Die Relevanz des Stadtraums für die Lebenslagen und die Lebenschancen von Jugendlichen ergibt sich aus seiner Rolle im Prozess der Sozialisation. In der Jugendphase beginnt die selbstständige Aneignung des Raumes jenseits des eigenen Zuhauses. Der Stadtraum bietet die Möglichkeit autonome Erfahrungen mit der Erwachsenenwelt zu sammeln und sich zugleich ihr gegenüber abzugrenzen und bietet damit einen Rahmen für diese wichtige Entwicklungsaufgabe im Sozialisationsprozess. In der Stadtforschung wird vor allem die Bedeutung des spezifischen Raums des Wohnquartiers betrachtet.Footnote 1 Dieser gilt in der Jugendphase als primärer außerhäuslicher Sozialisationsraum. Die Nachbarschaftseffektforschung untersucht den Einfluss der physischen, symbolischen und sozialen Dimensionen von Quartieren auf die Sozialisation. Jugendliche stehen im Fokus, da angenommen wird, sie seien durch ihr Freizeitverhalten im besonderem Maße dem Quartierskontext ausgesetzt.

Die in der Jugendphase zunehmend eigenständig gestaltete Freizeit verbringen Jugendliche jedoch auch jenseits des eigenen Wohnquartiers. Aktivitäten und soziale Kontakte führen sie in andere Teile der Stadt. Städte bieten zugleich die Möglichkeit diese Wege ohne Begleitung von Erwachsenen zurückzulegen, weil Wege kürzer sind und ein gut ausgebauter ÖPNV vorhanden ist. Anknüpfend an das aus der Geografie stammende Konzept der Aktivitätsräume, versucht die neuere stadtsoziologische Forschung daher, nicht allein das Wohnquartier zu untersuchen, sondern die alltägliche Nutzung städtischer Räume möglichst genau abzubilden und zu analysieren. Auch der innovative Forschungsansatz dieser Arbeit untersucht die Sozialisationsrelevanz städtischer Räume, indem genau nachvollzogen wird, welche Jugendlichen welche Bereiche der Stadt wie nutzen. Denn sozialisationsrelevante Erfahrungen machen Jugendliche in den konkreten Kontexten ihrer täglichen Aktivitäten – und die können sich stark voneinander unterscheiden.

Daher ist zunächst eine differenzierte Betrachtung des Freizeitverhaltens von Jugendlichen und der verschiedenen Freizeitstile in dieser Altersgruppe erforderlich. Einen Überblick zu Freizeitaktivitäten von Jugendlichen verschaffen aktuelle Jugendstudien. Doch nicht alle Orte in der Stadt eignen sich gleichermaßen für jede Aktivität, auch haben Jugendliche unterschiedliche Präferenzen für bestimmte Räume. Aufschlussreich sind hier Forschungen zur Nutzung des Stadtraums durch Jugendliche. Studien aus dem Bereich der Nachbarschaftseffektforschung können zeigen, welche Jugendlichen in ihrer Freizeit primär das eigene Wohnquartier nutzen und wie zugleich die Nachbarschaft prägend für Freizeitaktivitäten und sozialen Kontakt ist. Ob neben dem Wohnquartier auch weiter entfernte Orte in der Stadt aufgesucht werden, hängt auch mit der Verfügbarkeit und Nutzbarkeit von Verkehrsmitteln zusammen. Untersuchungen zum jugendlichen Mobilitätsverhalten geben Aufschluss darüber, welche Wege mit welchen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden. Forschungen zu Aktivitätsräumen verbinden die vorangegangenen Themengebiete und beschreiben, wie sich die alltäglichen Aktivitäten in Abhängigkeit von Freizeitstilen, Wohnquartieren, sozialen Kontakten und Mobilitätsverhalten im Stadtraum verteilen.

Aufbauend auf der theoretischen Diskussion zur Relevanz städtischer Räume für die jugendliche Sozialisation (erster Teil des Kapitels) und in der Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand in den verschiedenen Themenbereichen (zweiter Teil), wurden eine Reihe von Hypothesen in Bezug auf die Forschungsfragen herausgearbeitet. Diese Hypothesen konnten im Zuge einer explorativen Vorerhebung in Kassel geprüft werden. Die Ergebnisse werden im dritten Teil des Kapitels diskutiert. Den Abschluss bildet eine Zusammenfassung, welche die zentralen Punkte dieses Kapitels zusammenträgt und mit Blick auf die Forschungsfrage einordnet.

2.1 Die Relevanz des Stadtraums aus sozialisationstheoretischer Perspektive

Jugend als eigene Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter entstand im Bürgertum des 18. und 19. Jahrhunderts. Sie setzte sich zunehmend als chronologischer Bestandteil von Lebensläufen in allen Bevölkerungsschichten durch. Mit dem Individualisierungsschub am Ende des 20. Jahrhunderts im Übergang von der modernen zur postmodernen Gesellschaft verliert die Grenze zum Erwachsensein an Kontur. Zugleich bleibt die Jugend die zentrale Lebensphase, in der sich die Sozialisation vollzieht.

Auch die doppelte gesellschaftliche Funktion der Sozialisation bleibt trotz gesellschaftlichem Wandel bestehen: Durch Internalisierung von Normen werden Jugendlichen zu handlungsfähigen Mitgliedern der Gesellschaft und sichern somit zugleich ihren Fortbestand. In der postmodernen Gesellschaft bedeutet dies in der Auseinandersetzung mit der physischen und sozialen Umwelt eine eigene Identität auszubilden.

Dies geschieht im autonomen Kontakt mit der Erwachsenenwelt und in der Abgrenzung dieser gegenüber. Der öffentliche Stadtraum bietet die ideale Bühne für diesen Prozess und ist daher ein wichtiger Sozialisationskontext. Innerhalb der Stadtforschung wird den Wohnquartieren von Jugendlichen eine besonders große Relevanz zugeschrieben, da davon ausgegangen wird, Jugendliche seien besonders intensiv dem Kontext der Nachbarschaft ausgesetzt. Im Forschungsstrang der Nachbarschaftseffektforschung werden vor allem die negativen Effekte marginalisierter Quartiere und ihrer physischen, symbolischen und sozialen Merkmale auf die Sozialisation von Jugendlichen untersucht.

Doch in ihrer vielfältig gestalteten Freizeit nutzen Jugendlichen auch Bereiche der Stadt jenseits des eigenen Wohnquartiers. Wichtig sind daher innovative Forschungsansätze, die nachvollziehen, welchen räumlichen und sozialen Kontexten Jugendliche in ihrem Alltag ganz konkret ausgesetzt sind. Anregungen dazu gibt die Aktionsraumforschung mit ihren Untersuchungen zu individuellen zeiträumlichen Routinen und Strukturen.

2.1.1 Jugend und Sozialisation

Jugendliche stehen im besonderen Fokus von Öffentlichkeit und Wissenschaft. Allgemein werden sie meist als homogene Subpopulation wahrgenommen, als soziale Gruppe mit eigenen Moden, Lebensstilen und (Sub)Kulturen und als solche werden sie auch in den Medien häufig dargestellt. Nicht zufällig wird meist von „der Jugend“ gesprochen und bestimmte Geburtenjahrgänge mit Bezug zum Zeitgeschehen als Generationen mit aussagekräftigen Namen versehen (z. B. die No-Future-Generation der 1980er Jahre) (vgl. Hoffmann und Mansel 2010).Footnote 2 Dabei sind Definition und Bedeutung der Jugendphase historisch und kulturell kontingent, zugleich zeigen sich die Jugendgenerationen innerhalb unserer Gesellschaft als heterogen.

Historisch gesehen setzte sich Jugend als eigene Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch. Diese Entwicklung ist dabei eng geknüpft an den Aufstieg des Bürgertums im 18. und 19. Jahrhundert in den Industriestaaten Europas und Nordamerikas. Das bürgerliche Ideal der „privat-intimen Familie“ (Ecarius et al. 2011: 17) forderte, sich eingehend mit dem Nachwuchs zu beschäftigen, Erziehungsarbeit zu leisten und emotionale Bindungen aufzubauen. Dabei stand besonders auch die (Aus)Bildung im Fokus. So entstand der „Luxus eines Moratoriums der Jugendzeit“ (Sander 2000: 3), einer Übergangszeit, in der „viele Zwänge der Kindheit entfielen, aber das eigene Leben und vor allem die Existenzsicherung noch nicht selbstverantwortlich gestaltet werden musste“ (Sander 2000: 3). Während Kinder aus dem Proletariat nach kurzer Schulzeit früh durch eigene Erwerbsarbeit zum Familieneinkommen beitragen mussten, hatten bürgerliche Kinder eine verlängerte Zeit der (Aus)Bildung, die ihnen auch die Gelegenheit einer gemeinsamen Freizeit mit Gleichaltrigen bot. Erst mit dem breiten gesellschaftlichen Wohlstand der Nachkriegsjahre setzte sich die Jugend in dieser Form als eigenständige Lebensphase in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für alle Schichten in den Gesellschaften Europas und Nordamerikas durch. (vgl. Ecarius et al. 2011: 16 ff.; Sander 2000)

Es entwickelte sich eine „Chronologisierung und Standardisierung des Lebenslaufs“ (Ecarius et al. 2011: 39): Zentrale Lebensereignisse und die Übergänge zwischen den verschiedenen Lebensphasen (Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter, Alter) waren für alle Menschen mit einem bestimmten Lebensalter verknüpft. Im Zuge der zunehmenden Individualisierung in der postmodernen Gesellschaft seit den 1980er Jahren verlieren auch die Lebensphasen wieder ihre klaren Konturen und Biografien sind vermehrt durch individuelle Lebensentwürfe und -verläufe bestimmt (vgl. Ecarius et al. 2011: 38 ff.). In der Folge kommt es auch zu einer „Entstrukturierung und Ausdifferenzierung der Jugendphase“ (Hoffmann und Mansel 2010: 165). Durch verlängerte und diskontinuierliche (Aus)Bildungsverläufe kann sich der Übergang zum Erwachsenenalter im gesellschaftlichen Teilbereich des Erwerbslebens bis weit ins dritte Lebensjahrzehnt ziehen. Auf der Ebene der Lebensstile verwischen zunehmend die Grenzen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, denn zum einen sind jugendliche Kleidungs- und Freizeitstile auch bei vielen Erwachsenen äußerst populär, zum anderen nähert sich die heutige Jugend in ihren Werten zunehmend dem gesellschaftlichen Mainstream an (vgl. Scherr 2018: 24 ff.; Ecarius et al. 2011: 38 ff.). Trotz dieses Wandels der Jugendphase, bleibt sie doch nach wie vor – neben der Kindheit – der Lebensabschnitt, in dem sich der Prozess der Sozialisation primär vollzieht.

Soziologisch betrachtet erfüllt der Prozess der Sozialisation eine „Doppelfunktion“ (Ecarius et al. 2011: 9): Einerseits internalisieren Individuen durch diesen Prozess gesellschaftliche Handlungsmuster und Normen und werden so zu handlungsfähigen und integrierten Gesellschaftsmitgliedern. Andererseits stellen Gesellschaften ebenso ihren Zusammenhalt und Fortbestand sicher. Umso erstaunlicher erscheint es, dass Jugendliche in unserer Gesellschaft häufig dafür Aufmerksamkeit erfahren, dass sie für Erwachsene unverständliches Verhalten zeigen und dabei eben auch gesellschaftliche Normen verletzen und Gesetze übertreten. Nicht selten steckt hinter dem kritischen Blick auf „die Jugend von heute“ die Sorge um die Zukunft der Gesellschaft (vgl. Hoffmann und Mansel 2010). Denn die Jugendlichen von heute sind die Erwachsenen von morgen.

Doch gerade dieses von Erwachsenen häufig kritisch gesehene Verhalten ist aus entwicklungspsychologischer und soziologischer Perspektive typisch für die Phase der Jugend.Footnote 3 Denn im Prozess der Sozialisation geht es zwar darum das Individuum auf seine Rolle in der Gesellschaft vorzubereiten. Für Durkheim wird daher durch Erziehung der Zusammenhalt der Gesellschaft gestärkt, „indem sie von vornherein in der Seele des Kindes die wesentlichen Ähnlichkeiten fixiert, die das gesellschaftliche Leben voraussetzt“ (Durkheim [1903] 1984: 45). Auf der anderen Seite betont er auch die Notwendigkeit von Vielfalt in einer Gesellschaft, um Spezialisierungen und Arbeitsteilung zu ermöglichen. Gerade in postmodernen individualisierten Gesellschaften mit kapitalistischen Ökonomien gehört es daher zu den Zielen des Sozialisationsprozesses sich von der Herkunftsfamilie abzulösen, einen eigenständigen Lebensweg und eine individuelle Identität zu entwickeln.Footnote 4 Delinquenz bietet „eine Möglichkeit, sich als autonomes Individuum zu erleben und sozial sichtbar zu machen [...]“, wie Scherr (2018: 22) betont. Das Überschreiten sozialer, normativer und auch rechtlicher Grenzen ist also immanenter und funktionaler Teil des Sozialisationsprozesses in unserer Gesellschaft.

Sozialisation findet dabei immer in Auseinandersetzung mit der physischen und sozialen Umwelt statt, wie der ökosystemische Ansatz von Urie Bronfenbrenner hervorhebt (vgl. Bronfenbrenner 1979). Im Laufe des Lebens kommen nach und nach verschiedene sozialisationsrelevante „Mikrosysteme“ hinzu. Diese nehmen Einfluss auf die Sozialisation des Individuums und dieses muss sich produktiv mit ihnen auseinandersetzen, wie Hurrelmann in seinem Modell der produktiven Realitätsverarbeitung unterstreicht (vgl. Hurrelmann und Bauer 2015). Ist zu Beginn des Lebens, als Säugling, der Entwicklungskontext noch beschränkt auf die Familie, kommen schon bald die Betreuungs- und Bildungsinstitutionen (Grippe, Kindergarten, Hort, Schule usw.) hinzu. Spätestens in der Jugendphase sind dann Peergroups und Medien von großer Relevanz für den Sozialisationsprozess. Gerade letztere beiden haben eine besondere Bedeutung für die Entwicklung autonomer Persönlichkeiten, sind sie doch weniger kontrolliert durch Erwachsene. (vgl. Ecarius et al. 2011: 69 ff.)

2.1.2 Sozialisation im Stadtraum

Im Sinne der Sozialisationstheorien von Bronfenbrenner und Hurrelmann, die den Einfluss der Umwelt im Sozialisationsprozess hervorheben (vgl. auch Engelbert und Herlth 2002), muss ein besonderes Augenmerk auch auf dem Wohnquartier und darüber hinaus dem gesamten (Stadt)Raum liegen. Dabei bildet der Raum nicht nur den physisch-geografischen Container, innerhalb dem sich die anderen Sozialisationsinstanzen befinden, sondern leistet als „allgegenwärtige Umwelt“ (Hurrelmann und Bauer 2015: 187) einen eigenständigen Beitrag zur Sozialisation. Dabei dehnt sich der eigenständig genutzte Raum ausgehend von der eigenen Wohnung und dem unmittelbaren Umfeld (Garten, Hof, Bürgersteig) mit zunehmenden Alter aus (vgl. Muchow und Muchow [1935] 2012: 160; Kilb 2012: 618) und verinselt sich im Lauf der Jugend bei vielen Personen zugleich (vgl. Reutlinger 2008; Reicher 2015: 88). Der Stadtraum wird in der Jugendphase zunehmend relevant, weil sich im Zuge der Identitätsentwicklung nun verstärkt ein eigener Freizeitstil ausbildet. Dafür nutzen Jugendliche Räume jenseits der Familienwohnung, um ihren Interessen nachzugehen. Im Vergleich zu anderen Altersgruppen verbringen sie einen großen Teil ihrer Freizeit außerhalb der eigenen Wohnung (vgl. Dangschat et al. 1982: 291; von Seggern et al. 2009: 15 f.). Jugendliche sind zugleich „freizeitprivilegiert“ (Reicher 2015: 88), weil sie im Vergleich zu Kindern und Erwachsenen vergleichsweise viel Zeit jenseits von Vorgaben durch andere Personen und notwendigen Verpflichtungen selbstbestimmt verbringen können. Die Gestaltung der Freizeit kann dabei sehr unterschiedlich aussehen und ist unter anderem abhängig von Alter, Geschlecht, sozialer Schicht und Ethnizität der Jugendlichen. Entscheidend ist ebenfalls wo die Freizeit verbracht wird.

Gerade dem Wohnquartier als unmittelbarer an die familiären Wohnräume angrenzender Nahraum wird eine besondere Bedeutung für die Sozialisation von Jugendlichen zugeschrieben. Die wissenschaftliche Debatte diskutiert unter dem Begriff NachbarschaftseffekteFootnote 5, welchen Einfluss es auf Verhalten, Lebenslagen und Lebenschancen von Bewohner*innen hat in bestimmten Quartieren aufzuwachsen oder dort zu leben. Der besondere Fokus liegt auf Jugendlichen und den Effekten marginalisierter Nachbarschaften (vgl. Friedrichs und Nonnenmacher 2010: 491; Keller 2007: 182). Als marginalisiert werden allgemein Quartiere betrachtet, in denen sich Haushalte mit niedrigem sozialen Status konzentrieren und die häufig durch eine schlechtere Infrastruktur und ein negatives Image geprägt sind. Es wird angenommen, dass das Aufwachsen und Leben in solchen Quartier für Jugendliche zusätzliche benachteiligende Effekte haben kann, die über die Benachteiligung aufgrund von Individualmerkmalen (z. B. soziale Schicht, Ethnizität, etc.) hinausgehen. Die sozialen Mechanismen, die dabei eine Rolle spielen, sind bisher wenig erforscht, aber es wurden eine Reihe diesbezüglicher Hypothesen formuliert. Mit Bezug auf die Sozialisation Jugendlicher wird vor allem davon ausgegangen, dass fehlende positive Rollenvorbilder und deviante Jugendkulturen im Quartier einen negativen Einfluss haben (vgl. Friedrichs und Nonnenmacher 2010). Eine ausführliche Darstellung der Nachbarschaftseffektforschung und ihrer Ergebnisse wird im entsprechenden Unterkapitel weiter unten erfolgen.

Die Jugend ist aber auch die Lebensphase, in der Orte jenseits der unmittelbaren Wohnumgebung selbstständig aufgesucht werden (vgl. Herlyn 1990: 18). Die eigenständige, über die unmittelbare Wohnumgebung hinausgehende Mobilität nimmt zu. Die Wahl der Verkehrsmittel wird häufig selbst getroffen und Wege ohne Begleitung von Erwachsenen zurückgelegt. Dieser Wandel zu einer elternunabhängigen Mobilität vollzieht sich um das 13. oder 14. Lebensjahr (vgl. Freudenau et al. 2004: 61; Stark et al. 2018: 55). Durch ihre zunehmende Selbstständigkeit wird potenziell die ganze Stadt für die Freizeitgestaltung von Jugendlichen interessant. Der Stadtraum wird in ihrem Alltag dadurch zugleich zum Transitraum, da die Orte ihrer täglichen Routinen – wie Wohnort, Schule, Freizeitorte und die Wohnorte von Freund*innen und Verwandten – sich im Quartier und der Stadt verteilt befinden. Um sich im Stadtraum fortzubewegen stehen ihnen die verschiedenen Verkehrsmittel zu Verfügung. Die Verkehrsmittelwahl und das Mobilitätsverhalten allgemein hängen dabei von den zurückzulegenden Entfernungen sowie Verfügbarkeit und Qualität der Verkehrsmittel ab. Nicht in allen Haushalten ist beispielsweise ein PKW vorhanden und nicht alle Stadtteile sind gleich gut an das ÖPNV-Netz angebunden. Befinden sich die Freizeitorte überwiegend im Wohnquartier, werden die meisten Wege möglicherweise zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt.

Auch das Durchqueren städtischer Räume ist sozialisationsrelevant, fördert es doch selbstständiges Mobilitätsverhalten Autonomie und Selbstbewusstsein. Zugleich kann auch die eher beiläufige und passive Wahrnehmung der durchquerten Umgebung und der in den Räumen (inter)agierenden Personen prägend sein (vgl. Hüttermann und Minas 2015). Eine psychische und soziale Auseinandersetzung mit Umwelt im sozialisationstheoretischen Sinne erfordert nicht die aktive und intendierte Interaktion mit dieser. Zum anderen sind öffentliche RäumeFootnote 6 selbst eine wichtige Sozialisationsinstanz. Sie „bieten Jugendlichen die Möglichkeit einerseits zu Repräsentation und Selbstdarstellung, andererseits aber auch zu Kommunikation und Interaktion“ (Herlyn et al. 2003: 30). In Parks, auf Plätzen und in Einkaufszentren treffen sie Gleichaltrige und chillenFootnote 7 mit diesen oder allein. Zugleich können sie im öffentlichen Raum selbstständige Erfahrungen im Kontakt mit der Erwachsenenwelt sammeln und sich mit dieser auseinandersetzen. Die Abgrenzung von dieser fördert zugleich die Entwicklung einer eigenen Identität (vgl. Kemper und Reutlinger 2015: 16; Muri und Friedrich 2009: 81).

Dazu gehört auch, wie bereits angerissen, non-konformes und grenzüberschreitendes Verhalten. Dies dient nicht nur der Abgrenzung, sondern auch dem Erproben von Grenzen und Rollen – wichtige Elemente der Identitätsentwicklung (vgl. Kilb 2012: 613). Attraktiv für Jugendliche wird der öffentliche Raum daher vor allem durch die geringe soziale Kontrolle, die dort im Vergleich zur Wohnung oder der Schule (und deren unmittelbaren Umfeldern), wo Eltern und Lehrer*innen anwesend sind, herrscht (vgl. Herlyn et al. 2003: 31). Gerade in Großstädten kommt dazu eine relativ große Toleranz gegenüber unkonventionellem Aussehen und Verhalten, welche dem Ausprobieren von Verhalten und Selbstinszenierungen einen weiteren Rahmen bietet. Die Vielfalt und Blasiertheit, welche kennzeichnend ist für die moderne Großstadt, ermöglicht Jugendlichen demnach die in einer individualisierten modernen Gesellschaft notwendigen Sozialisationsprozesse erfolgreich zu gestalten. Zugleich ist der öffentliche Raum auch der Ort, wo Jugendliche die Gelegenheit haben diese großstadttypische Blasiertheit, wie Simmel ([1903] 2006) sie beschreibt, zu erlernen. Positiv gewendet ist sie die Toleranz, die für ein Zusammenleben in einer modernen pluralen Gesellschaft notwendig ist. Im öffentlichen Raum der Stadt treffen Jugendliche auf Personen aus verschiedensten Milieus und unterschiedlicher religiöser und kultureller Herkunft und müssen sich zu dieser Diversität verhalten (vgl. Frey 2004).

Mit der zunehmenden Verbreitung digitaler Medien und im besonderen des Internets, das immer neue Möglichkeiten der Beschäftigung, der Kommunikation und auch der Bildung bietet, kommt virtuellen Räumen eine zunehmende Bedeutung für die Sozialisation von Jugendlichen zu. Häufig wird gleichzeitig eine abnehmende Relevanz physischer, nicht-digitaler Räume behauptet, die in Konkurrenz zu digitalen Räumen gesehen werden (vgl. z. B. von Seggern et al. 2009: 16). Die zunehmende Nutzung digitaler Medien in den vergangen 20 Jahren ist durch Jugendstudien gut belegt (z. B. Feierabend et al. 2018: Kap. 15; Albert et al. 2019). Diese Studien zeigen aber auch, dass Online und Offline meist miteinander verknüpft sind und nicht pauschal von einem Entweder-oder ausgegangen werden kann. Dies wird ermöglicht durch mobile Endgeräte, wie Smartphones und Tablets, die mittlerweile praktisch alle Jugendlichen besitzen und die damit Computer als Hauptgerät zur Internetnutzung abgelöst haben (vgl. Feierabend et al. 2018: 26; Albert et al. 2019: 224 f.).Footnote 8 Damit ist eine Nutzung des Internets und diverser Online-Dienste nicht mehr räumlich gebunden – Jugendliche sind überall und zu jeder Zeit online. Häufig bildet die Online-Welt eine parallele Ebene zur Lebenswelt im physischen Raum. Das ist beispielsweise der Fall, wenn Jugendliche Messaging-Apps (allen voran WhatsApp) für Verabredungen nutzen oder nicht-digitale Erlebnisse in Sozialen Medien (z. B. Facebook, Instagram) teilen. „Das mediale Handeln scheint als integraler Bestandteil tief in den jugendlichen Alltag eingebettet zu sein“ (Braumüller und Hartmann-Tews 2017: 66) und steht eben nicht in Konkurrenz mit sportlichen oder kulturellen Freizeitaktivitäten, wie Braumüller und Hartmann-Tews (2017) zeigen.

2.1.3 Bedeutung von Wohnquartieren

Trotz der zunehmenden Nutzung virtueller Räume bleibt die Bedeutung der physischen Räume für die Sozialisation der Jugendlichen also ungebrochen. In der Stadtforschung hat es eine lange Tradition, den Einfluss von städtischen Räumen auf Verhaltensweisen und Lebenschancen zu untersuchen. Dabei wurde sich auf marginalisierte Quartiere und ihren Beitrag zum Entstehen abweichender Normen und Praktiken in ärmeren Bevölkerungsschichten konzentriert. Mit der über die Zeit schwankenden öffentlichen Aufmerksamkeit für das Thema städtische Armut, schwankt daher auch das Forschungsinteresse an Fragestellungen aus diesem Bereich. Seit den 1990er Jahren ist eine steigende sozialräumliche Polarisierung von Städten und im Zuge dessen eine intensive Erforschung ihrer Ursachen und Folgen zu beobachten.

Die Frage nach dem Einfluss der „städtischen Umwelt“, insbesondere des Wohnquartiers, auf Verhalten und Lebenschancen von Menschen war schon Triebfeder der sozialökologischen Forschungen der Chicago School zu Beginn des 20. Jahrhunderts und „steht damit an der Wiege der empirischen Soziologie“ (vgl. Keller 2007: 181). Robert E. Parks programmatischer Aufsatz „The City: Suggestions for the Investigation of Human Behavior in the Urban Environment“ ([1925] 1984)Footnote 9 deutet im Titel schon an einen der zentralen Forschungsansätze der Chicago School an: Zusammenhänge zwischen städtischen Kontexten und menschlichem Verhalten zu untersuchen (vgl. Friedrichs 2014: 288). Park und Burgess machen dabei Anleihen in der Biologie und nutzen Wörter, wie „invasion“ und „natural areas“, um die dynamischen Bevölkerungsbewegungen in einer Stadt zu beschreiben. Analog zur Ökologie gingen sie davon aus, dass Stadtraum durch seine unterschiedliche Strukturiertheit (Baustruktur, Lagen, Mietpreise) verschiedenen Bevölkerungsgruppen ihren Bedürfnissen entsprechend Nischen bot. Sie gelten damit als Begründer des sozialökologischen Ansatzes in der Stadtforschung (vgl. Krämer-Badoni 1991: 18 f.).Footnote 10

Verbindendes Element der Forschung der Chicago School war die methodische Herangehensweise.Footnote 11 Diese bestand fast immer aus einer ethnografischen Feldforschung, meist ergänzt durch akribische Kartierungen (z. B. in „The Hobo“ (Anderson 1923)) und quantitative Daten (Bulmer 1984: 172 ff.). Das konzentrische Zonenmodell von Burgess und seine Karten von ChicagoFootnote 12 bildete auf der Makroebene der Stadt den Rahmen für die von Park und den Studierenden ausgeführten ethnografischen Studien auf der Mikroebene (vgl. Hennig 2012: 111 ff.; Schubert 2007: 156 ff.; Kurtz 1986: 84 ff.).

Zweites verbindendes Element war der Fokus auf gesellschaftliche Randgruppen und wie sie in dem „Mosaik kleiner Welten“ („mosaic of little wordls“) (Park 1915: 608) der Großstadt ihre Nischen finden (vgl. Hennig 2012: 111). Diesen Nischen im urbanen Raum wurde dann als Umwelt wiederum eine verhaltensprägende Wirkung auf ihre Bewohner*innen zugeschrieben (vgl. Volkmann 2012: 21). Bei der Forschung der Chicago School findet sich also bereits eine Konzentration auf den benachteiligten Teil der Stadtgesellschaft. Die Konzentration auf fixe Nachbarschaften und benachteiligte Bevölkerungsgruppen ist das Erbe der Chicago School, welches sich in den aktuellen Forschungen zu Nachbarschaftseffekten widerspiegelt (vgl. Moehr 2017) und zum Teil zu problematisieren ist – wie später noch ausgeführt wird.

Die Fokussierung auf Armutsbevölkerung und marginalisierte Quartiere ist gleichsam verantwortlich für das Kommen und Gehen bestimmter Forschungsthemen und -ansätze. Nach dem New Deal, dem Zweiten Weltkrieg und dem starken Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit in den USA und Europa geriet die Frage nach den Auswirkungen städtischer Armut zunächst in den Hintergrund (vgl. Häußermann und Kronauer 2009). Die Frage nach dem Zusammenhang von städtischem Kontext und individuellem Verhalten und Lebenschancen wurde dann in den 1980er Jahren von William Julius Wilson erneut ins öffentliche und wissenschaftliche Bewusstsein gerückt (vgl. Häußermann und Kronauer 2009: 163; Small und Newman 2001). In seinem Buch „The Truly Disadvantaged“ ([1987] 2012) sucht er nach den Gründen für den Anstieg der sozialen Probleme in den afroamerikanischen Ghettos der US-amerikanischen Großstädte. Durch die Analyse vorhandener Daten konnte er zeigen, dass es im Rahmen einer zunehmenden Deindustrialisierung und Suburbanisierung in den USA zu einem Fortzug der schwarzen Mittelschicht aus den Ghettos kam. In der Folge fielen in den Ghettos nun ethnische und soziale Segregation zusammen. Während diese Gebiete zuvor von fast ausschließlich afroamerikanischer, aber sozial heterogener Bevölkerung bewohnt wurde, lebt nun nur noch die „new urban underclass“ dort. Diese Unterklasse beschreibt Wilson als sozial und zugleich räumlich isoliert. Zugleich formuliert er Thesen zu den Auswirkungen dieser doppelten Ausgrenzung auf das individuelle Verhalten und die Lebenschancen der Bewohner*innen in den betroffenen Stadtteilen. (vgl. Merten 2017)

Konkreten Mechanismen, die diese Quartiersmerkmale auf der Makroebene mit dem individuellen Verhalten auf der Mikroebene vermitteln, kann er mit statistischen Daten nicht wirklich beleuchten. Er vermutet jedoch, dass durch die räumliche Isolation und soziale Homogenität der afroamerikanischen Ghettos eine ghetto-spezifische Kultur mit vom gesellschaftlichen Mainstream abweichenden Normen und Verhaltensweisen entstehe. Diese Hypothese einer kollektiven Sozialisation in eine deviante, in benachteiligten Quartieren vorherrschende Subkultur wurde fortan in der soziologischen Stadtforschung häufig diskutiert und empirisch untersucht (vgl. Friedrichs und Blasius 2003; Small und Newman 2001). Er selbst legt mit seinem Buch „When Work Disappears“ (Wilson 1996) nach, in dem er mit vor allem qualitativen Daten aus Chicagoer Armutsvierteln seine Thesen zu belegen versucht.

Volkmann hebt hervor, dass zwei Aspekte dieser früheren Forschung zu den Auswirkungen benachteiligter Quartiere nach wie vor Relevanz haben:

„Das Quartier wird nicht nur als räumlicher sondern auch als sozialer Zusammenhang wahrgenommen. Zudem wird versucht, zwischen einer reinen Konzentration von Benachteiligung (als Zustand) und einer Verstärkung dieser Benachteiligung durch die Konzentration (als Effekt) zu differenzieren.“ (Volkmann 2012: 23)

Mit der sich fortsetzenden und sich teilweise verschärfenden sozialen und räumlichen Polarisierung in europäischen und nordamerikanischen Städten hielt auch das öffentliche und wissenschaftliche Interesse an Ausmaß, Ursachen und Folgen städtischer Armut an (vgl. Sampson et al. 2002: 444; Schnur 2014: 22). Etwa zur selben Zeit hielten multivariate Analysen Einzug in die quantitative Sozialforschung. Sie ermöglichten erstmals, statistisch präzise den Einfluss von Quartiersmerkmalen zu berechnen (vgl. Friedrichs 2013: 11). Die Flut an Studien, die ab den 1990er Jahren folgte, lässt sich unter dem Begriff Nachbarschaftseffektforschung zusammenfassen und soll im Folgenden definiert und systematisiert werden.

2.1.4 Nachbarschaftseffekte

Von Quartierseffekten zu sprechen bedeutet, anzunehmen „ein gegebenes Verhalten der Bewohner ließe sich nicht nur durch die individuellen Merkmale der Bewohner erklären, sondern zusätzlich durch Merkmale des Gebietes“ (Friedrichs 2013: 18). Das heißt eine Konzentration von bestimmtem Verhaltensweisen (z. B. kriminelles Handeln) ergibt sich nicht nur durch die Aggregation der individuellen Verhaltensweise der einzelnen Bewohner*innen eines Quartiers (Kompositionseffekt), sondern unabhängig davon bzw. zusätzlich dazu auch durch den Einfluss von Merkmalen des Quartiers auf das Verhalten. Hierbei ist es eben entscheidend den Kontexteffekt theoretisch und empirisch von möglichen Individualeffekten, die auf Stadtteilebene Kompositionseffekte ergeben, zu trennen (vgl. Friedrichs und Nonnenmacher 2014: 13; Häußermann und Kronauer 2009: 169; Volkmann 2012: 19 f.).

Der Theorie der Nachbarschaftseffekte basiert auf dem Makro-Mikro-Modell, welches vor allem James S. Coleman zur Erklärung sozialen Handelns entwickelt hat (vgl. Coleman 1987; Friedrichs 2013: 11).Footnote 13 Demnach hat die soziale Situation auf der Makroebene, also Merkmale des Quartiers, wie eine hohe Anzahl armer und benachteiligter Haushalte, Einfluss auf die Handlungsmöglichkeiten und Lebenschancen der Individuen auf der Mikroebene. Diese Effekte können auch indirekt über eine Mesoebene, wie die Schule oder Peer-Groups, vermittelt sein (vgl. Friedrichs 2013). Aggregiert man die individuellen Handlungsweisen und Lebenschancen auf Quartiersebene, scheinen Quartiersmerkmale mit sozialem Verhalten und Lebenschancen im Quartier in Verbindung zu stehen (vgl. Friedrichs und Nonnenmacher 2010). Ist dieser Zusammenhang nicht auf einen Einfluss der Makro- auf die Mikroebene zurückzuführen, sondern nur ein Ergebnis aggregierter Individualeffekte, wird von einem Kompositionseffekt gesprochen (vgl. Oberwittler 2013: 66 ff.). Die fälschliche Annahme es handle sich um einen Kontexteffekt, wäre in einem solchen Fall ein „ökologischer Fehlschluss“ (vgl. Häußermann et al. 2010: 19). Entscheidend für einen Kontexteffekt des Wohngebietes ist das Vorhandensein von Mechanismen, welche die soziale Situation auf der Makroebene mit dem sozialen Handeln auf der Mikroebene verbinden. Gerade diese Mechanismen sind bisher jedoch wenig untersucht (vgl. Friedrichs und Nonnenmacher 2010; Galster 2012).

Die theoretische Debatte darum, welche Quartiersmerkmale wie wirken und die dazugehörige empirische Forschung konzentrieren sich vorwiegend auf die negativen Effekte benachteiligter Stadtteile (vgl. Friedrichs und Nonnenmacher 2010: 491). Die Hypothese lautet häufig, „dass sich die Konzentration von Benachteiligten zusätzlich benachteiligend für diese auswirke, dass aus benachteiligten Quartieren benachteiligende werden“ (Häußermann 2000: 18). Vereinzelt werden auch positive Effekte marginalisierter Stadtteile vermutet und untersucht. So weisen Kronauer und Vogel (2004) mit Verweis auf ihre Untersuchung in zwei benachteiligten Hamburger Quartieren darauf hin, dass der Stadtteil für die vorwiegend marginalisierten Bewohner*innen auch „Stütze sozialer Identität und Schutzraum vor Stigmatisierung, Diskriminierung und Vereinzelung“ (vgl. Kronauer und Vogel 2004: 254) sein kann.Footnote 14

Auf der anderen Seite sind sowohl positive als auch negative Effekte privilegierter (oder zumindest nicht-marginalisierter) Stadtteile möglich, wenn auch bisher wenig erforscht. Positive Effekte einer geringen Arbeitslosen- und Sozialhilfequote im Quartier auf Lese- und Mathematikkompetenzen von Grundschüler*innen in Berlin kann Helbig (2010) nachweisen.Footnote 15 Negative Effekte auf das Selbstwertgefühl armer Jugendlicher in wohlhabenderen Nachbarschaften und damit einhergehende psychische und soziale Probleme könnten mit Mechanismen relativer Deprivation zusammenhängen (vgl. Nieuwenhuis et al. 2017; Oberwittler 2007). Da sich Theorie und Empirie vornehmlich auf marginalisierte Quartiere konzentriert, soll sich die folgende Systematisierung auch auf diesen Bereich beziehen. Positive Effekte privilegierter Quartiere sind in den meisten Fällen theoretisch spiegelbildlich zu den negativen Effekten benachteiligter Quartiere anzunehmen. Wo eine marginalisierte Nachbarschaft zu unterdurchschnittlichen Schulleistungen führt, sollte eine privilegierte Nachbarschaft überdurchschnittliche hervorrufen. Das dies im konkreten Fall nicht immer so einfach ist, zeigt die erwähnte Studie von Helbig (2010).

Systematisierung der Effekte – symbolische, physische und soziale Dimension

In Anlehnung an Häußermann und Kronauer (2009) sowie Volkmann (2012) werden im Folgenden Nachbarschaftseffekte – ausgehend von der Ebene der Quartiersmerkmale – in drei Dimensionen eingeteilt: die symbolische, die physisch-infrastrukturelle und die soziale (s. Abb. 2.1).Footnote 16 Diese Einteilung zum Zwecke der Systematisierung und Analyse ist in der Realität der Quartiere häufig nicht so trennscharf. So haben physisch-infrastrukturelle und symbolische Effekte auch immer soziale Aspekte und die Effekte der verschiedenen Ebenen überlagern sich zum Teil oder Beeinflussen sich gegenseitig (vgl. Volkmann 2012: 62 f.).

Bei der symbolischen Dimension ist die Stigmatisierung eines Quartiers ursächlich für einen negativen Nachbarschaftseffekt.Footnote 17 Zwei Wirkungsweisen werden auf dieser Ebene angenommen und empirisch untersucht. Zum einen können ein negatives Image des Wohnquartiers aufgrund von Diskriminierung durch Arbeitgeber*innen einen nachteiligen Effekt bei der Ausbildungs- und Arbeitssuche haben (vgl. Bunel et al. 2016; Kurtenbach 2016). Auch Bildungskapital kann durch stigmatisierende Diskurse abgewertet werden, wenn Schulabschlüsse von Schulen benachteiligter Stadtteile geringgeschätzt werden (vgl. Eksner 2013). Zum anderen ist den Bewohner*innen stigmatisierter Quartiere selbst meist sehr deutlich das schlechte Image ihrer Nachbarschaft bewusst (vgl. Atkinson und Kintrea 2001). Negative Auswirkungen auf ihr Selbstbewusstsein sowie auf ihre psychische und physische Gesundheit können die Folgen sein (vgl. Halliday et al. 2018). Wenn sich Jugendliche mit dem negativen Image ihres Stadtteils identifizieren, kann es auch zu Labeling-Prozessen kommen, im Zuge derer sie sich positiv auf die dem Quartier zugeschriebenen Abweichungen beziehen (vgl. Becker [1963] 2019: 26 ff.; Häußermann und Kronauer 2009: 168). Hier kommt es dann auch zu Überschneidungen mit dem Mechanismus der kollektiven Sozialisation (s. Effekte der sozialen Ebene unten).Footnote 18

Abbildung 2.1
figure 1

Systematisierung von Quartierseffekten nach Häußermann und Kronauer (2009) und Volkmann (2012)

Als physisch-infrastrukturelle Dimension werden alle Faktoren zusammengefasst, welche die materielle Struktur von Quartieren betreffen sowie ihre Ausstattung mit Infrastruktur und Institutionen. Dazu zählen einerseits die bauliche Struktur von Quartieren und ihre verkehrstechnische Erschließung und Anbindung an den Rest der Stadt, aber auch Umweltbelastungen, wie Lärm, schlechte Luftqualität etc., die durch Struktur und Lage des Quartiers entstehen. Andererseits geht es um die Ausstattung mit sozialer, kultureller und gewerblicher Infrastruktur, wie Schulen, Freizeiteinrichtungen, Einkaufsgelegenheiten usw. Vermittelnde Mechanismen sind bei dieser Dimension vor allem die Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten durch die Quartiersstruktur und mangelnde oder nicht vorhandene Infrastruktur (vgl. Chen und Akar 2016, 2017; Sawyer et al. 2017; Smith et al. 2017) sowie Stress und negative gesundheitliche Einflüsse durch die Umweltbelastungen und die Quartiersstruktur allgemein (vgl. Zock et al. 2018). Als Auswirkungen werden eine Anpassung oder sogar Einschränkung von Aktivitäten oder ein direkter negativer Einfluss auf die Lebenschancen (z. B. durch den Besuch benachteiligter Schulen) vermutet sowie ein negativer Einfluss auf die psychische und physische Gesundheit der Quartiersbewohner*innen. Umgekehrt zeigen sich positive Effekte auf das Wohlbefinden durch eine gute Ausstattung mit Grünflächen und Parks (vgl. Mennis et al. 2018; Ruijsbroek et al. 2017).

Die am häufigsten untersuchte der drei Dimensionen ist die soziale Ebene. Hier geht es um den Einfluss der Zusammensetzung der Bewohnerschaft sowie der sozialen Netzwerke und der sozialen Interaktion im Quartier. Besonders im Fokus stehen sozial und ethnisch segregierte Quartiere, da davon ausgegangen wird, dass die Konzentration benachteiligter oder ausgegrenzter sozialer Gruppen auf Quartiersebene soziale Effekte auf der individuellen Ebene nach sich zieht. Im Zusammenhang mit der Zusammensetzung der Bewohnerschaft, aber nicht vollständig durch diese determiniert stehen die Ausprägung der Netzwerke im Quartier und soziale Interaktionen. Wichtige Fragen sind hier z. B.: Wie dicht sind die sozialen Netzwerke und erstecken sie sich auch auf Personenkreise außerhalb des Quartiers? Wie stark sind der soziale Zusammenhalt und das gegenseitige Vertrauen im Quartier? Wie Friedrichs (2014)* kritisch anmerkt, trennt die Literatur zu Nachbarschaftseffekten häufig nicht klar genug zwischen den ursächlichen Merkmalen auf Quartiersebene, den wirkenden Mechanismen und den resultierenden Folgen. Bezogen auf die soziale Ebene von Quartieren erscheinen Friedrichs & Blasius (2003: 809) zwei Mechanismen als besonders relevant, beide sind Sozialisationseffekte (vgl. Häußermann und Kronauer 2009: 164 ff.).

Es wird vermutet, dass fehlende positive erwachsene Rollenvorbilder und ein größerer Anteil an deviantem Verhalten in der Nachbarschaft Jugendliche dahingehend beeinflusst, dass sie abweichendes Verhalten (z. B. Schulschwänzen, kriminelle Handlungen) eher akzeptieren und auch für sich selbst als Handlungsalternative übernehmen. In der einschlägigen Literatur wird hier meist von „Ansteckungseffekten“ (in der englischen Forschungsliteratur auch vom contagion model) gesprochen (vgl. Crane 1991). Umgekehrt wird vorhandenen Rollenvorbildern und einer starken Präsenz normhaften Verhaltens ein positiver Effekt zugeschrieben. Noch einen Schritt weiter geht die Theorie der „kollektiven Sozialisation“ (im Englischen socialisation model) (vgl. Jencks und Mayer 1990).Footnote 19 Sie geht davon aus, dass sich innerhalb marginalisierter Quartiere eigene Subkulturen bilden können, welche von der gesellschaftlichen Norm abweichende Werte und Praktiken verinnerlichen und über die sozialen Kontakte in der Nachbarschaft verbreiten.Footnote 20 Umgekehrt wird auch hier wiederum ein positiver Effekt angenommen, wenn soziale Netzwerke, sozialer Zusammenhalt und soziale Kontrolle im Quartier dafür sorgen, dass gesellschaftliche Normen und Praktiken eingehalten werden. Auch positive Netzwerkeffekte für Erwachsene bei der Jobsuche werden vermutet.

Forschungslage

Insgesamt ist die Forschungslage zu Nachbarschaftseffekten trotz der Vielzahl an Studien an vielen Punkten nicht eindeutig. Allgemein ist belegt, dass Effekte der Nachbarschaft auf Verhalten, Lebenslagen und -chancen existieren – auch unter Kontrolle von Individualmerkmalen (vgl. Friedrichs 2014: 309). Allerdings wird davon ausgegangen, dass letztere im Vergleich den größeren Einfluss haben (vgl. Oberwittler 2011: 222). Wenig stichhaltige, empirische Belege gibt es bisher für diskriminierende Effekt von benachteiligten Quartieren, auch wenn Bewohner*innen subjektiv durchaus ein Stigma empfinden (vgl. Galster 2012: 45; Volkmann 2012: 76). Effekte der physischen Struktur eines Quartiers sind vor allem für den Bereich der psychischen und physischen Gesundheit und vorrangig den US-amerikanischen Kontext gut belegt (vgl. Friedrichs 2014: 300; Galster 2012: 39 ff.). Volkmann (2012)* kommt hingegen auf Grundlage von zwölf ausgewählten Studien zu dem Schluss, dass die vorliegenden Studien eine eher geringe Relevanz der physischen Struktur und Infrastruktur eines Quartiers für das Verhalten der Bewohner*innen nahelegen. In den meisten untersuchten Studien sei nicht hinreichend untersucht worden, ob das Quartier der primäre Raum der Alltagsaktivitäten der untersuchten Bewohner*innen ist (vgl. Volkmann 2012: 63).

Auf der Ebene der sozialen Quartiersmerkmale ist gut belegt, dass eine höhere soziale Kohäsion und eine höhere soziale Kontrolle in einer Nachbarschaft zu geringerer Kriminalität und Jugenddelinquenz führen. Ein positiver Effekt ergibt sich hier durch wohlhabendere Nachbar*innen (vgl. Galster 2012: 43 f.). Auch für den Mechanismus der kollektiven Sozialisation und für Ansteckungseffekte gibt es Evidenz, v.a. für die USA (vgl. Galster 2012: 31 ff.). Entscheidend zu sein scheinen hierbei Institutionen und Kontexte auf der Mesoebene, wie Freundeskreise, Schulen, Aktivitätsräume etc., weshalb Friedrichs und Nonnenmacher (2010) von „indirekten Effekten“ spricht (vgl. Oberwittler 2011). Es wird daher angenommen, dass die Effekte für bestimmte Gruppen im Quartier deutlich stärker ausfallen als für andere (vgl. Friedrichs 2014: 303; Oberwittler 2011: 76 f.). Auch müssen nicht nur unterschiedliche nationale Kontexte beachtet werdenFootnote 21, sondern ebenso auf lokaler Ebene die spezifischen Kontexte von Städten und Nachbarschaften analysiert werden, um mögliche Mechanismen und Effekt zu eruieren. Eine entsprechende Ausarbeitung für Berlin findet sich in Kapitel 3.

Der besondere Fokus der Quartierseffektforschung auf Kinder und Jugendliche erklärt sich aus der prominenten Stellung der beiden oben erwähnten Mechanismen bzw. Modelle (Ansteckungsmodell und Modell kollektiver Sozialisation), die häufig herangezogen werden, um die Wirkung des Quartierkontextes zu erklären. Denn diese beiden Mechanismen wirken hauptsächlich im Prozess der Sozialisation bzw. können als Sozialisationsmechanismen bezeichnet werden. Zugleich erklärt sich die besondere Bedeutung dieser Mechanismen und der Forschungsfokus auf Jugendliche aus der Annahme, dass sich Jugendliche – wie oben bereits hervorgehoben – häufiger als Kinder auch ohne Aufsicht von Erwachsenen in der Stadt bewegen (vgl. Herlyn 1990: 18). Zugleich halten sie sich im Gegensatz zu Erwachsenen öfter im eigenen Quartier auf und nutzen zudem den öffentlichen Raum auch häufiger für Freizeitzwecke und nicht nur als Transitraum (vgl. Neumann 2016: 1, 27 f.). So wird erwartet, dass Jugendliche besonders intensiv dem Kontext der Nachbarschaft ausgesetzt sind und hier eben sozialisationsrelevante Merkmale des Quartiers wirken können. Doch gerade dieser Punkt wird von neueren Forschungen und theoretischen Überlegungen in Frage gestellt.

2.1.5 Forschungsansätze mit Fokus auf Exposition

Schon länger steht die Nachbarschaftseffektforschung in der Kritik, weil sie sich mit dem Aufkommen der multivariaten Analysen zunächst auf den rein statistischen Nachweis von Effekten des Quartierskontextes konzentrierte.Footnote 22 Die Varianzaufklärung blieb dabei jedoch – wie oben erwähnt – meist gering; die Effekte individueller Merkmale, wie dem sozialen Status, hatten einen größeren Einfluss auf Verhaltensweisen und Lebenschancen der untersuchten Quartiersbevölkerungen (vgl. Friedrichs und Nonnenmacher 2010; Lupton 2003). Weitere Kritikpunkte waren die Gleichsetzung mit und damit Operationalisierung von Nachbarschaften als administrative Container. Dabei besteht in der Stadtforschung ein hohes Bewusstsein dafür, dass die geografische Einteilung für statistische oder administrative Zwecke meist nicht kongruent ist mit dem, was Bewohner*innen subjektiv als Nachbarschaften empfinden (vgl. Lupton 2003).Footnote 23 Unklar in diesem Zusammenhang ist z. B., warum Personen, die an der Grenze zwischen zwei Gebieten wohnen, vom Kontext des einen Gebietes beeinflusst werden sollen, nicht aber von dem anderen. Des Weiteren wurde kritisiert, dass häufig nur statistische Zusammenhänge zwischen Quartiersmerkmalen und Verhalten bzw. Lebenschancen nachgewiesen wurden, dabei jedoch häufig nur Hypothesen zu den zugrundliegenden Mechanismen aufgestellt wurden, ohne diese selbst eingehend zu untersuchen (vgl. Friedrichs und Nonnenmacher 2010: 475 f.; Galster 2012; Small und Newman 2001. 32).

Entlang dieser Kritikpunkte hat sich die Quartierseffektforschung in den letzten zwei Jahrzehnten weiterentwickelt und neue methodische Ansätze entworfen. So gibt es Studien, die für die Berechnung von Kontexteffekten nicht auf administrativ, sondern auf individuell berechnete Nachbarschaften (als Puffer um den Wohnort) zurückgegriffen haben und so die Varianzaufklärung erhöhen konnten (vgl. z. B. Andersson und Malmberg 2014, 2018). Auch die Erforschung der Mechanismen hat mehr Aufmerksamkeit erfahren (vgl. z. B. Friedrichs und Nonnenmacher 2014; Galster 2012; Petzold und Wöhler 2017).Footnote 24 Während diese Kritik die Definition der Untersuchungseinheiten und die vermittelnden Mechanismen betrifft, gibt es noch einen weiteren Aspekt, der in den letzten Jahren im Forschungsfeld der Quartierseffektforschung vermehrt diskutiert wurde. So stellen Sharkey und Faber in ihrem 2014 erschienenen Artikel im Titel die Frage: „Where, When, Why, and For Whom Do Residential Contexts Matter?“ In Anbetracht der Komplexität der mittlerweile ausgearbeiteten Modelle, welche die Wirkungsweise von Nachbarschaftseffekten erklären sollen, sei die allgemeine Frage „Do neighborhoods matter?“ nicht mehr zeitgemäß (vgl. Sharkey und Faber 2014). Statt also nach dem allgemeinen Einfluss eines Quartiers auf alle seine Bewohner*innen zu fragen, sollte spezifischer untersucht werden, welche Bewohner*innen wann und warum dem Quartierskontext ausgesetzt sind.Footnote 25 Noch einen Schritt weiter gehen Petrović et al. (2018):

„We argue that neighbourhood effects research needs to break away from the tyranny of neighbourhood and consider alternative ways to measure the wider socio-spatial context of people, placing individuals at the centre of the approach.“ (2018: 1)

Ausgehend vom Individuum und mithilfe individuumsbezogener räumlicher Daten muss untersucht werden, welchen sozialräumlichen Kontexten die untersuchten Personen in ihrem Alltag konkret ausgesetzt sind (vgl. Petrović et al. 2018). Dabei geht es zum einen darum, ob Bewohner*innen sich vornehmlich in ihrer Nachbarschaft aufhalten oder darüber hinaus auch andere Teile der Stadt nutzen. Zum anderen ist aber auch wichtig zu untersuchen, welchen Aktivitäten an den unterschiedlichen Orten konkret nachgegangen wird und mit wem (vgl. Browning und Soller 2014). Dazu ist es nötig, die Mobilität im Alltag und die täglichen Routinen und Aktivitäten zu erfassen und analysieren (vgl. Jones und Pebley 2014). Da es in einem solchen Ansatz um den Kontakt mit und das Ausgesetzt-Sein gegenüber konkreten sozialräumlichen Kontexten geht, soll dieser als „Expositions-Ansatz“ bezeichnet werden.

Ein solcher Ansatz geht über jenen der individuell berechneten Nachbarschaften hinaus und bringt auch die Erforschung möglicher vermittelnder Mechanismen voran, weil er konkreter beschreiben kann, wo Individuen unter welchen Bedingungen auf Kontextmerkmale treffen, denen eine ursächliche Wirkung zugeschrieben wird. Damit könnte auch die mangelnde Varianzaufklärung von Studien zu Quartierseffekten, die administrative Nachbarschaften zum Ausgangspunkt nehmen, verbessert werden. Browning und Soller (2014) unterstreichen, dass der Mangel an Studien zu alltäglichen Routinen in sozialräumlichen Kontexten auch der problematischen Datenlage zu schulden ist. Hier liegen von Seiten statistischer Stellen selbstverständlich keine Daten vor, aber auch die eigene Erhebung zeit-räumlicher Tagesabläufe einzelner Personen in größerem Umfang sind nur mit viel Aufwand zu realisieren. Chancen sehen sie in der Verbreitung von GPS-Tracking-Technologien und neueren Datensätzen in den USA. Ein innovativer Ansatz entsprechende Daten zu erheben stellt das im Rahmen dieser Arbeit vorgestellte Forschungsvorhaben da (vgl. Abschn. 4.1).

2.1.6 Aktivitätsräume

Um räumliche Praxen und Nutzungen im Alltag zu erfassen und zu analysieren, bietet sich das Konzept der Aktions- und Aktivitätsräume (Englisch: activity / action spaces) an, wie es auch von Browning und Soller (2014) sowie Jones und Pebley (2014) vorgeschlagen wird. Die Idee der Aktions-/Aktivitätsräume stammt aus der Geografie und wurde von Horton und Reynolds (1971) entwickelt. Als Aktivitätsraum wird der Raum bezeichnet, innerhalb dessen ein Individuum seine täglichen Routinen vollzieht und ist somit der Teil der Stadt, mit dem es täglich in direkten Kontakt kommt. Der Aktionsraum bezeichnet darüber hinaus den Raum der potenziellen Aktivitäten. Er umfasst alle Orte, zu denen eine Person Informationen besitzt und die deshalb für Aktivitäten in Frage kommen.Footnote 26 Im Gegensatz zu einer einfachen Darstellung der räumlichen Struktur einer Stadt mit ihren baulichen Gegebenheiten, ihren Verkehrswegen und ihrem ungleich verteilten Angebot an Wohn-, Arbeits- und Konsumraum, zeigen Aktions- und Aktivitätsräume wie sich Individuen zu dieser objektiven Struktur subjektiv verhalten (vgl. Scheiner 1998). Im Folgenden werden vor allem Aktivitätsräume im Fokus stehen, da sie im Gegensatz zu Aktionsräumen tatsächliche sozialräumliche Expositionen erfassen.

Bei der Beschäftigung mit den für die jugendliche Sozialisation relevanten Räumen der Stadt, so bietet das Konzept der Aktivitätsräume eine gute Annäherung. Es erfasst die räumlichen Kontexte, denen die Jugendlichen im Alltag tatsächlich ausgesetzt sind und die sie sich zugleich im Rahmen von Sozialisationsprozessen auch aneignen. Es geht damit über den Ansatz hinaus das Wohnquartier als primären Sozialisationsort vorauszusetzen – auch wenn das auf Jugendliche, deren Aktivitätsraum sich hauptsächlich auf ihre Nachbarschaft erstreckt, durchaus zutreffen kann. Doch allein das Wissen über die konkreten Räume, die besucht werden – etwa ein Jugendzentrum, ein Park oder ein Einkaufszentrum – erlaubt nur begrenzte Aussagen darüber, welche Erfahrungen Jugendliche an diesen Orten machen und welche Handlungsweisen sie ausprobieren. Konkrete Informationen darüber, welchen Aktivitäten an den unterschiedlichen, aufgesuchten Orten nachgegangen wird und mit wem, sind nötig.Footnote 27 Wissen über die sozialen Netzwerke und Freizeitaktivitäten sind dabei in doppelter Hinsicht instruktiv: Einerseits spezifizieren sie, wie eben dargestellt, in welcher Weise räumliche Kontexte relevant sind für die Sozialisation. Andererseits stehen soziale Netzwerke und Freizeitaktivitäten in direktem wechselseitigem Verhältnis mit der Nutzung von Orten in der Stadt und somit der räumlichen Gestalt der Aktivitätsräume (vgl. Oberwittler 2004: 155 f.).

Eine Reihe von Variablen ist bestimmend für Größe und Ausprägung jugendlicher Aktivitätsräume (s. Abb. 2.2). Obwohl die meisten Jugendlichen sich auch in anderen Teilen der Stadt aufhalten, ist das Wohnquartier dennoch bedeutsam für ihren Alltag. Für viele ist die unmittelbare Wohnumgebung einer der wichtigsten und am häufigsten genutzten sozialräumlichen Kontexte. Studien zeigen, dass Lage, Bau- sowie Infrastruktur und nicht zuletzt die ÖPNV-Anbindung eines Wohnquartiers Einfluss haben können auf die Aktivitätsräume der Bewohner*innen (vgl. z. B. Beckmann et al. 2006: Abschn. 6.1; Chen und Akar 2016): Es besteht z. B. ein Bedürfnis. seine Nachbarschaft zu verlassen, wenn diese den Jugendlichen nicht ausreichend Freizeitmöglichkeiten bietet. Zugleich wird die Nutzung anderer Teile der Stadt erschwert, wenn das Quartier am Stadtrand liegt und schlecht angebunden ist an den Rest der Stadt. Des Weiteren sind Wohnort und Schule wichtige Determinanten des jugendlichen Aktivitätsraumes (vgl. Tobias Müller 2009). Sie sind die beiden räumlichen Fixpunkte im Alltag von Jugendlichen. Die Schule kann dabei entweder ein räumlicher „Ausreißer“ in den täglichen Routinen sein, wenn sich weitere Aktivitäten eher in anderen Teilen der Stadt abspielen. Sie kann aber auch räumlich und sozial integrierter Bestandteil von Aktivitätsräumen sein, wenn Freizeitaktivitäten in der Nähe oder sogar der Schule selbst stattfinden. Wenn Freundschaften primär über sie geknüpft werden, ist die Schule ein vermittelnder Faktor für Aktivitäten abseits des eigenen Wohnquartiers.

Abbildung 2.2
figure 2

Prägende Faktoren für Jugendliche Aktivitätsräume

Aktivitätsräume von Jugendlichen sind darüber hinaus durch ihre Freizeitaktivitäten geprägt (vgl. z. B. Plöger 2012; Oberwittler 2004: 158): Ein Freizeitstil, der vor allem durch Medienkonsum im eigenen Zuhause geprägt ist, wird meist einen kleineren Aktivitätsraum zur Folge haben als ein Freizeitstil, der bestimmt ist durch vielfältige kulturelle und soziale Aktivitäten. Eng verknüpft mit den Freizeitaktivitäten sind die Freundeskreise. Durch die besondere Bedeutung von gleichaltrigen Freund*innen im jugendlichen Sozialisationsprozess (vgl. Ecarius et al. 2011: Kap. 113 f.; Harring 2011), sind sie neben der Familie der wichtigste Teil ihrer sozialen Netzwerke und haben so auch bedeutenden Einfluss auf ihre alltäglichen Aktivitäten. Freundschaften werden geknüpft in der Nachbarschaft, über Aktivitäten in Vereinen oder über die Schule (vgl. Alleweldt 2009). Über letztere beiden Möglichkeiten können auch Freund*innen in anderen Quartieren gewonnen werden. Diese haben Kenntnisse über Freizeitmöglichkeiten in ihrem Wohnumfeld oder ihr Zuhause selbst wird als Ort für Freizeitaktivitäten gewählt. So wird durch Freund*innen in anderen Quartieren die Nutzung anderer Teile der Stadt gefördert. Die räumliche Ausrichtung des Freundeskreises beeinflusst dann die räumliche Ausrichtung des Aktivitätsraumes. Dieser Zusammenhang ist nicht zwingend, da gemeinsame Aktivitäten auch in der Nähe der Schule oder dem eigenen Zuhause stattfinden können, dann haben die Wohnorte der Freund*innen nur geringen oder keinen Einfluss auf die Aktivitätsräume. Eine beispielhafte, schematische Darstellung, wie ein Aktivitätsraum räumlich im Vergleich zu Wohnquartier, Freundeskreis (Wohnorte Freund*innen: F1-F3), Aktivitäten (A1-A4) und Schule aussieht, findet sich in Abb. 2.3.

Abbildung 2.3
figure 3

Beispielhafte, räumlich-schematische Darstellung eines Aktivitätsraumes

Einen übergeordneten prägenden Einfluss auf jugendliche Aktivitätsräume haben die klassischen sozialstrukturellen Merkmale Geschlecht, sozialer Status und Migrationshintergrund. Sozialer Status und das Vorhandensein eines Migrationshintergrundes sind entscheidende Faktoren bei der Wohnortwahl, bestimmen sie doch Wohnpräferenzen und die Möglichkeiten auf dem Wohnungsmarkt. Personen mit einem niedrigeren sozialen Status und Personen mit Migrationshintergrund wohnen eher in marginalisierten Quartieren, die durch einen hohen Anteil an benachteiligten Bewohner*innen geprägt sind und sich gleichzeitig durch mangelnde Infrastruktur und eine ungünstige Lage auszeichnen (vgl. Alisch 2018; Farwick 2012).

Im Zusammenhang mit dem sozialen Status stehen auch die verfügbaren Mobilitätsmittel und damit die Möglichkeiten Stadtraum auch jenseits der unmittelbaren Wohnumgebung erreichen und damit nutzen zu können. Während die Fortbewegung zu Fuß kostenlos ist, kostet das Monatsticket für den städtischen ÖPNV Geld, teurer noch ist der Erwerb und Unterhalt eines Autos, den sich nicht alle Familien leisten können. Und nicht zuletzt Freizeitstile und Freundeskreise unterscheiden sich nach sozialem Status, Migrationshintergrund und Geschlecht. So zeigen Forschungen, dass Jugendliche aus der Mittel- und Oberschicht eher strukturierten Freizeitbeschäftigungen in Vereinen nachgehen, während Jugendliche aus der Unterschicht ihre Freizeit spontan und ungeplant verbringen (vgl. z. B. Grgic und Züchner 2016; Geier 2015).

Städtischer Raum ist relevant für die jugendliche Sozialisation, weil in ihm die vielen verschiedenen Orte lokalisiert sind, in deren Kontexten Jugendliche ihren Freizeitaktivitäten nachgehen. Neben Familie und Schule ist die eigenständige Freizeitgestaltung mit Gleichaltrigen ein Lebensbereich, in dem wichtige Entwicklungsaufgaben vollzogen werden. Um sich mit der Erwachsenenwelt auseinanderzusetzen und eine eigene Identität zu entwickeln, bietet der öffentliche Raum der Stadt geeignete Kontexte. In der Stadtforschung wurde die Sozialisationsrelevanz städtischer Räume bisher überwiegend mit Blick auf die Wohnquartiere der Jugendlichen untersucht. Großstädte mit ihrem großen Angebot an attraktiven Orten und ÖPNV-Netzen, die eine selbstständige Mobilität von Jugendlichen ermöglichen, bieten Jugendlichen jedoch auch die Gelegenheit ihren Freizeitaktivitäten jenseits der Nachbarschaft nachzugehen. Um zu erfassen, welche urbanen Kontexte tatsächlich relevante Erfahrungsräume darstellen, muss das alltägliche räumliche Verhalten von Jugendlichen detailliert nachvollzogen werden. Hierzu bietet sich der Forschungsansatz des Aktivitätsraumes an. Bei der Diskussion dieses Ansatzes wurden eine Reihe von Faktoren zusammengetragen, welche Einfluss auf die Größe und Ausprägung von Aktivitätsräumen nehmen. Diese Faktoren sind sowohl individuelle Merkmale, als auch Eigenschaften des Wohnstandortes und -quartiers sowie der allgemeinen Struktur der Stadt. Zugleich ist dabei auch deutlich geworden, dass sich das räumliche Freizeitverhalten von Jugendlichen entlang dieser Faktoren ausdifferenziert. Empirische Einsichten sind in dieser Hinsicht aufschlussreich und sollen im nachfolgenden Teil zusammengetragen werden.

2.2 Empirische Befunde zum räumlichen Freizeitverhalten von Jugendlichen

Im Folgenden sollen nun anhand ausgewählter Forschungen Hypothesen in Bezug auf das räumliche Freizeitverhalten von Jugendlichen ausgearbeitet werden. Um alle Aspekte der Forschungsfragen dieser Arbeit umfassend zu behandeln, muss dafür auf empirische Arbeiten aus verschiedenen Forschungsfeldern zurückgegriffen werden. In der Zusammenschau ergänzen sich die Studien, Schwachstellen und vernachlässigte Zusammenhänge in den einzelnen Forschungsfeldern können so kompensiert werden.

Zunächst werden Studien zu den Freizeitaktivitäten von Jugendlichen rekapituliert. Sie geben Aufschluss darüber, welche Freizeitbeschäftigungen bei Jugendlichen beliebt sind und welche Unterschiede sich in dieser Hinsicht nach sozialstrukturellen Merkmalen ergeben. Keine Auskunft geben diese Forschungen zu den Orten und Räumen, die für die Aktivitäten genutzt werden. Manche Aktivitäten sind gebunden an bestimmte Orte: Zum Basketballspielen wird ein Basketballkorb benötigt, der Gitarrenunterricht findet in einer Musikschule statt. Für unspezifische Aktivitäten, wie Freund*innentreffen oder Chillen, eignen sich verschiedene private und öffentliche Orte. Instruktiv sind hier Untersuchungen, die sich mit der Nutzung urbaner, öffentlicher Räume durch Jugendliche beschäftigen. Diese Forschungen sind darauf ausgerichtet die Stadtplanung und die Soziale Arbeit zu informieren und Handlungsempfehlung für die jeweilige Praxis zu liefern. Der soziale Status als wichtige differenzierende Variable wird in den Forschungsdesigns nicht berücksichtigt.

Welche Bereiche der Stadt genutzt werden, hängt davon ab, wie die bei Jugendlichen beliebten Räume und die für Aktivitäten benötigten Orte im städtischen Raum verteilt sind.Footnote 28 Zugleich ist entscheidend, wie erreichbar andere Bereiche der Stadt sind. Studien zum Mobilitätsverhalten von Jugendlichen können zeigen, ob durch die Verfügbarkeit von Verkehrsmitteln das Zurücklegen weiterer Wege begünstigt wird. Eine eingehende Betrachtung von Mobilitätsanlässen und -motivationen findet jedoch nicht statt. Motivation das eigene Quartier zu verlassen und andere Bereiche der Stadt aufzusuchen entsteht, wenn das eigene Wohnquartier nicht ausreichend attraktive Orte für die Freizeitgestaltung bietet. Forschungen zeigen, dass verschiedene Quartiere sich durch ihre bauliche Struktur und Infrastrukturausstattung in ihrer Attraktivität für Jugendliche unterscheiden.

Weitere empirische Untersuchungen aus dem Bereich der Nachbarschaftseffektforschung unterstreichen, dass neben der physischen Ebene der Quartiere auch ihre soziale Zusammensetzung relevant sein kann. Aktivitäten und soziale Kontakte von Bewohner*innen marginalisierter Nachbarschaften sind häufig aufs eigene Quartier bezogen. Auf der anderen Seite bieten Freund*innen in anderen Stadtteilen Motivation, das eigene Quartier zu verlassen. Weitere Studien zur Bedeutung von sozialen Netzwerken sind hier aufschlussreich. Um Hypothesen in Bezug auf das räumliche Freizeitverhalten herauszuarbeiten, müssen abschließend auch Aktivitätsraumstudien betrachtet werden. Sie analysieren vergleichend den Einfluss der verschiedenen Faktoren – allerdings nur in seltenen Fällen für Jugendliche. Neuere Studien fokussieren auch die Frage, ob sich die residentielle Segregation in den Aktivitätsräumen fortsetzt.

2.2.1 Freizeitverhalten von Jugendlichen

Jugendliche in unserer Gesellschaft haben vielfältige Möglichkeiten ihre Freizeit zu gestalten. Neben den vielen Angeboten von Vereinen und Organisationen bieten gerade Großstädte ihnen viele Optionen, sich Aktivitäten selbst zu organisieren. Dies liegt nicht zuletzt auch an dem großen Angebot an interessanten öffentlichen Räumen, die sich Jugendliche in der Stadt aneignen können. Der durch Aktivitäten und Orte bestimmte Freizeitstil von Jugendlichen differenziert sich entlang von Alter, Geschlecht, sozialer Schicht und Migrationshintergrund.

Freizeitaktivitäten: Medien, Sport, Chillen

Einen guten Überblick über die Freizeitgestaltung von Jugendlichen bieten repräsentative Jugendstudien.Footnote 29 Die Ergebnisse aus drei Studien, die jeweils dem Thema Freizeitaktivitäten einen großen Raum einräumen, sollen im Folgenden dargestellt werden. Die bekannteste ist sicherlich die Shell-Jugendstudie, welche ungefähr alle vier Jahre veröffentlich wird. Für die aktuelle, 18. Studie von 2019 mit dem Titel „Eine Generation meldet sich zu Wort“ wurden über 2.500 Jugendliche im Alter zwischen 12 und 25 Jahren befragt. Ergänzend wurden 20 qualitative Leitfadeninterviews durchgeführt (vgl. Albert et al. 2019: 325 ff.).

Die häufigste von den befragten Jugendlichen genannte Freizeitbeschäftigung ist „Musik hören“ (57 %), auch andere Mediennutzungen (Internetnutzung, Filme schauen, Nutzung sozialer Medien, Fernsehen und Computerspielen) sind für viele Jugendliche wichtig. Gleichzeitig geben aber auch 55 % „sich mit Leuten treffen“ als eine ihrer fünf häufigsten wöchentlichen Freizeitaktivitäten an. Diese Aktivität hat über die Jahre (2002: 62 %) zwar abgenommen, aber nicht in dem gleichen Maße, wie die Nutzung neuer Medien zugenommen hat. Auch sportliche Aktivitäten im Verein oder Fitnessclub (27 %) und „Sport in der Freizeit“ (24 %) sind für jeweils rund ein Viertel der Befragten häufige Beschäftigungen. Die These von der Konkurrenz zwischen Online- und Offline-Freizeitaktivitäten wird also widerlegt, wie die oben bereits zitierte Studie von Braumüller und Hartmann-Tews (2017) ebenfalls zeigt.Footnote 30 Weitere häufige Beschäftigungen sind das „Chillen“ (26 %), „Unternehmungen mit der Familie“ (23 %) oder „Bücher lesen“ (21 %). (vgl. Albert et al. 2019: Kap. 7)

Unterschiede nach Geschlecht ergeben sich vor allem bei der Geselligkeit, beim Bücherlesen, bei kreativen Aktivitäten und beim Sport: Während die drei erstgenannten Beschäftigungen deutlich häufiger von den weiblichen als den männlichen Befragten genannt wurden, ist dies beim Sport umgekehrt. Starken Einfluss auf das Freizeitverhalten hat die soziale Schicht, der die Jugendlichen angehören. Die Jugendlichen aus den unteren sozialen Schichten gehen häufiger „‚häuslichen‘Beschäftigungen nach: Internetsurfen, Fernsehen, die Nutzung sozialer Medien und Chillen“ (vgl. Albert et al. 2019: 218). Befragte aus den oberen sozialen Schichten gehen eher einer „‚aktiven‘Freizeitgestaltung“ (vgl. Albert et al. 2019: 218) nach, welche Beschäftigungen wie Bücherlesen, kreative Aktivitäten und Sport umfasst. Relativ gering sind die Schichtunterschiede bei der hohen Bedeutung des Treffens von Freund*innen für die Freizeitgestaltung der Jugendlichen. (vgl. Albert et al. 2019: Kap. 7)

Wie die Shell-Studie zeigt auch die Studie „Jugend, Information, Medien“ (JIM)Footnote 31, dass neben der Nutzung der verschiedenen Medien das Treffen von Freund*innen (in drei Studienjahren 2017-2019 jeweils über 70 %) und Sporttreiben (jeweils über 65 %) zwei der häufigsten Freizeitbeschäftigungen sind, denen Jugendlichen mehrmals die Woche oder täglich nachgehen. Auch ein Großteil der Befragten der JIM-Studie unternehmen in ihrer Freizeit regelmäßig etwas mit der Familie (jeweils über 30 %). Weitere Aktivitäten, die von vielen der Jugendlichen regelmäßig ausgeübt werden, sind „selbst Musik machen“ (jeweils über 20 %) und Sportveranstaltungen (jeweils über 10 %) besuchen. Beim Freund*innentreffen und Familienunternehmungen lässt sich jeweils kein klarer Geschlechtsunterschied erkennen – die Anteile liegen bei Mädchen und Jungen nahe beieinander bzw. wechselt die Rangfolge zwischen den Studienjahren. Mehr Mädchen machen regelmäßig Musik, Sporttreiben oder Sportveranstaltungen besuchen ist bei den Jungen beliebter. Die Vergleiche nach Schulform zeigen: Gymnasiast*innen machen häufiger Musik und treiben häufiger Sport als Schüler*innen von Haupt- und Realschulen, dafür treffen sich letztere häufiger mit Freund*innen. (vgl. Feierabend et al. 2017, 2018, 2019)

Auch die Studie „Medien, Kultur und Sport“ (MediKuS)Footnote 32 belegt diese Muster im Freizeitverhalten von Jugendlichen. Jugendliche mit hohem kulturellem Kapital gehen häufiger künstlerischen, sportlichen und vor allem musikalischen Aktivitäten nach, zugleich nutzen sie das Internet seltener (vgl. Grgic und Züchner 2016: Kap. 5). Zusätzlich zu den Aktivitäten werden auch ihre Kontexte in den Blick genommen. Für die Ausübung von Aktivitäten in den Bereichen Medien, Kunst, Musik und Sport sind neben den „formalen Kontexten“ der Schulen sowohl die „non-formalen Kontexte“ von Vereinen, Verbänden, Jugendzentren, Musikschulen usw. als auch die „informellen“, spontan und selbstorganisierten Kontexte relevant. Insbesondere mit steigendem Alter verlagern sich Aktivitäten von „non-formale“ in „informelle“ Kontexte. Jugendliche mit niedrigem kulturellen Kapital nutzen im Vergleich seltener die organisierten Angebote „non-formaler Kontexte“ als solche mit mittlerem und hohem kulturellem Kapital und verbringen häufiger ihre Freizeit mit ausschließlich selbstorganisierten Aktivitäten. (vgl. Grgic und Züchner 2016: Kap. 6)

Insgesamt gehören die Befragten aus Elternhäusern mit hohem kulturellen Kapital am ehesten zu der Gruppe, die in Bezug auf Musik, Kunst und Sport als „hoch aktiv“ gilt und in mehr als einem der drei Bereiche einer organisierten Aktivität in einem informellen Kontext nachgeht (vgl. Grgic und Züchner 2016: Kap. 7). Diese Unterschiede im Freizeitverhalten nach sozialer Schicht bzw. kulturellem Kapital werden auch in einer weiteren Auswertung der Daten der AIDA:A-Surveys bestätigt (vgl. Geier 2015). In dieser Auswertung zeigt sich auch, dass Mädchen und Gymnasiast*innen in ihrer Freizeit eher zu den aktiveren und bildungsorientierteren Jugendlichen gehören, die Beschäftigungen aus verschiedenen Bereichen nachgehen.Footnote 33

Insbesondere für den Bereich der sportlichen Aktivitäten sind Unterschiede zwischen den Geschlechtern und sozialen Schichten auch durch verschiedene weitere Studien aus Deutschland (vgl. z. B. Lampert et al. 2007; Will et al. 2016), wie auch aus anderen Ländern (vgl. Z. B. Andersen und Bakken 2018) gut belegt. Vor allem Mädchen mit niedrigem sozialen Status und Migrationshintergrund sind sportlich „inaktiv“, wobei Jungen im Schnitt aktiver sind als Mädchen, sich bei ihnen jedoch keine großen Unterschiede nach sozialem Status zeigen (vgl. Lampert et al. 2007). Wird jedoch nur der Vereinssport in den Blick genommen, zeigt sich wieder für beide Geschlechter deutliche Unterschiede nach sozioökonomischem Status: Je höher der Status desto wahrscheinlicher die Mitgliedschaft in einem Sportverein (vgl. Will et al. 2016).

Die vorgestellten Studien geben einen guten Überblick darüber, welche Freizeitaktivitäten bei Jugendlichen besonders beliebt sind. Sie treffen jedoch kaum Aussagen dazu, wo die Freizeitaktivitäten von Jugendlichen stattfinden. Organisierte Aktivitäten aus dem kreativen, musikalischen oder sportlichen Bereich sind meist an bestimmte Orte gebunden, wie das Gelände eines Sportvereins, oder die Räumlichkeiten einer Kunst- oder Musikschule. Unklar bleibt hingegen an welchen Orten unstrukturierten Aktivitäten, wie Freund*innentreffen und Chillen, stattfinden. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang sind einige Studien zur Nutzung des Stadtraums und öffentlicher Orte durch Jugendliche.

Öffentliche Räume als Freizeitorte

Während die Studienlage zu Jugendlichen allgemein und auch zu ihren Freizeitaktivitäten in Deutschland gut ist, gibt es nur wenig Forschung dazu, wie Jugendliche in ihrer Freizeit den Stadtraum nutzen und an welchen Orten sie ihre Freizeit verbringen. Die vorhandenen Studien sind häufig darauf ausgerichtet, die Stadtplanung und die Soziale Arbeit zu informieren und Handlungsempfehlung für die jeweilige Praxis zu liefern.Footnote 34 Methodisch sind sie von einigen Schwächen geprägt, vor allem wird in einem Teil der Studien der soziale Status als Variable nicht erhoben und/oder analysiert.

Für die von der Wüstenrot Stiftung in Auftrag gegebene Studie „Jugendliche in öffentlichen Räumen der Stadt“ (Herlyn et al. 2003) wurde ein „raumspezifischer Forschungsansatz“ (Herlyn et al. 2003: 37) gewählt: Es wurden 6 Untersuchungsgebiete in Hannover ausgewählt, die sechs vorher definierten Raumtypen entsprechen. Zunächst wurden 2002 in allen Untersuchungsgebieten teilstandardisierte und nicht-teilnehmende Beobachtungen und im Anschluss an beobachtete Situationen mit Jugendlichen Leitfadeninterviews durchgeführt. Auch Expert*innen wurden zu ihrer Einschätzung der Nutzung der konkreten Untersuchungsräume durch Jugendliche befragt. Anschließend wurden in allen Untersuchungsgebieten mithilfe temporärer räumlicher Interventionen qualitative Experimente durchgeführt (vgl. Herlyn et al. 2003: Kap. II).

Die Ergebnisse belegen, dass öffentliche Räume für Jugendliche wichtige Freizeitorte sind und sie sich häufig und über längere Zeiträume in ihnen aufhalten. Sie nutzen sie nicht nur für Sport und Spiel, sondern vor allem auch zur Selbstpräsentation und der Kommunikation mit Gleichaltrigen. Dabei wollen sie einerseits gesehen werden und schätzen die formelle und informelle Kontrolle und damit einhergehende Sicherheit an vielen öffentlichen Orten. Andererseits ziehen sie sich aber auch in ungestörtere Bereiche zurück und versuchen somit, der Kontrolle zu entgehen. Insgesamt sind Jugendliche nur selten alleine im öffentlichen Raum unterwegs, sondern meist zu zweit oder in kleinen Gruppen. Sie bleiben dabei aber unter sich und interagieren wenig mit anderen Altersgruppen. (vgl. Herlyn et al. 2003: Kap. IX)

Die verschiedenen Raumtypen eignen sich unterschiedlich gut für die verschiedenen Aktivitäten und lassen sich unterschiedlich gut von den Jugendlichen aneignen. Meist passen sie sich den Restriktionen der Orte an und weichen auf andere Orte aus, wenn ihnen bestimmte Aktivitäten untersagt werden. Sie zeigen sich somit flexibel in ihrer Raumnutzung. Der Raumtyp „zentraler Stadtplatz“ bietet vor allem Gelegenheit zur Selbstdarstellung, „grünbestimmte Freiräume“ (z. B. Parks) und „Einrichtungen für Jugendliche“ werden genutzt, um Freund*innen zu treffen. Mädchen waren in den untersuchten Gebieten im Vergleich zu Jungs seltener anzutreffen und sie gingen eher ruhigen und auf Konsum ausgerichteten Aktivitäten nach (vgl. Herlyn et al. 2003: IX). Differenzen nach sozialem Status, der besuchten Schulform, Migrationshintergrund oder dem Wohnquartier wurden nicht untersucht. Es wurde lediglich festgestellt, dass sich im Park und im Jugendzentrum vergleichsweise mehr „Jugendliche ausländischer Herkunft“ aufhalten.Footnote 35

Weitere Studien heben ebenfalls die Relevanz öffentlicher Räume jenseits der unmittelbaren Wohnumgebung für die jugendliche Freizeitgestaltung in der Stadt hervor. Ihre Bedeutung nimmt mit steigendem Alter zu (vgl, Freudenau et al. 2004: Abschn. 4.4; von Seggern et al. 2009: 128 f.). Besonders die öffentlichen Bereiche der Innenstädte werden von vielen Jugendlichen genutzt. Obwohl Mädchen im Schnitt etwas kleinere und wohnungsnähere Aktionsradien haben, sind die Stadtzenten für ihre Freizeit von besonderer Bedeutung. Sie nutzen sie vor allem zum „Shoppen“ (vgl. von Seggern et al. 2009: 139 f.). Als attraktiv erweisen sich auch die in den letzten Jahrzehnten in den Innenstädten entstandenen Shoppingmalls. Dieser neue Raumtypus steht im Fokus neuerer Forschungen zu Freizeitverhalten und Raumaneignung von Jugendlichen.

Zu den neueren Untersuchungen zählt beispielsweise die Forschung von Ute Neumann (2016), für die sie qualitative Interviews mit Jugendlichen, nicht-teilnehmende Beobachtung und Expert*inneninterviews in Ludwigshafen und Saarbrücken durchgeführt hat. Ihre Fallstudien bestätigen zunächst die Ergebnisse vorangegangener Studien, dass z. B. Grünflächen als Rückzugsräume dienen und zentrale Orte als Treffpunkte, an denen Jugendlichen miteinander kommunizieren und sich präsentieren. Jugendfreizeitorte werden von den interviewten Jugendlichen als langweilig bezeichnet, es gibt eine starke Erlebnis- und Eventfokussierung, welcher die Innenstadtbereiche eher gerecht zu werden scheinen (vgl. Neumann 2016: Abschn. 9.1). Im Fokus der Untersuchung steht der neue Raumtypus der Shoppingmalls, der als „quasi-öffentlicher Raum“ für die Jugendlichen zugänglich ist, aber von ihnen bestimmte Verhaltensanpassungen erfordert. So werden einerseits Zugang und Nutzungsmöglichkeiten von öffentlichen Räumen für Jugendliche durch Kommerzialisierung und Privatisierung erschwert bzw. eingeschränkt. Andererseits wird die erhöhte Sicherheit in solchen Räumen von den Jugendlichen teilweise auch positiv wahrgenommen und sie sind daher beliebt als Treffpunkte. Sie erfüllen also durchaus Funktionen in der jugendlichen Freizeitgestaltung, ermöglichen jedoch nicht das „Erlernen des Umgangs mit Fremdheit und Unsicherheit, als Teil des Erwerbs urbaner Kompetenz“ (vgl. Neumann 2016: 202), welches kennzeichnend für andere öffentliche Räume ist (vgl. Neumann 2016: Abschn. 9.2).

Ulrich Deinet, Sophie Thomas und David Gilles beschäftigen sich in ihrer Untersuchung ebenfalls mit der Nutzung von Shoppingmalls durch Jugendliche (vgl. Deinet et al. 2018).Footnote 36 Auch sie stellen fest, dass die Jugendlichen die Sicherheit des privatisierten Raums der Malls schätzen. Sie kennen die Hausordnungen gut und passen sich in ihrem Verhalten an, nur selten kommt es zu Konflikten mit dem Sicherheitspersonal. Die Malls werden durchaus auch zum Einkaufen oder zumindest zur Begutachtung von Waren genutzt, aber darüber hinaus bieten sie ihnen auch die Möglichkeit, an einem wettergeschützten Ort (vor allem im Winter) zu chillen. So lange die Jugendlichen sich dabei an die Ortsnormen halten, können sie sich weitgehend unkontrolliert von Erwachsenen treffen und austauschen – im Gegensatz z. B. zu Jugendzentren oder dem eigenen Zuhause, wo meist Aufsichtspersonen anwesend sind.Footnote 37 Die befragten Jungen verbringen mehr Zeit in den Einkaufszentren und nutzen sie häufiger zum Chillen, die Mädchen kaufen eher ein.

Insgesamt belegen die vorgestellten Studien, wie vielfältig Jugendliche ihre Freizeit gestalten. Sie gehen Aktivitäten aus dem künstlerischen, musikalischen oder sportlichen Bereich nach oder treffen Freund*innen und chillen. Letztere beiden Aktivitäten finden vornehmlich spontan und in informellen Kontexten statt. Der öffentliche Raum der Stadt bietet eine Vielzahl an Orten, die Jugendliche sich für diese Aktivitäten aneignen. Neben öffentlichen Plätzen und Parks sind auch Shoppingmalls beliebte Freizeitorte für Jugendliche. Es zeigen sich jedoch Unterschiede in der Freizeitgestaltung nach Geschlecht und sozialem Status. Jugendliche aus unteren sozialen Schichten gehen in ihrer Freizeit eher spontanen und unstrukturierten Aktivitäten nach. Dies gilt in geringerem Maße auch für Jugendliche mit Migrationshintergrund. Die Freizeit der Jugendlichen aus mittleren und oberen sozialen Schichten ist eher geplant und strukturiert durch regelmäßige Termine. Unterschiede bei den Geschlechtern ergeben sich vor allem bei der Art der Aktivitäten: Jungen sind eher sportlich, sie nutzen häufiger den öffentlichen Raum zum Chillen. Mädchen sind eher kreativ und gesellig, sie gehen im öffentlichen Raum eher konsumorientierten Aktivitäten nach. Diese Erkenntnisse lassen sich in ein Set von Hypothesen übersetzen (s. Tab. 2.1).

Tabelle 2.1 Hypothesen zum Freizeitverhalten von Jugendlichen

2.2.2 Stadtstruktur, Quartier und Mobilität

Anhand von empirischen Befunden konnte ein konkretes Bild vom Freizeitverhalten Jugendlicher gezeichnet werden, welchen Freizeitaktivitäten sie nachgehen und welche Orte sie präferieren. Nun soll im Folgenden eruiert werden, wie sich Aktivitäten und Orte in der Stadt verteilen. Die Bedeutung und die Attraktivität der Stadtzentren wurden oben bereits angerissen. Je nach Wohnlage sind Innenstadt oder andere interessante Bereiche der Stadt vom eigenen Zuhause aus nicht fußläufig erreichbar. Ein bestimmtes räumliches Freizeitverhalten könnte auch das Resultat einer eingeschränkten Mobilität sein. Daher ist es wichtig, einen Blick auf das Mobilitätsverhalten von Jugendlichen zu werfen. Im Mittelpunkt steht die Frage, welche Verkehrsmittel in der Stadt zur Verfügung stehen und ob sie von Jugendlichen genutzt werden, um auch weiter entfernte Ziele anzusteuern.

Andererseits wurde auch bereits auf die Bedeutung der Wohnquartiere für das jugendliche Freizeitverhalten hingewiesen. Ist ein Stadtteil gut ausgestattet mit Infrastruktur und bietet viele attraktive Freizeitorte für Jugendliche, sinkt die Motivation, den Stadtteil für Freizeitaktivitäten zu verlassen. In diesem Zusammenhang zeigt sich eine Studie als relevant, die Unterschiede des Freizeit- und Mobilitätsverhaltens Jugendlicher verschiedener Siedlungstypen belegt.

Jugendliche sind hochmobil

Es gibt drei größere, methodisch versierte Untersuchungen, die sich explizit mit der Mobilität von Jugendlichen in Deutschland und Österreich beschäftigen.Footnote 38 Die größte Stichprobe und das komplexeste Forschungsdesign weist das zwischen 1998 und 2001 durchgeführte Forschungsprojekt „U.Move“ (Hunecke et al. 2002) auf. Über 4000 Jugendliche zwischen 15 und 26 Jahren in Dortmund, Greifswald, Passau und Potsdam wurden für diese Studie mit einem Fragebogen befragt. Mit einzelnen Vertreter*innen der clusteranalytisch gebildeten Idealtypen wurden anschließend Leitfadeninterviews durchgeführt. Parallel wurden die Mobilitätsangebote in den untersuchten Kommunen analysiert und anschließend Praxisprojekte durchgeführt (vgl. Hunecke et al. 2002: Kap. 2).

Ein zentrales Ergebnis der Analysen ist, dass Jugendliche „überdurchschnittlich häufig unterwegs“ (Hunecke et al. 2002: 209) sind und dabei ein multimodales Mobilitätsverhalten zeigen. Nur wenige Jugendliche sind auf ein Verkehrsmittel festgelegt, die meisten nutzen je nach Anlass, Zeitpunkt und Weg ein anderes. Die Wahl des Verkehrsmittels ist dabei weniger bestimmt durch persönliche Einstellungen (z. B. Umweltbewusstsein), sondern eher dadurch, ob ein Auto verfügbar ist und ob die befragte Person eher in einer urbanisierten (Dortmund und Potsdam) oder ländlich geprägten Region (Greifswald und Passau) wohnt und somit auch unterschiedlich gut ausgebaute ÖPNV-Systeme zur Verfügung stehen (vgl. Hunecke et al. 2002: Kap. 8).

Das Folgeprojekt „U.Move 2.0“Footnote 39 (vgl. Konrad und Groth 2019; Konrad und Wittowsky 2016, 2018) legt einen Fokus auf den Zusammenhang zwischen physischer und virtueller Mobilität. Die Ergebnisse belegen, dass – wie oben bereits diskutiert – virtuelle und physische Welten miteinander verwoben sind und nicht in Konkurrenz zueinanderstehen. Es erfolgt teilweise zwar eine Substitution von Wegen durch Online-Nutzungen (z. B. wenn eine Messaging-App statt eines persönliches Treffens zum Austausch mit Freund*innen genutzt wird). Andererseits werden aber auch neue Wege zurückgelegt, da mehr Informationen über mögliche Aktivitäten verfügbar sind (vgl. Konrad und Wittowsky 2016: 6 f.). Insgesamt erhöht virtuelle Mobilität sogar die Anzahl an Wegen und die zurückgelegten Strecken (vgl. Konrad und Wittowsky 2018: 16).

Darüber hinaus bestätigt sich das Ergebnis der ersten Studie, dass Jugendliche überdurchschnittlich viele Wege im Alltag zurücklegen und dabei auch überdurchschnittlich lange unterwegs sind, allerdings mit deutlichen milieuspezifischen Unterschieden: Jugendliche aus dem prekären Milieu legen deutlich weniger Strecken zurück als solche aus dem kosmopolitisch-intellektuellen und sind dabei häufiger zu Fuß unterwegs. Als Ursache sehen die Autor*innen die geringeren finanziellen Mittel und den eher nahräumlichen Freundeskreis (vgl. Konrad und Wittowsky 2016: 4 f.; Konrad und Wittowsky 2018: 14). Ergänzend zur Vorläufer-Studie kann diese Untersuchung zeigen, dass Jugendliche durchaus ihre persönlichen Einstellungen in Bezug auf Mobilität umsetzen, diese aber abhängig ist von weiteren Faktoren: Jugendliche, die in Großstädten wohnen und mehr finanzielle Mittel zur Verfügung haben, sind eher in der Lage ihre Präferenzen auch praktisch umzusetzen. Jugendliche, die zur Schule gehen und noch bei ihren Eltern wohnen, nutzen unabhängig von der Einstellung eher den ÖPNV und das Fahrrad (vgl. Konrad und Groth 2019: 13).

Die Studie „UNTERWEGS“Footnote 40 (Stark et al. 2018; Stark und Hössinger 2015) bestätigt die Ergebnisse der Studie „U.Move 2.0“, dass Jugendliche durchaus ihre Einstellungen zu Verkehrsmitteln auch umsetzen – allerdings nur auf Schulwegen. Bei Nicht-Schulwegen sind vor allem äußere Vorgaben (z. B. durch die Eltern) bestimmend und als Resultat wird am häufigsten das Auto genutzt. Ob der ÖPNV genutzt wird, hängt vorrangig von seiner Qualität bzw. Geschwindigkeit im Vergleich zum motorisierten Individualverkehr ab. Allerdings sinkt dadurch nicht die Pkw-Nutzung, sondern die Nutzung anderer Verkehrsmittel (Fahrrad, zu Fuß). Pkw werden vor allem für längere Strecken genutzt. Beachtet werden muss dabei allerdings das eher junge Alter der Befragten und der Fakt, dass primär die langen Freizeitwege in Begleitung der Eltern zurückgelegt werden, was – wie die Autor*innen herausstreichen – auch eine Ursache für die hohe Pkw-Nutzung ist (vgl. Stark und Hössinger 2015: 194 f.; Stark et al. 2018: 62).

Den empirischen Befunden zufolge sind Jugendliche eine sehr mobile Altersgruppe mit häufig multimodalem Verkehrsverhalten, die im Alltag viele und weite Wege zurücklegt. Unterschiede ergeben sich nach sozialem Herkunftsmilieu: Jugendliche aus Milieus mit geringeren finanziellen Mitteln legen weniger und kürzere Wege zurück. Verfügbarkeit und Qualität der Verkehrsmittel sind ausschlaggebend für ihre Nutzung; das gilt im Besonderen für den ÖPNV. Eine Studie zur Mobilität der Gesamtbevölkerung (Befragte ab 16 Jahren) belegt auch die Relevanz des Wohnquartiers für das Mobilitätsverhalten. Es wird vor allem dann auf weite Wege verzichtet und der eigene Stadtteil genutzt, wenn das infrastrukturelle Angebot dort gut ist (vgl. Beckmann et al. 2006: Kap. 10).

Unterschiedlich attraktive Quartierstypen

Hinweise auf die allgemeine Relevanz von unterschiedlichen Quartierstypen für das Freizeit- und Mobilitätsverhalten gibt jedoch ein Forschungsprojekt des Instituts für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein-Westfalen (ILS). Für die Studie „Kids im Quartier“ (Freudenau et al. 2004) wurden in drei Städten (Herten, Velbert, Kassel) in jeweils drei baulich unterschiedlichen Quartieren (Einfamilienhaussiedlungen, innenstadtnahe Mischgebiete, Zeilenbausiedlungen) schriftliche Elternbefragungen, Interviews mit Kindern und Jugendlichen sowie Ortsbegehungen durchgeführt (vgl, Freudenau et al. 2004: Kap. 3). In den Gebieten mit Einfamilienhäusern werden die Jugendlichen vorwiegend von ihren Eltern mit dem Auto gefahren, um ihre Freizeittermine zu erreichen. In den Misch- und Zeilenbaugebieten wird vor allem der ÖPNV genutzt und in geringerem Umfang werden die Strecken auch zu Fuß zurückgelegt. Das Fahrrad ist für Jugendliche aus allen drei Siedlungsformen ein eher selten genutztes Verkehrsmittel (vgl, Freudenau et al. 2004: Abschn. 4.3).

Jugendliche in den Misch- und Zeilenbaugebieten nutzen häufiger den öffentlichen Raum (Straßen, Plätze, Parks, Einkaufszentren) als die Gleichaltrigen in den Einfamilienhausgebieten. Interessant ist auch die Abnahme der Nutzung öffentlicher Räume mit dem Alter bei Letzteren; als Kinder nutzen sie diesen noch deutlicher häufiger. Auch „spezialisierte Räume“ (Schulhof, Sportplatz, Jugendzentrum) werden seltener von den Jugendlichen in den Einfamilienhäusern im Vergleich zu denen aus den anderen beiden Gebieten besucht (vgl, Freudenau et al. 2004: Abschn. 4.4).

Gründe für diese Unterschiede zwischen den drei Siedlungsformen werden von den Autor*innen empirisch nicht weiter geprüft. Aus den Beschreibungen der untersuchten Gebiete lassen sich aber einige begründete Annahmen ableiten. Die Einfamilienhausgegenden befinden sich eher in einer peripheren Lage, haben eine im Vergleich mit den anderen Gebieten schlechtere ÖPNV-Anbindung und sind gekennzeichnet durch einen größeren Anteil an privaten Freiräumen. Andererseits bieten innenstadtnahe Mischquartiere und Zeilenbausiedlungen für Jugendliche attraktivere öffentliche Räume. Außerdem kann angenommen werden, dass der soziale Status der Haushalte in den Einfamilienhaussiedlungen im Durchschnitt höher ist als in den anderen beiden Siedlungstypen.Footnote 41 Die unterschiedliche Verkehrsmittelwahl (ÖPNV oder Auto) liegt wahrscheinlich in der unterschiedlichen Lage und der unterschiedlich guten ÖPNV-Anbindung begründet. Auch können sich Familien mit Einfamilienhaus auch eher ein Auto leisten. Die vorhandenen privaten Freiräume machen ein starke Nutzung der öffentlichen Räume weniger notwendig. Die Befunde der Studie sind ein Indiz für den Einfluss des Siedlungstyps auf Freizeit- und Mobilitätsverhalten sowie die Raumnutzung von Jugendlichen. Allerdings lässt sich dieser Effekt nicht von dem Einfluss des sozialen Status und der Lage des Quartiers trennen. Beide Faktoren wurden in der Studie nicht erhoben bzw. kontrollierend in die Analyse einbezogen.

Aus dem Bereich der quartiersbezogenen Gesundheitsforschung gibt es eine Fülle an internationalen Studien, welche den Zusammenhang zwischen Bau- und Infrastruktur auf der einen und Bewegung und körperlicher Betätigung von Jugendlichen auf der anderen untersuchen. Systematische Literaturauswertungen zu dieser Forschungsfrage zeigen, dass öffentliche Räume mit Sport- und Abenteuerspielplätzen bei Jugendlichen beliebt sind und von ihnen häufiger genutzt werden als Räume, die aufgrund ihrer Ausstattung weniger attraktiv sind (vgl. Smith et al. 2017; Van Hecke et al. 2018). Die Studien aus diesem Bereich sind überwiegend ortsbezogen, untersuchen also die Nutzung bestimmter Orte oder einer bestimmten Kategorie von Orten. Sie liefern keine Erkenntnisse dazu, wie sich Jugendliche verhalten, denen keine attraktiven öffentlichen Räume in der Nachbarschaft zur Verfügung stehen. So bleibt die Frage offen, ob diese Jugendlichen öffentliche Räumen weniger nutzen oder ob sie bereit sind weitere Strecken zurückzulegen, um attraktive Orte zu erreichen.

Neben der Bau- und Infrastruktur des Quartiers und seiner Lage im Stadtgefüge, ist auch relevant für das räumliche Verhalten von Jugendlichen, ob ihre Schule im Wohnquartier liegt oder weiter entfernt. Das zeigt eine weitere Studie der Wüstenrot Stiftung mit dem Titel „Stadtsurfer, Quartierfans & Co“ (von Seggern et al. 2009).Footnote 42 Schüler*innen, die weiter entfernt von der Schule wohnen und aufgrund dessen auch ein kostenloses Schülerticket erhalten, gehen eher Aktivitäten außerhalb ihres eigenen Wohnquartiers nach – häufig im Schulquartier. „Der Fernbezug zur Schule zieht also weitere Fernbezüge nach sich“ (von Seggern et al. 2009: 130).

Die vorangegangenen empirischen Befunde belegen, dass neben individuellen Merkmalen, wie sozialer Status, Geschlecht und Freizeitstilen auch stadtstrukturelle Faktoren prägend sind für das räumliche Freizeitverhalten von Jugendlichen. Hier ist zum Beispiel das Mobilitätsangebot zu nennen. Kurze Wege im Wohnumfeld können zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt werden. Die städtischen ÖPNV-Netz bieten Jugendlichen die Möglichkeit, auch Bereiche jenseits des eigenen Wohnquartiers selbstständig zu erreichen. Entscheidend für die Nutzung des ÖPNV ist aber seine Qualität und Verfügbarkeit, nicht alle Quartiere sind gleich gut ans Netz angeschlossen. Das gute Mobilitätsangebot spiegelt sich in der durch die Studien belegten hohen Mobilität der Jugendlichen wider. Allerdings sind Jugendliche mit niedrigerem sozialem Status weniger mobil.

Neben der verkehrlichen Anbindung sind Bau- und Infrastruktur eines Quartiers weitere Faktoren. Jugendliche nutzen den öffentlichen Raum in Quartieren unterschiedlicher Siedlungstypen unterschiedlich intensiv. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die unterschiedliche bauliche Struktur dieser Quartiere und das unterschiedliche Angebot an für Jugendliche in der Freizeit nutzbaren Orten nach Quartierstypen variiert. Hinzu kommen unterschiedliche Lagen von Quartieren bzw. der konkreten Wohnorte der Jugendlichen. Relevant ist vor allem die Entfernung zum Stadtzentrum, da die Innenstadt ein für viele Jugendliche attraktiver Stadtbereich ist und Motivation den eigenen Stadtteil zu verlassen. Eine weiter vom Zentrum entfernte Wohnlage führt möglicherweise dazu, dass die Innenstadt entweder nicht genutzt wird oder weite Wege für ihre Nutzung zurückgelegt werden müssen. Auch eine weiter entfernte Schule kann dazu führen, dass der eigene Stadtteil auch in der Freizeit verlassen wird und Aktivitäten im Schulstadtteil stattfinden. Auf Grundlage dieser empirischen Erkenntnisse lässt sich ein zweites Hypothesenset formulieren (s. Tab. 2.2)

Tabelle 2.2 Hypothesen zur Bedeutung von Stadtstruktur und Mobilität

2.2.3 Quartiere, Aktivitätsräume und Freundeskreise

Die bisher vorgestellten Forschungsarbeiten haben jeweils nur einzelne Aspekte des räumlichen Freizeitverhaltens von Jugendlichen untersucht. Aktivitäten, Orte, Mobilität, Quartiere und Stadtstruktur – der Fokus liegt immer auf einem dieser Themen. Entsprechend groß ist die empirische Tiefe bei der Untersuchung dieser einzelnen Bereiche. Aus der Nachbarschaftseffekt- und Aktionsraumforschung gibt es eine Reihe von Studien, die den Einfluss dieser Themen auf das räumliche Verhalten von Personen systematisch vergleichen. Dabei zeigt sich, das neben den genannten Faktoren auch die soziale Zusammensetzung eines Quartiers und die räumliche Ausrichtung der sozialen Kontakte relevant sind. In der Zusammenschau aller bisher rezipierten empirischen Befunde lassen sich die verschiedenen Einflussfaktoren auf jugendliche Aktivitätsräume dann systematisieren.

Räumliche Ausrichtung der sozialen Kontakte

In der Nachbarschaftseffektforschung gibt es unzählige Studien zum Einfluss der sozialen Zusammensetzung des Wohnquartiers auf das Verhalten der Bewohner*innen. Dies ist der Hauptfokus dieses Forschungsfeldes. Nur wenige untersuchen dabei auch die Ausrichtung der Aktivitäten und sozialen Kontakte der untersuchten Personen. Zwei Studien aus dem deutschen Forschungskontext, die diesen beiden Zusammenhänge in ihrem Forschungsdesign einbeziehen, sollen im Folgenden rekapituliert werden.

Für die Studie „Leben in benachteiligten Wohngebieten“ von Jürgen Friedrichs und Jörg Blasius (Friedrichs und Blasius 2000) wurden 1996 und 1997 in vier Kölner Quartieren mit einem hohen Anteil an armer Bevölkerung über 700 Personen mithilfe eines standardisierten Fragebogens persönlich befragt, auch Zeitbudgets kamen zum Einsatz. Alle vier Gebiete sind im Vergleich zum städtischen Durchschnitt als eher benachteiligte Quartier zu bezeichnen, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Entlang der ordinalen Einteilung der vier Gebiete nach dem Ausmaß der Armut wurden dann die Analysen durchgeführt. Mit Blick auf die Fragestellung dieser Arbeit zentrale Erkenntnisse der Untersuchung sind, dass die Bewohner*innen von ärmeren Quartieren überdurchschnittlich viel Zeit im eigenen Quartier verbringen. Dies gilt zugleich aber auch für ärmere Personen.Footnote 43 Hier scheint es also sowohl einen Quartiers- wie Individualeffekt zu geben. Gleiches gilt für die Netzwerke, welche kleiner sind in den ärmeren Quartieren, aber zugleich auch von der Schulbildung und dem Alter der Personen abhängen. Zudem sind die Netzwerke der befragten türkischen Personen im Vergleich zu denen der deutschen kleiner.

Keine eindeutige Aussage kann darüber getroffen werden, ob die Netzwerke ärmerer Personen und Bewohner*innen ärmerer Nachbarschaften auch eher auf das eigene Quartier bezogen sind (vgl. Friedrichs und Blasius 2000: Abschn. 10.3). Erstaunlich ist, dass mit Blick auf das am stärksten benachteiligte Quartier (Kölnberg) neben dem Einfluss der sozialen Zusammensetzung der Bewohnerschaft nicht auch die Lage als mögliche Effektursache diskutiert wird. Im Unterschied zu den drei anderen untersuchten Gebieten (Bilderstöckchen, Kalk-Süd und Kalk-Nord), die alle mehr oder weniger innenstadtnah, gut an das ÖPNV-Netz angeschlossen und unmittelbar mit den Nachbarstadtteilen verknüpft sind, ist Kölnberg eine Großwohnsiedlung im ansonsten von Einfamilienhäusern und Agrarflächen geprägten Stadtteil Meschenich. Dieser liegt am Stadtrand, ist umgeben von Feldern und nur per Bus mit dem Rest der Stadt verbunden.

Die Analysen zeigen darüber hinaus, dass eine höhere Exposition dem (eigenen) benachteiligten Quartier gegenüber und ein höherer Anteil an Kontakten im Quartier nicht zu einer höheren Toleranz gegenüber abweichendem Verhalten führt. Hingegen erhöht ein kleines soziales Netzwerk (weniger Kontakte), das Wohnen in den beiden benachteiligteren Quartieren und das Kapitalvolumen (kulturelles und ökonomisches Kapital) die Wahrscheinlichkeit, abweichendes Verhalten zu akzeptieren. Es sind also Individual-, Quartiers- und Netzwerkeffekte zu beobachten. (vgl. Friedrichs und Blasius 2003)

Diese drei Effekte werden mit Bezug zu Jugenddelinquenz auch in einer Studie von Dietrich Oberwittler, für die 1999 ca. 5300 Schüler*innen an 61 Schulen in Freiburg und Köln befragt wurden, untersucht (Oberwittler et al. 2001; Oberwittler 2004). Er kann nachweisen, dass die sozialstrukturelle Zusammensetzung des StadtteilsFootnote 44 einen Effekt auf das delinquente Verhalten insbesondere jener Jugendlichen hat, deren Freundeskreise überwiegend auf den Stadtteil ausgerichtet sind. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass der Kontext einer Nachbarschaft nicht auf alle Bewohner*innen gleichermaßen wirkt. Oberwittler vermutet, dass die „Ausrichtung des Freundesnetzwerkes“ (Oberwittler 2004: 155) der entscheidende vermittelnde Faktor für Quartierseffekte ist: Denn wer weniger Freund*innen im eigenen Wohnquartier hat, verbringt auch weniger Freizeit dort und ist somit dem Kontext des Quartiers weniger ausgesetzt.

Die räumliche Ausrichtung des Freundeskreises wird geprägt durch die Wohndauer im Stadtteil, die Entfernung zur Schule, Schulform, Bildungs- und Berufsstatus der Eltern, Geschlecht und Freizeitstil.Footnote 45 Jugendliche, die bereits länger im Stadtviertel und näher zur Schule wohnen, Hauptschüler*innen aus Elternhäusern mit geringem Bildungs- und Berufsstatus, Jungen mit „‚Action‘-orientierten Freizeitstil“Footnote 46 (Oberwittler 2004: 158) haben eher überwiegend Freund*innen im eigenen Wohnviertel. Keinen Einfluss haben hingegen Alter, ethnische Herkunft oder Arbeitslosigkeit bzw. Sozialhilfebezug der Eltern. Oberwittler fasst dies wie folgt zusammen:

„Der idealtypische Jugendliche, dessen Freundeskreis eher auf das eigene Stadtviertel bezogen ist, ist demnach männlich, Hauptschüler, bevorzugt ‚Action‘-orientierte Freizeitbeschäftigung, wohnt relativ nah zur Schule und ist in den letzten Jahren nicht über die Stadtviertelgrenzen hinaus umgezogen.“ (Oberwittler 2004: 158)

Aktionsraumforschung

Die Forschung zu Aktivitätsräumen verbindet verschiedene Aspekte der vorangegangenen Themenbereiche. Sie befasst sich mit alltäglichen Aktivitäten, Raumnutzung, Quartier und Mobilität in einem kombinierten Konzept. Studien zu allgemeinen Trends in den Aktivitätsraummustern der deutschen Bevölkerung zeigen, dass es seit den 1970er Jahren insgesamt eine Zunahme an Distanzen gibt, die Personen im Rahmen ihrer alltäglichen Aktivitäten zurücklegen. Diese Zunahme fällt in großen Städten jedoch geringer aus als auf dem Land (vgl. Scheiner et al. 2011). Doch nicht nur die räumliche Ausdehnung der Aktivitätsräume hat sich vergrößert, sondern auch die Bandbreite an Aktivitäten im Freizeitverhalten – nicht zuletzt auch durch ein immer ausdifferenzierteres Sportangebot, durch immer neue Trendsportarten. Entsprechend gibt es auch eine hohe Variabilität im Freizeitverhalten der einzelnen Personen. Einerseits sind wiederkehrende Aktivitäten und Orte bestimmend für die Aktivitätsräume und das Freizeitverhalten, andererseits werden aber immer wieder neue Orte aufgesucht. Immer weniger Freizeitaktivitäten finden dabei in Fußläufigkeit des eigenen Zuhauses statt, dies trifft jedoch nach wie vor auf etwa ein Viertel der Aktivitäten zu. Insgesamt hat die Relevanz des Freizeitverhaltens im Alltag zugenommen und dieses ist bestimmt durch soziale Kontakte, die gepflegt werden (vgl. Schlich et al. 2004).

Ältere Studien konstatieren zumindest teilweise Divergenzen in Größe und Ausprägung der Aktivitätsräume zwischen Personen mit unterschiedlichen sozialstrukturellen Merkmalen. So stellen Dangschat et al. (1982)Footnote 47 fest, dass z. B. Personen mit höherem sozialen Status zum „Ausgehen“ weitere Strecken zurücklegen (vgl. Dangschat et al. 1982: 183 f.). Schüler*innen gehen neben Azubis und Berufstätigen mit Pkw den meisten außerhäuslichen Aktivitäten nach und überwinden dabei die größten Distanzen (vgl. Dangschat et al. 1982: 291 f.). Wie bei den Mobilitätsstudien zeigt sich auch hier ein Einfluss von Verkehrsinfrastruktur: Eine gute ÖPNV-Anbindung führt zu häufigeren Besuchen des Stadtzentrums (vgl. Dangschat et al. 1982: 296). Neuere Untersuchungen zeigen, dass es seit den 1970er Jahren zu einer Angleichung von Weghäufigkeiten und -distanzen zwischen Männern und Frauen gekommen ist, wenn auch Männer nach wie vor für alle Aktivitätstypen weitere Distanzen zurücklegen (vgl. Scheiner et al. 2011). Schönfelder und Axhausen (2003) stellen zwar leichte Unterschiede in den Aktivitätsraumgrößen nach Geschlecht, Alter oder sozialem Status in ihren Daten fest, diese erweisen sich aber als nicht signifikant.

Durch die Verfügbarkeit neuer, großer Datensätze mit umfassenden Daten zu den Alltagsroutinen von IndividuenFootnote 48 gibt es in den USA eine Reihe neuerer Forschungen zu Aktivitätsräumen, die sich teilweise mit den Ergebnissen der deutschen Studien decken. So stellen Chen und Akar (2016) fest, dass die Aktivitätsräume von Frauen und jungen Personen zwar kleiner sind, aber es keine signifikanten Unterschiede gibt, wenn nur die nicht-arbeitsbezogenen Aktivitäten betrachtet werden. Deutlich wird jedoch auch, dass Personen mit geringerem Einkommen kleinere Aktivitätsräume haben. Die Quartiersstruktur hat ebenfalls einen Einfluss: Personen, die in gemischten, urbanen, innerstädtischen Gebieten wohnen, haben ebenfalls kleinere Aktivitätsräume (vgl. Chen und Akar 2016; Chen et al. 2017).Footnote 49 Insgesamt sind sozialstrukturelle auf individuelle Merkmale einflussreicher als Gebietsmerkmale (vgl. Chen et al. 2017).

Auf der Ebene der individuellen Merkmale wird der Einfluss des sozialen Status von mehreren Studien belegt. Personen mit einem höheren Status haben im Schnitt einen weiteren Bewegungsradius im Alltag, jene mit einem niedrigeren Status sind eher auf ihre Nachbarschaft fokussiert. Das dies auch für Altersgruppe der Jugendlichen gilt, hat bereits die Mobilitätsstudie „U.Move 2.0“ gezeigt (vgl. Konrad und Wittowsky 2016). Die Unterschiede nach Geschlecht sind hingegen weniger eindeutig. Die Ergebnisse der allgemeinen Aktivitätsraumstudien deuten an, dass Frauen etwas kleinere Bewegungsradien im Alltag haben. Dass dies auch für Mädchen gilt, belegt, wie oben bereits erwähnt, eine Studie der Wüstenrot Stiftung (von Seggern et al. 2009). Die geschlechtlichen Unterschiede sind jedoch nicht sehr markant und die Entwicklung des räumlichen Verhaltens der beiden Geschlechter deutet auf eine weitere Angleichung hin.

Die Aktivitätsraumstudien bestätigen die bereits formulierte Annahme, dass das Wohnquartier ebenfalls einen Einfluss auf das räumliche Verhalten von Personen hat – wenn auch einen etwas geringeren als die individuellen Faktoren. Eine gute Infrastruktur im Quartier und eine zentrale Lage innerhalb der Stadt führen zu kleineren Aktivitätsräumen. Die Studien aus der Nachbarschaftseffektforschung belegen darüber hinaus auch die Relevanz des Quartierstatus: Die Aktivitäten von Bewohner*innen marginalisierter Quartiere sind eher aufs eigene Quartier bezogen.

Eine besondere Rolle für das räumliche Freizeitverhalten spielt diese räumliche Ausrichtung des Freundeskreises – das zeigen die empirischen Untersuchungen ebenfalls. Wohnen die Freund*innen überwiegend im eigenen Stadtteil, sind auch die Freizeitaktivitäten auf diesen ausgerichtet. Umgekehrt können soziale Kontakte in andere Stadtteile dazu führen, dass auch Aktivitäten dort stattfinden. Die räumliche Ausrichtung des Freundeskreises ist also ein bestimmender Faktor für die Aktivitätsräume von Jugendlichen. Zugleich wird die Ausrichtung der Freundeskreise durch dieselben Faktoren wie die Aktivitätsräume geprägt. Jugendliche deren Schule im eigenen Stadtteil liegt, die aus Familien mit niedrigem sozialem Status stammen und die eine Hauptschule besuchen, haben eher auf den eigenen Stadtteil ausgerichtete Freundeskreise. Das Gleiche gilt für Jungen im Vergleich zu Mädchen. Hier verkehrt sich der Einfluss des Geschlechts: Bei den Aktivitäten haben die Mädchen eher kleinere Radien. Als weiterer Einfluss kommt noch die Wohndauer im Quartier hinzu: Eine lange Wohndauer in einem Quartier führt auch zur zunehmenden Konzentration der sozialen Kontakte auf das Wohnquartier. Für den Einfluss verschiedener Faktoren auf die räumliche Ausrichtung der Freizeitaktivitäten lässt sich ein weiteres Set von Hypothesen formulieren (s. Tab. 2.3).

Tabelle 2.3 Hypothesen zu Aktivitätsräumen von Jugendlichen

2.2.4 Segregation von Alltagsräumen

Eine Reihe von individuellen wie stadt- und quartiersbezogenen Merkmale erweisen sich also als bestimmend für die Ausprägung von Aktivitätsräumen. Besonders gut belegt ist der Einfluss des sozialen Status. Daneben gibt es auch Belege für die Relevanz des Status der Wohnquartiere, also die soziale Zusammensetzung der Bewohnerschaft und die damit einhergehende Kategorisierung als mehr oder weniger bzw. gar nicht marginalisiert. Wobei es zwischen dem sozialen Status und dem Quartierstatus in vielen Städten einen starken Zusammenhang gibt. Personen mit niedrigem sozialem Status wohnen häufiger in benachteiligten Quartieren als Personen mit mittlerem oder hohem Status. Die Folge ist eine residentielle soziale Segregation in vielen Städten (vgl. Alisch 2018; Farwick 2012; Helbig und Jähnen 2018).

Es gibt also einen deutlichen Zusammenhang zwischen sozialem Status und Quartierstatus sowie zugleich einen Zusammenhang zwischen sozialem Status bzw. Quartierstatus und Aktivitätsräumen. Daher stellt sich die Frage, ob sich die residentielle Segregation auch in einer aktivitätsräumlichen Segregation fortsetzt. Dieser Frage widmen sich zwei Studien, welche die konkreten sozialräumlichen Kontexte, in denen die alltäglichen Aktivitäten stattfinden, untersuchen. Auch eine umfassende Studie zu den Aktivitätsräumen von Jugendlichen gibt darüber Auskunft.

Jones und Pebley (2014) können in ihren Analysen zeigen, dass die Räume der täglichen Aktivitäten in ihrer sozialen Zusammensetzung zwar heterogener sind als die Wohnquartiere der untersuchten Personen. Insgesamt zeigt sich aber ein deutlicher Zusammenhang zwischen den individuellen sozialstrukturellen Merkmalen, der sozialen Zusammensetzung der Wohnquartiere und den Aktivitätsräumen. Die Segregation nach ethnischen und sozialen Gruppenzugehörigkeiten erstreckt sich also über das Wohnquartier hinaus und betrifft auch die alltäglichen Aktivitäten und Kontexte. Zu dem gleichen Ergebnis kommen Krivo et al. (2013) in ihren Auswertungen und unterstreichen, dass der Zusammenhang zwischen den sozialräumlichen Kontexten des Wohnquartiers und der täglichen Aktivitäten für alle untersuchten sozialen und ethnischen Gruppen gilt: Personen aus marginalisierten Wohnquartieren verbringen mehr Aktivitäten in marginalisierten Quartieren und Personen aus privilegierten Quartieren verbringen mehr Aktivitäten in privilegierten Quartieren. Diese Zusammenhänge schwächen sich aber ab, desto größer die Distanzen sind, die im Alltag zurückgelegt werden. Größere Aktivitätsräume erhöhen also auch ihre sozialräumliche Heterogenität. Insgesamt belegen diese Studien, dass es neben einer residentiellen auch eine aktivitätsräumliche Segregation gibt und beide Segregationsformen zusammenhängen. Nicht nur die Wohnorte von Bevölkerungsgruppen sind ungleich verteilt und konzentriert auf bestimmte Stadtgebiet, sondern auch ihre alltäglichen Aktivitäten.Footnote 50

Eine Untersuchung, die sich explizit mit Aktivitätsräumen von Jugendlichen beschäftigt, hat Jörg Plöger (2012) für das Ruhrgebiet vorgelegt. Mehr als 500 Jugendliche im 9. und 10. Jahrgang (14–18 Jahre alt) an neun verschiedenen Schulen nahmen an der Studie teil. Neben einer quantitativen Befragung und Gruppendiskussionen kamen dabei auch drei Methoden zur Erfassung des sozialräumlichen Verhaltens der Jugendlichen zum Einsatz: Nadelmethode, Erhebung von Zeitbudgets und mental mapping.Footnote 51 Die Ergebnisse weisen in eine ähnliche Richtung wie die Aktivitätsraumstudien zur Gesamtbevölkerung und die Forschungen zu Freizeit- und Mobilitätsverhalten von Jugendlichen. Die Unterschiede in der Ausdehnung der Aktivitätsräume zwischen den Geschlechtern ist nur gering, aber hinsichtlich der konkreten Freizeitaktivitäten und -orte ergeben sich erhebliche Differenzen. So sind Mädchen in ihrer Freizeit deutlich familienorientierter, auch weil sie mehr in familiäre Verpflichtungen eingebunden sind als Jungen, und verbringen ihre Freizeit häufiger gesellig beim Treffen mit Freund*innen als mit Sport. Es ergeben sich auch eher wenig Differenzen zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund.Footnote 52

Die markantesten Unterschiede zeigen sich zwischen den verschiedenen Statusgruppen. Die Freizeitaktivitäten der Jugendlichen mit hohem sozialen Status sind sehr viel stärker strukturiert als die jener mit mittlerem und niedrigem Status und sie verbringen zudem ihre Freizeit kaum „im Freien“. Den geringsten Anteil an strukturierten und insgesamt am wenigsten Freizeitaktivitäten haben die Jugendlichen mit niedrigem Sozialstatus, was unter anderem auch durch ihre seltene Mitgliedschaft in Vereinen bedingt ist. Auch diese Ergebnisse decken sich mit denen der weiter oben zitierten Studien zu jugendlichem Freizeitverhalten (vgl. Plöger 2012: Abschn. 4.2 und 4.3). Der Zugang zu einem Pkw (im Haushalt), einem Fahrrad oder einer ÖPNV-Monatskarte steigt mit dem sozialen Status. Insgesamt sind die untersuchten Jugendlichen meist multimodal mobil. Eine Analyse der von den Jugendlichen gezeichneten mental maps ihrer Lebenswelten zeigt, dass der Anteil an Befragten mit „großräumigen Aktionsradius“ in allen drei Statusgruppen ähnlich groß ist, aber der Anteil mit „kleinräumigem Aktionsradius“ sehr viel häufiger bei den Jugendlichen mit niedrigem sozialen Status zu finden ist (vgl. Plöger 2012: Abschn. 4.4).

Insgesamt lässt sich also festhalten, dass statusniedrigere Jugendliche häufiger familiäre Verpflichtungen haben, ihre Freizeit ist weniger strukturiert und sie verbringen sie häufiger im Freien und in einem geringeren Radius um das eigene Zuhause. Umgekehrt ist die Freizeit der Befragten mit hohem Sozialstatus eher strukturiert und von vielfältigen Aktivitäten im ganzen Stadtraum geprägt. Dies trifft auch eher auf die Jugendlichen mit mittlerem Status zu. Diese unterschiedlichen Freizeitgestaltungen scheinen aber nicht primär durch einen unterschiedlich guten Zugang zu Verkehrsmitteln bedingt zu sein, da die Jugendlichen aller Schichten angeben, sich in ihrer Mobilität nur wenig eingeschränkt zu fühlen. So konstatiert auch Plöger eine soziale Segregation, die über die Nachbarschaft hinausgeht:

„Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die Freizeitgestaltung und die Aktionsräume der befragten Jugendlichen zum Teil stark variieren. Sie gehen in ihrer Freizeit oftmals unterschiedlichen Aktivitäten an unterschiedlichen Orten nach. Bestehende lebensweltliche Ungleichheiten werden dadurch noch verstärkt. Die Segregation der Jugendlichen in unterschiedlichen Wohnquartieren und Schulen setzt sich in der Freizeit fort.“ (Plöger 2012: 108)

Insgesamt zeigen die Studien, dass die räumlichen Kontexte der täglichen Aktivitäten von Personen in ihrer sozialen Zusammensetzung heterogener sind als ihre Wohnquartiere. Zugleich gibt es jedoch einen deutlichen Zusammenhang zwischen Aktivitätsräumen und Wohnquartieren, sich also die residentielle Segregation auch in einer aktivitätsräumlichen widerspiegelt. Übertragen auf das Freizeitverhalten von Jugendlichen bedeutet dies: Jugendliche aus benachteiligten Quartieren verbringen einen überwiegenden Teil ihrer Freizeit in benachteiligten Quartieren. Ein größerer Aktivitätsraum schwächt diesen Zusammenhang ab, denn größere Aktivitätsräume erhöhen die Chance, in sozial anders strukturierte Quartiere zu gelangen. Die Hypothesen zu diesem Forschungsbereich sind in Tab. 2.4 zusammengefasst.

Tabelle 2.4 Hypothesen zur aktivitätsräumlichen Segregation

Die Studie von Plöger verdeutlicht auch noch mal, dass sich die Differenzen in den Lebenswelten von Jugendlichen verschiedener sozialer Schichten nicht nur auf die Räume bezieht. Auch ihre Freizeitstile und die Orte, die sie in ihrer Freizeit nutzen, unterscheiden sich – wie bereits in den Hypothesen zum Freizeitverhalten von Jugendlichen zusammengefasst: Statushohe Jugendliche haben eher eine strukturiertere Freizeit, statusniedrigere eher eine unstrukturierte. Auch die geschlechtlichen Unterschiede werden hier noch einmal bestätigt: Jungen treiben häufiger Sport, Mädchen sind geselliger. Zugleich findet auch diese empirische Untersuchung keine markanten Unterschiede in den Aktivitätsradien.

2.3 Explorative Vorerhebungen – Jugendliche in Kassel

Anhand von zwei explorativen Vorerhebungen im Rahmen von Lehrprojekten in Kassel wurden die herausgearbeiteten Hypothesen einer ersten empirischen Prüfung unterzogen. Im Mittelpunkt des ersten Forschungsprojektes stand die Hypothese, dass Jugendliche in marginalisierten Quartieren kleinere und eher auf die eigene Nachbarschaft ausgerichtete Aktivitätsräume haben. Das zweite Projekt fokussierte die Hypothese, dass die Wohnlage prägend ist in diesem Zusammenhang und zentral wohnenden Jugendliche kürzere Wege in ihrem Alltag zurücklegen als jene am Stadtrand. Zugleich konnte eine methodische Herangehensweise zur Erforschung des räumlichen Freizeitverhaltens von Jugendlichen erprobt werden. Dafür wurde für beide Forschungen eine modifizierte Version der Nadelmethode genutzt. Beide Erhebungen fanden an der Universität Kassel statt.Footnote 53

Für die erste explorative Vorerhebung wurden Jugendliche in den beiden Kasseler Stadtteilen Kirchditmold und Rothenditmold untersucht.Footnote 54 Ziel war es mögliche Unterschiede in der Freizeitgestaltung und den Aktivitätsräumen von Jugendlichen in privilegierten und in marginalisierten Quartieren herauszuarbeiten und der Frage nachzugehen, ob Zusammenhänge zwischen Aktivitätsräumen und den Rollenvorbildern sowie Zukunftszielen der Jugendlichen bestehen. Dazu wurden Jugendliche gebeten mithilfe der Nadelmethode ihre Wohn-, Schul- und Freizeitorten auf Stadtplänen zu lokalisieren. Des Weiteren wurden Leitfadeninterviews zu Freizeitaktivitäten und Zukunftszielen durchgeführt.

Im privilegierten und zugleich periphereren Stadtteil Kirchditmold konnten die Orte von 29 Jugendlichen mit der Nadelmethode erfasst und soziodemografische Daten abgefragt werden. Mit acht Jugendlichen wurden Leitfadeninterviews durchgeführt. In Rothenditmold, ein marginalisierter und sehr zentraler Stadtteil Kassels, konnten die Orte von 30 Jugendliche mit der Nadelmethode erfasst werden; mit zwölf Personen wurden Leitfadeninterviews durchgeführt. Der Kontakt zu den Jugendlichen wurde über Jugendfreizeiteinrichtungen, eine Schule und auf der Straße hergestellt.

Die Auswertung der Freizeitaktivitäten, soziodemografische Daten und Leitfadeninterviews zeigen, dass in dem vornehmlich von Mittelschichtshaushalten bewohnten Kirchditmold die Befragten fast ausschließlich Gymnasiast*innen sind. Ihre Freizeit ist zu einem großen Teil von strukturierten Aktivitäten geprägt. Ihre Zukunftsziele sind recht offen und gehen über den Stadtteil und Kassel hinaus, sie haben keine konkreten Vorbilder. Die Jugendlichen aus dem eher durch Armut geprägten Rothenditmold sind Real- und Hauptschüler*innen. Sie gehen überwiegend unstrukturierten Beschäftigungen in ihrer Freizeit nach und haben meist schon recht konkrete Vorstellungen für ihre berufliche und private Zukunft, die meist auch den Verbleib im Stadtteil beinhalten. Ihre Vorbilder stammen meist aus ihrem näherem Umfeld, nicht selten aus der Familie.

Die kartografische Auswertung der genadelten Orte zeigt deutliche Unterschiede zwischen den beiden Stadtteilen: Die markierten Orte der Kirchditmolder Jugendlichen liegen nicht nur im eigenen Stadtteil, sondern darüber hinaus auch in den umliegenden Nachbarschaften und im Stadtzentrum. Die Wohn-, Schul- und Freizeitorte der Jugendlichen aus Rothenditmold hingegen liegen fast ausschließlich innerhalb der Grenzen ihres Stadtteils, nur einige wenige Freizeitorte befinden sich im Stadtzentrum. Als mögliche Gründe wurden die oben dargestellten Zusammenhänge zwischen sozialem Status, strukturierten bzw. unstrukturierten Freizeitaktivitäten und räumlichen Verhalten angenommen: Unstrukturierte Aktivitäten können meist im unmittelbaren Wohnumfeld stattfinden, für strukturierte Aktivitäten müssen häufig weitere Wege zurückgelegt werden.

Ebenso bedeutsam sind möglicherweise auch eine unterschiedliche Ausstattung mit Jugendinfrastruktur und eine unterschiedlich gute Anbindung ans ÖPNV-Netz der beiden Stadtteile. Obwohl Kirchditmold weiter entfernt liegt vom Stadtzentrum als Rothenditmold, ist es über Bus- und Tram-Linien besser mit anderen Teilen der Stadt und dem Stadtzentrum verbunden. Hinzu kommen physische Barrieren, wie der Bahndamm und großflächige Industriegebiete, welche Rothenditmold an mehreren Seiten vom Rest der Stadt abschneiden. Auch besitzt Rothenditmold ein offenes Jugendzentrum und eine Skate-Halle, während sich in Kirchditmold keine offenen Jugendeinrichtungen befinden.

Auch im zweiten explorativen Forschungsprojekt wurden die Aktivitätsräume und Zukunftsziele von Jugendlichen in Kassel untersucht.Footnote 55 Im Gegensatz zum Projekt aus dem Wintersemester 2014/15 sollte aber nicht die soziale Zusammensetzung des Stadtteils, sondern seine Lage in den Fokus genommen werden. Daher wurden für die vergleichende Untersuchung zwei eher benachteiligte Gebiete ausgesucht: Wesertor als zentraler und Waldau als peripherer Stadtteil. Zudem sollte nun auch die Rolle von Freundeskreisen in den Blick genommen werden. Als Instrumente kamen erneut die Nadelmethode und ein dazugehöriger Fragebogen zu soziodemografischen Daten sowie Leitfadeninterviews zum Einsatz. Die Studierenden konnten in beiden Stadtteilen die Wohn-, Schul- und Freizeitorte sowie die Wohnorte der Freund*innen von jeweils 25 Jugendlichen erfassen und mit acht (Waldau) bzw. zehn (Wesertor) Personen Interviews durchführen.

Die befragten Jugendlichen aus dem Wesertor verbringen ihre Freizeit nicht ausschließlich in ihrem Stadtteil, sondern nutzen auch umliegende und weiter entfernte Stadtgebiete. Ähnlich verhält es sich mit ihren Freund*innen, die übers ganze Stadtgebiet verteilt wohnen. Markante Unterschiede nach sozialem Status scheint es nicht zu geben. Erklärt werden kann diese Verteilung aus Lage, Anbindung und Infrastruktur des Stadtteils: Im Gegensatz zu Rothenditmold ist Wesertor ein marginalisierter und zugleich zentraler Stadtteil, der nicht durch Barrieren von angrenzenden Gebieten abgeschnitten ist und sehr gut an das ÖPNV-Netz angeschlossen ist. Es gibt im Stadtteil zwar eine Halle mit offenen Sportangeboten, ein Jugendzentrum und weitere Freizeitangebote für Jugendliche fehlen jedoch. Dies wird sowohl von den befragten Jugendlichen aus dem Stadtteil als auch von einem Kinder- und Jugendbeauftragten der Stadt Kassel, mit dem ein Experteninterview geführt wurde, bemängelt.

In Waldau unterscheiden sich die Aktivitätsräume der befragten Jugendlichen nach sozialem Status: Während die Jugendlichen mit niedrigem sozialen Status ihre Freizeit fast ausschließlich im Stadtteil verbringen, gehen jene mit mittlerem sozialen Status ihren Aktivitäten überwiegend außerhalb des Stadtteils nach. Eine Ursache für diese Unterschiede könnte darin liegen, dass die Jugendlichen mit mittlerem sozialem Status häufiger ein Schülerticket für den ÖPNV haben und ein größerer Anteil ihrer Freund*innen außerhalb Waldaus wohnt.

Insgesamt bestätigen die beiden explorativen Voruntersuchungen die Gültigkeit der ausgewählten Hypothesen für Kasseler Jugendliche. Zum einen erweisen sich Merkmale der Wohnquartiere, wie Lage, Anbindung und Ausstattung als einflussreich in Bezug auf jugendliche Aktivitätsräume, zum anderen auch der soziale Status und durch ihn bedingte unterschiedliche Freizeitstile. Zentral wohnende Jugendliche mit niedrigem sozialen Status verbringen eher ihre Freizeit im eigenen Stadtteil. Dies gilt vor allem in einem Stadtteil wie Rothenditmold mit einer guten jugendbezogenen Infrastruktur und zugleich schlechter Anbindung an den Rest der Stadt. Peripher wohnende Jugendliche unterscheiden sich in ihrem räumlichen Verhalten nach ihrem sozialen Status: Während Jugendliche aus Waldau mit niedrigem Status in ihrer Freizeit eher in ihrem Stadtteil verbleiben, suchen Jugendliche mit höherem Status auch andere Teile der Stadt auf und haben daher auch größere Aktivitätsräume. Da letztere häufiger ein Schülerticket besitzen und ihre Freundeskreise nicht auf den eigenen Stadtteil beschränkt ist, erscheinen diese beiden Variablen als vermittelnde Faktoren. Interessant ist auch, dass für die Jugendlichen aus allen vier untersuchten Stadtteilen die Einkaufszentren des Stadtzentrums wichtige Freizeitorte darstellen. Dies unterstreicht, wie wichtig dieser Raumtyp für das jugendliche Freizeitverhalten unabhängig vom Wohnquartier und vom sozialen Status ist. In Kassel sind die drei großen, attraktiven Shoppingmalls im Stadtzentrum ein Anreiz für Jugendliche aus allen Teilen der Stadt, die Innenstadt aufzusuchen.

2.4 Zwischenfazit

Ausgehend vom Begriff der Sozialisation wurde in diesem Kapitel die Relevanz von Stadtraum für das Aufwachsen von Jugendlichen diskutiert. Neben der Familie und der Schule sind die Freizeitaktivitäten und die Freundeskreise wichtige Kontexte der Sozialisation. Um Freund*innen zu treffen oder Hobbys nachzugehen, bewegen sich Jugendliche zunehmend selbstständig durch die Stadt. Durch das eigenständige Navigieren durch den städtischen Raum zwischen Zuhause, Schule und Freizeitaktivitäten wird Selbstständigkeit gefördert. Die konkreten Aktivitäten, Orte und Personen der Freizeit bilden die selbstgewählte Umwelt, mit der sich Jugendliche im Rahmen ihrer Sozialisation auseinandersetzen. Um anerkannte und handlungsfähige Mitglieder unserer Gesellschaft zu werden, müssen Jugendliche einerseits gesellschaftliche Normen und Handlungsmuster erlernen und andererseits eine eigenständige Identität entwickeln. Für beide Entwicklungsaufgaben bieten insbesondere die öffentlichen und halböffentlichen Räume der Stadt einen wichtigen Rahmen. In Interaktion mit Erwachsenen und anderen Jugendlichen kann hier normhaftes Verhalten erprobt werden, Abgrenzung und Selbstinszenierung können gleichzeitig auch die Identitätsentwicklung fördern.

In der Forschung wird dabei das Hauptaugenmerk meist auf das Quartier gelegt. Es wird häufig davon ausgegangen, dass zumindest jüngere Jugendliche ihre Freizeit außer Haus größtenteils in der Nachbarschaft verbringen und somit dem Kontext des Quartiers in besonderem Maße ausgesetzt sind. Dies erklärt auch den Fokus der Quartierseffektforschung auf Jugendliche. Diese untersucht den Einfluss von Merkmalen der Wohnquartiere auf Verhalten, Lebenslagen und -chancen ihrer Bewohner*innen. Obwohl dieser Forschungsstrang in der Stadtforschung schon seit einigen Jahrzehnten besteht und unzählige Studien in dem Bereich erschienen sind, ist die Ergebnislage in vielen Bereichen nicht eindeutig oder sogar widersprüchlich – dies betrifft vor allem die symbolischen und physischen Ebenen von Nachbarschaften. Auf der sozialen Ebene jedoch verdichtet sich die Evidenz für die Existenz von Effekten durch eine quartiersspezifische Sozialisation: In marginalisierten Quartieren fehlen positive Rollenvorbilder, die Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen erscheinen als reguläre Existenzgrundlagen und es können sich Subkulturen entwickeln, die sich in ihren Normen von der Gesamtgesellschaft entfernen.

Die Forschungsergebnisse deuten aber auch darauf hin, dass der soziale Kontext einer Nachbarschaft nicht auf alle Bewohner*innen gleichermaßen wirkt. Entscheidend scheint zu sein, ob Aktivitäten und soziale Kontakte hauptsächlich aufs Quartier bezogen sind, also mehr Zeit in diesem räumlichen Kontext verbracht wird. Neuere Forschungen versuchen daher nicht das Wohnquartier pauschal als primären räumlichen Alltagskontext anzunehmen, sondern konkreter die besuchten Orte und genutzten Räume im Alltag von Personen nachzuvollziehen. Solche Ansätze versuchen also die Exposition gegenüber verschiedenen räumlichen und sozialen Kontexten zu analysieren und beziehen sich dabei meist auf das aus der Geografie stammende Konzept der Aktivitätsräume.

Als Aktivitätsräume werden die Räume der alltäglichen Aktivitäten einer Person und die dazwischenliegenden Routen bezeichnet, also die Räume der Stadt, mit denen ein Individuum im Alltag direkten Kontakt hat. Die Größe und räumliche Ausprägung der Aktivitätsräume Jugendlicher – ist der Aktivitätsraum vornehmlich aufs eigene Quartier bezogen, ist er Richtung Stadtzentrum orientiert oder sind die Orte über die ganze Stadt verteilt – hängt von einer Reihe von Variablen ab. Zum einen sind die räumliche Verortung von Wohnort und Schule in der Stadt und in Relation zueinander relevant, ebenso die Ausstattung des Wohnquartiers mit attraktiven Orten für die Freizeitgestaltung und die Entfernung zu entsprechenden Orten außerhalb des Quartiers, vor allem im Stadtzentrum. Damit verbunden ist auch der Freizeitstil: Bestimmte Aktivitäten können nur an speziellen Orten in der Stadt durchgeführt werden (z. B. Reitunterricht), andere können in der Nachbarschaft stattfinden (z. B. Freund*innentreffen). Die Freizeitgestaltung ist wiederum eng verbunden mit Geschlecht und sozialem Status. Darüber hinaus spielt die räumliche Ausrichtung der sozialen Netzwerke eine Rolle, bieten doch soziale Kontakte auch einen Anreiz, andere Teile der Stadt zu besuchen.

Die ausgewählten Forschungsergebnisse zur Freizeitgestaltung und Raumnutzung von Jugendlichen belegen die Bedeutung öffentlicher und halb-öffentlicher Räume, wie Plätze, Parks und insbesondere auch Einkaufszentren, für die jugendliche Freizeitgestaltung. Diese Orte werden vor allem für unstrukturierte Freizeitaktivitäten, wie Chillen oder Freund*innentreffen, genutzt. In der Freizeitgestaltung zeigen sich Unterschiede nach Geschlecht und sozialem Status. Der Anteil an strukturierten Aktivitäten ist bei Jugendlichen mit hohem sozialen Status größer, was auch damit zusammenhängt, dass sie häufiger Freizeitbeschäftigungen aus dem kreativen und sportlichen Bereich nachgehen und diese nicht selten an Vereine bzw. bestimmte Zeiten und Orte gebunden sind. Diese Erkenntnisse werden auch von den Ergebnissen der explorativen Voruntersuchungen in Kassel gestützt. Mit Blick auf die Geschlechter gehen Mädchen eher kreativen und geselligen Beschäftigungen nach, die Jungen hingegen eher sportlichen. Letztere scheinen auch den öffentlichen Raum mehr zu nutzen bzw. dort präsenter zu sein.

Beim Mobilitätsverhalten zeichnen sich Jugendliche im Vergleich zur Gesamtbevölkerung vor allem durch eine erhöhte Mobilität vorwiegend im Freizeitbereich und eine multimodale Verkehrsmittelnutzung aus. Ähnlich wie bei Erwachsenen ist ihr Mobilitätsverhalten dabei vorrangig bestimmt durch die Infrastruktur des Wohngebiets und die Verfügbarkeit und Qualität von Verkehrsmitteln. Auch die Ergebnisse der explorativen Studien deuten darauf hin, dass die Integration der Stadtteile in die Gesamtstadt bedeutsam sind für die Mobilitätsverhalten von Jugendlichen. Unterschiede nach sozialem Status zeigen sich auch bei der Verkehrsmittelnutzung: Gruppen mit höherem ökonomischem wie kulturellem Kapital zeigen sich mobiler, legen also mehr und weitere Strecken zurück. Bedeutsame Unterschiede zwischen den Geschlechtern scheint es den vorliegenden Studien nach bei Jugendlichen hingegen nicht zu geben.

Tabelle 2.5 Zusammenfassung Hypothesen

Der Forschungsstand bestätigt die theoretischen Annahmen, dass die Ausprägung (jugendlicher) Aktivitätsräume vor allem durch die räumliche Verteilung des Freundeskreises und des Freizeitstils geprägt ist: Wohnen die Freund*innen im eigenen Stadtteil und ist die Freizeit überwiegend von unstrukturierten und vor allem geselligen Aktivitäten geprägt, sind die Freizeitbeschäftigungen und somit der Aktivitätsraum vorwiegend aufs eigene Quartier ausgerichtet. Dies bestätigen die Vorerhebungen auch für Jugendliche in Kassel. Auch mit zunehmender Wohndauer sind Kontakte und Aktivitäten vermehrt auf die eigene Nachbarschaft konzentriert. Aber auch die Lage von Wohnort und Schule zueinander und zum Stadtzentrum erscheinen relevant, dies gilt insbesondere, wenn das Wohnquartier peripher lokalisiert ist und eine eher geringe infrastrukturelle Ausstattung hat. Liegt die Schule in einem anderen Teil der Stadt, sind häufiger auch Kontakte und Aktivitäten dort situiert. Liegt der Wohnort am Stadtrand und ist eher schlecht mit Freizeitorten ausgestattet, steigt die Motivation weite Wege in die Innenstadt zurückzulegen, der Aktivitätsraum vergrößert sich entsprechend. Relevant erscheint auch der soziale Status: Personen mit geringerem sozialen Status haben kleinere Aktivitätsräume. Geringere finanzielle Mittel schränken ihre Wohnort- und Verkehrsmittelwahl ein und der Freizeitstil von Jugendlichen mit geringerem sozialem Status ist meist mit Aktivitäten im Quartier verbunden. Die in der Auseinandersetzung mit den empirischen Erkenntnissen entwickelten Hypothesen sind noch einmal in Tabelle 2.5 zusammengefasst.

Diese Arbeit soll an die vorgestellte Forschung zu Aktivitätsräumen und Kontext-Exposition anknüpfen, dabei aber stärker als bisherige Studien, die konkrete Bedeutung von Freizeitstilen, Freundeskreisen und Wohnquartieren in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit voneinander in den Blick nehmen. Internationale Studien konnten nachweisen, dass sich die Wohnsegregation in den Aktivitätsräumen und Freundeskreisen fortsetzt (vgl. z. B. Jones und Pebley 2014; Krivo et al. 2013). Im Zuge der vorliegenden Forschung soll auch dieser Befund für Jugendliche in einer deutschen Großstadt untersucht werden. Jede Großstadt besitzt ihre eigene physische wie soziale Struktur und das räumliche Verhalten ihrer Bewohner*innen findet vor dem Hintergrund dieser Strukturen statt. Daher wird im folgenden Kapitel ausführlich die Struktur des Forschungsortes Berlin dargestellt und analysiert. Die in diesem Kapitel aufgestellten Hypothesen werden mit den dort gewonnen Erkenntnissen aktualisiert und ergänzt.