Im Folgenden werde ich zunächst die Selbstbilder der Positionierung Differenz (s. u. 9.1) darstellen, die sich in Abgrenzung zu anderen Akteur*innen des Feldes der rituellen Begleitung des Todes darstellen und in denen eine rituelle, religiöse oder ökonomische Selbstermächtigung zum Ausdruck kommt. Dann werde ich die Aufgaben dieser Positionierung erläutern, die sich in einer situativen, reflexiven und sensiblen Bedürfnisorientierung niederschlagen (9.2). Im Agency-Unterkapitel (9.3) beschreibe ich die vorherrschende Agencyform dieser Positionierung, die durch eine Handlungsform bestimmt wird, die durch Selbstermächtigung, das Ziel der Fremdermächtigung, Autonomie und Differenz gekennzeichnet ist. Die Deutungsmuster dieser Positionierung (9.4) und ihre Bezüge zu den Deutungsmustern anderer Positionierungen schliessen dieses Kapitel ab. Die Deutungsmuster Bedürfnisorientierung, Freiheit und Unabhängigkeit, Universale Deutungen und Wirksamkeit durch Personalisierung und Anderssein als die Institutionen werden umfassend dargestellt.

9.1 Selbstbild

Ritualleiter*innen im thematischen Feld Differenz positionieren sich flexibel innerhalb und ausserhalb des religiösen Feldes. D. h., dass sie sich in Differenz oder als notwendige Ergänzung präsentieren sowohl zu dezidiert religiösen Akteur*innen wie Pfarrer*innen und zu anderen freien Ritualleiter*innen als auch zu Akteur*innen, die bei der Begleitung der Toten im Bereich der Bestattung und der Verwaltung involviert sind.

Die Ritualleiter*innen betonen in ihren Selbstbildern eine hohe Kundenorientierung, wobei sie sich insbesondere in Konkurrenz zu kirchlichen und institutionellen Angeboten positionieren, auch wenn sie Kooperationen mit diesen anderen Anbieter*innen nicht ausschliessen (s. u. 10 rituelle Flexibilität).

Eine solche Positionierung wird besonders deutlich in den Worten von HBischof.

das interessiert mich alles, aber ich bin nicht explizit äh jetzt vertreter einer kirche aber selbst wenn jemand das möchte, ich biete das, wir bieten das auch auf der homepage an, wir können sogar einen äh einen äh katholiken oder protestantischen seelsorger mit einbeziehen in ein ritual, kein problem kein problem (HBischof, P 53)

Religion wird für GGeiger und HBischof mit Religionszugehörigkeit und –mitgliedschaft gleichgesetzt, wobei aufgrund von Kontext und Sozialisation zumeist das Christentum im Mittelpunkt steht (oft als «Kirche» ausgedrückt). Von dieser Zugehörigkeit grenzen sie sich klar ab:

HB: wir sind beide aus der Kirche ausgetreten

GG: schon lange

(HBischof, GGeiger, P 50)

Es ist klar, dass die Unabhängigkeit von «einer kirche» (P 53) ein wichtiger Bestandteil der eigenen Selbstpositionierung ist (s. o. zum Religionskonzept von GGeiger und HBischof 7.4.4).

Die Differenz im Selbstbild zu anderen Akteur*innen zeigt sich in individuellen Selbstbezeichnungen, in denen eine religiöse oder rituelle Selbstermächtigung akzentuiert wird und die sehr vielseitig sind: Dazu gehören Bezeichnungen wie «ganzheitliche Bestatterin», «Seelsorgerin unterwegs», «Praxis für angewandte Vergänglichkeit», «geistige Leiterin» und «FährFrau», um nur einige zu nennen, die mir im Zuge dieser Untersuchung begegnet sind. In einigen Bezeichnungen liegt der Fokus auf dem Umgang mit Sterblichkeit und Tod, in anderen kommt stärker ein Angebot mit Profilierung von Lebenshilfe und Spiritualität zum Ausdruck. Gemeinsam haben diese Bezeichnungen, dass sie sich nicht sofort und ausdrücklich erschliessen, sondern in vielen Fällen nur andeuten und erahnen lassen, worum es geht. Das erhöht natürlich die Anschlussfähigkeit der Angebote für ein breites Publikum.

Das eigene Selbstverständnis steht in Differenz zu den bestehenden institutionellen Grenzen, wie es z. B. in der Bezeichnung als ganzheitliche Bestatterin zum Ausdruck kommt. Es ist durch den Aspekt der Freiheit und Unabhängigkeit von institutionellen Zwecksetzungen gekennzeichnet. In diesen Selbstbildern geht es neben der religiösen oder rituellen auch um eine ökonomische Selbstermächtigung und/ oder pragmatische Selbstermächtigung, wie es sich z. B. in der Selbstbezeichnung «geistige Unternehmerin» zeigt.

Einige Selbstbilder bringen bewusst die Begründung einer neuen oder wieder zu entdeckenden Tradition zum Ausdruck. Einige beanspruchen für sich entsprechend das Selbstbild einer Pionier*in. Sie betonen, dass sie die ersten in der Schweiz gewesen seien, die in der Begleitung des Todes einen Weg ausserhalb der kirchlichen und staatlichen Arrangements gesucht hätten. Dieses Selbstbild ist besonders ausgeprägt bei PKuster, MSchäublin und UMeier. Sie betonen die damalige und heutige Einzigartigkeit ihrer Angebote und heben auch hervor, dass diese hart erkämpft sei. Eine etwas andere Facette dieses Selbstbildes, mit der aber auch auf die Besonderheit und Einzigartigkeit abgezielt wird, zeigt sich in der Artikulierung einer Alleinstellung: jeder meint ja, er sei der Einzige (UMeier, P 4)

Zu dieser Alleinstellung gehört in einigen Fällen auch, dass die Akteur*innen die Weitergabe ihres Wissens nur ausgewählten Personen zuteilwerden lassen wollen, die ihre Angebote und Inhalte in ähnlicher Art und Weise weitergeben. Gleichzeitig zeigt sich der Wunsch nach Vernetzung und Verteidigung des Angebots. Dabei geht es um den Anspruch einer Erneuerung der rituellen Begleitung des Todes, wobei teilweise die Geschlechtszugehörigkeit eine besondere Rolle spielt: Frauen positionieren sich im Feld des Angebots von Bestattungsritualen in Abgrenzung zu männlichen Bestattern und Pfarrern (im Kontext der katholischen Kirche) als Pionier*innen. Eine solche Abgrenzung und Begründung einer eigenen Tradition findet sich explizit auch bei den Vereinsfrauen. Die Betonung der Einzigartigkeit des Angebots steht in einem Spannungsfeld zu dem Wunsch nach Professionalisierung und dem Versuch einer Institutionalisierung (vgl. 8.5).

Ein Beispiel für die Betonung eines solchen Alleinstellungmerkmals zeigt sich bei PKuster. Bei ihr verbindet sich der Kode "Pionierin-sein" mit der Selbstpräsentation als «ganzheitliche Bestatterin». Die Analyse ihrer Selbstpräsentation kann erhellen, was sie konkret darunter versteht, eine «Pionierin» zu sein. So antwortet sie im Interview auf die Eingangsfrage zum Werdegang als Ritualleiter*in und zu ihren Erlebnissen während dieser Tätigkeit:

i sage, dass isch berufig, min beruf, i bi-i han mich auch ganzheitliche bestatterin genannt vo afang a, und dänn isch das noch keis thema gsi, oder, individuell hüt sind alle bestatter ganzheitlich und individuell (mhm), i kas vo mir sage, i bin die erschte gsi i de schwiz (PKuster, P 2)

ich sage, dass ist berufung, mein beruf, ich habe mich auch ganzheitliche bestatterin genannt von anfang an, und damals war das noch kein thema, oder, individuell heute sind alle bestatter ganzheitlich und individuell (mhm), ich kann es von mir sagen, ich war die erste in der schweiz (PKuster, P 2)

Aus dieser Sequenz geht hervor, dass Beruf und Berufung für die Sprecherin eins sind. Sie fühlt sich ausdrücklich «berufen»: das isch berufig (P 2). Ich habe sie als Ritualleiterin auf ihren Werdegang angesprochen, worauf sie mit dem bedeutungsvollen Verweis auf die «Berufung» geantwortet hat. Berufung hat eine religiöse Semantik. Damit geht die Auffassung der Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns einher. Berufung bedeutet nicht nur das blosse Erlernen und Ausüben einer schon bestehenden Tätigkeit, sondern impliziert eine besondere Eignung für eine Tätigkeit aus einer inneren Überzeugung heraus. Der Berufsweg ist in diesem Sinne schon vorgezeichnet, und man muss ihn nur noch ausführen.

Die Sprecherin fühlt sich berufen für die Tätigkeit als Bestatterin und leitet daraus ihre Art und Weise der Ausführung ab. Sie beansprucht für sich, die erste Bestatterin in der Schweiz gewesen zu sein, die ganzheitlich und individuell gearbeitet hat. Mit der Bezeichnung als «ganzheitliche Bestatterin» führt sie eine neue Positionierung ein, die sie für sich in Anspruch nimmt und auch vehement als ihre eigene vertritt, die sie damit selbst entwickelt hat. hüt sind alle bestatter ganzheitlich und individuell (mhm), i kas vo mir sage, i bin die erschte gsi i de schwiz (PKuster, P 2). Es scheint ihr weniger um das Ausüben eines bestehenden Berufsfeldes zu gehen und vielmehr um die Erschaffung eines neuen Berufsbildes, für das sie den Anspruch erhebt, als erste eine Pionierin in diesem Feld gewesen zu sein.

PKuster legt in ihrer Selbstpositionierung als Bestatterin grossen Wert auf das Attribut «ganzheitlich». Ihre Aufgabe von Bestattung und Ritualleitung beschreibt sie vorrangig in Differenz zu und in Abgrenzung von anderen Anbieter*innen. ich wollts andersch, ich wollts ganzheitlich (PKuster, P 19). Die Positionierung im Feld der Differenz wird also mit einem positiven Wert («ganzheitlich») verknüpft.Footnote 1

Sie konstruiert ihre Positionierung sehr stark aus ihrer Lebensgeschichte heraus. In der Präsentation ihrer Lebensgeschichte bildet ein Berufungserlebnis einen biographischen Wendepunkt, von dem aus sie ihre Bestatterintätigkeit aus konstruiert (s. o. 4.5 und 7.4.3).

Die Selbstpositionierung von PKuster ist sehr stark durch einen selbstgestalteten autonomen Werdegang geprägt. Sie präsentiert sich schon in ihrem Ausbildungsweg in Differenz zu anderen Bestatter*innen:

und ja was wirklich schlimm isch in der beziehig isch, dass es kei anständige usbildig gibt für bestatterinne und bestatter (mhm), an dem han ich sehr glitte, dass ich kei informationen übercho ha, dass ich kei rechte usbildig könne mache, also ich hab mir de weg go müsse selber zusammensuche und wienes neues berufbild gebildet, dann au (ja) mit dem ganzheitliche asatz (ja) und der hat sich eifach so schritt für schritt ergä (mhm) (PKuster, P 6)

und ja was wirklich schlimm in der beziehung ist, dass es keine vernünftige ausbildung gibt für bestatterinnen und bestatter (mhm), daran habe ich sehr gelitten, dass ich keine informationen bekommen habe, dass ich keine richtige ausbildung hab machen können, also ich habe mir den weg selber zusammensuchen müssen und wie ein neues berufsbild gebildet, dann auch (ja) mit dem ganzheitlichen ansatz (ja) und der hat sich einfach so schritt für schritt ergeben (PKuster, P 6)

Die Frage der Möglichkeit der Weitergabe des Wissens lässt sich auch an den Selbstbezeichnungen ablesen. Zu ihrem Selbstbild gehört der weitergehende Anspruch, ein eigenes Berufsbild geschaffen zu haben. Dieses Selbstbild bietet Parallelen zum Selbstbild der Vereinsfrauen. Allerdings spielt bei den Vereinsfrauen im Feld der Differenz der Gender-Aspekt eine viel stärkere Rolle. Die Weitergabe an eine nächste Generation ist ebenfalls an Eignung geknüpft und kann daher nur ausgewählten Personen zuteilwerden (s. o. Selbstbild und mythologisches Weltbild, 7.1, 7.4.3, 7.4.4). MSchäublin und AWyrsch sehen sich als Vertreter*innen einer Pionierphase (P 416) und beschäftigen sich zum Zeitpunkt des Interviews mit der Frage der Weitergabe ihres Wissens an eine neue Generation. Zum späteren Erhebungszeitpunkt des Jahreszeitrituale habe ich dann schon die "Töchter" kennengelernt. Interessant ist hier jedeoch im Hinblick auf Differenz, dass die Vereinsfrauen die Aufgabe des Suchens nach Nachfolger*innen für die Begleitung der Toten, die sie als «Töchter» bezeichnen, der Natur bzw. der Figur der heiligen Verena überantworten (s. o. 7.4.3). So zumindest die Präsentation im Interview von MSchäublin. Sie hätten ihren Wunsch nach Nachfolger*innen zu einem Loch in der Felswand in der Verenaschlucht bei Solothurn gebracht (P 416).Footnote 2

Die Einbettung ihres Selbstbildes in eine mythologische Tradition mit weiblichen Figuren legitimiert auch hier wieder die Differenz zu anderen Akteur*innen. An dieser Stelle lohnt es sich, noch weitere Erhebungsdaten hinzuziehen, um den Kontext zu verstehen: Die VerenaschluchtFootnote 3 wird auch heute noch von einem katholischen Einsiedler bewohnt. Die Anwesenheit der Vereinsfrauen an diesem Ort wird auch beobachtet (so auch während meines Besuches mit den Frauen in der Verenaschlucht im Rahmen des «Seelensingens» am 08.04.21). Es wird also vor diesem Hintergrund noch einmal sehr deutlich, dass sich die Positionierung der Vereinsfrauen sehr stark durch den Anspruch der Zugehörigkeit zu einer anderen Deutungshoheit als einer kirchlich-traditionellen auszeichnet. Gemeinsam ist den Ritualleiter*innen im Rahmen der Positionierung im Feld Differenz die Abgrenzung zur Institution Kirche. Sie positionieren ihre Angebote entsprechend in Differenz und Komplementarität zur Kirche.

Ein anschauliches Beispiel für eine Positionierung aus der Nonkonformität mit der Institution Kirche heraus liefert auch die freie Theologin UMeier:

ich war eh schon immer so der typ wanderpredigerin […] und an meinem glauben hat sich ja nichts geändert, ich war sowieso immer ein freiwild (R:mhm), und eine störpfarrerin und ein bisschen so leicht alternativ, aber die formen der zeremonien (R:mhm), wie soll ich sagen das experimentieren dort, das hat sich dann erst zu ändern begonnen, ich wusste nur ich will es frei machen, aber was ich machen wollte (R:mhm) wusste ich ja nicht, das hat sich ergeben in den gesprächen mit den kunden (UMeier, P 9–15 )

UMeier verdeutlicht in ihrem Selbstbild als «Wanderpredigerin» eine Kontinuität zugleich innerhalb und ausserhalb der Kirche. Im weiteren Verlauf des Interviews wird deutlich, dass sich durch Veränderungen der rituellen Formen auch ihr Glaube verändert hat. Insbesondere die verstärkte Beschäftigung mit Pflanzen und der Natur (mit «germanischen und keltischen Grundformen») hat ihre Ungebundenheit und Nonkonformität (als «Störpfarrerin» und als «Freiwild») noch verstärkt.

UMeier sieht sich in einer Abschiedsfeier als geistliche Leiterin. Im Vergleich zu anderen Ritualleiter*innen ist ihr Anspruch nach Vermittlung von Transzendenz weniger stark ausgeprägt. Das hat damit zu tun, dass sie ein anderes Weltbild vertritt als die Kirche. Andere Ritualleiter*innen bleiben dagegen bei Aussagen zu ihrem Weltbild sehr viel vager. Auch passt sie die Aussagen über ihren Glauben stark an die jeweilige Zielgruppe an, wie aus der Analyse des Interviews hervorgeht und auch durch die teilnehmende Beobachtung eines Abschiedsrituals belegt werden kann (Beobachtungsprotokoll v. 02.02.15, s. o. 4.4). UMeier trennt zwischen dem, was sie sagt und was sie tut und denkt. Diese Trennung zwischen einer privaten religiösen Orientierung und einem in der Abschiedsfeier öffentlich vorgetragenem Deutungsangebot verbindet sie mit der Mehrzahl der Ritualleiter*innen, was damit zusammenhängen mag, dass die Ritualleiter*innen sich in erster Linie als Dienstleister*innen verstehen. UMeier bezeichnet sich denn auch nicht nur als «Geistliche», sondern auch als «Unternehmerin». Es ist dies Selbstbild als professionelle Unternehmer*in, das von ihr eine Trennung zwischen Öffentlich-Beruflichem und Privatem verlangt. Es unterstreicht zugleich ihre Unabhängigkeit.

9.2 Aufgaben

Die Aufgaben dieser Positionierung in Differenz zu anderen Akteur*innen leiten sich aus einer starken Bedürfnisorientierung ab (s. u. 9.4.1). Dabei geht es idealtypisch um die situative, reflexive und sensible Gestaltung der rituellen Begleitung in jedem Fall. Die Akteur*innen fühlen sich niemandem ausser sich selbst und den Kund*innen verpflichtet.

Dabei sehen es die Ritualleiter*innen auch als einen entscheidenden Teil ihrer Aufgabe an, den Kund*innen Hilfe zur Selbsthilfe anbieten. BMeili erzählt im Interview, wie sich ihre Aufgabe als Ritualleiterin den letzten 20 Jahren verändert hat. Sie erläutert, dass sie inzwischen bei der Abschiedsfeier und Beisetzung gar nicht mehr dabei ist, auch nicht mehr als Aussenstehende. Somit sieht sie ihre Aufgabe im Sinne eines Coachings im Umgang mit Ritualen. Das Ritual führen ihre Kund*innen dann meist selbst aus.

M: zu 97 war es so man kam und man hat wie einen auftrag abgegeben gestalten sie für uns, in gedanken es wird dann schon so sein, wie wir das uns wünschen (R: mhm) M: und wir hatten die handlung vollzogen, heute ist es so, dass viele es auch selber tun wollen.

R: mhm das ritual selbst dann?

M: genau dass sie eigentlich jemand brauchen aussenstehend der in der gestaltung (R: ja) ein bisschen kann coachen, fast ein bisschen coachenmässig, dass aber zum beispiel die aschenzerstreuung nicht mehr durch mich erfolgt. in den meisten fällen macht es die ehefrau die witwe, der witwer oder die kinder, oder freundinnen, wenn keine familien da sind. (R: mhm) also das hat sich sehr verändert, und das also letztes jahr war es denn soweit schon, nur noch vorbereitungsgespräche (R: mhm) und gar nicht mehr anwesend (BMeili, P 3–5)

Dass die Aufgabe der Begleitung der Toten und Hinterbliebenen von aussen an einen herangetragen wurde, berichtet auch HBischof. Für ihn stellt dieAnfrage eines Freundes, den Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit Bestattungen und Ritualen dar. Der Freund habe ihm die Asche seiner Mutter in die Schweiz geschickt, und er habe dem Freund geholfen, den in Deutschland bestehenden FriedhofszwangFootnote 4 zu umgehen.

nach drei tagen kam die urne an mit der mutter dieses verstorbenen, und ich hab ihm die urne wieder über die grenze mit nach [Ort in Bayern] rausgenommen, und sie ihm gebracht, und dann konnte er was mutters wunsch war auf einen berg gehen, und dort das ascheritual für sich mit seiner mutter machen (L: mhm) (HBischof, P 7)

Aus der Erzählung geht hervor, dass der Freund die Asche seiner Mutter in die Schweiz überführen liess und der Erzähler die Asche dem Freund dann wieder nach Deutschland brachte. Auf diese (illegale) Weise kann der Freund den Friedhofszwang umgehen und dem Wunsch seiner Mutter nachkommen, ihre Asche auf einem Berg zu verstreuen.

HBischof präsentiert sich als derjenige, der dem Freund zur Selbstermächtigung auch dann verhilft, wenn dies zu einem Gesetzesübertritt führt, so dass dieser dann „das Ascheritual“ durchführen kann. Der Ausdruck «Ascheritual» legt nahe, dass es um mehr geht als das blosse Ausleeren der Urne an einem bestimmen Ort. Das Verstreuen der Asche auf dem Berg wird als Element einer rituellen Handlung verstanden. HBischof ermöglicht es also, dass der Betroffene selbst Agens eines Bestattungsritual werden kann. Die Verwendung des Begriffs «Ascheritual» legt die Lesart nahe, dass sich HBischof und sein Freund über diese Form der Bestattung ausgetauscht haben und ein Wissen über den rituellen Charakter des Verstreuens der Asche besteht. Dieses Erlebnis habe dazu geführt, dass er selbst sich verstärkt mit dem eigenem Tod auseinandergesetzt habe.

PKuster sieht ihre Aufgabe darin, ganzheitlich und individuell zu bestatten. Das bedeutet, dass sie auch professionelle Grenzen überschreitet:

das sind halt immer so grenze, wo ich halt oft überschritte ha zugunste vo de angehörige (mhm) und wo au viele nüd verstange ha, wo das gefühl ha jetzt nimmt die mir min job weg, das wod i mache (PKuster, P 52)

das waren halt immer so grenzen, dich halt oft überschritten habe zugunsten von den angehörigen (mhm) und das haben auch viele nicht verstanden, die das gefühlt hatten, jetzt nimmt die mir meinen job weg, das möchte ich machen (PKuster, P 52)

Die Orientierung an der Hilfe zur Selbsthilfe (an den Bedürfnissen der Verstorbenen und den Trauernden) führt z. B. dazu, die Arbeitsteilung zwischen Bestattung und anschliessendem Ritual in Frage zu stellen und die Angehörigen bei konkreten Aufgaben der Bestattung, Begleitung und Feier direkt miteinzubeziehen. Für die Umsetzung der Orientierung an den wahrgenommenen Bedürfnissen der Angehörigen (zugunste vo de angehörige) werden Konflikte in Kauf genommen und eigene kreative Lösungen eingefordert. Das Argument, die institutionelle Aufgabenverteilung zwischen Bestattung einerseits und ritueller Begleitung andererseits zugunsten der Angehörigen aufzuheben, findet sich so auch bei MSchäublin und AWyrsch und wird auch von anderen Ritualleiter*innen als Argument angeführt.

Die Ritualleiter*innen legitimieren ihre Aufgabe der individuellen rituellen Begleitung des Todes aufgrund negativer eigener Erfahrungen, die gezeigt haben, dass die Bedürfnisse der Angehörigen nicht genügend miteinbezogen wurden und/oder der Umgang mit dem Tod tabuisiert wurde.

Der Tod eines nahen Angehörigen und die Erfahrung, das Ritual selbst nicht mitgestalten zu können, führte bei HBürgi zu ihrer Entscheidung, freie Ritualleiterin zu werden.

während mim theologiestudium isch mini mutter verstorbe, und wie das damals abgloffe isch so i de katolische chile im sinn vo sehr ohnmächtig, nit dürfe mitbestimme obwohl i theologi theologie studiert ha (R: mhm), scho fascht am endi das hat mi sehr gschockt.(R: Ja) und das isch dann eigentli eini vo de uuschlags gsi, dass jetzt eifach frei also seubscht freischaffend aazbiete eifach für mönsche, wo nit es chlassisch chirchlich religiöse möchtet (R: mhm) das isch de hauptgrund gsi (HBürgi, P 3)

während meines theologiestudiums ist meine mutter verstorben, und wie das damals abgelaufen ist, so in der katholischen kirche im sinn von sehr ohnmächtig, nichts mitbestimmen dürfen, obwohl ich theoligie theologie studiert habe (R: mhm), ich war schon fast zu ende, das hat mich sehr geschockt (R: ja) und das war dann eigentlich einer von den ausschlaggebenden punkten, dass jetzt einfacg frei also selbst freischaffend anzubieten einfach für menschen, die nicht das klassisch kirchlich religiöse möchten (R: mhm) das war der hauptgrund (HBürgi, P 3)

Sie sieht ihre Aufgabe eindeutig darin, Angebote für Menschen zu machen, die kein klassisch kirchliches Ritual wünschen.

Die Aufgabe der Gestaltung der Abschiedsfeier wird von den Ritualleiter*innen der Positionierung im thematischen Feld der Differenz mit ähnlichen Mitteln wie in traditionellen Bestattungsfeiern gesetzt. Sie setzten die Mittel aber anders ein, sodass die Menschen sich mehr angesprochen fühlen würden. Die Aufgabe als Ritualleiterin wird von MSchäublin und AWyrsch durch einen gezielten Einsatz von Stille und Worten während der Bestattungsfeier gesehen. Sie präsentieren darin eine Differenz zu anderen Bestattungsritualen:

ganz oft ist sie ja für viele ist stille ja eigentlich mund zu und atem anhalten bis es vorüber ist, ja ((lachend)) und die die diese belebte diese gelebte stille, die ist, die zu kreieren ist unsere aufgabe als ritualleiterin respektiv als totenrednerin oder, also da da gehts darum die richtigen worte zu setzen, damit die menschen wirklich bei sich selbst ankommen (MSchäublin, P87)

Damit die Menschen wirklich bei sich selbst ankommen, sehen es MSchäublin und AWyrsch als ihre Aufgabe in ihrer Funktion als Ritualleiter*innen an, dass sie eine «gelebte Stille kreieren». Im Zitat kommt zum Ausdruck, dass eine «gelebte Stille» in einer Differenz zu einer für die Anwesenden unangenehmen Stille gesehen wird (s. o. zum Konzept «gelebter Stille» 8.4.2). Dass «gelebte Stille» aber nicht ohne vorher gesprochene Worte (während der Feier) auskommt, zeigt sich in der Erläuterung der Umsetzung dieser Aufgabe (da gehts darum die richtigen worte zu setzen). Daraus geht hervor, dass es ihrer Meinung nach eben auch vorkommt, dass in Bestattungsritualen «falsche Worte» ausgesprochen werden, was dann dazu führt, dass die Menschen unbeteiligt sind und die Stille auch nicht ausfüllen können. Das wäre dann das Gegenteil von bei sich selbst ankommen.

9.3 Agency

Die Agencyform dieser Positionierung ist individuell. Die Handlungsmacht entfaltet sich also durch die Agency der einzelnen Individuen. Die Ritualleiterin MItten bringt die Agencyform dieser Positionierung auf den Punkt.

weil ich nicht mehr im kirchlichen dienst bin viel freier, ich kann wirklich auf die bedürfnisse eingehen solange sie auch in meinem sinn sind (MItten, P 11)

also dass sie ganz frei sind (MItten, P 23)

So wie es diese Aussage zusammenfasst, sehen sich die Ritualleitenden in ihrem idealen Selbstbild als «frei». Gleichzeitig sprechen sie diese Freiheit auch den Kund*innen zu. Die beiden kurzen Hauptsätze geben zwei Möglichkeiten vor: Die Ritualleiterin und die Kund*innen stehen auf einer Stufe. Daraus, dass die Ritualleiterin frei ist und institutionell ungebunden, ergibt sich auch, dass die Kund*innen frei sind.

Im Feld der Differenz besteht die vorherrschende Agencyform darin, sich selbst und andere darin zu ermächtigen, eigenständig über die jeweils passende Form der Bestattung und der rituellen Begleitung zu entscheiden und diese dann auch aktiv auszuführen. Selbst- und Fremdermächtigung umfassen jegliche Form des Aktiv-seins und des intentionalen eigenmächtigen Handelns. Zur Fremdermächtigung gehört z. B. die Erzählung von HBischof, die davon handelt, wie die Ritualleiter*innen dazu beigetragen haben, die Angehörigen selbst zu ermächtigen («Fremd»ermächtigung): HBischof verhilft einem Freund zur Umgehung des Friedhofszwangs (s. o. 9.2).

Sprachlich drückt sich die Agency dieser Positionierung in Formen des Handelns aus, die aus innerster Überzeugung kommen und sich deshalb, auch gegen Konventionen und Regeln wenden können. Die Ritualleiter*innen, die auch bestatterische Tätigkeiten anbieten, wenden sich dagegen, dass die Sterbenden und die Verstorbenen in den Institutionen der Medizin, Pflege und Bestattung als passiv-(er)leidende Objekte gesehen werden. Beide Fälle, BKuster und MSchäublin, haben gemeinsam, dass sie ihr Handeln als alternativlos darstellen.

Der institutionell legitimierten Praxis stellt MSchäublin explizit die Selbstermächtigigung der Gruppe gegenüber: wir haben einfach das gemacht, was wir, wo wir uns fähig, befähigt fühlten (MSchäublin, P 32). Etwas zu tun, das sich die Beteiligten zutrauen, reicht für diese Agencyform aus. Es benötigt keine externe Legitimitation für das eigene Handeln. Ein ähnliches Muster zeigt sich auch bei PKuster, die für sich ebenfalls beansprucht, durch Selbstbefähigung ein neues Berufsbild geschaffen zu haben:

viele chline einzelteile, wo ich mir einfach han müsse zusammesuache […]

wie nes neues berufbild gebildet, dann au (ja) mit dem ganzheitliche asatz (ja) (PKuster, P 6)

viele kleine einzelteile, die ich mir einfach habe zusammensuchen müssen […]

wie ein neues berufsbild gebildet, dann auch (ja) mit dem ganzheitlichem ansatz (ja) (PKuster, P 6)

Es geht darum, durch Selbstermächtigung Schritt für Schritt Autonomie zu erlangen. Formen des Müssens und Wollens verdeutlichen wie in diesem Beispiel den Aspekt der Zwangsläufigkeit angesichts des vorgefundenen und erlebten Mangels an Alternativen im Feld. Die Ausführung der eigenen Anstrengung und Errungenschaft, eigener Erfahrungen und Erkenntnisse beschreibt die Agency dieser Positionierung. Sprachlich drückt sich diese Agencyform der Abgrenzung in einer starken Betonung des Wollens, Kämpfens und Durchsetzens aus (MSchäublin, P 33, wir müssen und brauchen, P 35, wir hatten schon auch wut mit dabei, so möchten wir das nicht, P 36).

Selbstermächtigung im Umgang mit Hindernissen zeigt sich auch an der folgenden Erfahrung, die PKuster erzählt: Bei einer nichtkirchlichen Bestattung, die sie geleitet habe, habe die Pfarrerin angeordnet, die Kirchenglocken nicht zu läuten, worauf sie dann ersatzweise mit der Klangschale geläutet habe: da han ich afange e klangschale kaufe, und hab da eifach mit der klangschale igelütet (PKuster, P 43), da habe ich angefangen eine klangschale gekauft und habe da einfach mit der klangschale einegeläutet (PKuster, P 43). Sie verwendet anstelle der Kirchenglocke einfach eine Klangschale und «befähigt» sich damit auf sehr konkrete Weise, aus ihrer Sicht wichtige rituelle Elemente herzustellen.

Ähnliche Formen der Begründung der Selbstermächtigung aus fehlenden bzw. nicht passenden Alternativen findet sich auch in der Argumentation von MSchäublin. Sie stellt dar, dass ihre Arbeit wirklich aus der eigenen betroffenheit auch heraus (P 41) entstanden sei: diese formen, die angeboten werden, die passen für uns nicht mehr (P 33). Besonders eindrücklich ist die Erzählung über eine eintägige Hospitation bei einem Bestatter (P 39).

einmal ist er so arg in die kurve gefahren, dass der sarg hinten gekippt is, da hab ich drauf bestanden, dass er jetzt auf den gehweg fährt (MSchäublin, P 39)

Hier wird das eigene Insistieren und Sich-Durchsetzen als wichtige Dimension der Agency dieser Positionierung deutlich. Negative Erfahrungen lösen den Wunsch nach Veränderung aus. So erzählt M. Schäublin von der Selbstermächtigung der Gruppe als Reaktion auf diese Erfahrung.

wir haben uns gefragt, ja gut wie machen wir das mit dem bergen, man sagt ja immer, es braucht männer, weil die so stark sind, um dann diese leichen zu tragen oder vom boden aufzuheben oder so wie machen wir das, und wir haben einfach entschieden, ähm wir probieren das aus und wir haben, haben ein wochenende lang mit total viel vergnügen, haben wir uns aus den unmöglichsten situationen geborgen und eingesargt und treppen geschleppt ((lachend)), wir haben einfach geübt (L:mhm) wir habens einfach getan (MSchäublin, P 43)

Mit der Darstellung liefert sie einen Beleg dafür, dass auch Frauen Bestattung und Totenpflegeaufgaben versehen können.

Aus dem axialen Kodieren hat sich der Kode «learning by doing» als Aneignung durch Probieren ergeben (einige von uns […] haben sich, haben sich ähm möglichkeiten versucht zu erarbeiten, um das zu lernen MSchäublin, P32, ja so wars, es entstand so ein schritt um den anderen, MSchäublin, P 50). «Learning by doing» ist eine anylstische Unterkategorie dieser Agencyform, die auf Selbstermächtigung beruht und beschreibt den schrittweisen Prozess der Aneignung durch Ausprobieren.

so haben wir halt, jede hat so ihre erfahrungen dann auch eingebracht, aber wir hatten innerhalb von, also da war da war zum beispiel eine ärztin dabei, die hat uns mit ihr mit der haben wir dann halt alles gelernt, was wi- wie sind denn medizinisch die die totenzeichen und all die sachen, was man eben so wissen muss, oder oder, wir haben wir hatten pflegefachfrauen, dann haben wir uns gegenseitig auf die tische gelegt, und uns gegenseitig totenpflege gemacht, ja wann wann kriegt man schon (L:mhm) nen feedback für eine totenpflege (L:mhm), das muss man trotzdem lernen, und wir konnten uns feedback geben (MSchäublin, P 50)

Die Weitergabe von spezifischen Kenntnissen an andere Mitglieder der Gruppe erfolgt durch Spezialistinnen, die der Gruppe angehören und sich so gegenseitig Kompetenzen aneignen.

Neben dem bestatterischen Handeln wird eine Dringlichkeit auch in der Gestaltung der Abschiedsfeiern geltend gemacht. Die folgende Interviewsequenz ebenfalls aus dem Interview mit MSchäublin und AWyrsch ist ein Beleg für eine Schlüsselerzählung, die die Dringlichkeit des Handelns demonstriert. Sie handelt von der Geschichte einer sterbenden Freundin:

wir müssen anfangen uns darum zu kümmern, dass freundinnen von uns sterben und wir wussten, die möchte eigentlich nicht so bestattet werden, wie ihr katholischer vater sie bestatten möchte (L:mhm), und dass war uns auch klar, dass sie (L:mhm), dass das wir andere formen brauchen, dass war für für mindestens für ihre damalige partnerin und uns, war das ein wichtiger motor auch auch zu schauen, ja diese diese formen die angeboten werden, die passen für uns nicht mehr (L:mhm), also insofern war das schon auch, ähm da war auch dieses diese diese suche nach alternativen sehr dringend (MSchäublin, P 33)

Die Darstellung zeichnet sich durch die Hervorhebung einer Wir-Gruppe von Freundinnen in verschiedenen Varianten aus: freundinnen von uns, wir, uns, ihre damalige partnerin und uns. MSchäublin stellt hier zwei Positionen gegenüber, aus denen sich eine Spannung ergibt: die möchte eigentlich nicht so bestattet werden, wie ihr katholischer vater, das möchte. Die Differenz besteht zwischen den individuellen Bestattungswünschen der Tochter und den Vorstellungen des Vaters. Dass es sich bei letzteren um traditionelle kirchliche Vorstellungen handelt, wird dadurch deutlich, dass von ihr(em) katholischen vater die Rede ist. Der Vater vertritt in der Erzählung somit die Position der bestehenden kirchlichen Angebote, die von der Erzählerin als ungenügend und unpassend eingeschätzt werden. Diese Einschätzung bildet dann den Ausgangspunkt der Darstellung der eigenen Agency. Schäublin verwendet hier bewusst das Präsens: wir müssen anfangen uns darum zu kümmern. Sie bringt damit eine besondere Dringlichkeit zum Ausdruck, für die die geschilderte Situation ein Beleg ist und die entsprechend verallgemeinert wird. Die Erfahrung, dass Menschen (wie die ihr nahestehende Freundin) nicht selbstbestimmt entscheiden können, wie sie sterben möchten und wie ihre Bestattung zu gestalten ist, bildet die treibende Kraft (den «Motor») für den Aufbau des eigenen Vereins und Unternehmens. Die Agentivierung der Wir-Gruppe zeigt sich in einer suche (P 33), und das konkrete Beispiel der sterbenden Freundin, deren Wunsch sie nur mit grosser Anstrengung durchsetzen konnten, wird zu einem Motor (P 32) für die Gruppe. Mit «Motor» wird der Antrieb der Wir-Gruppe – die Umwandlung der Differenzerfahrung in Aktivität – verstanden. Die Suche wird zu einem Motor und weist damit auf Motivation, Antrieb und Zielgerichtetheit.

Aus der Erzählung geht hervor, dass die eigene Wir-Gruppe eine Differenz zu den bestehenden Angeboten erlebt hat. Es lässt sich rekonstruieren, dass in diesem konkreten Fall der Handlungsdruck und die Wahrnehmung der eigenen Aufgabe aufgrund der kollektiv erlebten Differenz zu den bestehenden Angeboten verstärkt worden sind. Die konkrete Differenz besteht im Aufeinanderprallen der aus einem katholischen Milieu stammenden Perspektiven auf Homosexualität und auf traditionelle gemeinschaftsgebundene Formen der Bestattung einerseits und den eigenen Bedürfnissen der Betroffenen nach individuell passenden, selbstbestimmt gestalteten Wünschen andererseits. Im Beispiel wird eine sehr konkrete individuelle und allgemeine Differenzerfahrung thematisiert, die sich zunächst in einem kollektiven Nichtakzeptieren(wollen) der Verhältnisse äussert. Das Anbieten von selbstbestimmten Angeboten wird somit als logische Notwendigkeit präsentiert. Thematisiert wird neben einer Entfremdung von kirchlichen Ritualen auch eine Abneigung gegenüber dem konventionellen Bestattungshandwerk.

der hat sie wie eine sardine in einen urnensarg gefercht, also die lag da, das war einfach nur schrecklich, das hat nur schrecklich ausgeschaut (L:mhm), und und die die haben also die angestellten ihres vaters, die haben uns diesen sarg aus den liedern heraus weg- weggerollt, weil sie den freitagnachmittag noch zum krematorium fahren wollten bevor arbeitsschluss war ((lachend)), es war wirklich so, also wir hatten schon auch, wir hatten auch wut mit dabei als (L:mhm, also da war auch ne ne motivation da, so möchten wir das nicht (6) (MSchäublin, P 35/36)

Die Darstellung zeigt eine Spannung zwischen der Handlungsmächtigkeit der eigenen Wir-Gruppe, die eine aus ihrer Sicht in mehrfacher Hinsicht unpassende und unbefriedigende Bestattungssituation erlebt, und der Handlungsmächtigkeit des Vaters und der beauftragten Angestellten seines Bestattungsunternehmens: Während die Gruppe noch Lieder singt und die Abschiedsfeier durchführt, holen die Angestellten schon den Sarg für die Überführung ins Krematorium. An die Erzählung schliesst eine abschliessende Evaluation an: ((lachend)) wir hatten auch wut mit dabei als (L:mhm,) also da war auch ne ne motivation da, so möchten wir das nicht. Auf der einen Seite steht die Erfahrung eigener Ohnmacht gegenüber den für die Organisation der Bestattung Zuständigen (die haben uns diesen sarg aus den liedern weggerollt), auf der anderen Seite die Erfahrung eigener emotionaler Betroffenheit (wut) und Widerständigkeit (so möchten wir das nicht) (s. o.), die dann letztlich zur Selbstermächtigung im Sinne des Aufbaus einer alternativen Praxis der Bestattung in Differenz zu den bestehenden Angeboten führt. Aus der Gegenwartsperspektive, die eben durch eine erfolgreiche Etablierung alternativer Angebote in der rituellen Begleitung gekennzeichnet ist, kann die Erzählerin nun über die damalige Situation lachen und nochmals deutlich die Haltung der Gruppe darstellen. In diesem Interview fällt eine narrative Struktur auf, die sich durch mehrere anschaulich-drastische Belegerzählungen auszeichnet, die jeweils die Notwendigkeit des eigenen Handelns plausibilisieren. Damit wird das Handeln der Gruppe immer wieder als Ergebnis einer tief gehenden Differenz-Erfahrung motiviert.

Eine klare Proklamation einer Differenz zu einer kirchlichen Bestattung zeigt sich auch sehr deutlich bei UMeier. Ihre Vorstellungen von einer Bestattung stimmen nicht mit denen einer kirchlichen Bestattung überein. Ihre Agency gewinnt sie auch daraus anders zu sein, „alternativ zu sein“ und aus ihrer Kritik an der Worttheologie.

9.4 Deutungsmuster

Im Folgenden werden die Dimensionen des Deutungsmuster Bedürfnisorientierung und weitere damit verbundene Deutungsmuster der Positionierung erläutert. Bedürfnisorientierung beinhaltet den zentralen Anspruch der Orientierung an Individuen, an den „Menschen“ im Gegensatz zu kollektiven bzw. institutionellen Ansprüchen. Damit verbunden ist ein Selbstverständnis von Freiheit und Unabhängigkeit, das zur Etablierung einer eigenen (religiösen) Praxis führt. Es geht darum, sich selbst zu ermächtigen. Diese Ermächtigung schliesst sowohl die Ritualleiter*innen als auch alle Beteiligten, Angehörigen und in einigen Fällen sogar die Verstorbenen mit ein.

Diese Praxis der (religiösen) Selbstermächtigung wird durch das Deutungsmuster Auswahl und Flexibilität gespeist. Auswahl und Flexibilität bezieht sich auf den Gebrauch von Texten und rituellen Elementen religiöser und anderer z. B. literarischer Traditionen. Oftmals spielt bei der Umsetzung von Bedürfnisorientierung die Orientierung an Emotionalisierung und Personalisierung der Rituale eine Rolle, die dann auch die Flexibilität und den «freie(r)en» Umgang mit Traditionen legitimiert.

Neben Bedürfnisorientierung ist Anderssein eine wichtige Kategorie der Positionierung Differenz. Im Folgenden werden diese Deutungsmuster erläutert, wobei auch die Bezüge zu den Deutungsmustern der Positionierung Tod und Ritual deutlich gemacht werden.

9.4.1 Bedürfnisorientierung

Entscheidung: Orientierung an den «Menschen»

Alle von mir interviewten Akteur*innen bringen als Motivation für ihre Tätigkeit die Orientierung an den Bedürfnissen der Verstorbenen und der Angehörigen zum Ausdruck. Sie streben nach einer grösstmöglichen Orientierung an Bedürfnissen der Angehörigen, wie sie nach ihrer Aussage bei Bestatter*innen und Pfarrer*innen nicht oder kaum gegeben sei.Footnote 5

UMoser begründet die Bedürfnisorientierung mit der Heterogenität der Glaubensvorstellungen der Menschen:

wir sind ja von der situation, dass wenn ein mensch stirbt, und die menschen kommen zusammen aus dem umkreis, dass das sehr heterogen ist (R: mhm) so von den glaubens- und wertvorstellungen her heute, glaub ich, das ist unsere situation (R: ja) (UMoser, P 9)

Deutlich wird, dass die angestrebte Bedürfnisorientierung im Gegensatz zu einer Standardisierung der Ritualangebote steht, die der Unterschiedlichkeit der «menschen» nicht gerecht werden könne. Die Herausforderung besteht also für die Ritualleitenden darin, die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse der Angehörigen und Teilnehmenden der Trauerfeiernden zu berücksichtigen.

Die Kirche berücksichtigt aus der Sicht vieler Ritualleiter*innen zu wenig die individualisierte Gesellschaft. Dem gegenüber steht der Anspruch, selbst entscheiden zu können, wie die rituelle Begleitung gestaltet wird. Frei wählen zu können, welche Inhalte und Praktiken von Religiosität übernommen werden und welche nicht, verdeutlicht die Einstellung einiger Ritualleitender. An dieser Stelle sei noch einmal die Haltung von PKuster illustriert:

ich stoh, ich bin eifach sehr kritisch gegenüber den religionen, wo genau wüsset, was guat isch für die mensche, ich han mich immer orientiert a de mensche, wo ich begleite, sind mini uftraggeber, und was sie bruche (mhm), und ich stoh wie usserhalb, und cha eifach alles bruche bibel philosophische texte, und am lieabschte han ich ghabt, wenn sie vo de lüt chomme (PKuster, P 89)

ich stehe einfach sehr kritisch gegenüber den religionen, die genau wissen, was gut ist für den menschen, ich habe mich immer an den menschen orientiert, die ich begleite, sind meine auftraggeber, und was sie brauchen (mhm), und ich stehe wie ausserhalb, und kann einfach alles brauchen bibel philosophische texte, und am liebsten hatte ich es, wenn sie von den leuten gekommen sind (PKuster, P 89)

In diesem Zitat kommt eine Kritik gegenüber institutionellen Vorgaben von Religionen zum Ausdruck, die den Menschen Vorschriften machen, was sie zu tun und zu fühlen haben (wo genau wüsset, was guat isch für de mensche) und dabei die individuellen Bedürfnisse der Menschen außer Acht lassen, da sie nach dieser Sichtweise zuallererst ihren eigenen Vorgaben verpflichtet sind. Damit geht ein sehr stark normiertes Verständnis von religiösen Traditionen einher, deren Vorstellungen bis in die private Lebensführung reichen. Diesen religiösen Ansprüchen gegenüber steht PKuster als Ritualleiterin, die sich zunächst an den individuellen Bedürfnissen der Menschen orientiert und dann erst religiöse und kulturelle Vorstellungen miteinbezieht.

Eine Kritik, die an den institutionellen Vorgaben der Religion ansetzt, bringt auch MItten in ihrer Kritik auf den Punkt

I: dass die kirche vielfach an den menschen vorbei , redet

R: mhm

vorbei a:ngebote macht , und und gar nicht aus meiner sicht nicht nicht die menschen gar nicht abholt dort wo sie heute in der heutigen gesellschaft stehen? (MItten, P 58)

Sie sieht nicht, dass die Kirche auf die Lebenswirklichkeit der Menschen eingeht. In ihrem Fall kommt eine starke innere Zerrissenheit in Bezug auf ihre kirchliche Zugehörigkeit hinzu. Sie hat einen starken Glauben und hat sich lange Zeit auch der katholischen Kirche zugehörig gefühlt. Für sie war es ein langer Weg, bis sie sich getraut hat, ihre Kompetenzen ausserhalb der Kirche anzubieten:

ja (6) und war je länger je mehr, je länger je mehr konnte ich (9) mich nicht mehr äh einverstanden erklären mit werten oder aussagen, die die katholische kirch (R: mhm) macht mit ihren wichtigkeiten, ähm (2) und ich kam immer mehr in eine so zerreisprobe, aso ich ging in den letzten jahren sicher immer auf in einem spagat oder auf einem schmalen pfad, des erlaubten und nicht erlaubten (2) ich habe zum beispiel äh die segensfeiern für geschiedene angeboten, weil für mich das äusserst wichtig war /lacht/ in dieser gesellschaft (R: ja), dass auch geschiedene menschen wissen, dass sie von gott angenommen sind, und wieder auch neu anfangen dürfen (R: mhm), und das verbietet ja die katholische kirche (MItten, P 55–56)

In dieser Sequenz wird deutlich, dass die Ritualleiterin ihre Angebote auch für Menschen zugänglich machen will, die in der katholischen Kirche moralisch geächtet werden wie z. B. Geschiedene.

HBürgi hat ihre Tätigkeit in der katholischen Kirche aufgeben müssen, da es ihr nicht mehr erlaubt worden sei, im Rahmen der Kirche auch «freiere» Rituale anzubieten. Sie habe sich dann entscheiden müssen.

und ich cha das lang au in der kathoischen chile chöne beides, (R: mhm) bis plötzlich nu misch gange us irgeneme blöde grund. (R: ja) wiu es zu öffentlich worden isch katholische chile da gfül hat, i muss reagiere ich dörfi nit sowohl als au oder entweder oder, (R: mhm) das isch ja damals vor jetz de grund gsi vo de chile weg z gah, also ich bi ja sozsage gwunge worde entweder oder (HBürgi, P 76)

und ich habe das lange auch in der katholischen kirche beides, (R:mhm), bis es plötzlich nicht mehr gegangen ist aus irgendeinem blöden grund (R: ja) wie es zu öffentlich wurde, dass die katholische kirche das hat reagieren zu müssen ich dürfe nicht sowohl als auch oder entweder, oder (mhm) das war damals der grund von der kirche wegzugehen, also ich bin sozusagen gezwungen worden (HBürgi, P 76)

In diesem Beispiel wird dargestellt, dass sich die Vertreter*innen der katholischen Kirche in ihrer Aussenwirkung eine klare Orientierung an dem katholischen Ritus wünschen.

Bei anderen Ritalleitenden ergibt sich die Motivation aus einer Unzufriedenheit mit den bestehenden Angeboten der etablierten Dienstleister*innen im Umgang mit dem Tod. Kritik wird an der Organisation der Bestattung sowie an den Angeboten von Kirche und Medizin (Krankenhäuser und Altenheimen) geübt (MSchäublin, P 29). Dies belegen zahlreiche Erzählungen und Argumentationen (s. o.). Zur Entstehungsgeschichte des Vereins und Unternehmens gehört der Hinweis, dass sie sich zunächst über die bestehende Situation im Umgang mit dem Tod informiert hätten. Besonders eindrücklich ist in diesem Zusammenhang abermals die Erzählung über eine eintägige Hospitation bei einem Bestatter. An dieser Stelle soll hier noch einmal genauer auf die dazugehörige Interviewpassage eingegangen werden (P 39).

ich bin dann einen tag mit einem seiner mitarbeiter mit dem leichenauto im kanton rum gefahren, von äh kreuz und quer eben durch den ganzen kanton eben diesen aufträgen entlang, wir haben an diesem tag dreizehn leichen versorgt und transportiert, einmal ist er so arg in die kurve gefahren, dass der sarg hinten gekippt is, da hab ich drauf bestanden, dass er jetzt auf den gehweg fährt, und ich bin ausgestiegen und hab den sarg wieder um- aufgestellt, der wollte das nicht, wir würden ja gleich ankommen (1), wir haben mit den dreizehn leichen kein einzigen angehörigen gesehen (1), wir haben statt ähm äh verschissene windeln zu wechseln geruchsneutralisierendes puder gestreut, es war einfach schrecklich (MSchäublin, P 39)

Aus der drastischen Erzählung geht hervor, dass die Särge acht- und respektlos transportiert worden seien und die Totenpflege vernachlässigt worden sei. Der Umgang mit den Leichnamen erfolge nur unter Ökonomiegesichtspunkten. Es gehe um Abfertigung und Schnelligkeit, nicht um Fürsorge für die Toten und Kontakt zu den Angehörigen.

in den altenheimen da gab es ne misere, gabs vor zehn Jahren mittlerweile hat sich viel verändert aber aber damals war das wirklich erschreckend (L:mhm)

da wurden, da wurden die verstorbenen gleich leinentuch drüber keller ähm die wurden irgendwie neben neben den containern mit den mit dem der kartonsammlung wurden die abgestellt und und über mittag im verborgenen vom bestatterauto abgeholt, wenn sonst alle im esssaal waren und ähm also das war das war irgendwie wirklich wirklich krass ja (MSchäublin, P29)

In diesen Worten zeigt sich eine deutliche Nähe zum kritischen Diskurs von der «Entsorgung» der Toten und der Tabuisierung des Todes und Standardisierung des Todes (s. o. 7.4.1): die leichen wurden neben den containern mit der kartonsammlung abgestellt und über mittag im verborgenen abgeholt.

Als Negativbeispiel wird ein Bestatter mit der Aussage zitiert, dass der Beruf des Bestatters kein Beruf für Frauen sei und dass hornhaut auf der seele (MSchäublin, P 42) eine Voraussetzung sei, um den Beruf auszuüben zu können. Die Metapher hornhaut auf der seele suggeriert eine geringe Empfänglichkeit und eine durch Routine erworbene Härte gegenüber dem Tod.

Die Verstorbenen würden demnach, so die Begründung für die Bedürfnisorientierung, weitgehend ohne emotionale Beteiligung rein nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten behandelt, so dass die Bestatter*innen in ihrer Arbeit keine Zeit hätten, sich um die Toten und ihr Umfeld kümmern zu können.

Das Deutungsmuster der Bedürfnisorientierung und der Ganzheitlichkeit überschneiden sich.

Auf meine Nachfrage zur «Ganzheitlichkeit» antwortet PKuster:

wirklich ressourcenorientiert begleite das isch immer mis ziel gsi und das isch natürlich e hochseilakt wo mir nid immer hundertprozentig gelungen isch ganz klar aber weischt was ich meine (ja) (PKuster, P 74)

wirklich ressourceorientiert zu begleiten, das war immer mein Ziel und das ist natürlich ein hochseilakt, der mir nicht immer hundertprozentig gelungen ist ganz klar, aber du weisst, was ich meine (ja) (PKuster, P 74)

Für die Umsetzung ihres «ganzheitlichen» Handelns, der Orientierung an den Wünschen und Ressourcen der Angehörigen wird das Sich-Durchsetzen-müssen als unausweichlich präsentiert (P 43, 52, 72):

das sind halt immer so grenze, wo ich halt oft überschritte ha zugunste vo de angehörige (mhm) und wo au viele nüd verstange ha, wo das gefühl ha, jetzt nimmt die mir min job weg, das wod i mache (PKuster, P 52)

das waren halt immer so grenzen, die ich halt oft überschritten habe zugunsten, von den angehörigen (mhm) und was auch viele nicht verstanden haben, wo das gefühl hatten, jetzt nimmt die mir meinen job weg, dass wollte ich machen (PKuster, P 52)

zum ganzheitlichen, dass ich halt de pfarrer dri geredt ha (mhm), also sie ham das gefühl gha, die redt us dri (mhm) und ich hab, aber wie die agehörige dazue beweget, dass sie aktiv werdet (mhm), dass das ihre bestattig werdet und nicht mini und dem pfarrer sini (mhm) und ma hat je sehr viel vo zwanzig jahren noch delegiert dem pfarrer im spital em bestatter und eigentlich isch es mir immer drum gange, dass die lüt verantwortig übernehme, das mein ich ganzheitlich das ressourcenorientierte und des individuelle was bruchen die lüt jetzt was tut denne guat (mhm) (PKuster, P 72)

zum ganzheitlichen, dass ich halt dem pfarrer reingeredte habe (mhm), also sie haben das gefühl gehabt, die redet uns rein (mhm) und ich habe, aber wie die angehörigen dazugebracht, dass sie aktiv werden (mhm), dass das ihre bestattung wird und nicht meine und dem pfarrer seine (mhm) und man hat jetzt vor zwanzig jahren noch sehr viel delegiert, dem pfarrer im spital dem bestatter und eigentlich ist es mir immer darum gegangen, dass die leute verantwortung übernehmen, das meine ich ganzheitlich, das ressourcenorientierte und das individuelle was brauchen die leute jetzt, was tut denen gut (mhm) (PKuster, P 72)

In meinen Daten zeigt sich, dass das Postulat der «Ganzheitlichkeit» als positiver Gegenentwurf angeführt wird, um sich von bestehenden Angeboten abzugrenzen. Damit gemeint ist ein Angebot, das einerseits fallspezifisch und situativ von den Bedürfnissen der Betroffenen ausgeht (was bruchen die lüt jetzt) und andererseits bei allen relevanten Aufgaben und Ressourcen ansetzt, d. h. die Betroffenen selbst als aktive Akteur*innen des Gesamtgeschehens sieht, anstatt die einzelnen Aufgaben arbeitsteilig den professionellen Akteuren zu überlassen, die in diesem Sinne nicht «ganzheitlich», sondern arbeitsteilig-ökonomisch denken. Es richtet sich speziell gegen die herrschende Arbeitsteilung von Bestattung und Begleitung.

Mit einem «ganzheitlichen» Angebot kann stattdessen der «ganze Bogen» (MSchäublin, P 63), d. h. Begleitung und Bestattung bearbeitet werden. MSchäublin, AWyrsch und PKuster (s. o.) vertreten die Annahme, dass es den Bedürfnissen der Angehörigen und der Verstorbenen am nächsten kommt, wenn die Dienstleistungen der Bestattung und Begleitung in einer Hand liegen und die Angehörigen dadurch die Möglichkeit haben, sich an möglichst jeder Stelle des Prozesses einzubringen. Das Verständnis einer umfassenden Zuständigkeit für den Gesamtprozess verbindet sich also mit dem Versuch einer rituellen Ermächtigung der Angehörigen und einer möglichst genauen Rekonstruktion der Bedürfnisse der Verstorbenen.

Erst die rituelle und die praktische Ermächtigung der Angehörigen und Betroffenen mache die Ganzheitlichkeit des eigenen Angebots aus (P 72). Es scheint daher weniger wichtig, wie genau der rituelle Inhalt aussieht. Vorrangig ist, dass die Begleitung den Wünschen der Angehörigen möglichst entspricht und dass die Begleitung bei den «ganz praktischen» Dingen anfängt:

und das ebbe de doppelrolle, wo ich auch immer igenoh ha einersits bestatteri für das ganz praktische, aber bei de pfleg zum bispiel, dass ich de angehörige gesei-fragt hab, wer hat denn bis jetzt gepflegt, wenn öppa daheime gstorbe isch ja, ich, dann sag ich ja wollt ihr im nid selber das gesicht wasche, (mhm) ja darf ich das, ja oder eifach gesagt wollt ihr de socke alege, das bei ufgah socken hingelegt, also im ganz praktischen inne, isch es eifach passiert, und da ham ich ihm socke alegt ,und uih uih hat der kalti fuass, (mhm) wieso isch er so kalt, also da isch er noch e chli warm, also das ganz praktische mit dem rituelle und mit dem seelsorgliche wie verbunde, das isch glaub ich ganzheitlich (mhm), mit em grosse respekt gegenüber de agehörigen und wirklich ressourcenorientiert begleite, das isch immer mis ziel gsi, und das isch natürlich e hochseilakt wo mir nid immer hundertprozentig gelungen isch ganz klar, aber weischt was ich meine (ja) (PKuster, P 74)

und das ist eben die doppelrolle, die icha uch immer eigenomme habe, einerseits bestatterin für das ganz praktische, aber bei der pflege zum beispiel, dass ich den angehörigen gesagt habe, sie gefragt habe, wer hat den bis jetzt gepflegt, wenn jemand zu hause gestorben ist, ja, ich dann sage ich, ja wolt ihr nicht selber das gesicht wasche, (mhm), ja darf ich das, ja oder einfach gesagt, wollt ihr die socken anziehen, das bei den aufgaben socken hingelegt, als im ganz praktischen inne, [dann, L.R.] ist es einfach passiert, und da habe ich ihm socken angezogen, und uih uih hat der kalte füsse, (mhm) wieso ist er so kalt, also da ist er noch ein bisschen warm, also das ganz praktische mit dem rituellem und mit dem seelsorgerlichen wie verbunden, das ist glaube ich ganzheitlich (mhm),mit einem grossen respekt gegenüber den angehörigen und wirklich ressourcenorientiert zu begleiten, das war immer mein ziel, und das ist natürlich ein hochseilakt, der mir nicht immer hundertprozentig gelungen ist ganz klar, aber du weisst, was ich meine (ja) (PKuster, P 74)

Es wird eine Personalisierung des Angebots auf der rituellen und der praktischen Ebene deutlich. Genau das bezeichnet PKuster als ganzheitlich.

Auswahl: (Religiöse) Selbstermächtigung

In Abgrenzung zu gemeinschaftsgebundenen Ritualleiter*innen sehen sich die Anbieter*innen freier Rituale in ihrem Idealbild keiner externen Instanz wie einer Institution oder einer abstrakteren religiösen Instanz wie Gott oder einer spezifischen religiösen oder weltanschaulichen Tradition verpflichtet. Sie fühlen sich daher frei in der Wahl ihrer Texte und der von ihnen vorgeschlagenen rituellen Sequenzen. Lüddeckens spricht in diesem Zusammenhang von «ritueller Flexibilität» (vgl. Lüddeckens 2015, s. u. 10).

Das kann bedeuten, dass die Ritualleitenden sich selbst ermächtigen, eine eher traditionelle Feier durchzuführen, auch wenn sie keine formale religiöse Ausbildung haben. Eine Selbstermächtigung dieser Art kommt z. B. in dem folgenden Zitat von PKuster zum Ausdruck:

die erschti eh urnebesitzig, die i allei gmacht hab, bi ich wirklich allei gsi nummer die urne und ich und ufm friedhof (mhm), bin i uf friedhof da bei üs im dorf gsi, der ma isch alleistehend gsi, nachbari hat alles organisiert, und sie hat das gfühl ghabt uf de friedhof müsste sie jetzt nüm mit der urne, sie hat jetzt abschiedsfiir gemacht, ich soll das mache und dann bi ich auf de friedhof gange, mit dere urne und hab ich selber es chränzli gemacht aus efeu, nur so nackt, das hab ich fast nid chönne oder nur maus grau, und urne (mhm), und dann hab ich eifachs efeu chränzli gmacht, und dann isch dort wiehwasser stande also fürs katholische wiehwasser, und da bin i dort gstande, und denkt, also guat dann segne ich halt das grab, und dann hab ich das grab gesegnet mit wasser, das da dri tue, das unser vater gebetet, und bin wieder gange (mhm) (PKuster, P 40)

die erste eh urnenbeisetzung, die ich allein gemacht habe, da war ich wirklich allein, nur die urne und ich und auf dem friedhof (mhm), da war ich auf dem friedhof bei uns im dorf, der mann war alleinstehend, die nachbarin hat alles organisiert, und sie hat das gefühl gehabt auf den froiedhof müsse sie jetzt nicht mehr mitd er urne, sie hat jetzt die abschiedsfeier gemacht, ich soll das machen und dann bin ich auf den friedhof gegangen , und habe ich selber ein kränzchen gemacht aus efeu, nur so nackt, das habe ich fast nicht können oder, nur maus grau, und urne (mhm), und dann habe ich einacg ein efeukränzchen gemacht und dann stand dort weihwasser also fürs katholische weihwasser, und dann stand ich dort, und habe gedacht, also gut, dann segne ich halt das grab und dann habe ich das grab gesegnet mit wasser, das da rein getan, das unser vater gebetet, und bin wieder gegangen (mhm) (PKuster, P 40)

In dieser Erzählung der ersten von ihr durchgeführten Beisetzung erzählt PKuster, wie sie sich souverän selbstermächtigt hat. Sie zeigt an dieser Stelle einen pragmatischen spontanen Umgang mit religiöser und kultureller Tradition. Sie passt sich den situativen Bedingungen an und versieht die Urne nicht nur aus ästhetischen Gründen mit einem Efeukranz, sondern greift auf Elemente kirchlicher Rituale zurück, wenn sich das aus ihrer Sicht anbietet: Weil am Ort gerade Weihwasser steht, segnet sie das Grab mit Weihwasser und spricht dann das Unser Vater. Trotz ihrer institutionellen Unabhängigkeit als Ritualleiterin und ihrer eigenen Kirchenferne fühlt sich PKuster «frei», sich auch an traditionell-religiösen Elementen zu orientieren und auch selbst traditionell-religiöse Handlungen auszuführen. Sie braucht dazu weder einen eigenen Glauben, noch eine praktisch-theologische Ausbildung. In diesem Beispiel kommt zum Ausdruck, dass es ihr wichtig ist, dass der Verstorbene eine rituelle Beisetzung erhält. Sie sieht sich hier eher in der Rolle einer Dienstleister*in, die pragmatisch handelt (also guat, dann segne, ich halt das grab, PKuster, P 40). Sie segnet und betet das Unser Vater, ohne dass sie damit den christlichen Glauben verkünden möchte. Sie hält an der kulturellen Tradition fest, reflektiert die religiösen Elemente aber nicht weiter. Um zu erklären, wie es PKuster hier gelingt als Ritualleiterin glaubwürdig zu sein, hier die Bezugnahme auf die ritual-ähnliche Elemente nach Catherine Bell (s. o. 3.1.2). PKuster bedient sich hier des ritual-ähnlichen Merkmals des ‘Formalismus’ nach Bell (s. o. 3.1.2). Das Interaktionsritual des Unser Vater wird ausgeführt und dadurch wird es formalisiert. Ein ‘Formalismus’ erfolgt ebenso durch das Segnen des Grabes, wobei dieser hier weniger durch ein wortwörtliches Sprechen als durch ein Schlüsselwort ‘Formalismus’ erreicht wird. Das Einsetzen des Unser Vaters und des Segens verweisen auf das Merkmal des ‘Traditionalismus’, da damit auf die christliche Tradition des Gottesdienstes und somit auf die Tradition bereits etablierter und bekannter Rituale verwiesen wird (Bell 1997: 145). Über die Verwendung von Weihrauch erfolgt ein ‘sakraler Symbolismus’. Der Weihrauch kann als Schlüsselsymbol des Katholizismus interpretiert werden. Gleichzeitig ist es ein blosser Verweis auf die Tradition. PKuster ermächtigt sich traditioneller ritual-ähnlicher Elemente, deutet diese aber als potentiell universal verwendbar und erreicht somit einen deutungsoffenen Kontext, der in verschiedene Richtungen interpretiert werden kann.

9.4.2 Freiheit und Unabhängigkeit

Aus der obigen Interviewstelle erfahren wir, dass hier jemand mit einer pragmatischen Haltung und mit Distanz gegenüber der Kirche ein Bestattungsritual hält. Von aussen betrachtet mag sich das oben skizzierte Ritual wenig von einem traditionell religiösen Ritual unterscheiden. Die Ritualleiter*in verbindet mit ihrer Positionierung aber die Deutung von Freiheit:

Das ich einfach, frei bin

ich stoh wie usserhalb und cha eifach alles bruche bibel philosophische texte und am lieabschte han ich gehabt, wenn sie vo de lüt chomme (PKuster, P 89)

das ich einfach frei bin

ich stehe wie ausserhalb und kann einfach alles brauchen bibel philosphische texte und am liebsten habe ich es gehabt, wenn sie dvon den leuten kommen (PKuster, P 89)

Man sieht an diesem Beleg, dass der Rückgriff auf unterschiedliche Ressourcen sehr bewusst erfolgt und einen Teil der eigenen Unabhängigkeit ausmacht. Eine Unbefangenheit durch die Positionierung ausserhalb der Gemeinschaft erlaubt PKuster, Inhalte aus verschiedenen Traditionen zu verwenden. Sie kann diese Quellen verwenden, ohne sich tiefergehend mit diesen Traditionen zu identifizieren. Das eigene Tun wird zugleich mit der Präferenz für Bedürfnisorientierung (s. o. 9.4.1) verbunden. Denn erst die Ungebundenheit erlaubt es der Ritualleitenden, sich auf die Wünsche der «Leute» einzulassen. Die Interviewte findet dafür an dieser Stelle das Bild des «ausserhalb»-Stehens an, ohne dass sie das «Innen» der Gemeinschaft explizit benennt, von der sie sich abgrenzt.

Ganz ähnlich beschreibt auch UMoser die Positionierung als Ritualleiter:

und das ist halt unser vorteil, dass wir nicht irgendwie noch eine idee=ideologie mitnehmen müssen, sondern wir können ganz auf die äh personen da eingehen (R: mhm) die da betroffen sind (R: ja), und das dann nach äh ihren vorstellungen und meinen vorschlägen, und so weiter meinen elementen, ich hab di- für mich schon auch so eine grundstruktur, können wir das gestalten (4), das ist äh der der ursprung (UMoser, P 6)

In diesem Beleg wird deutlich, dass die Bedürfnisorientierung als Möglichkeit der Personalisierung beschrieben wird, die der Wir-Gruppe der Ritualleiter*innenn zur Verfügung steht und von ihr ausdrücklich als Strategie in Konkurrenz zu kirchlich gebundenen Anbieter*innen («unser vorteil») vertreten wird. Gleichzeitig beschreibt UMoser das Fremdbild der institutionell-kirchlichen Gebundenheit als eine durch «Ideologie» belastete Gruppe. Indem UMoser das Argumentationsmuster von Personalisierung und Emotionalisierung in Begrifflichkeiten von Wettbewerb und Konkurrenz («unser vorteil») präsentiert, wird die Ressource der Differenz deutlich, der sich die Ritualleitenden vordringlich bedienen, um sich selbst als Alternative zu positionieren. Gerade weil sie nicht noch eine «Ideologie» bedienen müssen, können sie ganz auf die äh personen da eingehen.

Ähnlich heisst es bei CHof im Prospekt:

Ich bin frei und fantasievoll in der Gestaltung – ob es sich nun um ein frei gestaltetes Ritual oder um eine gottesdienstähnliche Feier handelt. Mir geht es darum, mit dem Herzen hinter die Dinge zu sehen und die verborgene Tiefe eines Anlasses – nach ihren Vorstellungen – erlebbar zu machen.

In dieser Selbstbeschreibung ist sie als Ritualleiter*in diejenige, die die Handlungs- und Gestaltungsmacht hat und nicht eine Institution. Dadurch kann sie auch bei einer gottesdienstähnlichen Feier «frei und fantasievoll» sein. Damit wird suggeriert, dass eine gottesdienstähnliche Feier aufgrund ihrer Struktur von sich aus eher nicht frei und fantasievoll ist. CHof nimmt hier eine positive Abgrenzung vor.

«Frei-sein» ist dabei offenbar ein Schlüsselwort, um die Loslösung des eigenen Angebots von vorherrschenden Verpflichtungen und Beschränkungen zum Ausdruck zu bringen. Es ist also ein Frei-sein «von», zugleich aber auch ein Frei-sein «für» etwas: auch in diesem Beleg dient die eigene Freiheit dazu, «die verborgene Tiefe eines Anlasses nach ihren Vorstellungen erlebbar zu machen». Dieser Satzteil verdeutlicht, dass sie die verborgene Tiefe eines Lebensereignis über das Ritual wahrnehmbar macht. Ihre Aufgabe ist somit eine Übersetzungsleistung zwischen den Bedürfnissen der Kund*innen und einer dem Ereignis zugeschriebenen performativen Kraft. Aufgrund ihrer Position sieht sie sich «frei» für die Bedürfnisse der Kund*innen («mit dem Herzen hinter die Dinge sehen») und für die Performanz des Rituals («die verborgene Tiefe eines Anlasses erlebbar zu machen», s. o. 8.2.1 und 8.2.5).

Beim «Frei-sein» handelt es sich in den hier genannten Fällen um den Anspruch, dass diese Freiheit auf beiden Seiten vorhanden ist. MItten weist sich selbst und den Angehörigen diese «Freiheit» explizit zu: «ich bin frei, sie sind frei». Sie als Ritualleiterin positioniert sich als frei und damit implizit auch in Abgrenzung zu anderen. «Frei-sein» erstreckt sich auch auf die eigene Unabhängigkeit im Hinblick auf Religiosität im Allgemeinen.

Freiheit von «spirituellen Ausrichtungen» zeigt sich bei GGeiger:

ich höre immer, ich bin, ich hab immer ganz grosse ohren, wenn jemand so etwas sagt [Spiritualität], und dann im weiteren verlauf des gesprächs, weil ich immer merke, dass die leute doch irgendwo auf der suche sind, und da doch etwas wirkt, aber ich bin immer, aber ich bin da se-, ich guck einfach äh hör ich da was raus, dass ich vielleicht doch in die richtung nen satz sage, und wenn gar nichts kommt in die richtung dann sage ich auch nichts

also wir haben überhaupt keinen anspruch an an irgendne spirituelle ausrichtung, an an gar nichts, und bei ihr wars wie gesagt so, dass sie von anfang an gesagt hat, überhaupt nichts mit spiritualität will sie nicht (L: ja) (GGeiger, P 43–45)

GGeiger betont hier, dass sie den Kund*innen sehr genau zuhört. Einerseits will sie sensibel dafür sein, ein entsprechendes Bedürfnis bei ihren Kund*innen auch dann «herauszuhören», wenn es nicht explizit eingebracht wird. Andererseits will sie den Kund*innen aber auch keine Vorgaben hinsichtlich ihrer Glaubensvorstellungen machen. Auch darin manifestiert sich die Positionierung als frei und autonom. Es geht ihr aber dennoch darum, die individuelle Religiosität im Gespräch mit den Hinterbliebenen hervorzulocken, wenn sie vorhanden ist. Sie legitimiert sich und ihren Wunsch, «Spiritualität» in das Ritual mit einzubringen,damit, dass sie wahrnimmt, dass die Menschen empfänglich dafür sind: dass die leute doch auf der suche sind und dass da doch etwas wirkt.

Die Wortwahl «es wirkt etwas» ist sehr offen formuliert, zeigt aber, dass etwas noch nicht abgeschlossen ist. Sie benennt hier nicht genau, was da wirkt. An dieser Stelle kommt ein sehr breites Verständnis von Religiosität zum Ausdruck. Es geht eher darum, dass Leben in einen Sinnzusammenhang zu stellen, der aber nicht unbedingt im Zusammenhang einer Transzendenz ausserhalb der erfahrbaren Wirklichkeit zu sehen ist.Footnote 6

Demnach geht es darum, die Bedürfnisse schon im Vorgespräch herauszuarbeiten und dann in eine rituelle Form zu übertragen, um schliesslich im Ritual spontan auf die Bedürfnisse der Angehörigen eingehen zu können: Wichtig ist dabei, im moment dazusein und hineinzuspüren (GGeiger, P 48, P 49). Beim oben beschriebenen Ritual habe sie die ganze Zeit eine Anspannung gespürt und so habe sie dann spontan gesagt, «was er gemacht hat ist, er ist uns vorausgegangen». Damit wird der Tod des Angehörigen akzeptiert und das Sterbenmüssen als eine Erfahrung dargestellt, die alle teilen. Es ist offen, wohin der Verstorbene vorausgegangen ist. Das Sterben ist somit nicht ein passiver Akt, sondern wird aktiv. Es deutet sich an, dass der Verstorbene dort hingegangen ist, wo die anderen auch hingehen werden und ihm folgen werden. Somit führt der Verstorbene gewissermassen auch über den Tod hinaus noch an.

Wie die Unabhängigkeit und das Frei-sein sich mit der eigenen Religiosität verhält, beschreibt HBischof, der Ehemann von GGeiger. Die Unabhängigkeit betrifft auch die eigene religiöse Selbsteinschätzung als Ritualleiter:

man kann nicht sagen, dass wir ich könnte jetzt von mir nicht sagen, dass ich nicht religiös bin, ich bin vielleicht oder spirituell (L: mhm), finde ich mich sogar sehr, interessiert mich auch, sei es indische spiritualiät (mhm), oder spiritualität von naturvölkern oder was immer (HBischof, P 52)

Zunächst wird mit einigem Formulierungsaufwand die Erwartung relativiert, nicht religiös zu sein, wobei HBischof sich nicht eindeutig als religiös positioniert («bin ich vielleicht»). Er positioniert sich hingegen als eindeutig spirituell. Und auch in der folgenden Formulierung, die fast die Form einer Richtigstellung hat (finde ich mich sogar sehr…), ist dann in einer Weise von «Spiritualität» die Rede, die klar macht, dass es nicht um Religiosität im Sinne einer gemeinschaftsgebundenen Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe, sondern um ein selbstgewähltes Interesse an Spiritualität und insbesondere an bestimmten Ausprägungen von Spiritualität (indische spiritualität; spiritualität von naturvölkern) handelt. Entsprechend wird ein Ringen um die eigene Selbsteinschätzung von Religiosität und Spiritualität deutlich, die für das eigene professionelle Auftreten wichtig ist. Auffällig ist die Unterscheidung von Spiritualität und Religiosität. Es ist für HBischof einfacher, sich als spirituell zu bezeichnen. Für Spiritualität gibt er Beispiele an, für die er sich interessiert. In Bezug auf sein eigenes mögliches Religiös-sein lässt er offen, was er darunter versteht. Wichtig ist hier das Bedürfnis, sich mit Religiosität zu beschäftigen und sich in spirituell bestimmten Kontexten auszukennen, ohne selbst einer bestimmten Religion anzugehören (HBischof, P 52) und einen damit verbundenen Anspruch zu haben, wie es seine Frau in den vorherigen Sequenzen formuliert hat.

Dies wird auch im nächsten Segment seiner Selbsteinschätzung deutlich:

das interessiert mich alles, aber ich bin nicht explizit äh jetzt vertreter einer kirche, aber selbst wenn jemand das möchte, ich biete das, wir bieten das auch auf der homepage an, wir können sogar einen äh einen äh katholiken oder protestantischen seelsorger mit einbeziehen in ein ritual, kein problem kein problem (HBischof, P 53)

Das Interesse an Religion in allen Formen wird nochmals unterstrichen, jedoch negiert er die Positionierung als „Vertreter einer Kirche“, zeigt sich aber flexibel, indem er sein Angebot auch in diese Richtung öffnet. Der Ausdruck «Vertreter einer Kirche» verdeutlicht eine Aufgabenstellung, die mit der Repräsentation einer Institution und einer damit verbundenen Haltung einhergeht (s. o. 9.1). Diese Position nehmen HBischof und GGeiger gerade nicht ein. Gleichwohl zeigen sich die beiden Ritualleitenden flexibel in der Kooperation mit gemeinschaftsgebundenen Anbieter*innen, wenn dies der Wunsch der Kund*innen ist. Die Bedürfnisorientierung der Kund*innen steht auch hier wieder an erster Stelle. Gerade aufgrund der eigenen – nicht-institutionellen – Affinität zu Religion und Spiritualität ist auch die Kooperation mit gemeinschaftsgebunden Ritualleitenden für HBischof kein Problem (s. o. 8.4.1, s. u. 10. Rituelle Flexibilität). Er lehnt institutionelle Positionierungen nicht ab, auch wenn er sie selbst nicht vertritt.

Trotz der Betonung, „frei“ zu sein, hat sich aber auch gezeigt, dass die Ritualleiter*innen sehr wohl ein eigenes Ritualskript verfolgen und auf eigene Ressourcen zurückgreifen (s. o. 8.4.1 und 8.4.2). So ist die Struktur der Bestattungsfeiern im Ablauf eng an kirchliche Feiern angelegt (s. o. 8.4.1). «Frei-sein» bedeutet deshalb in erster Linie, dass sich die Ritualleiter*innen in besonderem Maße mit der Konkurrenz gemeinschaftsgebundener und gemeinschaftsungebundener Akteur*innen auseinandersetzen und dazu Strategien der Abgrenzung und Alleinstellung entwickeln. Im positiven Sinne bezieht sich «Frei-sein» auf ein Gefühl der Autonomie und einer damit beanspruchten Bedürfnisorientierung. Es zeigt sich, dass empirisch verschiedene Grade von «Frei-sein» vorhanden sind und eine Ritualleiterin flexibel verschiedene rituelle Angebote machen kann (s. o. 3.1.1, s. u. «Ritualdesign» 10.3).

Selbstbehauptung und eigene (religiöse) Praxis

Die Ritualleiter*innen müssen ihre Autonomie behaupten, weil sie auf dem Friedhof und auch sonst an vielen relevanten Orten auf institutionell gebundene Infrastrukturen zurückgreifen müssen. Probleme stellen sich den Ritualleitenden oftmals mit Bezug auf die Infrastruktur. So fehlen z. T. schon die passenden Ritualschauplätze, wenn es in ländlichen Gemeinden z. B. keine konfessionsfreien oder neutralen Abdankungshallen gibt, sondern die Abschiedsfeiern üblicherweise in den Kirchen stattfinden.

PKuster erzählt in der folgenden Sequenz von ihren Erfahrungen auf einem Dorffriedhof. Sie thematisiert das Glockengeläut auf dem Friedhof, das in der christlichen Tradition die Abschiedsfeier einläutet und für das die Verantwortlichen der Kirchen auf dem Friedhof zuständig sind (s. o. 9.3). Für sie ist ein Glockengeläut bei ihren Abschiedsfeiern ebenfalls zu Beginn der Feier selbstverständlich. Sie erzählt von den Reaktionen der Kirchen auf ihre Leitung von Abschiedsfeiern auf dem Friedhof: de isch das halt wie neu gsi, dass nid nur pfarrer abschiedsfeier halte, sondern au noh andere lüt (PKuster, P 42)

Es wird die Frage der Legitimation der Leitung von Abschiedsfeiern gestellt. Wer darf Abschiedsfeiern leiten und wer darf auf welche Infrastruktur zurückgreifen? PKuster berichtet und evaluiert die Reaktionen der Kirche(n), die sie erfahren hat:

hat da de pfarrerin gsagt, ja das ist ein nicht kirchlicher anlass, und da lüte wir jetzt nüm, und da ham die katholische ja, wenn die reformierte nid lüte, lüte wir au nüm (mhm), und da ham sie nüm gelüte, und das isch eifach i üsem dorf, und so sache hats viel so konflikte usgelöst, oder (PKuster, P 42)

hat da die pfarrerin gesagt, ja das ist ein nicht kirchlicher anlass, und da läuten wir jetzt nicht mehr, und da haben die katholischen ja, wenn die reformierten nicht läuten, läuten wir auch nicht mehr

und dann haben sie nicht geläutet, und das ist einfach in unserem dorf uns so sachen hat es viel so konflikte ausgelöst, oder (PKuster, P 42)

PKuster präsentiert, dass sich beide Kirchenvertreter eindeutig von ihrer Feier abgrenzen (ja das ist ein nicht kirchlicher anlass) und aus ihrer Abgrenzung auch Taten folgen lassen, indem sie eben das Glockengeläut unterlassen. Die Unterscheidung zwischen kirchlicher und nicht-kirchlicher Feier wird durch das Unterlassen des Glockengeläuts für Aussenstehende deutlich markiert. Es wird genau beobachtet, wer auf dem Friedhof welchen Raum für sich in Anspruch nimmt.

Im nächsten Segment bewertet PKuster die Situation und erzählt, wie sie darauf reagiert hat:

so ja wo ich eifachs gefühl gha, dass isch eifach zutiefst unchristlich, es hat so viel lüt dabii, wo vielleicht no kirchestuur zahle oder (mhm), und i bin die, wo die nüd zahlt und i bin ustrete, und de hätts eifach ganz viel lüt gä, wo halt nachher ustrete sin (mhm), und da han ich afange e klangschale kaufe, und hab da eifach mit der klangschale igelütet (PKuster, P 43)

so ja wo ich einfach das gefühl gehabt habe, dass ist einfach zutiefst unchristlich, es sind so viele leute dabei, die vielleicht noch kirchensteuer zahlen oder (mhm), und ich bin die, die die nicht zahlt und ich bin ausgetreten, und da gab es einfach ganz viele leute, die halt nachher ausgetreten sind (mhm), und da habe ich angefangen eine klangschale zu kaufen, und ich habe da einfach mit der klangschale eingeläutet (PKuster, P 43)

Sie wertet das Verhalten der betreffenden Pfarrpersonen der reformierten und katholischen Kirche als «unchristlich», «zutiefst unchristlich». Dieses Verhalten ordnet sie im Kontrast zu dem Pol «christlich» ein. Somit kommt die Kirche aus ihrer Sicht nicht ihrem Selbstverständnis nach, sich christlich zu verhalten, d. h. in der Nachfolge Jesu zu handeln und somit auch Angebote für Kirchenferne und Ungläubige zu machen. Hinzu kommt noch, wie im nächsten Satz zu erkennen ist, dass viele der Teilnehmenden der ungebundenen Feier Mitglied in der Kirche sind und ihnen daher die Leistung des Glockengeläuts zustehen würde. Als Beleg für ihr Argument führt sie an, dass als Reaktion auf dieses Verhalten seitens der Kirchen viele der Teilnehmenden ihrer Feier aus den jeweiligen Kirchen ausgetreten seien.

PKuster stellt schliesslich ihren pragmatisch kreativen Umgang mit der Ablehnung dar. Sie passt sich an, und gleichzeitig grenzt sie sich auch ab. Die Klangschale ersetzt das Glockengeläut, und mit dem Klang läutet sie ebenfalls die Abschiedsfeier ein. Sie wird wie im kirchlichen Ritual dazu genutzt, den Beginn der Feier zu markieren. Es zeigt sich an dieser Stelle Interritualität (s. u. 10), da die Ritualleitende versucht, den Beginn der kirchlichen Feier nachzuahmen und dazu einen Gegenstand aus dem alternativ-religiösen Bereich wählt. Somit versucht sie in ihrer eigenen Praxis, eine Kontinuität herzustellen und gleichzeitig eine Alternative zu bieten (s. o. 8). Sie muss es in dem Fall auch, da sie nicht auf das Glockengeläut zurückgreifen darf. In diesem Zusammenhang stellt sie die historische Bedeutung von Glocken dar. Damit wird zusätzlich ein weiterer Legitimationsanspruch geltend gemacht.

Ein ähnliches Beispiel findet sich auch im Interview mit MSchäublin. Sie erzählt von einer Feier, die sie in einer reformierten Friedhofskappelle organisiert haben, bei der ein Zettel an der Eingangstüre zu lesen war: «Dies ist kein christlicher Anlass!» Auch hier erfolgt eine deutliche Abgrenzung von den «freie(re)n» Abschiedsfeiern.

Belegerzählungen, in denen detailliert die Fremdwahrnehmung der Kirchen und der «Anderen» wiedergegeben wird, dienen dazu, das eigene Tun zu legitimieren. Das Argument der Ritualleiter*innen ist, dass sie selbstverständlich zur rituellen Begleitung des Todes dazugehören. Der Wunsch nach Veränderung der Trauerkultur bedeutet nicht die Ablehnung von jeglichen bestehenden Traditionen und steht daher in einem permanenten Spannungsfeld, da zugleich Kooperation und Konkurrenz notwendig sind. Selbstermächtigung bedeutet auch, einen Geltungsanspruch zu haben und genauso wie die Kirchen und andere Religionen legitimiert zu sein, Feiern abhalten zu können. Ritualleitende beanspruchen deshalb die gleichen Räume wie die kirchlichen und staatlichen Träger.

Aus der Abgrenzung entsteht in einigen Fällen auch eine eigene religiöse Praxis. Deren Etablierung gehört auch zum freien Umgang mit religiösen Inhalten. In Kapitel 7 und 8 konnte gezeigt werden, dass die rituellen Elemente in einigen Fällen auch religiöse Elemente aufweisen. Ein solches Beispiel berichtet auch UMeier. In ihrer rituellen Praxis hebt sie die persönliche Ansprache der Verstorbenen hervor. Sie stört es, dass in einem reformierten Ritual die Toten nicht «persönlich verabschiedet» werden:

das stört mich, ich kanns nicht mehr unterstützen, denn ich begegne dieser frau und verabschiede also begleite ihren körper, oder ihre asche ihre urne zum boden (UMeier, P 107)

Sie macht ähnlich wie in der christlichen Kirche eine Zusage. Das Wort Zusage ist im religiösen Kontext ein Versprechen für etwas, dass sich in der Zukunft ereignen wird. Diese Zusage unterscheidet sich aber darin, dass sie diese nicht nur den Hinterbliebenen macht, sondern auch der Verstorbenen. Sie spricht von einer persönlichen Begegnung mit der Verstorbenen (denn ich begegne dieser frau, P 286) und benennt nicht nur die persönliche Begegnung mit den Hinterbliebenen.Footnote 7 Damit wird ein direkter Kontakt zu der verstorbenen Person hergestellt. Sie begründet diese Ansprache damit, dass der Tote ja noch nicht verabschiedet sei und der Körper noch da sei. Der verstorbenen Person wird eine Wiedergeburt in Form einer neuen Daseinsform im Kosmos «zugesagt». Über die konkrete Umgebung und die Natur zeigt sich für UMeier Zuversicht.

und darum das schöne, dass eben alles wachsen wird aus der erde […] wenn die leute das unbedingt möchten, sag ich, du bist bei deinen vorfahren, du wirst dich mit deinen vorfahren vereinen, mit deinen ahnen, mit deiner familie (UMeier, P 116)

Damit unterscheidet sich ihre Zusage deutlich von einer christlichen Zusage. Sie sagt hier eine Wiedergeburt des Menschen in der Natur voraus und geht bei Bedarf sogar auf einen Ahnenglauben ein.

Gerade Ritualleitende, die sehr vertraut mit dem kirchlichem Bestattungsritual sind, machen die Differenz zu diesem auch in den einzelnen Teilen des Rituals besonders deutlich und gehen auf verschiedene Grade von Differenz ein (wenn die leute das unbedingt möchten).

Beispielsweise stellt die Referenz auf ein «göttliches Licht», in das der Verstorbene eingegangen ist, bei CHof eindeutig einen religiösen Bezug her. Die religiöse Tradition wird aber nicht näher bestimmt. Der Ausdruck «Eingehen in ein göttliches Licht» verweist auf eine holistische Tradition. Die verstorbene Person verbindet sich in diesem Bild mit der Helligkeit. Licht steht im Gegensatz zu Dunkelheit und bestimmt etwas Positives. Die verstorbene Person wird in diesem Bild Teil von etwas, das grösser als sie selbst ist und weniger bestimmbar. Sie wird transzendiert, wenn das Göttliche als ausserhalb der erfahrbaren Wirklichkeit liegend verstanden wird.

9.4.3 Universale Deutungen

Wichtiger als die Abgrenzung von Religiosität und Spiritualität ist den Ritualleiter*innen die Abgrenzung zum institutionalisierten Christentum («der Kirche»). Dabei gibt es jene, die sich gänzlich von christlichen Inhalten distanzieren, und jene, die christliche Inhalte in ihre Überzeugungen integrieren. So sieht RTanner christliche Elemente inklusiv und integriert christliche und prächristliche Elemente in ihrem Weltbild. Christliche Elemente werden als Teil des kulturellen Erbes und als Teil eines universellen Ganzen gesehen.

Bestimmte christliche Traditionen werden abgelehnt und andere dezidiert für die eigene Praxis ausgewählt. Eine solche Positionierung findet sich bei UMeier. Sie verwendet einzelne Bibelstellen, die zu ihrem Weltbild gehören. Bei den anderen Ritualleiter*innen werden christliche Deutungsmuster per se eher exkludiert, oder es werden andere Deutungsmuster für Gegenstände des kirchlichen Bereichs gesucht. So legitimiert PKuster den Gebrauch von Glocken und Weihrauch in ihren Ritualen durch Belege für den Gebrauch dieser Elemente innerhalb vorchristlicher Traditionen:

und ja de im glockenmuseum in innsbruck han i würkli gelese, dass au scho kelte mit, wenn sie ritual gemacht ha, dass au scho mit glocke igestimmt hei, also das isch gar nicht so christlich, und das hat mir guatah au sottige sache zu seh, also die wurzle sind viel älter als christentum, und so han ich au sehr oft wiehruch chörner i sarg geto, wiehrauch isch öppas zu tiefst katholisches hüt, aber scho die ägypter hend das gemacht und frühner hat ma wiehruch mit gold ufgewoge es isch e wichtige handelswar gsi, und öppas sehr koschtbars (mhm) (PKuster, P 44)

und ja da im glockenmuseum in innsbruck habe ich wirklich gelesen, dass auch schon kelten mit, wenn sie rituale gemacht haben, dass auch schon mit glocken eingestimmt haben, also das ist gar nicht so christlich, und das hat mir gutgetan auch solche sachen zu sehen, also die wurzeln sind viel $lter als das christentum, und so habe ich auch sehr oft weihrauchkörner in den getan, weihrauch ist etwas zustiefst katholisches heute, aber schon die ägyptern haben das gemacht und früher hat man weihrauch mit gold aufgewogen es war wie eine wichtige handelsware, und etwas sehr kostbares (mhm) (PKuster, P 44)

Das Zitat belegt den Versuch, den eigenen Gebrauch von Instrumenten (Glocken) und Pflanzen (Weihrauch) mit historisch weit zurückreichenden Traditionen rituellen Gebrauchs zu begründen, die die neuere und gegenwärtig vorherrschende Verwendung und Deutung solcher Instrumente und Pflanzen innerhalb des Christentums relativieren. Auf diese Weise werden ältere rituelle Traditionen gegen die gegenwärtig als vorherrschend und hegemonial erlebten religiös-konfessionellen Traditionen gesetzt.

Darin besteht die Differenz, mithilfe derer die eigene Position als eine profiliert werden kann, die unabhängig und autonom ist, aber gleichzeitig noch anschlussfähig bleibt für christlich-kirchlich motivierte Kontexte und Kund*innen. Man kann darin auch einen Beleg dafür sehen, dass und wie Positionierungen immer auch die Orientierung am Markt der Angebote und Anbieter*innen zugleich spiegeln und prägen.

Im «freien» Umgang mit religiösen Inhalten gibt es unterschiedliche Ausmasse. Es gibt jene Positionierungen, für die Autonomie im Umgang mit Ritual, Religion und Spiritualität bedeutet, sich selbst vor allem als Dienstleister*innen zu sehen, die nicht den Anspruch haben, sich mit den für ein konkretes Ritual ausgewählten Texten und Liedern weitgehender zu identifizieren. Ein Beispiel für eine solche Positionierung liefert z. B. PKuster. Andere wiederrum wählen ihr Repertoire stärker entlang ihrer Überzeugungen aus. Ritualleiter*innen wie MSchäublin versuchen dagegen stärker, eigenes Liedgut und Texte zu etablieren und sich auch über die Wahl eigener Texte von gemeinschaftsgebundenen Feiern abzugrenzen. Diese Texte und Lieder stammen teilweise von ihnen selbst, teilweise von anderen Personen aus ihrem Netzwerk (sog. religiösen Spezialist*innen, s. u. 11), deren religiöse Angebote sie nutzen.

Literarische Texte werden anstatt von Texten aus religiösen Traditionen verwendet (s. o. naturphilosophische Texte von Johann Wolfgang von Goethe, s. o. 7.4.5). Gedichten und Texten, die sich mit Ontologie und Metaphysik auseinandersetzen und von Autoren wie Hermann Hesse, Reiner Maria Rilke und Friedrich Nietzsche stammenFootnote 8, um die Bekanntesten und am häufigsten vorkommenden Autoren zu nennen, wird die gleiche Wirksamkeit zugeschrieben wie religiösen Texten und Gebeten wie z. B. dem «Unser Vater». Belege dafür finden sich bei UMeier, PKuster und RTanner. Ein grosses Spektrum von Texten und Liedern findet sich in zahlreichen populärwissenschaftlichen Publikationen der Trauerliteratur, auf die die Ritualleiter*innen nachweislich zurückgreifen. So erwähnt PKuster im Interview, dass der deutsche Bestatter Fritz Roth ein grosses Vorbild für sie gewesen sei, und dass auch Claudia Marschner, eine deutsche Bestatterin, die Särge bemalt hat, sie inspiriert habe (PKuster, P 22 – 26, so. 4.5). PKuster dienen Gedichte als wichtiger Bestandteil bei der Gestaltung von Trauerfeiern. Sie sieht zwischen einem Gedicht und einem Gebet keinen gravierenden Unterschied, wie aus dem folgenden Zitat hervorgeht:

ich hab mich au afang frage, wo isch denn de unterschied zwischen nem gebet und nem gedicht (mhm), grad stufen vom hesse, also das isch so nach bii nem gebet (mhm), oder chli prinz, das isch au immer schö, es gibt som paar so klassiker, wo so schö si (mhm), womer so cha zusammefasse drüber rede […]

ich hab wirklich alternative suache und sammle, wo passend si für abschiedsfirene, wo eifach nid allzu christlich sind, aber es isch au vocho das mer e text aus der bibel vorgelesen hend, da her eigetlich mini kunde gseit, was sie bruchet und ich ha keini berührungsängscht, also zum bispiel so nimm denn meine hände (mhm das ist ein lied, oder?), das isch es lied oder es gedicht weiss nid, wo das zuerst gsi isch, das han ich viel brucht und viel vorgeschlage, und noi jetzt das singt ma praktisch jede abdankig und die wiederholig ham ja öppas schöns (mhm) (PKuster, P 90)

ich habe mich auch angefangen zu fragen, wo ist denn der unterschied zwischen einem gebeut une einem gedicht (mhm), gerade stufen von hesse, also das ist so nah bei einem gebet (mhm) oder der kleine prinz, das ist auch immer schön, es gibt so ein paar klassiker, die so schön sind (mhm), über die man so kann zusammenfassend drüber reden kann […]

ich habe wirklich alternativen gesucht und gesammelt, die passend sind für abschiedsfeiern, die eingach nicht allzu christlich sind, aber es ist auch vorgekommen, dass man einen text aus der bvible vorgelesen hat, da haben eigentlich meine kunden gesagt, was sie brauchen, und ich habe keine berührungsängste, also zum beispiel so nimm denn meine hände (mhm das ist ein lied, oder?), dass es ist ein lied oder ein gedicht ich weiss es nicht, wo das zuerst war, das habe ich viel gebraucht und viel vorgeschlagen, und noch jetzt singt man das praktisch an jeder abdankung und die wiederholungen haben ja etwas schönes (mhm) (PKuster, P 90)

Gebet und Gedicht sind für sie gleichbedeutend und können daher auch für den gleichen Zweck eingesetzt werden. Deutlich wird ein sehr pragmatischer Umgang mit Religion, bei dem es nicht auf einen bestimmten Glauben ankommt, sondern auf die Funktionalität ritueller Elemente. Insofern sollten diese wenn möglich nicht «zu christlich» sein, aber «berühungsängste» gibt es ausdrücklich nicht. Das Zitat zeigt, dass sie einerseits auf der Suche nach «Alternativen» zu christlichen Texten und Liedern ist, gleichzeitig aber auch Bibeltexte und Lieder aus dem Gesangbuch verwendet, wenn dies den Wünschen der Kund*innen entspricht. Der Ausdruck Alternativen, wo nid allzu christlich sind lässt darauf schliessen, dass es für sie Abstufungen der Verwendung von christlichen Texten und Liedern gibt. Sie führt etwa das Beispiel des Gebrauchs des Liedes «So nimm denn deine Hände» und das Vorlesen aus der Bibel an. Damit ist sie schon sehr nah an christlichen Abdankungen. Der Unterschied zeigt sich in der von ihr beanspruchten Flexibilität.

PKuster positioniert sich gegenüber Religiosität dezidiert pragmatisch; im Vordergrund steht die rituelle Nützlichkeit religiöser Elemente, nicht die zugehörige Tradition und die damit einhergehende Deutung. Der Anspruch auf grösstmögliche Autonomie gerät so scheinbar in einen Widerspruch zur Orientierung an religiös konnotierten Deutungsmustern, was auch mit dem Anspruch an Kunden- und Bedürfnisorientierung zu tun hat. An dieser Stelle kommt deutlich das Nebeneinander unterschiedlicher Bestrebungen zum Ausdruck: der Wunsch nach Autonomie und nach neuen rituellen Formen einerseits, gleichzeitig aber andererseits auch das Bedürfnis, der (inter)rituellen Charakteristik von Wiederholungen gerecht zu werden (s. o. 3.1.1, s. u. 10.2).

Die ritualtheoretischen Ausführungen von Catherine Bell zu ritual-ähnlichen Elementen sind hier abermals erhellend (s. o. 3.1.2), da sich gerade auch anhand der universalen Deutungen von PKuster die Merkmale des ‘Traditionalismus’ und ‘sakralem Symbolismus’ zeigen lassen. Dazu zählen das Beispiel des Glockengeläuts, das Singen von bekannten Liedern christlichem und nicht-christlichem Ursprung und die Einbettung von Gedichten in die Ritualisierungen des Todes. Lieder, Gebete und Gedichte werden flexibel, äquivalent und anstelle zu den religiösen Liedern und Gebeten eingesetzt und erfahren somit eine ‘präzise Aufführung’ und ‘Performanz’ und tragen somit zu einer Ritualisierung bei. Das religiöse Repertoire erfährt eine Erweiterung durch weitere Lieder und Texte und religiös-christliche Quellen bekommen eine Deutung als potentiell universal.

Die von mir interviewten Ritualleiter*innen gehen mit diesem Spannungsfeld zwischen eigener Autonomie und kundenzentrierter Bedürfnisorientierung unterschiedlich um. So finden sich auch bezüglich der Verwendung von christlichen Texten und Liedern in den eigenen Abschiedsfeiern Unterschiede. PKuster hat, wie sie ausdrücklich festhält, «keine Berührungsängste» gegenüber der Bibel. Das bedeutet neben der Orientierung an den Bedürfnissen ihrer Kund*innen auch, dass sie für sich als Laiin den Gebrauch von religiösen Texten legitimiert. In diesem Sinne ist die damit verbundene Autonomie auch eine religiöse Selbstermächtigung. Die Ritualleiter*in kann etwas verwenden, auch wenn sie es selbst nicht vertritt. Die Semantiken, die sie damit auch transportiert, hinterfragt sie nicht. Für die Wirksamkeit ist nicht entscheidend, dass sie hinter den Inhalten steht, sondern dass sie den Bedürfnissen der Trauernden entsprechen.

An dieser Stelle zeigt sich eine Typologie in Bezug auf die Unabhängigkeit und Flexibilität der eigenen (religiösen) Praxis. Es gibt Ritualleitende,

  • bei denen christliche Lieder und Texte vorkommen, wenn sie den Wünschen der Kund*innen entsprechen,

  • bei denen eine Auswahl an christlichen Ressourcen vorkommt, die sie mit ihrem eigenen Weltbild vereinbaren können,

  • bei denen die christlichen Texte und Lieder ohne eine tiefere Bedeutung eingesetzt werden,

  • bei denen die Texte eine persönliche Bedeutung haben und die zum Beispiel einzelne lokale christliche Traditionen verwenden oder christliche Texte reinterpretieren (wie UMeier).

Dabei kann ein eigener theologischer Hintergrund eine Rolle spielen, wie es bei einigen Frauen innerhalb des Samples ist, die in der Kirche für sich keinen Platz gesehen haben. Daneben gehören zu dieser Gruppe aber auch Ritualleiter*innen wie RTanner, die das Christentum im Zusammenhang eines universalen Erbes sehen, zu dem daneben auch noch andere Traditionen gehören, die auch miteinander verbunden sind und aufeinander aufbauen (s. o. 8.4.2).

Alle Ritualleiter*innen haben gemeinsam, dass sie zwischen Differenz und Anpassung je nach Situation und Kontext pragmatisch, hin- und herwechseln. Sie unterscheiden sich dabei aber graduell. Diese Beobachtungen belegen, dass sich die Ritualleiter*innen zwar «frei» und unabhängig von institutionalisierter Religiosität positionieren, aber deshalb nicht jegliche Form von Religiosität ablehnen. Typisch ist auch, dass sie den Teilnehmer*innen Wahlangebote von Deutungen machen (Deutungsoffenheit). Unabhängigkeit und Freiheit zeigen sich eben auch darin, nach eigenem Ermessen religiöse Inhalte und Deutungsmuster je nach Situation aufzugreifen, wenn es sinnvoll erscheint.

So machen beispielsweise GGeiger und HBischof einerseits deutlich, dass sie sich nach aussen hin klar von Religion als Institution abgrenzen und dass sie nicht den Anspruch haben, Religiosität in ihren Ritualen zu vermitteln. Ein solcher Anspruch gehört nicht zu den Aufgaben, die sie sich setzen. Was stattdessen zentral zu ihren selbstdefinierten Aufgaben gehört, ist die die Kunden- und Bedürfnisorientierung. Wenn also Kund*innen spirituelle oder religiöse Vorstellungen äussern, nehmen sie diese Vorstellungen bereitwillig auf und integrieren diesen in ihr rituelles Angebot. Dabei kommt ihnen zugute, dass sie selbst nach eigener Aussage sehr stark von religiösen und spirituellen Vorstellungen beeinflusst sind. Frei und unabhängig von institutionell regulierter Religiosität und Spiritualität sehen sie sich selbst gleichwohl als kompetent im Umgang mit Religiosität und Nicht-Religiosität. Sie lassen keinen Zweifel daran, selbst über Konzepte und Implikationen religiöser Begrifflichkeit und Semantik reflektiert zu haben, so dass sie in der Lage sind, herauszuhören, ob und in welchem Masse die entsprechenden Inhalte für ihre aktuellen Kund*innen relevant sind oder nicht.

9.4.4 Wirksamkeit durch Personalisierung

Wie ein Ritual persönlich gestaltet werden kann und wie dabei auch spontan auf Wünsche der Anwesenden eingegangen werden kann, erläutert PKuster:

hat einisch e frau gesagt und jetzt beten wir noch das vater unser ((lacht)), und nachher die pflegedienstleiteri isch aus bosnie, die hat au e anderi religion, die hat gesagt chanscht du das, ih ha gesagt ja, ((lachen beide)) und nachher hab ich das vaterunser gebetet eifach spontan und miteinand, (mhm) und denn lesen sie öppas über die frau sie isch jetzt seit zwei johr bei üs, und sie hat gern das, und das und aktivierungstherapie hat einisch e frau noch es säckli täferli in sarg gelegt, und gesagt ah sie hat immer so gern dies säckli täferli gha, und wir sind die zusammengo immer chaufe am kiosk und hat de und hat brüllet, und hat ihr das noch in sarg innegeleit, und so sache, das isch eifach trurig schö (PKuster, P 105)

und einmal hat eine frau gesagt und jetzt beten wir noch das vater unser ((lacht)), und nachher die pfledienstleiterin ist aus bosnien, die hat auch eine andere religion, die hat gesagt kannst du das, ich habe gesaht ja, ((lachen beide)) und nachher habe ich das vaterunser gebetet einfach spontan und zusammen, (mhm) und dann lesen sie etwas über die drau sie war jetzt zwei jahre bei uns, und sie hat gern das und das und aktivierungstherapie hat einmal eine frau noch eine tafel schokolade in den sarg gelegt, und gesagt, ah sie hat immer so gern diese tafel schokolade gebaht, und wir haben sie immer zusammen am kiosk gekauft und hat dann und hat geweint, und hat ihr das noch in den sarg hineingelegt, und solche sachen, das ist einfach traurig schön (PKuster, P 105)

An diesem Beispiel zeigt sich das spontane Eingehen von PKuster auf die Wünsche der Teilnehmer*innen in der jeweiligen Situation. Das Unser Vater wird gebetet, weil es von einer Teilnehmerin gewünscht wird und es fast alle Anwesenden aufsagen können. Die Teilnehmenden erzählen, was die Verstorbene gerne mochte. Dass die Freundin Schokoladentafeln in den Sarg legt, zeigt, dass PKuster als Ritualleiter*in die Gelegenheit dazu gegeben hat. Der Sarg war demnach also nicht verschlossen, und es bestand die Möglichkeit, sich diesem während der Abschiedsfeier zu nähern. Etwas in den Sarg hineinzulegen, was an die Verstorbene erinnert, symbolisiert ein Weitergehen der persönlichen Beziehung zu der Verstorbenen auch nach dem Tod. PKuster präsentiert damit neben der Personalisierung und Teilnahme auch, dass in dieser Trauerfeier der Sarg auch aktiv miteinbezogen wurde und eine Berührungsängste gegenüber dem Tod vermittelt werden sollen.

Bedürfnisorientierung bedeutet, dass sich die Teilnehmenden so einbringen können, wie sie möchten.

also einfach, wie ihre wünsche sind. die einen möchten, gar nichts machen, einfach k- dasein können und ich ma- oder oder ähm möchten etwas beisteuern möchten auch aktiv sein aso, wie es dann einfach das bedürfnis ist und ich mache einfach wirklich davor immer die abmachung, sie dürfen alles machen was sie möchten und, wenn sie dann aber im moment merken, dass es nicht möglich ist das so wie jetzt in ihren emotionen gefangen sind oder so (R: mhm) dann übernehme ich einfach. Also dass sie ganz frei sind (R: ja) dass sie ihren beitrag leisten können, aber wenn es dann wirklich nicht geht, weil meistens kann man das ja nicht zum voraus sagen wie es einem dann geht (R: mhm) wirklich dann in in der, in diesem prozess. Ja und ich entwickle das auch mit ihnen mhm (5) nach ihren wünschen (MItten, P 23)

Deutlich wird in Aussagen wie diesen, dass sich die Ritualleitenden ihrem eigenen Anspruch nach innerhalb des Geschehens auf das einlassen und einstellen wollen, was sich aus der Situation – und d. h. vor allem: aus der Wahrnehmung, dem Erleben und der Befindlichkeit der Beteiligten heraus – als passend (und «stimmig», s. o.) ergibt und was in der Planung eines weitgehend standardisierten Ablaufes heraus dann nicht mehr berücksichtigt werden könnte. Auch hier klingt zwischen den Zeilen die Kritik einer weitgehend standardisierten Praxis kirchlicher Abschiedsfeiern an, von denen sich die Ritualleitenden immer wieder abgrenzen. Wie das Zitat belegt, erfolgt diese Kritik typischerweise im Namen der Kund*innen, die nicht nur als passive Teilnehmer*innen, sondern als aktiv-partizipierende Nutzniesser des Rituals positioniert werden. Das schliesst dann je nach «Bedürfnis» auch ein, dass die Ritualleitende «einfach übernimmt».

Emotionalisierung und Personalisierung

Die Ritualleiter*innen erzählen, dass sie die Emotionen der Teilnehmenden während der Vorbereitung und Durchführung der Rituale sehr ernst nehmen. Sie proklamieren darin eine Differenz zu gemeinschaftsgebundenen Ritualen. Die Orientierung an den Emotionen der Teilnehmenden ist eine Form der Bedürfnisorientierung. Es geht darum, «Emotionen aufzugreifen» und damit auch hervorzulocken, diese zu interpretieren, zu verändern. Ein sehr anschaulicher Beleg findet sich in dem beschriebenen Ritual (s. o. 4.1) z. B. bei den Einleitungsworten von RTanner:

Ich lad eu ii, do z sii mit allne Gfühl, wo mit somene Abschied verbunde sind: Truur, Aateilnahm, mit Dankbarkeit, mit Spannige und Enttüschig, Verzwiflig.[…]

Ich lade euch ein, da zu sein mit allen gefühlen, die mit so einem abschied verbunden sind: trauer, anteilnahme, mit dankbarkeit, mit spannungen und enttäuschung, verzweiflung. […]

Die Aufforderung, die eigenen Gefühle wahrnehmen und auch zeigen zu dürfen, gibt den Rahmen für die Abschiedsfeier vor. Die einzelnen Personen werden auf ihre persönlichen Empfindungen angesprochen, und dem Umgang mit den Emotionen wird in der Abschiedsfeier ein prominenter Platz eingeräumt (s. o. weiterer Verlauf der Abschiedsfeier).

Die Orientierung an den Emotionen der Kund*innen zeigt sich auch in folgendem Interviewzitat sehr deutlich:

G. ja ja so zu spüren einfach die stimmungen, auch einfach die stimmungen auch aufzugreifen

H: wir, das ist dann jeweils auch wichtig wir gehören ja tatsächlich keiner religion an R: ja (P 50)

H: wir sind beide aus der kirche ausgetreten (P 51)

G: schon lange lange (GGeiger, HBischof, P 52)

Bei der Betrachtung dieser Sequenzen ist auffällig, dass HBischof im Anschluss an die Äusserung seiner Frau, in der es – wie erwähnt – um die «stimmungen» der Teilnehmer*innen geht, begründend anführt, dass sie ja keiner Religion oder Kirche angehören würden. Damit positioniert er sich und seine Frau als «autonom». Gerade die weltanschauliche Unabhängigkeit wird implizit zu einer Bedingung, um in besonderem Masse auf die Emotionen eingehen zu können.

Emotionen wird eine positive Kraft zugeschrieben, und es wird ein Umgang mit der Trauer begrüsst, bei dem die individuellen Emotionen der Einzelnen Raum haben und eben auch unmittelbar in der rituellen Begleitung des Todes sichtbar werden dürfen (s. o. 7 und 8). Die Zusammenarbeit mit Pfarrer*innen sei schwierig gewesen (RTanner, MSchäublin, UMeier). Der Mitbeinbezug der Anwesenden durch die Möglichkeit, Geschichten zu erzählen, sei auch für den Pfarrer selbst schwierig gewesen. Es könnte für die Anwesenden zu belastend und emotional aufwühlend sein (RTanner, P 40). Die Ritualleiter*innen betonen demgegenüber, dass alle Arten von Emotionen in der Abschiedsfeier Platz hätten, gerade auch schwierige (s. o. 4.1 RTanner, u. a. auch UMeier, RProbst).

Es werden von den Ritualleiter*innen daher Gestaltungsmöglichkeiten der ungebundenen Feiern hervorgehoben, die eine Gewichtung auf Personalisierung und Emotionalisierung legen, da diese besonders «stimmig» und «berührend seien» (s. o.). MSchäublin verwendet in diesem Zusammenhang die Chiffre «Sprache des Herzens». Es entsteht damit für sie eine Kommunikationsmöglichkeit zwischen den Verstorbenen und den Hinterbliebenen.

Wenn kirchliche Abschiedsfeiern von den Ritualleitenden kritisiert werden, geschieht das nicht zufällig mit diesem Postulat der Einnahme der Perspektive der Kund*innen, für die die Feier nicht «stimmig» (gewesen) sei: Wenn sie (die Kund*innen) das Ritual selbst gestalten und ausführen, sei es «echt», berührend und stimmig (Invivo-Kode, der bei RFischer und RTanner vorkommt). Die Ermächtigung der Kund*innen (zu einer Form von «Selbstermächtigung») erwächst also unmittelbar aus der Kritik an der gängigen kirchlichen Praxis und damit aus der Ressource der Differenz. Die Differenz zu anderen Ritualen liegt aus ihrer Sicht in Personalisierung und Emotionalisierung. Dies bedeutet aber auch die Notwendigkeit von Fingerspitzengefühl für die Ritualleiter*innen, da sie auch mit schwierigen Familiensituationen und divergierenden Meinungen der Angehörigen umgehen müssen und die Emotionen der Beteiligten auch «aushalten müssen» (RTanner, P 4). Die Ritualleiter*innen müssen dann nämlich auch auf die Emotionen reagieren bzw. abwägen, inwiefern sie etwas zulassen und wo sie möglicherweise auch strukturierend und regulierend eingreifen wollen (RTanner, MItten).

Sie vertreten den Anspruch, durch das Evozieren von Emotionen Erinnerungs- und Reflexionsprozesse bei den Teilnehmenden auszulösen. Die postulierte Ermächtigung der Kund*innen umfasst auch die Unterstützung beim Trauerprozess der Angehörigen, der über die Abschiedsfeier hinaus geht: Einigen Ritualleiter*innen ist es wichtig, dass die Trauernden über die Abschiedsfeier hinaus eine Möglichkeit der Erinnerung an den Verstorbenen und damit eine Unterstützung im Trauerprozess erhalten, der ja mit der rituellen Begleitung nicht abgeschlossen ist. Es ist ihnen wichtig, dem Verlust auch materiell etwas entgegenzusetzen. Es ist wichtig, dass sie nicht mit leeren Händen gehen (UMeier, P 235). Sie können sich z. B. einen Stein oder einen Ast aussuchen, den sie mitnehmen können (s.a. Gespräche mit Angehörigen).

RFischer und RTanner setzen Gegenstände in ihren Ritualen ein, die an die verstorbene Person erinnern (s. o. 4.1 Baumstamm bei einem Abschiedsritual, selbstgemalte Bilder des Verstorbenen, Tanzschuhe in einer Abschiedsfeier bei RFischer).

PKuster berichtet auch von ähnlichen Elementen in ihrem Ritual:

oder was mer au gemacht heit, si sunneblueme cherne mitge mitheinäh. da bruchts halt e familie wo mitschafft, wo die abfüllt und in chline säckli hei gibt (mhm), und das isch halt e frau gsi, wo sehr sehr gern isch go reise und, denn isch sie chrank gsi worde gstorbe, und hett sie die reise eifach nümmer chönne mache, und nachher hemmer die lüt aufgefordert, dass sie die sonnenchernli mitnäh auf ihre nächste reis im gedenken a die frau (mhm) (PKuster, P 62)

oder was wir auch gemacht haben, sind sonnenblumen kerne mitge- mit nachhausegenommen, da braucht es eben eine familie, die mitarbeitet, die die abfüllt und in kleine säckchen mit nach hause gibt (mhm), und das war halt eine frau, die sehr sehr gerne reisen gegangen ist, und dann ist sie krank geworden, gestorben und hat dann die reisen einfach nicht mehr machen können, und nachher habe ich die leute aufgefordert, dass sie die sonnenkerne mitnehmen auf ihre nächste reise in gedenken an die frau (mhm) (PKuster, P 62)

Das Beispiel zeigt, wie Elemente aus der Natur (hier: Sonnenblumenkerne) ad hoc zu Elementen eines späteren Erinnerungsrituals gemacht werden, zu dem die Betroffenen selbst aufgefordert werden. Sonnenblumenkerne sind nicht nur praktisch und gut handhabbar (leicht mitzunehmen), sondern aufgrund ihrer Keimfähigkeit gleichzeitig auch einbettbar in Vorstellungen von Neubeginn und Kreisläufigkeit. Die Anwesenden können und sollen die gesammelten Sonnenblumenkerne mit nach Hause nehmen, und sie können sie im Gedenken an die Verstorbene bei ihrer nächsten Reise aus- bzw. einpflanzen.

In der Anpassung eines solchen Rituals an Gewohnheiten und Charakteristika der Verstorbenen (hier: die Neigung zum Reisen) zeigt sich konkret die postulierte Bedürfnisorientierung.

Dazu gehört auch, dass die Gefühle der Beteiligten im Ritualgeschehen selbst ihren Ausdruck erhalten sollen. Nicht nur die Ritualleitenden reagieren auf die jeweilige Situation, auch die beteiligten Angehörigen sollen ihrerseits die Möglichkeit bekommen, mit ihren Gefühlen zu reagieren und auf das Ritual einzuwirken. Aufkommende spontane Emotionen spielen deshalb in der Darstellung der eigenen Aufgabe als Ritualleiter*in eine besondere Rolle.

Hieran schliessen sich sehr vielfältige Darstellungen an, die das Postulat der Bedürfnisorientierung konkretisieren und je konkrete Deutungsmuster der Ritualleitenden veranschaulichen. So geht es z. B. für BMeili in der Abschiedsfeier um die «leiblich-seelisch-geistige Spiegelung der Biographie» der Verstorbenen (BMeili, P 40). Es geht um die Darstellung der konkreten körperlichen und seelischen Aspekte des Lebens des verstorbenen Menschen, weil auf diese Weise der konkreten Lebenssituation der Angehörigen und den daraus erwachsenden Bedürfnissen Rechnung getragen werden könne.

i glaub ritual chann ma nid mache, wenn sie nid stimmig si (mhm,) die engsti agehörige müsse immer e bezug ha oder iverstange si, und sich druf iila, aber die sargschliessig die schlagt wirklich welle (PKuster, P 45)

ich glaube rituale kann man nicht machen, wenn sie nicht stimmig sind (mhm), die engsten angehörigen müssen immer einen bezug haben oder einverstanden sein, und sich darauf einlassen, aber die sargschliessung, die schlägt wirklich wellen (PKuster, P 45)

Trotz des Anspruchs auf Personalisierung ergibt sich an dieser Stelle ein Repertoire besonders geeigneter potentiell universal verwendbarer Ritualelemente, die sich durch bestimmte Eigenschaften auszeichnen. Vielfältig verwendbare Ritualelemente tragen dazu bei, dass die Ritualleitenden ihre Angebote situationsflexibel anpassen können. Durch Nachfrage habe ich erfahren, dass die Ritualleitenden sehr wohl ein Repertoire an Elementen haben, auf das sie immer wieder zurückgreifen.

Eine Emotionalisierung kann dadurch erreicht werden, dass das Leben der Verstorbenen einen grossen Raum einnimmt. In anderen Abschiedsfeiern ist es eher das Leben jede*r/s individuellen einzelnen Anwesenden, das zum Thema der Trauerfeier werden und so zu einer potentiell breiten Emotionalisierung aller Anwesenden beitragen kann.

Ein Beispiel für den Einbezug der Angehörigen bei der Gestaltung der Darstellung des Lebens der Verstorbenen findet sich bei PKuster:

also sag ich han ich immer gseit, verzellet doch gschichte üsem lebä, und des isch, wo ich meine ganzheitlich, also ich hab nid gedenkt fiir ghört nur dem pfarrer, ich sage da nüd dazue, ich habe de angehörige ufgeforderet de lebenslauf selber zu schriebe geschichte ufschriebe oder, das halt mal es enkelkind en abschiedsbrief vorliest (mhm) so chli verschiedeni sache, also dass es uflockeret, dass mers gern hört, dass es einen berührt (mhm), und nid eifach textzelltabelle ablese (PKuster, P 71)

also habe ich immer gesagt, erzählt doch geschichten aus dem leben, und das ist, was ich unter ganzheitlich verstehe, also ich habe nicht gedacht, die feier gehört nur dem pfarrer, ich da nichts dazu, ich habe die angehörigen aufgefordert den lebenslauf selber zu schreiben geschichten aufzuschreiben, dpder, das halt mal ein enkelkind einen abschiedsbrief vorliest (mhm) so ein bisschen verschiedene sachenm also dass es auflockert, dass man es gerne hört, dass es einen berührt (mhm) und nicht einfach textzellentabellen abzulesen (PKuster, P 71)

Sie stellt dar, dass sie die Texte und Darbietungen nicht kommentiert (ich sage da nüd dazue). Sehr wohl sollen die Texte aber gern gehört werden und die Teilnehmenden berühren. Mit ganzheitlich meint sie an dieser Stelle die Zusammenarbeit zwischen ihr und den Angehörigen. Die Abschiedsfeier soll nicht nur von einer Person, sondern von mehreren gestaltet werden. Verschiedene Elemente und verschiedene beteiligte Akteur*innen machen hier den Aspekt der Ganzheitlichkeit aus.

Weiter verdeutlicht sie, dass eine Personalisierung der Trauerfeier zu einer positiven Emotionalisierung führe: verzellet doch gschichte üsem lebä so chli verschiedeni sache also, dass es uflockeret, dass mers gern hört, dass es einen berührt Auch hier ist wieder die Abgrenzung zu Pfarrer*innen sehr deutlich und die Abgrenzung von einer Standardisierung: nid eifach textzelltabelle ablese. Das Attribut «ganzheitlich» wird gebraucht, um die Personalisierung und Emotionalisierung zu charakterisieren.

Hier sind es die Angehörigen selbst, die aufgefordert werden, den Lebenslauf zu schreiben. Manchmal wird die Emotionalisierung gerade durch die Perspektive der Ritualeiter*in oder die Gegenüberstellung von mehreren Perspektiven auf das Leben der Verstorbenen ermöglicht. Die Ritualleiter*in hat dann den Status einer allwissenden Person und kann somit als nicht direkt Betroffene Dinge anders darstellen.

In der Personalisierung und Emotionalisierung des Rituals liegt für die Ritualleitenden die empfundene Wirksamkeit des Rituals, wie das folgende Zitat von MSchäublin zeigt. Diese Selbstermächtigung und Partizipation führt nach Ansicht der Ritualleitenden dazu, dass die Kraft des Rituals viel stärker sei (MSchäublin, P 49) und ein heiliger Moment entstehen könne:

das ist, das tolle einfach jede jedes mandat ist wieder ne herausforderung herauszufinden, was brauchen diese menschen genau diese (1), und mit ihnen den weg zu machen, dass wir eben über das praktisch notwendige dann zu etwas kommen, was wir im nachhinein vielleicht als heiligen moment bezeichnen würden (L: mhm), also das ist es ist nicht, wir versuchen nicht irgendwie ne heiligkeit zu kreieren, sondern wenn sie entsteht, dann entsteht sie weil alle mit herz und und seele dabei sind, weil wir die, weil wir es schaffen diese präsenz des verstorbenen herzuholen und so zu verdichten, dass dann alle einfach mitmachen, dann wird stille auch nicht mehr peinlich, sondern dann ist sie voll (MSchäublin, P 86)

Die Ritualleitenden versuchen eine Vergegenwärtigung der Verstorbenen zu erzielen. Wenn ihnen dies gelingt, fühlen sich die Trauernden angesprochen und tragen durch ihr Dabeisein mit Herz und Seele (Personalisierung und Emotionalisierung) durch ihr Mittun dazu bei, dass Heiligkeit entsteht. Es ist also ein Zusammenspiel aus Ritualleitenden und Trauernden nötig, damit «Heiligkeit» entsteht. In der Semantik «Präsenz der Verstorbenen herholen» kommt eine Trennung von Immanenz und Transzendenz nicht eindeutig zum Ausdruck. «Präsenz der Verstorbenen» ist hier vor allem ein etisches Konzept, dass sehr offen formuliert ist. Nach Ansicht der Sprecherin entsteht es aus der Performanz des Rituals und hat damit mit dem Gemeinschaftscharakter des Rituals zu tun. Es ist offen, ob es sich vor allem um eine erinnerte Präsenz handelt oder um eine zeichenhafte Begegnung mit der Verstorbenen oder gar um eine postmortale Begegnung mit dem Verstorbenen. Dies ist wohl absichtlich offengelassen, damit die Teilnehmenden ihre eigenen individuellen Erfahrungen machen können. Heiligkeit entsteht nur dann, wenn alle Beteiligten auch präsent sind und «mitmachen». Das Heilige entsteht nach diesem Verständnis durch das gemeinsame Durchführen des Rituals, bei dem sich die Trauernden persönlich angesprochen fühlen. Emotionalisierung betrifft das Individuum und gleichzeitig auch die Gruppe. «Verdichtung» kann sich sowohl auf die erinnerte Präsenz des Verstorbenen jeder einzelnen Person als auch auf ein Gemeinschaftserleben als Gruppe oder auf beides beziehen.

und das ist das ist was mich so fasziniert, wenn wir davon ausgehen, dass es immer darum geht, dass zu tun, was es zu tun gibt oder die bezüge herstellen, die herzustellen sind oder darauf zu achten, was ist denn das besondere, was ist das, was ist das charakteristische zu diesem menschen zu diesem wesen zu diesem zu dieser person, dann bekommt es eben diese diese kraft des rituals, ist dann viel stärker (MSchäublin, P 69)

Wird das Individuum betont, lässt es sich der Positionierung Differenz zuordnen, wird die Emotionalisierung der Gruppe betont, dann liegt die Positionierung der jeweiligen Ritualleiter*in stärker im Feld Ritual.

Neben der Orientierung an den Emotionen der Teilnehmer*innen können die Ritualleiter*innen auch selbst emotionale Impulse setzen. Das kann z. B. durch die Wahl bestimmter Musikstücke erfolgen. Emotionalisierung wird oftmals auch dadurch erreicht, dass die Teilnehmer*innen aufgefordert werden, sich mit ihrem eigenen Sterben und Tod auseinanderzusetzen (UMoser). Angesichts des Todes sollen sich die Anwesenden der Fülle des Lebens bewusstwerden (RTanner, UMeier).

Inwiefern bei der Wirksamkeit durch Emotionalisierung und Personalisierung Religiosität bzw. Religion eine Rolle spielt, wird ebenfalls offengelassen. Es zeigt sich dabei wieder eine ambivalente Haltung zu Religiosität und Religion. Wenn davon die Rede ist, dass über das, was «praktisch» erforderlich sei, ein «heiliger moment» entstehen könne, zeigt sich auf der Ebene der Deutung einerseits die explizite Wiederaufnahme einer religiös (und christlich) motivierten und konnotierten Semantik. Andererseits wird hervorgehoben, dass der beschriebene Effekt nicht intendiert sei, sondern sich aus der Situation heraus ergeben würde, die durch das Engagement der Beteiligten (alle mit herz und seele dabei) und die Vergegenwärtigung («Präsenz») des Verstorbenen erwachse.

Es zeigt sich in dem Verständnis von «Heiligkeit» ein deutlicher Unterschied zu gemeinschaftsgebundenen Ritualen. Was «Heiligkeit» ist, hat nichts mit Gott zu tun oder einer von Gott entsandten Instanz, sondern es ist als ein dem Ritual inhärenter Effekt zu verstehen, der durch die Beteiligten hergestellt wird.

9.4.5 Anderssein als die Institutionen: Berufung ausserhalb der Institutionen

Die Differenz zu anderen Akteur*innen betonen die Ritualleitenden auch immer wieder in einer eigenen Betroffenheit und Berührbarkeit. Sie sehen ihre Aufgabe als eine „Herzensangelegenheit“ und sehen sich darin in einer Differenz zu anderen Akteur*innen, die mit Distanz und ohne Würde (in der Bestattung), mit Distanz und standardisiert (in der Gestaltung und Durchführung der Abschiedsfeier) die rituelle Begleitung des Todes gestalten würden. Die Präsentation der eigenen Lebensgeschichte stellt in vielen Fällen eigene «schlechte» Erfahrungen mit institutionellen Akteur*innen im Umgang mit dem Tod in den Vordergrund. Mit der Betonung eigener biographischer Authentizität in der Betroffenheit verstärken sie ihre Positionierung in Differenz zu anderen Akteur*innen.

In dem Selbstbild von UMeier als «Wanderpredigerin» und «Störpfarrer*in» (schon während ihrer institutionellen Anbindung) zeigt sich diese Berufung ausserhalb der Institution. Die Abkehr von der Kirche ist dann eine logische Konsequenz. Ähnliche biographische Erlebnisse der Sozialisation in der Institution Kirche und ein fester Glaube bei gleichzeitigen Schwierigkeiten, die eigenen Vorstellungen mit den Vorgaben der Institution Kirche zu vereinen, liegen auch bei den Fällen von Frauen in der katholischen Kirche vor. Anders als bei UMeier spielt die eigene Geschlechtszugehörigkeit hier eine vordergründige Rolle für den Wunsch nach Selbstermächtigung ausserhalb der Institution. Die Berufung zur Geistlichen als Frau in der katholischen Kirche und der damit verbundene Wunsch auch Sakramente ausführen zu können, werden von MItten, CHof und RFischer thematisiert. So erzählt RFischer im Interview von ihrem Wunsch, «Priesterin» zu werden und davon, wie dieser Wunsch innerhalb der katholischen (Amts-)Kirche auf Ablehnung stossen musste:

als ich sieben war, wollte ich priesterin werden pfarrer (I: ahja) und dann sagt der pfarrer das ginge nicht als mädchen, an bestimmten stellen habe ich schon gesagt, dass ich priesterin bin im wendekreisFootnote 9 gibt es einen artikel zur priesterin ich bin berufen auf diese fragen zu antworten (RFischer, P 87)

Ihre eigene Berufung, Priesterin zu werden, gibt sie auch trotz der Widerstände nicht auf. Ihr Selbstbild als Priesterin vertritt sie auch in der Öffentlichkeit, wählt aber den Kontext mit Bedacht aus. Dass sie in einer Zeitschrift des liberalen Katholizismus die Selbstpositionierung als Priesterin wählt, ist ein Zeichen dafür, dass sie auch politisch die katholische Kirche verändern möchte.

MItten und HBürgi schildern einen Bruch mit der katholischen Kirche (s. o. 9.4.1). MItten erkrankte an einer Depression (P 82), die sie auch auf ihre Zerrissenheit in der Kirche zurückführt:

immer wieder das bewusstsein, dass ich hatte aus meiner sicht dass die kirche vielfach an den menschen vorbei , redet (R: mhm) vorbei a:ngebote macht , und und gar nicht aus meiner sicht nicht nicht die Frau- umenschen gar nicht abholt dort wo sie heute in der heutigen gesellschaft stehen? Das war sehr schmerzhaft für mich (MItten, P 9)

Ja ich merke da- aber das war schon auch in der pfarrei so es ist für mich überhaupt nicht einfach ein job, den ich mache (2) sondern es ich fühle mich bis ins innerste berufen (R: mhm) aso ge:rufen (R: ja.)mhm und ich denke aso ich ich bin jetzt aus meiner sicht von überzeugt, dass dass ich sage jetzt das einfach so dass gott mich da haben will wo ich jetzt bin (R: mhm ja ja) (MItten, P 70)

Die Entscheidung, nicht mehr für die katholische Kirche zu arbeiten, hat nicht dazu geführt, dass sie ihren Glauben verloren hat, sondern dazu, dass dieser eher noch gestärkt wurde.

aso muss ich sagen, ich fühle mich heute den menschen näher als in meiner kirchlichen zeit (R: mhm), fühle mich also es war für mich befreiend, (R: ja) mich von diesen strukturen lösen zu können, ich fühle mich den menschen näher, ich fühle mich auch in meinem christlichen glauben mehr in diesem auf diesem weg (R: mhm) (MItten, P 86)

Sie verdeutlicht, dass sie sich ausserhalb der Kirche den «Menschen» und ihrem «Glauben» näher fühlt. Es geht hier auch um eine persönliche «Befreiung» von den «Strukturen». Somit wiederholt sie ihr Argument, dass die Kirche sich von ihr und auch von anderen «Menschen» entfernt.

Anderssein in Bezug auf Deutungen des Todes und die Organisation des Todes wurde oben schon am Beispiel des Falles von MSchäublin und AWrysch, des Falles von PKuster sowie auch bei dem Fall von UMeier in der Differenz von ritualisiertem Handeln und Deutungsmustern (s. o. 7.4, 8.2.2 und 8.2.4) ausführlich diskutiert.

9.4.6 Zusammenfassung

Einerseits wird eine starke Abgrenzung zu kirchlichen Todesritualen proklamiert, andererseits wird vor allem stark gemacht, dass es letztendlich eine subjektive Entscheidung ist, wie stark kirchliche Elemente in den ungebundenen Ritualen Platz finden. Bedürfnisorientierung wird im Sinne einer bestmöglichen Trauerbewältigung gewählt. Zugunsten der Bedürfnisorientierung rücken institutionelle Vorgaben in den Hintergrund oder fallen ganz weg. Dabei erfolgt eine religiöse Selbstermächtigung der Ritualleiter*innen und auch der Teilnehmenden. Die Differenz zeigt sich in einer proklamierten Emotionalisierung und Personalisierung der Rituale.

Der bemängelten Standardisierung der rituellen Begleitung des Todes wird in der rituellen Verabschiedung eine Ästhetisierung durch verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten entgegengesetzt, vor, während und nach der Trauerfeieri. Dies erfolgt durch eine Inszenierung der verstorbenen Person und der Beziehungen der Anwesenden zu der verstorbenen Person oder eines weitreichenderen Themas im Sinne eines Symbols, das einen Bezug zu der verstorbenen Person und darüber hinaus auch zum Leben der Anwesenden bietet.

Der Trend zur verstärkten Bedürfnisorientierung wird auch bei den gemeinschaftsgebundenen Ritualleiter*innen und bei den Dienstleister*innen der Bestattung und Friedhofsverwaltung immer mehr aufgegriffen. Staatliche, ökonomische und kirchliche Akteur*innen verfolgen dabei ähnliche Ziele und konkurrenzieren sich auch. Dies zeigt sich an den vielfältigen Auswahlmöglichkeiten der Gestaltung der Bestattung und des Gräberangebots sowie weiterer Angebote im Trauerbereich.

Vor diesem Hintergrund scheint es nicht verwunderlich, dass die jeweiligen Akteur*innen jeweils um Einzigartigkeit und Unterscheidung bemüht sind, so dass sie sich selbst bei einer Zusammenarbeit untereinander ergänzen und die jeweiligen Kompetenzen der Bedürfnisorientierung dienen.

Differenz zeigt sich in der Möglichkeit zur Entscheidung für eine individuelle rituelle Begleitung und in der Auswahl verschiedener Gestaltungsmöglichkeiten.

Anhand der Positionierung innerhalb des thematischen Feldes Differenz zeigt sich besonders deutlich, dass die etische und emische Beschreibung der Rituale nah beieinander liegen. Wir haben die Ritualleiter*innen in unseren Interviewanfragen und in der Interviewführung als «frei» und «alternativ» und ihre Rituale als «neue» und «freie» Rituale angesprochen. Die Analyse der Interviews zeigt, dass die Ritualleiter*innen in ihrem Selbstverständnis diese Bezeichnungen ebenfalls verwenden und somit die Sprache des Feldes gut abgebildet wurde.

Dabei geht es ihnen um das Aufzeigen mehrerer Möglichkeiten der Kombination von traditionellen und modernen Elementen. Die Kombination der Elemente wird als «neu» präsentiert. Dabei zeigen sie eine starke Flexibilität und Kompetenz im Umgang mit Traditionen auf. Es findet eine Umdeutung der Traditionen bzw. eine Re-Kontextualisierung statt. Die Erweiterung gemeinschaftsgebundener Formen wird als «rituell» bezeichnet, oder aber gemeinschaftsgebundene Formen werden als «rituelle» Elemente benannt. Die Rahmung einer Handlung als rituell, sei sie traditionell oder neu, steht an dieser Stelle in Konkurrenz zu den traditionellen kirchlichen Abschiedsfeiern.