eigenständiger Mobilität entgegenkommen und bietet ihnen grundsätzlich auch die Möglichkeit, weiter entfernte Teile der Stadt, insbesondere die Zentren, zu erreichen. Doch erweisen sich die im Vergleich mit anderen europäischen Städten hohen Fahrscheinkosten als Hürden für Jugendliche bei der Nutzung des ÖPNV? In Berlin können alle Schüler*innen ein Schülermonatsticket beziehen. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung für die quantitative Forschungsphase diese Arbeit (erstes Halbjahr 2017) kostete dieses für den BVG-Tarifbereich AB (umfasst das gesamte Stadtgebiet) 29,50 \(\text{\EUR}\) (275 \(\text{\EUR}\) im Jahres-Abo). Inhaber*innen des berlinpass-BuTFootnote 30 zahlten monatlich 15 \(\text{\EUR}\) (145 \(\text{\EUR}\) im Jahres-Abo).Footnote 31 Für jene Jugendliche im Besitz eines Schülertickets bestanden keine weiteren finanziellen Hürden für die Nutzung des ÖPNV. Durch die uneingeschränkte Nutzbarkeit aller Linien im Stadtgebiet war eine elternunabhängige, stadtweite Mobilität möglich. In Anbetracht der vergleichsweise hohen Preise für Einzel- oder TagesticketsFootnote 32 bestand für jene Jugendliche, die nicht über ein Schülerticket verfügten, vor der Umstellung auf ein kostenloses Schülerticket für alle Schüler*innen, eine gewisse finanzielle Hürde bei der Nutzung des ÖPNV. Dies gilt insbesondere für Jugendliche aus Familien mit geringerem ökonomischen Kapital. Allerdings ist zu beachten, dass in Berlin ein nicht unerheblicher Teil der Fahrgäste den ÖPNV ohne gültige Fahrkarte nutzt (Straftatbestand „Erschleichung von Leistungen“, umgangssprachlich „Schwarzfahren“). Bezogen auf alle kontrollierten Fahrgäste lag der Anteil 2017 bei 5 %.Footnote 33 Studien, die auf Fahrgastbefragungen basieren, gehen davon aus, dass die Zahl für 2017 sogar bei 18 % lag und Berlin damit im Vergleich zu anderen Großstädten den höchsten Wert verzeichnet (vgl. SPLENDID RESEARCH GmbH 2017: 17). Im Falle der vorsätzlichen Nutzung des ÖPNV ohne gültigen Fahrausweis wird jedoch die finanzielle durch eine psychologische Hürde ersetzt und es sollte nicht angenommen werden, dass selbst routinierte „Schwarzfahrer*innen“ genauso bereitwillig und uneingeschränkt Bus und Bahn Nutzen, wie Besitzer*innen von Monatskarten.

Ein Blick auf den Modal Split belegt, dass noch vor dem ÖPNV die allermeisten Wege in Berlin zu Fuß zurückgelegt werden (s. Abb. 3.10).Footnote 34 Allerdings ist der Anteil von 2013 bis 2018 von 31,0 % auf 29,6 % leicht gesunken. Zugleich hat der Anteil des Fahrradverkehrs im gleichen Zeitraum von 12,5 % auf 17,6 % deutlich zugenommen. Für die kommenden Jahre ist eine weitere Zunahme des Fahrradverkehrs zu erwarten. Ein allgemeiner gesellschaftlicher Trend trifft in Berlin auf ein vom Berliner Abgeordnetenhaus 2018 beschlossenes Mobilitätsgesetz, das vor allem den Fahrradverkehr in der Hauptstadt stärken soll und seinen Ausgangspunkt im Volksbegehren der „Initiative Volksentscheid Fahrrad“ nahm (vgl. Schneidemesser 2014). Insgesamt hat der nicht-motorisierte Individualverkehr (NMIV) also zugenommen, der motorisierte Individualverkehr (MIV) abgenommen (von 29,6 % auf 25,9 %) und das Verkehrsaufkommen des ÖPNV ist gleich geblieben.

Abbildung 3.10
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(Eigene Darstellung, Quelle: Gerike et al. 2019)

Modal Split für Berlin 2018.

Der hohe Anteil des NMIV in Berlin ist vor allem auch ein Ergebnis der ausgeprägten polyzentralen Struktur Berlins, die für viele alltägliche Aktivitäten keine langen Wege erfordert, weil z. B. ein ausreichendes Nahversorgungsangebot in allen Stadtteilen vorhanden ist. Ein Beleg dafür ist, dass Berlin trotz seiner Größe im Vergleich der Wegelängen der über 80 Städte bzw. Untersuchungsgebiete, für welche die Studie „Mobilität in Städten – SrV“ (Gerike et al. 2020) Daten erhoben hat, im Durchschnitt liegt. Im Vergleich der Wegelängen nach Wegezweck der Städte mit über 500.000 Einwohner*innen fällt Berlin vor allem durch kurze Arbeits- und Freizeitwege auf (vgl. Gerike et al. 2020: Tab. 28). Die räumliche Ausdehnung Berlins zeigt sich jedoch in den Reisezeiten und Entfernungen der zurückgelegten Wege mit dem MIV und ÖPNV. Im Durchschnitt legen Berliner*innen mit dem Auto oder der BVG deutlich längere Wege zurück und sind auch länger unterwegs als die Bewohner*innen anderer Städte. Dies gilt jedoch nicht für die zurückgelegten Fuß- und Fahrradwege (vgl. Gerike et al. 2020: Tab. 23 und 24). Wenig überraschend sind die Unterschiede innerhalb Berlins zwischen innerer und äußerer Stadt. Bewohner*innen des äußeren Bereichs legen im Durchschnitt weniger, aber dafür längere Wege (Strecke und Dauer) zurück und besitzen häufiger ein Auto (vgl. Ahrens 2013b, 2013a). Dies deutet auf die geringere bauliche Dichte des Außenbereichs hin, die mit einer geringeren Dichte an kulturellen und sozialen Einrichtungen sowie weniger Nahversorgungseinrichtungen einhergeht.

3.3.3 Zusammenfassung

Was lässt sich aus diesen Bewertungen des Berliner ÖPNV-Systems und den Daten zum Mobilitätsverhalten der Berliner*innen für das räumliche Freizeitverhalten von Jugendlichen schließen? Wie die Daten zum Verkehrsaufkommen zeigen, werden in Berlin viele Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt, Arbeits- und Freizeitwege sind vergleichsweise kurz. Zurückzuführen ist dies auf die polyzentrale Struktur Berlins: Nahversorgung, Arbeitsplätze und Freizeitorte sind meist wohnortnah erreichbar und werden zu Fuß oder mit dem Fahrrad angesteuert. Das dürfte auch für Jugendliche gelten und daher ist anzunehmen, dass sie den überwiegenden Teil ihrer Freizeitwege zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegen. Eine entsprechende Hypothese 2.d muss ergänzt werden (s. Tab. 3.4).

Tabelle 3.4 Ergänzung der Hypothesen: Verkehrsinfrastruktur und Mobilität

Aufgrund der Größe der Stadt sind Berliner*innen für Wege in weiter entfernte Teile der Stadt auf den MIV oder den ÖPNV angewiesen. Der MIV kann von Jugendlichen unter 18 Jahren nur in Begleitung von erwachsenen Fahrer*innen genutzt werden – wird von der vereinzelten Nutzung von motorisierten Zweirädern (Moped, Mofa, Roller) abgesehen.Footnote 35 Der ÖPNV ermöglicht Jugendlichen hingegen eine autonome Mobilität auch über längere Strecken innerhalb der Stadt. Der öffentliche Personennahverkehr in Berlin ist gut ausgebaut mit einer hohen Taktung und guten Haltestellenabdeckung und durch das Schülerticket für Jugendliche günstig zu nutzen. Daher soll Hypothese 2.a modifiziert werden: Durch den gut ausgebauten und für Schüler*innen kostengünstigen ÖPNV in Berlin, können Jugendliche auch weiter entfernte Orte in der Stadt eigenständig erreichen.

3.4 Sozialräumliche Struktur

Neben der in den vorangegangenen Abschnitten analysierten physischen Struktur ist auch die sozialräumliche Struktur Berlins entscheidend für das räumliche Freizeitverhalten von Jugendlichen. Die Aktivitäten von Jugendlichen aus marginalisierten Nachbarschaften sind eher auf das eigene Quartier ausgerichtet. Eine schlechte ÖPNV-Anbindung und eine periphere Lage verstärken diesen Effekt möglicherweise. Mit der Größe der Aktivitätsräume nimmt potenziell die Heterogenität der sozialen Kontexte zu, mit der Jugendliche im Alltag Kontakt haben. Dies gilt jedoch weniger in einer Stadt, in der es größere sozial homogenere Gebiete gibt. Daher müssen Lage und Verteilung von marginalisierten, durchschnittlichen und privilegierten Quartieren in der Stadt eingehend betrachtet werden. Dies ist nicht zuletzt auch wichtig, um für die quotierte Stichprobe dieser Forschungsarbeit gezielt Jugendliche aus marginalisierten und nicht-marginalisierten Quartieren einschließen zu können.

Das sozialräumliche Gefüge Berlins ist Ergebnis historisch gewachsener Strukturen. So ist der Berliner Südwesten bereits seit dem 19. Jahrhundert bewohnt von wohlhabenderen Berliner*innen und gilt auch heute noch als gehobene Wohnlage. Einige Arbeiter*innenquartiere der Industrialisierung im Norden, Osten und Südosten werden zum Teil noch heute von unteren sozialen Schichten bewohnt. Hinzu kommen andererseits aktuelle gesamtgesellschaftliche Prozesse. Die allgemein für Deutschland diagnostizierte hohe Vermögensungleichheit (vgl. Grabka und Halbmeier 2019) und eine gleichzeitig zunehmende Einkommensungleichheit trotz steigender Realeinkommen (vgl. Grabka et al. 2019; Groh-Samberg 2019) lassen sich auch für Berlin beobachten (vgl. Aehnelt 2011: 74 f.). Diese soziale Ungleichheit übersetzt sich vor dem Hintergrund des bestehenden sozialräumlichen Gefüges Berlin und unter dem Einfluss aktueller sozialräumlicher Prozesse in eine prononcierte soziale Segregation. In einem Vergleich der Segregation von SGB-II-Empfänger*innen in deutschen Städten befindet sich Berlin im oberen Viertel der Verteilung (vgl. Helbig und Jähnen 2018: 30). Sozialräumliche Prozesse, wie Reurbanisierung und Gentrifizierung, die sich auch in Berlin beobachten lassen, stehen im Verdacht, die soziale Segregation noch zu verstärken. Zugleich entsteht durch sie aber auch eine Dynamik, die bestehende Segregationsmuster verändert (vgl. Brake 2012; Holm 2012, 2011).

Diese Dynamiken führen dazu, dass sich die innere und äußere Stadt in ihrer sozialen Zusammensetzung einander annähern. In der im Durchschnitt stärker von benachteiligten Quartieren geprägten inneren Stadt hat sich die soziale Benachteiligung in einigen dieser Nachbarschaften in den letzten Jahren verringert. Umgekehrt gibt es in der weniger durch Marginalisierung geprägten äußeren Stadt in einigen Gebieten eine verstärkte soziale Benachteiligung. Die große Mehrzahl der Quartiere kann als durchschnittlich bezeichnet werden. Privilegierte Nachbarschaften befinden sich vornehmlich am Stadtrand. Gebiete mit mehreren zusammenhängenden marginalisierten Quartieren sind in der inneren Stadt in Moabit, Gesundbrunnen, Wedding, Kreuzberg und Neukölln und in der äußeren Stadt in Spandau, Reinickendorf und Marzahn-Hellersdorf angesiedelt.

3.4.1 Geschichtliche Entwicklung

In ihrer vergleichsweise kurzen Geschichte als Großstadt hat Berlin eine Reihe politischer und sozialer Umwälzungen erlebt, welche maßgeblich die sozialräumliche Struktur der Stadt geprägt haben. Gegründet abseits der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Zentren des Mittelalters, entwickelte sich Berlin im Zuge des Aufstiegs Preußens zur Weltmacht im 17. und 18. Jahrhundert zu einer der bedeutendsten Städte Europas. Prägend für die Wohnbebauung waren in dieser Zeit die im 17. Jahrhundert vom Stadtzentrum um das Schloss auf der Fischerinsel aus nach Westen hin errichteten Prachtbauten und Schlösser. Hier entstanden auch neue Vorstädte (Friedrichstadt und Dorotheenstadt), die von Wohlhabenderen und Adligen bewohnt wurden. Die weniger geplanten und vielmehr durch einfache Bebauung gekennzeichneten Gebiete nördlich und östlich des Stadtzentrums waren die Wohngebiete der armen Bevölkerung, während die Altstadt am östlichen Spreeufer gegenüber der Fischerinsel (heute unter anderem Nicolaiviertel) von bürgerlichen Schichten bewohnt wurde. So lässt sich schon zur damaligen Zeit eine großräumige soziale Segregation zwischen dem West- und Ost-Teil der Stadt ausmachen. (vgl. Häussermann und Kapphan 2002: 28 ff.; Hoffmann 1998: 25 ff.; Peters 1995: Kap. 5)

Diese sozialräumliche Polarisierung der Stadt verstärkt sich während der im 19. Jahrhundert einsetzenden Industrialisierung. Der wirtschaftliche Aufstieg der Gründerzeit ab etwa 1870 ließ die Anzahl an Fabriken und zugleich die Bevölkerungszahl Berlins rasant steigen (vgl. Häussermann und Kapphan 2002: 31 ff.; Hoffmann 1998: 33; Peters 1995: Kap. 6). Aber nach wie vor gab es eine klare Segregation. Die zum Teil neu errichteten Wohngebiete der Arbeiter*innen lagen nahe der Industriestandorte und bildeten im Norden, Osten und Südosten einen „Dreiviertelring“ um die Innenstadt (vgl. Peters 1995: 147). Die bürgerlichen Schichten wohnten hingegen in den Stadtteilen im Westen und Südwesten ohne industrielle Prägung. Als „ein erstes Beispiel für die geplante Suburbanisierung der Mittelschicht in Berlin“ (vgl. Häussermann und Kapphan 2002: 41) kann die Gründung einer Reihe von Villenkolonien im Südwesten Berlins bezeichnet werden, die damit zugleich eine weitere Triebfeder der sozialen Segregation im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde (vgl. Häussermann und Kapphan 2002: 40 ff.; Hoffmann 1998: 33).

Nach der Gründung Groß-Berlins 1920 wurde der verdichtete Mietskasernenbau durch den Zeilenbau abgelöst (vgl. Peters 1995: Kap. 7). Dieser sollte sowohl städtebaulich als auch sozial ein Verbindungsstück zwischen der dicht bebauten Innenstadt und den aufgelockerten Villenkolonien darstellen. Doch die angestrebte soziale Mischung wurde nur in begrenztem Maße erreicht. Einfache Arbeiter*innen fanden sich in den neuen Siedlungen kaum. Es waren vielmehr Facharbeiter*innen und vor allem Angestellte und Beamte, deren Anzahl in Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts rapide wuchs (vgl. Kapphan 2002: 66 ff.).

Während des Nationalsozialismus wurden die vorhandenen Wohngebiete ausgebaut, an der sozialräumlichen Struktur änderte sich aber kaum etwas (vgl. Häussermann und Kapphan 2002: 53 ff.; Hoffmann 1998: 43 f.). Die Folgen des vom nationalsozialistischen Deutschland begonnen Krieges veränderte Berlin jedoch weitreichend: Die Stadt lag in Trümmern, ein Drittel aller Wohnungen war zerstört und in der politischen Folge des Krieges wurde die Stadt geteilt (vgl. Häussermann und Kapphan 2002: 57; Hoffmann 1998: 47; Peters 1995: Kap. 8). Die Teilung der Stadt manifestierte sich 1961 baulich in der Errichtung der Berliner Mauer, die auch nach ihrem Abriss 1990 Spuren in der Stadtstruktur hinterlassen hat.

In den folgenden 45 Jahren entwickelten sich beide Teile der Stadt getrennt, wobei es doch auch Gemeinsamkeiten gab. Um der Wohnungsnot zu begegnen, wurde in beiden Teilen Berlins unter anderem auf den industrialisierten Bau von Großsiedlungen, vornehmlich am Stadtrand, gesetzt (vgl. Häussermann und Kapphan 2002: 76). Ebenfalls in beiden Teilen der Stadt wurde zugleich die veraltete und im Krieg stark zerstörte Altbausubstanz im Innenstadtbereich großflächig abgerissen (vgl. Häussermann und Kapphan 2002: 76). Da die Wohnungen im sozialistischen Ostteil der Stadt nach bestimmten Vorgaben vergeben wurden, gab es hier keine marktvermittelte soziale Segregation. Eine ungleiche Verteilung entstand vielmehr entlang von Partei- und Staatsloyalität sowie weiteren Merkmalen. Wohnungen in den neu errichteten, modernen Siedlungen erhielten vor allem Angehörige der SED und wichtiger Betriebe. In den zunehmenden verfallenden Altbaugebieten sammelten sich Personen, welche die Missgunst des SED-Regimes auf sich gezogen hatten (vgl. Kapphan 2002: 73 f.).

Die „bedeutendste sozialstrukturelle Veränderung der Nachkriegszeit“ (Kapphan 2002: 75) in Westberlin war – ähnlich wie in anderen Städten Westdeutschlands – der Zuzug von Arbeitsmigrant*innen, die im Rahmen von Anwerbeabkommen zunächst nur temporär nach Deutschland kamen. Die vor allem aus der Türkei, den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens und aus Griechenland Zuziehenden suchten nach günstigem Wohnraum (vgl. Kapphan 2001: 91). Sie fanden diesen vor allem in den sanierungsbedürftigen Altbauten der Gründerzeitviertel. Den Hausbesitzer*innen kam diese Nachfrage gelegen, konnten sie den Arbeitsmigrant*innen doch die heruntergekommenen Wohnungen vermieten, die bald sowieso abgerissen oder saniert werden sollten (vgl. Kapphan 2002: 76). Die neu entstandenen Großsiedlungen wurden zunächst Wohngebiete der Mittelschicht, welche die verfallenden Altbaugebiete verließ. Die Folge war eine zunehmende Konzentration von ärmeren und migrantischen Haushalten in diesen Gebieten (vgl. Kapphan 2002: 77).

Der nächste wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbruch ergab sich mit der Wiedervereinigung der Stadt im Zuge des Beitritts der DDR zur BRD im Jahr 1990. Die wirtschaftliche Situation der Stadt, die sich nun wieder weitestgehend über das Gebiet des Groß-Berlins von 1920 erstreckte, und ihrer Bewohner*innen verschlechterte sich zunächst (vgl. Hoffmann 1998: 75; Kapphan 2002: 83 ff.). Mittelschichtshaushalte zogen vermehrt an den Stadtrand oder ins Umland (Suburbanisierung), wodurch sich der Anteil an benachteiligten Haushalten in den Innenstadtgebieten erhöhte (vgl. Kapphan 2002: 124 ff.). Die weiter anhaltende Zuwanderung aus dem Ausland zielte auf die zentralen Stadtteile, in denen es bereits größere Konzentrationen ausländischer Wohnbevölkerung gab (vgl. Kapphan 2002: 132 ff.). Alte Segregationsmuster setzten sich dadurch fort und verstärkten sich noch: Arbeitslose und Geringverdiener*innen bewohnen vor allem die Innenstadtgebiete und die Großsiedlungen im Osten und Nordosten, während wohlhabendere Berliner*innen vor allem im Südwesten der Stadt wohnen (vgl. Kapphan 2002: 97).

3.4.2 Die Entwicklung seit den 90er Jahren

Nach 1990 setzte zunächst ein starker Suburbanisierungstrend ein (vgl. Bluth 2004; Beyer und Schulz 2001). Von der Abwanderung ins Umland waren vor allem die Ostberliner Bezirke mit ihren Großsiedlungen in Plattenbauweise betroffen, insgesamt nahm die Bevölkerungszahl Berlins deutlich ab (vgl. Bluth 2004: 97 f.; Hinrichs 1999: 31).Footnote 36 Bereits 1998 schwächte sich der Trend wieder ab und die Wanderungsverluste ins Umland wurden geringer – die Abwanderungen gingen zurück, zugleich nahmen aber auch die Zuwanderungen aus dem Umland stetig zu (vgl. Bluth 2004: 94 f.). Dieser zu Beginn des 21. Jahrhunderts einsetzende, gegenläufige Trend zur Suburbanisierung wird als ReurbanisierungFootnote 37 bezeichnet. Brake (2012) sieht für Berlin eine „Bedeutungszunahme der inneren Stadt“, die „als begehrter Wohnstandort, als Arena der Kreativwirtschaft und als stadträumliches Milieu für Konsum“ (Brake 2012: 282) wieder in den Fokus rückt. Die Bevölkerungszahl Berlins begann ab 2004 wieder kontinuierlich anzusteigen. Die innere Stadt ist während dieses Zeitraums noch stärker gewachsen als die äußere und seit 2011 zeigt die Gesamtstadt ein größeres Wachstum als das Umland. Zugleich weist die innere Stadt gegenüber der äußeren einen durchgehend negativen Wanderungssaldo auf. Obwohl die innere Stadt also stärker wächst als die äußere, ziehen mehr Menschen von der inneren in die äußere Stadt als umgekehrt. Das Gleiche gilt im Verhältnis von Gesamtstadt zu Umland (vgl. Beran et al. 2015: 63 ff.). Beran et al. (2015) sprechen in diesem Zusammenhang von einem „kaskadenhaften Wanderungsgeschehen“: Der nationale und internationale Zuzug richtet sich vor allem auf die Innenstadt, zugleich zieht es die ansässige Bevölkerung in die äußere Stadt und von dort ins Umland. Reurbanisierungs- und Suburbanisierungsprozesse finden also in Berlin gleichzeitig statt.

Das seit 2004 kontinuierliche Bevölkerungswachstum ist seit 2009 neben Wanderungsgewinnen auch auf einen Geburtenüberschuss zurückzuführen und hat sich vor allem seit 2012 beschleunigt (vgl. Budras und Axnick 2019; Steinig 2016: 102 f.). Die Reurbanisierungsprozesse gelten als eine von mehreren Ursachen für die zunehmende Verknappung von Wohnraum in Berlin (vgl. Krajewski 2013: 22). Verschärft wird die Situation auf dem Wohnungsmarkt durch eine gestiegene Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen (vgl. Beran und Nuissl 2019: 34 f.). Besonders im unteren Preissegment ist der Nachfrageüberhang besonders groß. Gründe sind das Ende der Mietpreisbindung vieler Sozialwohnungen und die großflächigen Sanierungen, insbesondere der vernachlässigten Altbaugebiete Ostberlins, welche ebenfalls zu einer Verringerung des Wohnungsangebots für einkommensschwächere Haushalte im Innenstadtbereich führt (vgl. Beran und Nuissl 2019: 34ff: 36; Krajewski 2013: 21; Holm 2011: 218).

Auf dem angespannten Berliner Wohnungsmarkt kommt es zu Mietsteigerungen sowohl im Bestand als auch bei Neuvermietungen. Der „Berliner Aufwertungszirkel“ (Holm 2011: 214 ff.) hat nach Mitte und Prenzlauer Berg in den 1990er Jahren, Friedrichshain und Nord-Neukölln im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nun auch Nord-Schöneberg, Moabit, Wedding und Gesundbrunnen erreicht (vgl. Döring und Ulbricht 2016: 32 f.) und damit sind weite Teile der inneren Stadt betroffen. Besonders betroffen sind die attraktiven und nachgefragten Altbauten, aber auch die mittlerweile aus der Mietpreisbindung gefallenen Gebäude des sozialen Wohnungsbaus der 1970er Jahre, da sich hier die höchsten Ertragserwartungen für Investor*innen bzw. Vermieter*innen ergeben. Da diese Gebäudebestände vor allem von Haushalten mit geringem Einkommen bewohnt werden, sind einkommensschwächere Haushalte in besonderem Maße von den Mietsteigerungen betroffen (vgl. Holm 2016: 193 f.). Während früher nur vereinzelte Gebiete von massiven Mietsteigerungen betroffen waren und daher nur punktuell von GentrifizierungFootnote 38 gesprochen wurde, sind seit einigen Jahren weite Teile des innerstädtischen Altbaubestandes von Verdrängungsprozessen betroffen. Dadurch hat sich ein deutlicher Kontrast zwischen den zentralen und peripheren Wohnlagen entwickelt (vgl. Holm 2016: 196 f.; Steinig 2016).

Analysen der innerstädtischen Wanderungsbewegungen und der Ummeldungen von SGBII-Bezieher*innen in den Jobcentern der Bezirke weisen darauf hin, dass es zu Verdrängung der ärmeren Haushalte an den Stadtrand kommt (vgl. Holm 2016: 205 ff.). Eine andere Studie (Beran und Nuissl 2019) auf Basis einer Befragung von Umzügler*innen in verschiedenen Teilräumen der Innenstadt kommt zu dem Ergebnis, dass bei 22,5 % der Umzüge von Verdrängung gesprochen werden kann. Als Verdrängung werden hier Umzüge definiert, die aufgrund von Kündigungen, Mieterhöhungen und Instandhaltungsstaus stattfinden, aber auch solche, die durch eine Entfremdung vom Wohnumfeld, weil dieses entweder auf- oder abgewertet wird, ausgelöst werden (vgl. Beran und Nuissl 2019: 200 ff.).Footnote 39 Im Gegensatz zu Holm (2016) kommen die Autoren dieser Studie zu dem Ergebnis, dass der überwiegende Teil der Umzüge aufgrund von Verdrängungen nicht an den Stadtrand, sondern nahräumlich erfolgt (vgl. Beran und Nuissl 2019: 200).

Die beschriebenen Entwicklungen der vergangenen zwei Jahrzehnte spiegeln sich auch in einer veränderten Mietenstruktur Berlins nieder. Im Vergleich der Verteilung von WohnlagenFootnote 40 im Berliner Mietspiegel über die Jahre lässt sich eine Zunahme von mittleren und guten Wohnlagen im Innenstadtbereich erkennen. Waren es 2007 nur Kernbereiche in Mitte und um den Tiergarten, die eine gute Wohnqualität aufwiesen, gibt es 2017Footnote 41 nun auch einen entsprechenden Bereich im Prenzlauer Berg. Weitere Bereiche im südlichen Gesundbrunnen, Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Teilen von Kreuzberg sind von einfachen zu mittleren Wohnlagen hochgestuft worden. Außerhalb des S-Bahn-Rings hat es in diesem Zeitraum in Bezug auf die Wohnqualität wenig Veränderungen gegeben (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung 2007; Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2017).

Die Angebotsmieten sind von durchschnittlich 6 \(\text{\EUR}\) pro \(\textrm{m}^{2}\) nettokalt in 2010 auf fast 10,80 \(\text{\EUR}\) pro \(\textrm{m}^{2}\) in 2017 und damit um 80 % gestiegen (vgl. Beran und Nuissl 2019: 40 f.). In den Bezirken Marzahn-Hellersdorf, Reinickendorf, Spandau und Treptow-Köpenick, die alle außerhalb des S-Bahn-Rings liegen, lag der Median der Nettokaltmieten bei Neuvermietungen 2017 unter 9 \(\text{\EUR}\) pro \(\textrm{m}^{2}\). Alle anderen Bezirke verzeichnen einen Median von über 9 \(\text{\EUR}\) pro \(\textrm{m}^{2}\); für Charlottenburg-Wilmersdorf, Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte lag er über 11 \(\text{\EUR}\) pro \(\textrm{m}^{2}\) (vgl. CBRE GmbH und Berlin Hyp AG 2018: 13). Eine kleinräumigere Betrachtung zeigt jedoch keine auffälligen räumlichen Verteilungen. Sowohl lebensweltlich orientierte Räume (LOR) mit hohen Steigerungsraten als auch jene wenigen mit einer rückläufigen Preisentwicklung sind in der ganzen Stadt verteilt (vgl. Beran und Nuissl 2019: 40).Footnote 42

Abbildung 3.11
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Karte der Veränderungen im Status-Index 2006 zu 2016 auf Ebene der LOR (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, Referat IA, Stadtentwicklungsplanung 2017: 85)

3.4.3 Aktuelle sozialräumliche Struktur

Detaillierte Auskunft über die sozialräumliche Gliederung Berlins geben die Berichte das Monitoring Soziale Stadtentwicklung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung.Footnote 43 Der Bericht von 2017 sieht Hinweise für „Peripherisierungstendenzen sozialer Benachteiligungen“ (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, Referat IA, Stadtentwicklungsplanung 2017: 18). Eine Betrachtung der Entwicklung jeweils der Status-Index-Mittelwerte für die LOR der inneren und äußeren Stadt zeigen ein sich langsames Annähern von verschiedenen Seiten. Während die innere Stadt im Durchschnitt einen deutlich niedrigeren Status aufweist, verbessert sich dieser seit 2011 kontinuierlich und deutlich. Umgekehrt hat die äußere Stadt einen vergleichsweise hohen Status, dieser hat jedoch über die Jahre eine leicht negative Tendenz. Wobei sowohl in der inneren als auch der äußeren Stadt jeweils die östlichen Teile einen höheren Status aufweisen als die westlichen (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, Referat IA, Stadtentwicklungsplanung 2017: 83 f.). Eine kleinräumigere Betrachtung der Entwicklung zeigt, dass sich seit 2006 Statusverbesserungen in Gebieten von zusammenhängenden LOR in Nord-Neukölln, Moabit und im Norden von Marzahn-Hellersdorf ergeben haben (s. Abb 3.11). Großflächigere Statusverschlechterungen lassen sich im selben Zeitraum in Reinickendorf, Spandau, Süd-Neukölln und Siemensstadt ausmachen (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, Referat IA, Stadtentwicklungsplanung 2017: 85 ff.).

Insgesamt ist die soziale Benachteiligung in Berlin – im MSS gemessen anhand der Indikatoren Arbeitslosigkeit, Langzeitarbeitslosigkeit, Bezug von Transferleistungen und Kinderarmut – auch 2017 rückläufig, jedoch im Vergleich deutscher Großstädte hoch (vgl. Schweigard 2020). So ist z. B. die Kinderarmutsquote zwar von 38,6 % in 2006 auf 30,5 % in 2017 gesunken, damit aber immer noch fast doppelt so hoch wie im deutschen Durchschnitt (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, Referat IA, Stadtentwicklungsplanung 2017: 50 f.). Die durch die genannten Indikatoren benachteiligten Haushalte sind dabei sehr ungleich verteilt, zum Teil kommt es zu Konzentrationen in einzelnen Gebieten. Das MSS ermittelt 2017 für 278 und damit die überwiegende Mehrheit der LOR (64 %) einen mittleren Status. Es sind etwa gleich viele Gebiete, die nach oben oder unten eine deutliche Abweichung zeigen. So sind 75 LOR (17 %) mit einem hohen und auf der anderen Seite 41 (9 %) mit einem niedrigen und 42 (10 %) einen sehr niedrigen Status (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, Referat IA, Stadtentwicklungsplanung 2017: 61).

In einem Vergleich 74 deutscher Städte weist Berlin 2014 eine überdurchschnittlich hohe soziale Segregation auf (Indikator waren der Segregationsindex für SGB-II-Empfänger), die weiter zunimmt (vgl. Helbig und Jähnen 2018: 30, 145). Offensichtlich geht die allgemeine, leichte Abnahme sozialer Benachteiligung in der Stadt mit einer zunehmend ungleichen räumlichen Verteilung von benachteiligten Haushalten einher. Deutlich höher noch ist die soziale Segregation von Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren. Hier hat Berlin im Städtevergleich den acht höchsten Wert, der ebenfalls eine weiter ansteigende Tendenz aufweist (vgl. Helbig und Jähnen 2018: 44 ff.). Da gleichzeitig die Quote an SGB-II-Empfänger*innen in Berlin ebenfalls hoch ist, wohnen über 25 % der Kinder und Jugendlichen in Quartieren, in denen über 50 % der Kinder und Jugendlichen Transferleistungen beziehen (vgl. Helbig und Jähnen 2018: 51 f.). Bei der ethnischen Segregation ist Berlin ebenfalls unter den zehn Städten mit den höchsten Werten. Der hohe Wert ist aber vor allem auf die Teilung Berlins und die historisch geringe ausländische Zuwanderung im Ostteil der Stadt zurückzuführen (vgl. Helbig und Jähnen 2018: 32 f.). Nach wie vor lebte ein großer Teil der Personen mit Migrationshintergrund im westlichen Gebiet Berlins. Die ethnische Segregation nimmt aber im Gegensatz zur sozialen ab, womit Berlin dem allgemeinen Trend deutscher Großstädte folgt (vgl. Helbig und Jähnen 2018: I).

Trotz der oben skizzierten Entwicklungen der vergangenen zehn Jahre, lässt sich eine hohe Konstanz der sozialräumlichen Struktur Berlins feststellen. Während die Gebiete mit mittlerem Status sich in allen Bereichen der Stadt gleichermaßen befinden, sind die LOR mit hohem Status überwiegend am Stadtrand (vor allem im Südwesten) in Gebieten, die durch Ein- und Zweifamilienhäuser geprägt sind, aber auch zum Teil in Mitte zu finden (s. Abb. 3.12).Footnote 44 Gebiete mit niedrigem oder sehr niedrigem Status befinden sich in der inneren Stadt, vor allem im Norden in Moabit, Gesundbrunnen und Wedding sowie im Süden in Kreuzberg und Neukölln. In der äußeren Stadt sind es vor allem Gebiete mit Großsiedlungen am Stadtrand in Spandau, Reinickendorf und Marzahn-Hellersdorf. Wobei diese Gebiete zum Teil eine positive Entwicklung zeigen (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, Referat IA, Stadtentwicklungsplanung 2017: 63 f.). Wird die Verteilung von aktuell marginalisierten und privilegierten Gebieten mit jenen der vorigen Jahrhundertwende verglichen, so zeigen sich sogar jahrhunderteübergreifende Kontinuitäten: Die überdurchschnittliche Konzentration von ärmeren Haushalten in der nördlichen (Moabit, Gesundbrunnen, Wedding) und südlichen Innenstadt (Kreuzberg, Neukölln) sind die Residuen des Dreiviertelrings der während der Industrialisierung entstandenen Arbeiterquartiere. Durchbrochen ist dieser Ring im Nordosten in den bereits seit den 1990er Jahren von Aufwertungen betroffenen Gebieten Prenzlauer Bergs und Friedrichshains. Im Südwesten Berlins wohnen seit jeher die Reichen Berlins.

Abbildung 3.12
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Karte des Status-Index auf Ebene der LOR 2017 (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, Referat IA, Stadtentwicklungsplanung 2017: 56)

3.4.4 Zusammenfassung

Welche Bedeutung hat die hier analysierte sozialräumliche Struktur Berlins für die Erforschung jugendlicher Aktivitätsräume? Es gibt in Berlin eine ausgeprägte soziale Segregation auf Quartiersebene: Neben vielen durchschnittlichen Quartieren existieren auf der einen Seite eine Reihe von Nachbarschaften mit einem hohen Anteil an sozial benachteiligten Haushalten. Auf der anderen Seite gibt es auch privilegierte Quartiere mit kaum benachteiligten Haushalten. Die Hypothese, dass Freundeskreise und Aktivitäten von Jugendlichen aus marginalisierten Quartieren eher auf die eigene Nachbarschaft ausgerichtet sind (H3.b, s. Tab 3.5), sollte auch für Berlin zutreffend sein.

Tabelle 3.5 Ergänzung der Hypothesen: Sozialräumliche Struktur

Die marginalisierten Quartiere befinden sich sowohl in zentralen als auch in peripheren Lagen. Der Einfluss eines benachteiligten Wohnquartiers auf das räumliche Freizeitverhalten von Jugendlichen könnte auch von der Lage abhängen. Jugendliche in marginalisierten Quartieren, die zusätzlich durch eine periphere Lage und eine vergleichsweise schlechtere ÖPNV-Anbindung gekennzeichnet sind, sind in ihren alltäglichen Aktivitäten eventuell noch stärker auf das eigene Quartier fokussiert, weil andere Teile der Stadt schwer zu erreichen sind. Auch dieser Zusammenhang lässt sich mit entsprechenden Daten am Beispiel Berlins überprüfen.

Vereinzelt gibt es marginalisierte und privilegierte Quartiere, die umgeben sind von nicht-marginalisierten bzw. nicht-privilegierten Nachbarschaften. Die überwiegende Mehrheit befindet sich jedoch nicht in einer solchen Insellage. Stattdessen bilden sie in verschiedenen Bereichen der Stadt größere, sich über mehrere zusammenhängende Quartiere erstreckende Gebiete. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit sozial homogener Aktivitätsräume. Denn selbst wenn das eigene Quartier für Freizeitaktivitäten verlassen wird, ändert sich damit nicht der soziale Kontext. Unter Umständen müssen die Jugendlichen weitere Wege zurücklegen, um in Gebiete der Stadt mit einem anderen sozialen Kontext zu gelangen. Die Hypothese 4 und ihre Unterhypothese 4.a sollten sich daher in Berlin besonders deutlich nachweisen lassen. Aufgrund der größeren zusammenhängenden Gebiete marginalisierter Quartiere trifft Unterhypothese 4.b wahrscheinlich nur für Jugendliche zu, die deutlich weitere Wege zurücklegen, die sie nicht nur über die Grenzen ihres Wohnquartiers, sondern auch ihres Wohnstadtteils hinausbringen.

3.5 Empirische Befunde zu Jugend und Aktivitätsräumen in Berlin

Obwohl für Berlin umfangreiche und detaillierte Daten aus den verschiedensten Bereichen zur Verfügung stehen und Berlin vielleicht die von Sozialwissenschaftler*innen am meisten beforschte Stadt Deutschlands ist, gibt es erstaunlich wenig Studien zum räumlichen Verhalten der Hauptstädter*innen (die über Untersuchungen des reinen Mobilitätsverhaltes hinausgehen) – weder allgemein, noch im Besonderen von Jugendlichen. Die wenigen einschlägigen Studien sollen im Folgenden dargestellt werden. Entlang ihrer zentralen Ergebnisse soll diskutiert werden, inwieweit die im vorangegangenen Teil des Kapitels mit Bezug zur spezifischen Berliner Stadtstruktur erfolgten Modifikationen der Hypothesen zum Freizeitverhalten und den Aktivitätsräumen von Jugendlichen auch empirisch Bestand haben oder ob weitere Anpassungen nötig sind.

Es werden zwei Studien zum Freizeitverhalten von Berliner Jugendlichen vorgestellt (Merkens und Kirchhöfer 1993; Merkens 2001). Anhand der beiden Studien lässt sich prüfen, ob die allgemeinen Annahmen zum Freizeitverhalten von Jugendlichen, die Präferenz für bestimmte Aktivitäten und Orte, auch für Berliner Jugendliche gilt. Das im Vergleich zu kleineren Städten oder ländlichen Gegenden sehr dichte und diverse Angebot an Freizeitangeboten und -orten könnte auch zu einem Freizeitverhalten führen, dass abweicht vom Durchschnitt deutscher Jugendlicher, wie er in den repräsentativen Studien (vgl. Grgic und Züchner 2016; Feierabend et al. 2018; Albert et al. 2019) dargestellt wird.

Zum Thema Aktivitätsräume und Mobilität von Berliner*innen (nicht ausschließlich Jugendliche) existieren zwei Studien, deren zentralen Ergebnisse diskutiert werden müssen. Denn sie liefern empirische Erkenntnisse dazu, ob die Modifikationen der Hypothesen mit Blick auf die Eigenarten der Berliner Stadtstruktur stichhaltig sind. Die eine Studie fokussiert die Unterschiede im räumlichen Verhalten zwischen Ost- und Westberliner*innen, liefert darüber hinaus aber auch allgemeine Erkenntnisse zu den Aktivitätsräumen in Berlin (Scheiner 1999). Die zweite empirische Arbeit untersucht den Einfluss der polyzentralen Struktur Berlins auf das Mobilitätsverhalten seiner Bewohner*innen (Kemper et al. 2012).

Abschließend wird die einzige bekannte Studie, die sich explizit mit den Aktivitätsräumen Berliner Jugendlicher beschäftigt, ausführlich dargestellt und diskutiert werden (Tobias Müller 2009). Sie war neben der Studie von Plöger (2012) ein wichtiger Orientierungspunkt bei der Entwicklung des Forschungsdesigns für diese Arbeit: in der Hypothesenentwicklung und der Ausarbeitung der Methoden, als Inspiration und als Abgrenzungspunkt.

3.5.1 Freizeitverhalten Berliner Jugendlicher

Auf Grundlage von allgemeinen Jugendstudien (vgl. Grgic und Züchner 2016; Feierabend et al. 2018; Albert et al. 2019) und Studien zur Nutzung des Stadtraums durch Jugendliche (Herlyn et al. 2003; Neumann 2016; von Seggern et al. 2009) wurden im ersten Kapitel dieser Arbeit Hypothesen zum Freizeitverhalten von Jugendlichen herausgearbeitet (vgl. Hypothesen-Set 1). Doch gelten diese Hypothesen auch für Jugendliche in Berlin, das aufgrund seiner infrastrukturellen Ausstattung und Struktur als Sonderfall deutscher Städte betrachtet werden muss?

Die Untersuchung von Merkens und Kirchhöfer (1993) aus den 1990er Jahren beschäftigt sich mit Ost-West-Unterschieden im Freizeitverhalten von Berliner Jugendlichen.Footnote 45 Befragt wurden über 2000 Ost- und Westberliner Schüler*innen der Jahrgangsstufen sieben bis zehn (vgl. Merkens und Kirchhöfer 1993: 935 ff.). Bei der Häufigkeit unterschiedlicher Freizeitaktivitäten ergeben sich keine bedeutsamen Unterschiede zwischen Schüler*innen verschiedener Schultypen oder verschiedenen Alters. Häufig ausgeübte Aktivitäten sind Reden, Medienkonsum (Fernsehen, Musikhören, Computerspielen), Sport, Rumhängen oder auch Ausgehen (Bummeln, Kino, Tanzen) (vgl. Merkens und Kirchhöfer 1993: 942 f.).Footnote 46

In der Rangfolge der Beliebtheit unterscheiden sich ost- und westdeutsche Jugendliche nicht. Differenzen ergeben sich aber, wird die Häufigkeit für jede Aktivität verglichen. Jugendliche aus Westberlin gehen „außenorientierten“ und „ressourcenintensiven Aktivitäten“ häufiger nach als jene aus Ostberlin.Footnote 47 Der Autor führt dies auf unterschiedliche Angebote und Ressourcen im Ostteil der Stadt zurück (vgl. Merkens und Kirchhöfer 1993: 942). Entsprechend zeigen sich die befragten Jugendlichen aus Ostberlin deutlich unzufriedener mit der Freizeitinfrastruktur und allgemein ihrer Wohnumgebung als Westberliner Jugendliche. Als Ursache wird die weniger ansprechende Architektur der (Groß-)Siedlungsbauten und der Verlust an Jugendfreizeitinfrastruktur nach dem Beitritt der DDR zu BRD im Osten vermutet. Die Ostberliner Schüler*innen scheinen diesen Mangel damit zu kompensieren, dass sie häufiger den Westteil der Stadt besuchen als umgekehrt. In der Bewertung der Gesamtstadt zeigen sie sich ähnlich zufrieden wie die Westberliner Schüler*innen (vgl. Merkens und Kirchhöfer 1993: 940 f.).

Darüber hinaus zeigen auch unabhängig vom Aufwachsen in einem der beiden Stadthälften ein Geschlechterunterschied: Mädchen gehen häufiger einer „konsumorientierten Freizeittätigkeit“ nach (vgl. Merkens und Kirchhöfer 1993: 945). Allgemein bestätigen die Analysen die ebenfalls bekannte Bedeutung einerseits der eigenen Wohnung und andererseits öffentlicher Räume (Straßen, Parks, etc.) für das Freizeitverhalten Berliner Jugendlicher. Hervorgehoben wird darüber hinaus die Relevanz von Sportplätzen, die nicht nur im Rahmen von Vereinssport, sondern auch als Treffpunkte für informelle Aktivitäten dienen (vgl. Merkens und Kirchhöfer 1993: 947).

Fast zehn Jahre später veröffentlichte Merkens (2001) die Ergebnisse einer weiteren Untersuchung zum Freizeitverhalten Berliner Jugendlicher. Diesmal lag der Fokus nicht auf einem Vergleich zwischen Ost- und Westberliner Jugendlichen, sondern auf den Räumen ihrer Freizeitaktivitäten. Datenbasis ist eine 2000 durchgeführte Befragung von über 1.700 Berliner Schüler*innen, hauptsächlich im Alter von 14 bis 16 Jahren (vgl. Merkens 2001: 442). Der Autor kommt zu dem Schluss, dass die Auswahl der Freizeitorte eine aktive Leistung von Jugendlichen ist und die gewählten Sozialräume zugleich eine Ressource für soziales Kapital darstellen. Die Wahl der Sozialräume für ihre Freizeitaktivitäten ist dabei eher an Orte als an Personen gebunden. Das heißt erstens sind die sozialen Kontakte zu Gleichaltrigen häufig recht lose und es existieren keine festen Cliquen und zweitens ist daher der Einfluss von Freund*innen auf das Freizeitverhalten vermutlich nicht so groß, wie häufig angenommen (vgl. Merkens 2001: 452).

Mit Blick auf die Fragestellung und die Hypothesen dieser Arbeit sind folgende Detailergebnisse hervorzuheben: Eine Auswertung der Nutzungshäufigkeit der fünf im Fragebogen vorgegebenen Freizeitorte zeigt, dass die häufigsten Freizeitorte Einkaufszentren und die eigene Wohnung sind. Ebenfalls fast die Hälfte der Jugendlichen gibt an, häufig oder sehr häufig öffentliche Plätze und Straßen in der Freizeit aufzusuchen. Für Cafés/Diskos trifft dies nur auf etwa ein Viertel und für Jugendclubs sogar nur auf 12 % der Befragten zu (vgl. Merkens 2001: 443). Im Durchschnitt geben die Jugendlichen an, 16 Freund*innen zu haben. Davon treffen sie aber immer nur einen Ausschnitt an den verschiedenen Orten. In Einkaufszentren sind die Gruppen größer, auf Straßen und in Jugendclubs eher kleiner (vgl. Merkens 2001: 443 f.).

Mit Hilfe einer Clusteranalyse wurden Gruppen von Jugendlichen mit ähnlichen Ortspräferenzen gebildet. Der Gruppe von Jugendlichen, die sich vor allem in Einkaufszentren und Zuhause aufhält, gehören vor allem Gymnasiast*innen an. In der konsumorientierten Gruppe, die häufig Einkaufszentren und Cafés/Diskos, aber auch die eigene Wohnung nutzt, sind eher weibliche Jugendliche und Hauptschüler*innen. Der Gruppe mit der häufigsten Nutzung von öffentlichen Straßen und Plätzen werden vor allem männliche Jugendliche sowie Real- und Hauptschüler*innen zugeordnet. Die vierte und letzte Gruppe bildet das Stammpublikum der Jugendclubs und in ihr befinden sich überwiegend Gesamtschüler*innen. Sie bilden die Gruppe, der die wenigsten der befragten Jugendlichen zugeordnet wurden, die zugleich aber in ihrer Ortspräferenz für die Jugendclubs am ausgeprägtesten ist (vgl. Merkens 2001: 445 f.).

Weitere Analysen zeigen, dass die Freundesgruppen in allen Clustern eher „amorph“ sind, das heißt, sie sind weder durch Leitfiguren noch durch Gruppenentscheidungsprozesse geprägt. Zugleich geht von ihnen auch nur eine geringe soziale Kontrolle aus. Trotzdem zeigt sich eine große Kohäsion: Die Jugendlichen kennen sich schon lange und können sich aufeinander verlassen (vgl. Merkens 2001: 448 f.). Zusammen mit der Erkenntnis, dass sich die Gruppengrößen je nach Freizeitorten stark unterschieden, führt dies den Autor zu der These, die Freizeit der Jugendlichen sei weniger geprägt durch den Einfluss von festen Freundeskreisen, sondern eher durch das gezielte Aufsuchen bestimmter Orte, an denen dann Freund*innen getroffen werden. Vordergründig scheint diese Annahme im Widerspruch zu stehen zur oben postulierten Annahme, dass Freundschaften in anderen Teilen der Stadt – z. B. geknüpft über die Schule – auch Aktivitäten dort nach sich ziehen können. Andere Teil der Stadt werden, folgt man der These Merkens, nicht aufgesucht, weil ein fester Freundeskreis sich dort immer wieder trifft. Trotzdem können Informationen über interessante Orte in anderen Stadtteilen von dort lebenden Freund*innen weitergegeben werden. Diese werden dann aufgesucht, weil sie attraktiv erscheinen und weil dort zufällige Begegnungen mit Schulfreund*innen wahrscheinlicher sind als an Orten im eigenen Wohnstadtteil. Damit besteht auch kein Widerspruch zur Hypothese dieser Arbeit, dass es räumliche Zusammenhänge (z. B. eine Nähe zueinander) zwischen Freizeitorten und den Wohnorten der Freund*innen gibt.

3.5.2 Aktivitätsräume und Mobilität in Berlin

Die Auswertungen der Daten zur Stadtstruktur Berlins in den vorangegangenen Abschnitten dieses Kapitels haben zu einer Modifikation der Hypothesen des zweiten Sets geführt. Es wird angenommen, dass sich die für Berlin spezifische polyzentrale Struktur auch im Mobilitätsverhalten und den Aktivitätsräumen der Jugendlichen widerspiegelt. Anhand von zwei vorliegenden empirischen Untersuchungen zum Mobilitätsverhalten und den Aktivitätsräumen von Berliner*innen lassen sich die Hypothesen für die Berliner Gesamtbevölkerung prüfen.Footnote 48 Inwiefern die Ergebnisse auch auf die Gruppe der Jugendlichen übertragbar ist, muss diskutiert werden. Instruktiv ist hier eine Studie, die sich explizit mit den Aktivitätsräumen Berliner Jugendlicher befasst.

Scheiner (1999) nimmt sich in seiner Studie „Die Mauer in den Köpfen – und in den Füßen? Wahrnehmungs- und Aktionsraummuster im vereinten Berlin“ der Frage an, inwiefern sich einige Jahre nach dem Fall der Mauer die Aktivitätsraummuster von Bewohner*innen im Ost- und Westteil der Stadt jeweils auch über die zuvor zwischen den beiden Teilen der Stadt bestehenden Grenze hinweg in den jeweils anderen Teil der Stadt erstrecken.Footnote 49 Die Ergebnisse zeigen „aktionsräumliche Segregationstendenzen zwischen West und Ost“ (Scheiner 1999: XI). Berliner*innen aus dem Westen bewegen sich eher im westlichen Teil der Stadt, Ostberliner*innen eher im östlichen. Dies gilt mehr für Aktivitäten, die mit persönlichen Beziehungen verbunden sind (Freundschaften, Arztbesuche) und weniger für „funktionale Aktivitäten“ (Freizeit, Einkaufen). Eine unterschiedlich starke Nutzung der jeweils anderen Stadthälfte korrespondiert zum einen mit dem, was als eigenes Wohnumfeld wahrgenommen wird und zum anderen mit Vorbehalten gegenüber dem anderen Teil der Stadt. Demografische und sozialstrukturelle Merkmale scheinen eine untergeordnete Rolle für die Frage der „Grenzüberschreitung“ zu spielen. Großen Einfluss hat demgegenüber, ob eine Person bereits einmal ihren Wohnort in den jeweils anderen Teil der Stadt verlegt hat und ob sie erst nach der Wiedervereinigung der Stadt zugezogen ist. Für diese Personen spielt die ehemalige Grenze eine geringere oder gar keine Rolle für ihr alltägliches, räumliches Verhalten (vgl. Scheiner 1999: XI ff).

Mit Blick auf die Fragestellung dieser Arbeit sind einige Detailergebnisse von besonderem Interesse. Die Auswertungen zeigen, dass der Fokus in den alltäglichen Aktivitäten auf das eigene Quartier ausgeprägter bei den Personen ist, die bereits seit 1989 oder davor in diesem Bezirk wohnen (vgl. Scheiner 1999: 120). Dies ist ein Hinweis darauf, dass mit zunehmender Wohndauer möglicherweise auch der Radius der Aktivitäten abnimmt bzw. mehr Aktivitäten im eigenen Quartier stattfinden. Einkäufe und Arztbesuche finden meist nahräumlich statt, da Supermärkte und Praxen in allen Quartieren verfügbar sind. Für Bekleidungseinkäufe spielen nahegelegene Subzentren eine Rolle (vgl. Scheiner 1999: 126 f.). Bei den Freizeitaktivitäten zeigen sich Unterschiede in der Verteilung je nach Aktivität. Für Spaziergänge wird meist ein Park im Nahbereich aufgesucht und dabei sogar häufig die ehemalige Grenze überschritten, wenn im nahen anderen Teil der Stadt eine attraktivere Grünfläche erreichbar ist. Für Kinobesuche und Sportaktivitäten werden meist weiter entfernte Gebiete der Stadt, aber in der „eigenen“ Stadthälfte aufgesucht. Ein Zusammenhang besteht auch zwischen der Verteilung der Freizeitaktivitäten und den Wohnorten von Freund*innen: Wer Freundschaften im jeweils anderen Teil der Stadt pflegt, geht dort auch häufiger Freizeitaktivitäten nach. Außerdem haben neu in den Bezirk Zugezogene weniger Kontakte im eigenen Wohnumfeld (vgl. Scheiner 1999: 130 ff.). Auch für den Arbeitsort zeigen sich Zusammenhänge mit weiteren Aktivitäten: Wenn dieser in der anderen Stadthälfte liegt, wird dort auch eher anderen Aktivitäten nachgegangen (vgl. Scheiner 1999: 138 f.).

Der Fokus der Untersuchung von Scheiner (1999) liegt auf einem Vergleich von Aktivitätsraummustern zwischen (erwachsenen) Bewohner*innen aus Ost- und Westberlin und untersucht ausschließlich innerstädtische Quartiere. Für den Vergleich von Aktivitätsraummustern zwischen (jugendlichen) Bewohner*innen aus marginalisierten und nicht-marginalisierten bzw. peripheren und zentralen Quartieren sind die Ergebnisse daher wenig instruktiv. Dafür liefert die Studie einige allgemeine Erkenntnisse: Mit längerer Wohndauer sind die Aktivitäten eher aufs eigene Quartier konzentriert und es bestehen räumliche Zusammenhänge zwischen den Wohnorten von Freund*innen bzw. dem Arbeitsplatz und weiteren Aktivitäten.Footnote 50 Inwiefern diese Ergebnisse spezifisch für Berlin sind, lässt sich hier nicht abschließend klären, auch wenn vermutet werden kann, dass eine mit der Wohndauer zunehmende Quartierfokussierung durch die oben diskutierte polyzentrale Struktur Berlins unterstützt wird. Offen bleibt, ob die ehemalige Ost-West-Teilung der Stadt auch für die heutige Jugend noch eine Relevanz hat. Die Ergebnisse von Scheiner (1999) zeigen, dass für nach 1989 nach Berlin Zugezogene die historische Grenze zwischen beiden Stadtteilen in ihrem Alltag weit weniger Relevanz hat (vgl. Scheiner 1999: 246). Gleiches könnte für nach 1989 geborene Personen gelten – sofern es nicht zur intergenerationalen Übernahme von Identitäten und Alltagsmustern innerhalb der Familien kommt. Die im Folgenden vorgestellte Studie von Kemper et al. (2012) kommt jedenfalls zu dem Schluss, dass es keine bedeutenden Unterschiede zwischen dem Mobilitätsverhalten von Ost- und Westberlin*innen mehr gibt (vgl. Kemper et al. 2012: 165).

Das Forschungsprojekt „Die Stadt der kurzen Wege – Alltags- und Wohnmobilität in Berliner Stadtquartieren“ (Kemper et al. 2012) untersucht die Alltags- und Wohnmobilität der Berliner Bevölkerung vor dem Hintergrund des Leitbildes „Stadt der kurzen Wege“.Footnote 51 Zentrales Ergebnis ist die eher geringe Relevanz von kurzen Wegen als Motiv für die Wohnstandortwahl und Mobilität, auch wenn zugleich das Wohnumfeld eine große Bedeutung für viele Berliner*innen im Alltag besitzt (vgl. Kemper et al. 2012: 164 f.). Fast 60 % der Aktivitäten (abgefragt als Nutzung von vorgegebenen Gelegenheiten aus den Bereichen Versorgung und Freizeit) spielen sich im Durchschnitt der Befragten im Wohnumfeld ab, ein Viertel im Wohnbezirk und nur 16 % darüber hinaus im gesamten Stadtgebiet. Unzweifelhaft damit im Zusammenhang steht, dass über 55 % dieser Aktivitäten zu Fuß aufgesucht werden (vgl. Kemper et al. 2012: 121). Dies korrespondiert mit den Zahlen des Modal Split und den Ergebnissen der vorgestellten vergleichenden Studien zur Mobilität in deutschen bzw. europäischen Städten, die hervorheben, dass Berliner*innen vergleichsweise häufig zu Fuß unterwegs sind (vgl. Ahrens 2016; Greenpeace e.V. 2017; Kodukula et al. 2018).

Wie stark das Wohnumfeld genutzt wird, hängt vor allem mit der quantitativen Ausstattung des Wohngebiets mit Gewerbe, Dienstleistungen und Freizeitgelegenheiten zusammen. Quartiere des gleichen Gebietstyps haben eine quantitativ ähnliche Gebietsausstattung (vgl. Kemper et al. 2012: 122 f.). Die ausgewählten innerstädtischen Altbaugebiete weisen eine höhere Nutzungsmischung auf als die Zeilenbau- und Kleinsiedelgebiete sowie die Großsiedlungen (vgl. Kemper et al. 2012: 158). So zeigt sich eine höhere Wohnumfeldnutzung bei drei der vier für die Untersuchung ausgewählten innerstädtischen Altbaugebiete, allerdings auch bei einem der beiden Zeilenbaugebiete und den beiden Großsiedlungen (vgl. Kemper et al. 2012: 123). Dies verweist darauf, dass auch die subjektive Zufriedenheit der Bewohner*innen mit der Qualität des Angebots eine Rolle spielt. Individuelle soziodemografische Merkmale zeigen sich in diesem Zusammenhang als nicht einflussreich (vgl. Kemper et al. 2012: 124 f.).

Bei den Lebensmitteleinkäufen sind es vor allem die Bewohner*innen innerstädtischer Quartiere, die dafür zu Fuß die räumlich nächste Gelegenheit aufsuchen. Des Weiteren sind es vor allem junge Menschen (Schüler*innen, Auszubildende, Studierende) und Personen mit geringerem Einkommen, die ihre Einkäufe im nächstgelegenen Supermarkt tätigen (vgl. Kemper et al. 2012: 168). Für den Bekleidungseinkauf werden vor allem die Hauptzentren mit ihren Einkaufsstraßen und die Shoppingmalls genutzt (vgl. Kemper et al. 2012: 169).

Die Studie von Tobias Müller (2009) ist die bislang einzige Untersuchung, die sich konkret mit Aktivitätsräumen von Jugendlichen in Berlin beschäftigt. Die für die Analyse verwendete Stichprobe umfasst die Daten von 163 Schüler*innen an sieben Berliner Schulen im Alter zwischen 16 und 20 Jahren, die 2004/2005 befragt wurden. Zusätzlich führten die Schüler*innen ein elektronisches Zeitverwendungstagebuch und trugen zur Erfassung ihrer physischen Bewegung einen GPS-Empfänger zwischen vier und sieben Tagen bei sich. Des Weiteren wurden qualitative Einzelinterviews und Gruppendiskussionen durchgeführt (vgl. Tobias Müller 2009: Kap. 3).

Größe und Ausprägung der Aktivitätsräume wurden über räumlich-statistische Verfahren ermittelt. Auf Basis der erhobenen Aktivitätsorte wurden einerseits Konfidenz-Ellipsen berechnet, welche einen Großteil der Orte beinhalten und somit auf der Karte ein Hauptgebiet für die Aktivitäten der untersuchten Gruppen abbilden. Andererseits wurde eine Dichteverteilung der Orte berechnet, wodurch sich entsprechende kartografische Darstellungen erzeugen lassen. Sowohl die Ellipse als auch die Dichteverteilung wurden aggregiert für die Gesamtstichprobe, wie auch jeweils für jede Schule berechnet (vgl. Tobias Müller 2009: Abschn. 4.1.1).

Allgemein erscheinen Wohn- und Schulstandort zwei wichtige Determinanten jugendlicher Aktivitätsräume in Berlin zu sein. Sie sind nicht im Zentrum der räumlichen Aktivitäten, bestimmen aber die Größe der Aktivitätsräume. Dies gilt insbesondere für Schüler*innen mit einem weiten Schulweg (vgl. Tobias Müller 2009: 61). Einzelne Orte oder Gebiete, an denen sich Jugendliche in ihrer Freizeit besonders häufig aufhalten, lassen sich hingegen nicht identifizieren. Allerdings scheinen die Innenstadt bzw. die Stadtteilzentren etwas attraktiver für die Freizeitgestaltung zu sein als reine Wohngegenden (vgl. Tobias Müller 2009: 62). Auf der Ebene individueller Merkmale zeigen sich für den Autor überraschend deutlich größere Aktivitätsräume bei den Mädchen als bei den Jungen. Als mögliche Erklärungen für diesen Unterschied werden die höhere „Aktivitätsrate“ der Mädchen und der häufigere Medienkonsum der Jungen, der vermutlich eher zuhause stattfindet, angeführt (vgl. Tobias Müller 2009: 47 f.).

Unterschiede zwischen den aggregierten berechneten Aktivitätsräumen der einzelnen Schulen lassen sich durch verschiedene Faktoren erklären. Relevant erscheinen zunächst die unterschiedlich großen Einzugsgebiete der Schulen und die unterschiedlichen Altersspannen der jeweils befragten Schüler*innen. Auch vorhandene Subzentren im Stadtbezirk oder die Attraktivität des Bezirks für die jugendliche Freizeitgestaltung scheinen einen Einfluss zu haben. Als Beleg dafür wird der kleine und eher um Wohn- und Schulstandorte gelegene Aktivitätsraum der Tegeler Schüler*innen angeführt. Die Befragten aus Treptow und Tempelhof orientieren sich hingegen in ihrer Freizeit leicht hin zum Stadtzentrum (vgl. Tobias Müller 2009: 41). Ebenfalls von Bedeutung ist der Fall der Lichtenberger Schüler*innen, deren aggregierten Aktivitätsräume sich in einem zusammenhängenden Gebiet über weite Teile von Lichtenberg, Friedrichshain, Prenzlauer Berg und Mitte erstreckt. Das südwestlich an Friedrichshain angrenzende Kreuzberg scheint jedoch gemieden zu werden, die Aktivitäten enden abrupt an der Grenze dieser beiden Stadtteile (vgl. Tobias Müller 2009: 39, 62). Aussagen aus den Interviews deuten darauf hin, dass Kreuzberg von den Lichtenberger Schüler*innen vor allem wegen seiner vieler Bewohner*innen mit Migrationshintergrund gemieden wird (vgl. Tobias Müller 2009: 57). Eine weitere Erklärung, die nicht diskutiert wird, könnte die vergleichsweise schlechte ÖPNV-Verbindung zwischen Lichtenberg und Kreuzberg sein: Die anderen genutzten Stadtteile sind aus Lichtenberg weitaus leichter mit der BVG und der S-Bahn zu erreichen.

Die eher knappe Auswertung der ergänzenden qualitativen Einzel- und Gruppeninterviews zeigen auf der einen Seite, dass Jugendliche Orte aufsuchen, um dort ihre Freizeit zu verbringen oder weil dort ihre Freund*innen wohnen. Auf der anderen Seite meiden sie Orte, weil diese entweder weit entfernt oder uninteressant sind oder sie sich dort nicht sicher fühlen, was mit Personengruppen („Ausländer“, Rechts-, Linksradikale), die sie mit diesen Orten assoziieren, zusammenhängt (vgl. Tobias Müller 2009: 57 f.). Diese Ergebnisse verweisen auf die subjektiven Komponenten von Aktivitätsräumen: Nicht nur die objektiven Merkmale von Räumen und Individuen sind prägend, sondern auch die Wahrnehmung von Räumen durch Individuen. Die interviewten Jugendlichen empfinden überwiegend keine Einschränkung ihrer Mobilität durch mangelnde Verkehrsinfrastruktur, die Qualität des ÖPNV wird als gut bewertet (vgl. Tobias Müller 2009: 59).

Die mit hohem technischen Aufwand (GPS-Geräte) erhobenen Daten werden überwiegend aggregiert (Gesamtstichprobe oder Schulstichproben) ausgewertet. Schwachpunkte der Studie liegen in der Operationalisierung der Aktivitätsraumgröße und -ausprägung: Aggregierte Dichteverteilungen stellen hier nur eine recht grobe Annäherung dar. Des Weiteren wurden keine detaillierten Informationen über die besuchten Orte gesammelt bzw. ausgewertet. Eine Auswertung nach sozialem Status war aufgrund mangelnder Datenqualität der Einkommensvariable nicht möglich. Insgesamt bestätigt die Studie bereits bekannte Erkenntnisse zum Einfluss des Alters und der Infrastrukturausstattung von Stadträumen auf Aktivitätsräume. Überraschend sind die größeren Aktivitätsräume der Mädchen. Hervorzuheben sind die Belege für die besondere Bedeutung von Wohn- und Schulstandort, sowie der Innenstadt bzw. der Subzentren für Größe und Ausprägung von jugendlichen Aktivitätsräumen. Gerade die Rolle der Subzentren in dieser Studie zeigt, dass die polyzentrale Struktur Berlin auch für das räumliche Verhalten im Alltag der Jugendlichen relevant ist.

3.5.3 Zusammenfassung

Insgesamt belegen die vorgestellten Untersuchungen für Berlin die Ergebnisse anderer Studien zum Freizeitstil von Jugendlichen. Zu den wichtigen Freizeitaktivitäten Berliner Jugendlicher gehören neben Medienkonsum, Sport und Rumhängen (Chillen), auch gesellige und konsumorientierte Aktivitäten, wie Reden oder Bummeln. Öffentliche Orte, wie Straßen/Plätze, Parks und Einkaufszentren, sind auch für Jugendliche in Berlin wichtig Freizeitorte. In Anbetracht des guten, bereits oben dargestellten Angebots an entsprechender Infrastruktur ist dies nicht verwunderlich und Hypothese 1.c ist auch für Berliner Jugendliche gültig. Trotz des guten Angebots an Jugendfreizeiteinrichtungen scheint dieser Raumtyp nur von einer Minderheit genutzt zu werden, von dieser dann aber intensiv.

Mit Blick auf das Geschlecht zeigen sich auch für Berliner Jugendliche ein Teil der hypothetisierten Unterschiede: Mädchen sind eher konsumorientiert und nutzen entsprechend häufiger öffentliche Orte, die mit Konsum verbunden sind (H1.d). Jungen hingegen sind eher auf den Straßen und Plätzen zu finden. Ambivalent sind die beiden Studien in ihren Aussagen zu schichtspezifischen Unterschieden im Freizeitstil. Beide Studien fragen den sozialen Status der Jugendlichen nicht direkt ab, der abgefragte Schultyp lässt jedoch Vermutungen zum Status zu. Die Mehrheit der Hauptschüler*innen dürfte aus einer Familie mit eher niedrigem sozialen Status kommen, während die Gymnasiast*innen überwiegend aus Familien mit mittlerem bis hohem Status kommen. Während die Studie von Merkens und Kirchhöfer (1993) keine Unterschiede nach Schultyp findet, sieht die Studie von Merkens (2001) Unterschiede bei der Nutzung verschiedener Orte. Hauptschüler*innen nutzen häufig konsumorientierte Orte, wie Einkaufszentren, Disko, Cafés. Gymnasiast*innen nutzen ebenfalls häufig Einkaufszentren, aber sind auch häufig zuhause. Diese Ergebnisse sind schwierig im Hinblick auf Hypothese 1.b zu interpretieren. Zumal die Antwortmöglichkeiten vorgegeben und auf fünf Freizeitorte (Einkaufszentren, Straßen/Plätze, Wohnungen, Jugendclubs, Cafés/Diskos), die eher für unstrukturierte Freizeitaktivitäten genutzt werden, beschränkt war.

Während sich die ehemalige Ost-West-Teilung der Stadt in der Stadtstruktur und den Einstellungen der Bewohner*innen beider Stadthälften Berlins auch heute noch widerspiegelt, ist sie im Freizeitverhalten der befragten Jugendlichen aus den 1990er Jahren kaum zu erkennen. Dies betrifft die Präferenz für bestimmte Freizeitaktivitäten und -orte. Die geringen Unterschiede dürften im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte durch die gemeinsame Sozialisation in einer gesamtdeutschen Gesellschaft noch weiter abgenommen haben.Footnote 52 Zugleich zeigt die unterschiedliche Bewertung des Wohnumfeldes durch Ost- und Westberliner Jugendliche, dass sich die Ausstattung mit Freizeitgelegenheiten zum Zeitpunkt der Untersuchung stark zwischen beiden Stadthälften unterschied. Die ostdeutschen Jugendlichen beurteilen das Angebot in ihren Quartieren kritischer und verlassen ihr Quartier häufiger als die Jugendlichen aus dem Westen. Dies belegt die Annahmen, dass die Infrastrukturausstattung von Stadträumen Einfluss hat auf das räumliche Freizeitverhalten von Jugendlichen. Diese Annahme liegt auch den Hypothesen H2.b und H2.c zugrunde – allerdings unter der Prämisse, dass wichtige jugendliche Freizeitorte und Subzentren nicht ungleich nach Stadthälften verteilt sind. Dies war sicherlich kurz nach dem Beitritt der DDR zur BRD der Fall, hat sich aber in den vergangenen 30 Jahren stark abgemildert, wie die Analysen zur Stadtstruktur weiter oben gezeigt haben.

Nicht nur der Freizeitstil, sondern auch das räumliche Verhalten hat sich zwischen den Bewohner*innen der ehemals getrennten Stadthälften angeglichen. Die Studie von Scheiner (1999) zeigt, dass im Jahrzehnt nach dem Beitritt der DDR zur BRD Aktivitätsräume der Bewohner*innen beider Berliner Stadtteile jeweils auf ihre Stadthälfte orientiert sind. Es zeigt sich jedoch auch, dass diese Ost-West-Segregation in den Aktivitätsräumen der nach 1989 zugezogenen Personen wenig ausgeprägt ist. Das dürfte in ähnlicher Form für Personen gelten, die nach 1989 geboren wurden – also die heutige Jugend. Die Studie von Kemper et al. (2012) zeigt, dass sich das allgemeine Mobilitätsverhalten zwischen Bewohner*innen der ehemals getrennten Stadthälften über zehn Jahre später nicht mehr unterscheidet. Es ist daher nicht anzunehmen, dass sich Ost-West-Divergenzen im räumlichen Freizeitverhalten der für diese Arbeit befragten Jugendlichen zeigen. Eine entsprechende Hypothese soll daher nicht eingeführt werden.

Das zweite herausstechende stadtstrukturelle Merkmal Berlins ist die Polyzentralität. Diese scheint sich deutlich im räumlichen Verhalten der Hauptstädter*innen niederzuschlagen. Die Studie von Kemper et al. (2012) belegt deutlich die Quartiersfokussierung der Berliner*innen in ihren alltäglichen Aktivitäten. Ein Großteil der Wege wird daher zu Fuß zurückgelegt, wie in Hypothese 2.d formuliert. Dies gilt stärker für innerstädtische Altbauquartiere, aber auch für randstädtische Großsiedlungen. Ein Indiz dafür, dass sich nicht nur innerstädtische Gebiete durch eine gute infrastrukturelle Ausstattung auszeichnen. Zugleich werden für bestimmte Aktivitäten, wie Bekleidungseinkäufe, Kinobesuche oder Sportaktivitäten auch andere Teile der Stadt, z. B. eines der Hauptzentren, aufgesucht. Parks werden jedoch meist wohnortnah genutzt. Diese Ergebnisse der Studien zur Mobilität der Berliner Gesamtbevölkerung stützen die im Rahmen dieser Arbeit für Jugendliche herausgearbeitete Hypothesen 2.b und 2.c.

Darüber hinaus belegen die vorgestellten empirischen Untersuchungen auch die im Hypothesen-Set 3 formulierten Annahmen zu Aktivitätsräumen von Jugendlichen, die vor dem Hintergrund der spezifischen Stadtstruktur Berlins nicht modifiziert wurden. So deuten die Ergebnisse der Studie von Scheiner (1999) auf die Relevanz der Wohndauer für die Ausrichtung der Aktivitätsräume hin: Die Aktivitäten und Freundeskreise von Personen mit einer längeren Wohndauer im Quartier sind auch eher auf dieses ausgerichtet. Andererseits wird Aktivitäten eher in anderen Teilen der Stadt nachgegangen, wenn Freund*innen dort wohnen oder sich der Arbeitsort dort befindet. Übertragen auf die Jugendlichen kann für die Schule als Fixpunkt in den alltäglichen Routinen ein ähnlicher Einfluss angenommen werden. Belegt wird dieser in der Studie von Tobias Müller (2009): Die Entfernung von Wohn- zu Schulstandort prägt die Größe der Aktivitätsräume. Zudem zeigen sich Unterschiede nach Geschlecht: Die Aktivitätsräume der Mädchen sind größer als die der Jungen. Dies widerspricht den Ergebnissen bevölkerungsweiter Untersuchungen, welche längere Wegstrecken (vgl. Scheiner et al. 2011) bzw. größere Aktivitätsräume (vgl. Chen und Akar 2016) für Männer feststellen. Plöger (2012) findet jedoch in seiner Studie zu Jugendlichen im Ruhrgebiet keine markanten Unterschiede in den Aktivitätsradien von Jungen und Mädchen. Aufgrund dieser ambivalenten Forschungslage soll keine konkrete Hypothese zum Einfluss des Geschlechts auf die Aktivitätsräume von Jugendlichen formuliert werden. Als Variable soll dieses wichtige sozialstrukturelle Merkmal jedoch in den Analysen dieser Arbeit berücksichtigt werden.

3.6 Zwischenfazit

Ziel des Kapitels war es zu prüfen, ob die allgemeinen Hypothesen zu Freizeitverhalten und Aktivitätsräumen von Jugendlichen für den Forschungsort Berlin mit seiner spezifischen Stadtstruktur modifiziert und ergänzt werden müssen. Dafür wurden Daten zur physischen Stadtstruktur, zur jugendbezogenen Infrastruktur, zur Mobilität und zur sozialräumlichen Struktur Berlins zusammengetragen, ausgewertet und mit Bezug auf das räumliche Freizeitverhalten von Jugendlichen diskutiert. Abschließend wurden bereits vorhandene Studien zum Freizeitverhalten Berliner Jugendlicher und zum räumlichen Verhalten der Hauptstädter*innen rezipiert, um zu diskutieren, inwiefern die berlinspezifischen Modifikationen auch durch die wenigen vorhandenen empirischen Untersuchungen belegt sind oder ob weitere Überarbeitungen und Ergänzungen im Hypothesen-Set nötig sind.

Tabelle 3.6 Ergänzte Hypothesen: Zusammenfassung

Es lässt sich eine deutlich höhere Dichte an Bebauung, Bevölkerung und infrastruktureller Zentren im Innenstadtbereich erkennen – insofern ist Berlin eine typische Großstadt. Die Hypothese der kleineren Aktivitätsräume von zentral wohnenden Jugendlichen (H3.b, s. Tab. 3.6) dürfte demnach auch in Berlin zutreffen. Zugleich kennzeichnet Berlin jedoch eine polyzentrale Struktur – was es von anderen Städten in Deutschland unterscheidet. Neben den beiden Zentrumsbereichen existieren eine Reihe von weiteren Subzentren, die auch außerhalb des inneren Stadtbereichs Einkaufsgelegenheiten, Dienstleistungen, soziale und kulturelle Infrastruktur bieten. Das Stadtzentrum dürfte für die Freizeitgestaltung Berliner Jugendliche daher weniger relevant sein als für Jugendliche in monozentrischen Städten. Hypothese 2.b muss hier entsprechend ergänzt werden.

Die Studien zum Freizeitverhalten (Merkens und Kirchhöfer 1993; Merkens 2001) zeigen, dass sich Berliner Jugendliche in ihre Präferenz für Freizeitaktivitäten und -ort nicht vom Durchschnitt deutscher Jugendlicher, wie er in den repräsentativen Jugendstudien erfasst wird, unterscheidet. Medienkonsum, Sport, Chillen und Freund*innentreffen sind wichtige Aktivitäten. Neben dem eigenen Zuhause werden häufig öffentliche Orte, wie Plätze, Parks und Einkaufszentren genutzt. Insofern erweist sich die Hypothese 1.c auch für Berliner Jugendliche als zutreffend. Auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede, wie sie in Hypothese 1.d formuliert sind, werden hier bestätigt: Jungen chillen im öffentlichen Raum, Mädchen konsumieren. Zugleich belegen die Analysen von Tobias Müller (2009), dass Mädchen größere Aktivitätsräume haben als Jungen. Dies steht im Widerspruch zu den Ergebnissen anderer Studien, welche kleinere Bewegungsradien für Frauen nachweisen (Chen und Akar 2016; Scheiner et al. 2011). Daher soll Hypothese 3.b nicht um eine konkrete Annahme zum Einfluss des Geschlechts auf die Aktivitätsraumgröße ergänzt werden, wenngleich Geschlecht als wichtiges individuelles Merkmal in den Analysen dieser Arbeit einbezogen werden soll. Was den Einfluss des sozialen Status auf die jugendlichen Freizeitstile angeht (H1.b), lassen sich die Ergebnisse der beiden Studien allerdings nicht zu einer eindeutigen Erkenntnis zusammenfassen.

Die für die jugendliche Freizeitgestaltung wichtigen Raumtypen der Shoppingmalls und Parks sind nicht in bestimmten Bereichen der Stadt konzentriert, sondern verteilen sich über die Stadt. Die Jugendlichen sind also nicht gezwungen, weitere Wege in der Stadt zurückzulegen, um diese bei ihnen beliebte Raumtypen zu nutzen. Hier wurde eine entsprechende Hypothese ergänzt (H2.c). Die Studie zur Mobilität in der Hauptstadt (Kemper et al. 2012) belegt, dass Berliner*innen jeglichen Alters und in allen Bereichen der Stadt vielen Aktivitäten wohnortnah nachgehen. Mit zunehmender Wohndauer in einem Quartier nimmt diese Quartiersfokussierung noch zu, wie in Hypothese 3.b angenommen und durch die Studie von Scheiner (1999) nachgewiesen wird. Offen bleibt jedoch, ob bestimmte angesagte Einkaufszentren oder Parks im inneren Stadtbereich eine stadtweite Anziehungskraft auf Jugendliche ausüben und sie motivieren, auch längere Anfahrten auf sich zu nehmen.

Jugendfreizeiteinrichtungen sind ebenfalls im gesamten Stadtgebiet vorhanden, daher wird Hypothese 2.c um diesen Raumtyp ergänzt. Eine eingehendere Analyse der Standorte ergibt aber, dass es überdurchschnittlich viele Jugendzentren in benachteiligten und unterdurchschnittlich viele in privilegierten Quartieren gibt. Durch diese ungleiche Verteilung der Jugendfreizeiteinrichtungen wird möglicherweise die Quartiersbezogenheit Jugendlicher aus marginalisierten Quartieren unterstützt und führt zumindest bei den regelmäßigen Nutzer*innen der Jugendzentren in benachteiligten Quartieren zu kleineren Aktivitätsräumen. Jugendliche aus privilegierten Nachbarschaften hingegen müssen zum Teil weitere Wege zurücklegen, um die Jugendfreizeiteinrichtungen zu nutzen. Das unterstreicht, wie wichtig es ist, den Quartierstatus als erklärenden Faktor für die Ausrichtung und Größe jugendlicher Aktivitätsräume zu untersuchen (H3.b).

Eine besondere Rolle nehmen Schulen ein. Sie dienen als Freizeitorte außerhalb der Schulzeit – durch organisierte Freizeitangebote oder weil zugängliche Schulgelände von Jugendlichen angeeignet werden. Zugleich sind sie Orte, an denen durch Kontakte zu Gleichaltrigen Freundschaften entstehen. Kommen die befreundeten Mitschüler*innen aus anderen Quartieren, ergeben sich auch eher Gelegenheiten, dort Freizeit zu verbringen.

Eine ungleiche räumliche Verteilung von Schulen mit und ohne Oberstufe lässt sich nicht ausmachen. Um ihren Kindern das gewünschte Schulprofil zu ermöglichen, sind Eltern aus Mittel- und Oberschicht jedoch bereit, auch weitere Schulwege in Kauf zu nehmen und nicht das nächste Gymnasium zu wählen. Die Schulwahl von Unterschichtsfamilien fällt hingegen meist lokaler aus, selbst wenn das Kind auf ein Gymnasium gehen soll. Schüler*innen aus marginalisierten Familien und Quartieren treffen in Schulen also überwiegend auf Mitschüler*innen aus einem ähnlichen Milieu und dem gleichen Stadtteil. Für Schüler*innen aus statushöheren Familien ergeben sich über ihre Schulen möglicherweise tatsächlich Gelegenheiten, zu anderen Jugendlichen – zwar nicht aus anderen sozialen Schichten, aber aus anderen Stadtteilen – Kontakt zu knüpfen. Dieser Erkenntnis widerspricht nicht den Hypothesen H2.b. und H3.b. Die Ausrichtung des Freizeitverhaltens ist geprägt durch den Schulstandort und die Distanz zum Schulstandort führt zu größeren Aktivitätsräumen. Die Distanz zum Schulstandort hängt aber wahrscheinlich von individuellem sozialen Status und dem Status des Wohnquartiers ab.

Auch wenn die bevorzugten Freizeitorte von Jugendlichen meistens im eigenen Quartier vorhanden sind, ermöglicht ihnen das Mobilitätsangebot Berlins auch den Besuch anderer Teile der Stadt. Durch die gute Abdeckung und Taktung des ÖPNV können weite Teile der Stadt eigenständig erreicht werden – ohne darauf angewiesen zu sein, von den Eltern mit dem Pkw gefahren zu werden. Einschränkend wirken könnten einerseits die Fahrkartenpreise. Während Einzelfahrscheine vergleichsweise teuer sind, bietet das Schülermonatsticket eine preiswerte Alternative. Andererseits sind aufgrund der Größe der Stadt Verbindungen zwischen weit entfernten Teilen der Stadt mit langen Fahrtzeiten verbunden. Eine zentrale Wohnlage geht in der Regel mit kürzeren Distanzen zu allen Teilen der Stadt einher. Trotz dieser Einschränkungen sind Qualität und Zugänglichkeit des Berliner ÖPNV aber als gut zu bewerten und weite Teile der Stadt für Jugendliche daher unabhängig vom Wohnort gut zu erreichen. Hypothese 2.a soll daher aktualisiert werden. Zugleich ermöglicht die oben dargestellte polyzentrale Struktur Berlins die Befriedigung vieler jugendlicher Freizeitbedürfnisse (z. B. Nutzung von Grünflächen und Einkaufszentren) im eigenen Wohnquartier oder zumindest -bezirk. Die hier notwendigen Wege können meist problemlos zu Fuß oder per Fahrrad zurückgelegt werden und daher soll das Hypothesen-Set 2 um die Annahme ergänzt werden, dass Jugendliche den überwiegenden Teil ihrer Freizeitaktivitäten zu Fuß oder mit dem Fahrrad ansteuern (H2.d). Für die Berliner Gesamtbevölkerung ist diese Verkehrsmittelpräferenz durch die Studie von Kemper et al. (2012) belegt.

Auf sozialräumlicher Ebene ist die markante soziale Segregation Berlins hervorzuheben. Es gibt eine Reihe von Quartieren, die sich durch einen niedrigeren Anteil an sozial benachteiligten Haushalten vom Durchschnitt der Berliner Quartiere abheben und daher als marginalisiert bezeichnet werden können. Im zentralen Bereich bilden sie in Neukölln, Kreuzberg und Wedding/Gesundbrunnen größere zusammenhängende Gebiete; am Stadtrand betrifft es vor allem Gebiete mit Großsiedlungen in Spandau, Reinickendorf und Marzahn-Hellersdorf. Auf der anderen Seite gibt es zum Stadtrand hin größere Gebiete – überwiegend geprägt durch Einfamilienhäusern – mit privilegierten Nachbarschaften, die durch einen geringen Anteil an sozial benachteiligten Haushalten gekennzeichnet sind. In der inneren Stadt finden sich privilegierte Quartiere nur in Mitte. Damit erfüllt Berlin die Voraussetzungen, um die Annahme aus Hypothese 3.b, dass Jugendliche in benachteiligten Quartieren eher kleinere aufs eigene Quartier ausgerichtete Aktivitätsräume haben, prüfen zu können. Da die marginalisierten und privilegierten Quartiere nicht nur vereinzelt und inselhaft in der Stadt lokalisiert sind, sondern größere zusammenhängende Gebiete bilden, sollte sich auch Hypothese 4 für Berliner Jugendliche deutlich nachweisen lassen. Größere zusammenhängende Stadtbereiche mit ähnlichem sozialen Kontext erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass dort wohnende Jugendliche in ihre Alltagsaktivitäten auch nur diesem Kontext ausgesetzt sind – selbst wenn sie für Freizeitaktivitäten ihre unmittelbare Wohnumgebung verlassen.