Im Folgenden rekonstruiere ich das Positionierungsspektrum innerhalb des thematischen Feldes Ritual, indem ich den Ritualbegriff der Ritualleitenden untersuche, der sich aus ihrer Verwendung der Wörter «Ritual» und «rituell» in verschiedenen Zusammenhängen ergibt. Ausserdem beziehe ich mich auf Äusserungen, innerhalb derer unmittelbar auf weitverbreitete Ritualtheorien zurückgegriffen wird (rites des passage; Theorien von Lebensübergängen), indem z. B. von «Übergang» oder «Transformation» die Rede ist. In den Thematisierungen popularisierter Ritualtheorien, die sich in meinen Daten finden, spiegelt sich eine Reflexion etischer Ritualbegriffe und deren Verhältnis zu anderen Konzepten (s. o. 2.1 und 3.1.1).

Das thematische Feld Ritual ist nicht zu verwechseln mit dem übergreifenden Konzept der Ritualisierung(en), das im Zentrum dieser Arbeit steht und mit dem danach gefragt wird, inwiefern die Ritualleitenden durch ihre Praxis und Deutungen etwas machen, das durch andere (nicht-ritualisierende) Handlungen nicht erreicht werden kann (im Sinne von Bell 1992, s. dazu o. 3.1.2). Ritualisierungen betreffen nach diesem Verständnis alle untersuchten thematischen Felder.

Das thematische Feld Ritual tritt überall dort auf, wo eine Ritualisierung deutlich vonseiten der Akteur*innen sprachlich oder nichtsprachlich als solche markiert wird. Auch in diesem Kapitel orientierte ich mich an den o. eingeführten Positionierungsdimensionen: Selbstbild (8.1), Aufgaben (8.2), Agency (8.3) und Deutungsmuster (8.4).

8.1 Selbstbild

Die Bezeichnungen Ritualleiter, -begleiter, -gestalter und -berater führen eine Reihe von Konnotationen mit sich. Ritualleiter*innen sind nach dem Verständnis dieser Arbeit Personen, die für die Leitung von Ritualen verantwortlich sind. Die Annahme ist, dass damit eine soziale Position Ritualleitende verbunden ist (s. o. 1, 6.3 zur Einführung des Begriffs «Ritualleitende»).

Innerhalb dieser Bezeichnung(en) steht das thematische Feld Ritual im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das heisst, eine Person, die für sich die soziale Position Ritualleitende beansprucht, verortet der Semantik von Ritual eine hohe Wichtigkeit. Das Selbstbild als «Ritualleiter*in», -«gestalter*in», -«begleiter*in», -«berater*in» wird dabei immer mit Ritual-Kompetenz und -reflexion verbunden. Einige positionieren sich flexibel zu diesen Bezeichnungen (s. u. CHof), andere gewichten den Aspekt ihrer Leitung stärker, während es wiederum anderen eher um die Selbstermächtigung der Beteiligten im Umgang mit Ritualen geht. Wichtig scheint dabei zu sein, dass der Umgang mit Ritualen etwas ist, das gelernt werden muss oder das zumindest Anstösse von aussen benötigt. Die Ritualleitenden verstehen sich in diesem Sinn als professionelle Akteur*innen. Damit ist der Wunsch nach einer breiten Etablierung im Feld von Beratung und Begleitung in Lebensübergängen verbunden, der sich z. B. bei UMoser in der Vision eines anerkannten Berufsfeldes zeigt. In diesem Sinne sind Ritualleitende ihrem Selbstbild nach Nachfolger*innen gemeinschaftsgebundener (kirchlicher) Expert*innen. UMoser sieht z. B. eine Parallele zwischen der Entstehung der Sozialarbeit aus der Kirche (Diakonie) und der Entwicklung der Arbeit mit Ritualen (UMoser, P 39). Mit Ausbildungseinrichtungen (wie z. B. der Schule für Rituale, s. o. 4.3) soll dazu beigetragen werden, durch Expertise im Umgang mit Ritualen über Professionalisierung und einheitliche Berufs- und Qualitätsstandards zu einem anerkannten einheitlichen Berufsbild zu gelangen. In diesem Zusammenhang thematisiert UMoser Auseinandersetzungen um die Berufsbezeichnung in der Gruppe des sich etablierenden Feldes (P 50), in der sich keine Einigung über ein gemeinsames Selbstverständnis zeigt. Zu seinem Selbstbild gehört ein einfacher Zugang zu Ritualen, der sich aus der eigenen Erfahrung mit Ritualen und weniger aus der Aneignung bestehenden Ritual-Wissens ergibt (uns war das tun wichtig, das selber erleben, das reflektieren über das erlebte, UMoser, P 65). Es geht also stärker um eine praktische Ausbildung als um eine theoretische Expertise.

Das Selbstbild als Ritualleiter*in zeichnet sich in den Interviews durch die Selbstdarstellung als Übersetzer*in, als Mediator*in oder als Moderator*in aus. Damit wird eindeutig die Rolle einer/eines Vermittlerin/Vermittlers zwischen den Anwesenden und dem Ritualgeschehen und damit auch zwischen Anwesenden und Verstorbenen eingenommen. RTanner bezeichnet das mit der Aufgabe, «ein Gefäss zu werden» (RTanner II, P 4). UMeier spricht von «wir Medien» (UMeier, P 4).Footnote 1

Aus dem Prospekt von CHofFootnote 2 geht ein breites Interesse an religiösen und sozialen Tätigkeiten und biographischen Stationen hervor, die für den Werdegang einer Ritualleiterin typisch sind und auch vielfältige Kompetenzen und Lebenserfahrung miteinschliessen, die immer wieder von den Ritualleitenden als Voraussetzung für ihre Tätigkeiten hervorgehoben werden (s. auch RTanner I, P 71, II, P 5):

Das Selbstbild «Diplom Fachfrau für Rituale» (Prospekt CHof) unterstreicht den Anspruch an Professionalisierung und Kompetenz, und es wird hier explizit auf Gender hingewiesen, da es nicht Fachperson heisst. Hervorzuheben ist auch, dass sie ihre ehemaligen Tätigkeiten auflistet, aus denen eine ehrenamtliche und berufliche Tätigkeit in der katholischen Kirche hervorgeht.

8.2 Aufgaben

Aus den Bezeichnungen «Ritualbegleiter*in, -leiter*in, -gestalter*in, berater*in» und «Fachperson für Rituale» gehen die Aufgaben bereits hervor. Sie umfassen ein breites Spektrum: Rituale zu begleiten, zu gestalten und zu leiten und Ritualberatung. Im Folgenden sollen diese Aufgaben anhand von Fallbeispielen konkretisiert werden. Dabei geht es im Rahmen dieser Arbeit vor allem um Todesrituale und weniger um andere Rituale des Lebensübergangs. Ich greife im Folgenden die zentralen Aufgaben heraus. Dabei konzentriere ich mich auf mehrere Ebenen, die sich aus unterschiedlichen Ritualverständnissen ergeben, die sich teilweise ergänzen: das Übergangsritual, das ritualisierende Bestattungshandeln und die Totenfürsorge, die neu dazukommen, die (konkrete) Beisetzung und Präsenz im Ritual über Körperlichkeit. Wichtig bei allen Aufgaben ist, dass ihre Ausführung in Gemeinschaft erlebt werden soll.Footnote 3 Dieser soziale Aspekt ist bei allen mit dem Ritual verbundenen (Teil-)Aufgaben massgeblich.

8.2.1 Die Gestaltung des Todes als Übergang

Den Tod performativ individuell und sozial zu bearbeiten, ist eine wichtige Aufgabe, die die Ritualleitenden im thematischen Feld Ritual immer wieder hervorheben. Einige von ihnen formulieren es wie RTanner als ihre Aufgabe, Übergänge und Transformationen sichtbar zu machen.

Den in diesem Feld thematisierten Aufgaben ist es gemeinsam, dass darin die Verpflichtung aufscheint, eine spezifische Wirksamkeit des Rituals herzustellen, die dann eben über die Sichtbarmachung von Übergängen und/Gemeinschaft erzielt wird. Die Aufgaben werden von den Ritualleitenden reflektiert. Dabei orientieren sie sich am historischen und sozialen Kontext und passen sich diesem Kontext an. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass auch eine Orientierung an den Aufgaben kirchlicher Ritualleiter*innen (Pfarrer*innen) festzustellen ist. Umgekehrt ist zu beobachten, dass auch gemeinschaftsgebundene kirchliche Ritualleitende sich im thematischen Feld Ritual positionieren.Footnote 4

Bei der Aufgabe der Gestaltung des Übergangs ist auch die Frage zu klären, für wen der Übergang gestaltet wird. Geht es dabei primär um die Angehörigen oder um die Toten? Bei den Ritualleiter*innen steht in der Regel die Vergegenwärtigung des Übergangs für die die Angehörigen im Vordergrund, wie dieses Beispiel zeigt:

sie sollen sich den moment, wo sie über die schwelle gehen, ganz bewusstmachen, also sie haben ein leben gehabt mit dem verstorbenen und in dem moment gehen sie über die schwelle ohne verstorbenen und das ganz bewusst

ich sag dann, dass der verstorbene jetzt in das göttliche licht eingegangen ist, sich gebunden hat mit dem göttlichen licht und dass wir als zeichen von der verbundenheit auch ein licht dazustellen, die angehörige[n] machen das sehr gern.

(CHof, P 13, 14)

Interessant ist hier, dass das Überschreiten der Schwelle durch die Ritualleiter*in explizit thematisiert und zeitlich als Zäsur markiert wird. Das aktive Begehen der Schwelle lehnt sich an eine klassische anthropologische Ritualstruktur an. Der Schwellenübertritt symbolisiert das Hineingehen in eine unbekannte Zukunft.

Nachdem die Angehörigen die Schwelle ohne den Verstorbenen gedanklich übertreten haben, macht die Ritualleiterin deutlich, dass sich nun auch eine Veränderung des Zustandes des Verstorbenen vollzieht, dieser nämlich «in das göttliche Licht eingegangen ist». Aus der Darstellung bietet sich hier die Deutung an, dass die Kopräsenz der Anwesenden dazu geführt hat, dass diese beiden Schritte nun vollzogen werden konnten. Hervorzuheben ist auch, dass die Ritualleiterin einen Bezug zu einer Form von Transzendenz herstellt, von der der Verstorbene ein Teil geworden ist. Es bietet sich auch die Lesart an, dass neben der Kopräsenz der Anwesenden auch ihre Anwesenheit als Ritualleiterin und eine damit verbundene rituelle Autorität wichtig für diesen Schritt der Verbindung des Verstorbenen mit einer transzendenten Einheit sind. Die Ritualleiterin hat nach dieser Deutung als religiöse Expertin dann eine besondere Verbindung zur Transzendenz. Der Begriff «göttliches Licht» schliesst an eine religiöse Semantik an und ist doppelt positiv konnotiert. Das Attribut «göttlich» verweist auf eine Unterscheidung zum Menschsein und kennzeichnet das Licht als ausserordentlich, eine besondere Eigenschaft besitzend, als von Gott bzw. einer Gottheit kommend. Der Terminus ist aber nicht sehr spezifisch an eine religiöse Tradition gebunden und ist daher anschlussfähig an viele Traditionen. Das Attribut «göttlich» ist auch schwächer als das Substantiv «Gott» oder «Gottheit» und ist damit in seiner Konnotation weniger absolut.

Entscheidend ist hier für die Gestaltung des Übergangs auch dessen Materialisierung im Raum über das Symbol des göttlichen Lichtes, das durch eine Kerze verkörpert wird.

Diese steht an der Urne oder am Sarg (P 13). Die Angehörigen können dazu noch weitere Kerzen stellen und verstärken somit die Performanz der Transformation des Toten.

Der Übergang wird neben der Symbolisierung für die Angehörigen auch für die Toten gestaltet.

UMeier betont besonders diesen Aspekt des Gehenkönnens der Toten und wendet sich bei der Abschiedsfeier und Bestattung auch direkt an den Toten (s. u. 8.2.4). Sie sieht ihre Aufgabe auch in der Performanz des Übergangs für die Toten und die Lebenden:

unsere aufgabe ist zu verabschieden und die lebenden ähm die toten in in andere welten hinüberzuleiten in die freiheit, und die lebenden in den neuen abschnitt in das leben nach diesem menschen zu begleiten (UMeier, P 40)

Die Aufgabe der Ritualleitenden lässt sich als Mittlerfunktion verstehen. Die Ritualleitenden ermöglichen es, dass die Lebenden von den Toten Abschied nehmen können und dass die Hinterbliebenen in einen neuen abschnitt in das leben nach diesem menschen übergehen können. Sie werden in ihrem Neuanfang begleitet, so dass die Beziehung zu dem verstorbenen Menschen abgeschlossen werden kann.

8.2.2 Ritualisierendes Bestattungshandeln und Totenfürsorge

Im Folgenden soll die Darstellung der Aufgabe des Abschiednehmens genauer analysiert werden. Abschiednehmen umfasst bei UMeier, MSchäublin, AWyrsch und PKuster in besonderem Masse auch den Abschied vom toten Körper des Verstorbenen, also von der Leiche. In Bezug auf die Aufgabe der Verabschiedung und die Begleitung der Angehörigen im Trauerprozess werden bei MSchäublin, AWyrsch und PKuster die einzelnen Schritte des Bestattungshandwerks als einzelne Abschiede verstanden und somit gleichwertig zur Abschiedsfeier auch als Rituale verstanden. Damit diese Schritte verdeutlicht werden, werden sie ritualisiert, wobei die Angehörigen miteinbezogen werden. Aufgaben, denen sie eine besondere Bedeutung zuschreiben und die sie ritualisieren, sind z. B. das Ankleiden der Toten (MSchäublin, PKuster), das Herrichten der Toten (MSchäublin, PKuster), das Streicheln der Wange der Toten (PKuster), das Bemalen und Dekorieren des Sarges (RGianelli, PKuster) und das Einbetten der Leiche in den Sarg (den toten Körper «rituell in den Sarg einbetten», PKuster, P 54).

Die Totenpflege und das Bestattungshandeln werden dabei ästhetisiert und sehr bewusst ausgeführt. Dabei geht es um die Wertschätzung der verstorbenen Person wie auch der Angehörigen. MSchäublin beschreibt, dass sie dem Raum, in dem die Totenpflege stattfindet, mit Kerzen Bedeutung gibt (P 267). Diese Formulierung weist auf eine symbolische Deutung des Raumes und der Handlungen hin, die darin stattfinden (werden). Der Raum soll bewusst von anderen Räumen unterschieden werden können.

und und dann einfach mit mit der entschleunigung äh ganz langsam, ganz sachte auch mit der oder dem verstorbenen rede, und und und anspreche ausspreche, was ich tue und was wir tun, und dass das den dableibenden sehr oft die möglichkeit gibt, ganz langsam sich anzunähern und langsam mit zu tun (MSchäublin, P 268)

Im Zitat zeigt sich über den Umgang mit den Angehörigen bei der Totenpflege der praktisch-anwendungsbezogene Ritualbegriff von MSchäublin. Eine transparente Ausführung und das Kommentieren des eigenen Handelns sollen die Angehörigen ermächtigen, sich selbst auf die Totenpflege einzulassen. Diese Einbeziehung der Angehörigen in das Ritualgeschehen soll über das Aussprechen und das bewusste Handeln ohne Zeitdruck ermöglicht werden.

Nach Ansicht der Ritualleitenden ist die Totenpflege etwas, das von Bestatter*innen schnell hinter verschlossenen Türen gemacht wird und woran die Angehörigen nicht beteiligt sind. Davon grenzen sich die Ritualleitenden mit ihren Aufgabendefinitionen explizit ab. Sich auf die Situation einzulassen, keine Berührungsängste zu haben, zu interagieren und sich Zeit zu nehmen, zeichnet die Totenpflege aus. Dass dies für MSchäublin schon ein ritueller Akt ist, zeigt ihr Ritualverständnis auf.

also mein ritualverständnis heißt, es ist wir machen das, was es zu tun gibt und wir machen das nicht beiläufig, sondern sehr bewusst und gestaltet, das ist mein ritualbegriff (L:mhm), es geht nicht darum viel firlefanz zu erfinden (L:mhm), sondern es geht darum, das was es zu tun gibt bewusst und und in in auch in transparenz, dass wir das jetzt tun also in der wachheit des tuns zu tun (MSchäublin, P 59)

Auffällig ist, dass sich dieses Ritualverständnis eher als eine Lebenseinstellung verstehen lässt, die sich auf fast alle Bereiche anwenden lässt und weniger auf einen konkreten Bereich bezieht, den es zu ritualisieren gilt. Konzentration, Kommunikation und Zugewandtheit machen die Totenpflege nach diesem Verständnis aus. Aus dem Ritualverständnis der Gruppierung um MSchäublin (s. o.), ergibt sich eine Aufgabe, die auf mehrere Bereiche anwendbar ist. Für die Aufgabe der Totenfürsorge gilt, so lange dran zu bleiben, bis bei allen Beteiligten «keine verbissenen Zähne» mehr da sind. Anspannungen und Verspannungen sollen bei den Toten wie bei den Angehörigen gelöst werden. Die Ritualleitende nimmt sich Zeit, damit die Angehörigen loslassen können (MSchäublin, P 279).

MSchäublin macht deutlich, dass es ihr darum geht, während der Totenpflege zu interagieren und beteiligt zu sein. Sie folgt den Bedürfnissen der Verstorbenen und Angehörigen und nicht einer fest getakteten Zeitstruktur (s. auch o. Differenz, 9.4.1). Während dieses Prozesses werden eine Interaktion und somit auch eine Verbindung zwischen den Toten und Hinterbliebenen auch nach dem Tod kreiert. Die Angehörigen sollen den Eindruck haben, dass es der Toten gut geht (jetzt liegen sie bequem, P 147), und es kann bei der Herrichtung des toten Körpers sogar der Eindruck eines Lächelns der Toten entstehen. Wie stark diese Verbindung zwischen den Toten und Hinterbliebenen ist und ob sie auch weiterhin über diese Situation hinaus entsteht, scheint dabei bewusst offen gelassen zu werden.

Es geht hier gleichermassen darum, über die Beschäftigung mit dem toten Körper die volle Präsenz der Verstorbenen zu erreichen und für die Angehörigen sichtbar zu machen. Auch die Angehörigen sollen in bewusster Analogie zum toten Körper ihre Verspannungen lockern, d. h. z. B. ebenso wie die Leiche keine verbissenen Zähne mehr zeigen. Die Arbeit mit dem toten Körper dient also der Sichtbarmachung und Veränderung von Emotionen – sowohl mit Bezug auf die/den Toten als auch mit Bezug auf die Hinterbliebenen. Daraus entwickelt sich bei dem Unternehmen und Verein um MSchäublin die Vorstellung, dass die Totenfürsorge gezielt zu einer Trauerbewältigung beitragen kann.

Die Bezugnahme auf den toten Körper findet sich auch bei PKuster. Die Sargschliessung im Beisein der Angehörigen ist hier eine Handlung, die für die Angehörigen den Tod besonders erfahrbar macht:

da han i wirklich die verstorbene, lüt ufgefordert sie no a-zulange über backe streichle über händ streichle, und so de tod spüre im sinn vo kälti spüre vom tod, vom tote mensch, ich ha das immer als enorm wichtige moment gseh, viel lüt ham mir nachher gseit, das isch eigentlich für eus der abschied gsi, das andere isch jetzt für die öffentlichkeit (mhm) (PKuster, P 48)

da habe ich wirklich die verstorbene, leute aufgefordert, sie noch anzufassen, über die backe zu streicheln über die hände zu streicheln, und so den tod zu erfahren im sinn von kälte zu spüren, vom toten mensch, ich habe das immer als enorm wichtige momente verstanden, wo die leute mir immer nachher gesagt haben, das ist eigentlich für uns der abschied gewesen, das andere ist jetzt für die öffentlichkeit (mhm) (PKuster, P 48)

Entscheidend ist hier die Gewichtung des Berührens der Toten als persönlicher Abschied gegenüber dem, was man in erster Linie für die Öffentlichkeit macht. Die Verabschiedung von den Toten über die Berührung und die taktile Wahrnehmung des toten (kalten) Körpers (über backe streichle über händ streichle, und so de tod spüre im sinn vo kälti spüre vom tod vom tote mensch, i ha das immer als enorm wichtige moment gseh) wird hier als wichtigster Abschiedsmoment für die nahen Angehörigen gedeutet, weil er den Angehörigen die Erfahrung der Präsenz und der Nähe der Toten ermöglicht.

8.2.3 Die Aufgabe der Beisetzung

Als rituelle Handlung wird von den Ritualleitenden auch die Beisetzung selbst hervorgehoben. Der Beisetzung wird auch traditionell der Status eines Rituals zugeschrieben. Kirchliche Vertreter*innen und die Friedhofsverwaltung sprechen in der Regel nur im Zusammenhang mit dem Beisetzungsvorgang von einem Ritual, die anderen Teile der Feier werden anders benannt (vgl. Kunz 2015, s. auch meine Beobachtung des Gespräches zwischen Pfarrverband und Friedhofsverwaltung, Winterthur 21.05.19).

Bei der Beschreibung der Beisetzung nimmt MSchäublin das von ihr an anderer Stelle bereits formulierte Ritualverständnis wieder auf. Es geht darum, das zu tun, «was es zu tun gibt» (s. o., P 69):

die grablegung ist das haupt, ist die rituelle handlung und wir müssen nicht viel erfinden drum herum sondern, das, was es zu tun gibt tun, und es ist die aufgabe der angehörigen, dass sie ihre toten zu grabe tragen (MSchäublin, P 80)

Die Beisetzung wird also als Hauptbestandteil des Rituals gedeutet. In dieser Hinsicht schliessen die Ritualleitenden an traditionelle religiöse Praktiken an.

unsere unsere kunden kundinnen sind nicht unbedingt ritual gewohnte menschen, wenn sie das sind, dann ist das wunderbar, dann haben wir ne fülle von ideen, wie was wir machen können (W: genau) aber das ist ganz oft eben nicht so und und da ist es (1) geh gehen wir wieder nen umgekehrten weg, und da ist es (1) geh gehen wir wieder nen umgekehrten weg, nämlich wir haben nen pragmatischen ansatz, eben die urne soll die soll in die erde rein zum beispiel, und dieses erdloch dieses grab hat ca. 70 zentimeter tiefe und ist so ausgehoben, dass wir das nicht die urne nicht so reintun können, wir müssen die fallen lassen, das wollen wir nicht also brauchen wir nen hilfsmittel, das technische hilfsmittel ist dieses netz (L:ja) und wir können das ersetzen mit einem rituell bedeutsamen hilfsmittel, das ist dann das tuch oder (MSchäublin, P 101 f.)

Durch die Verwendung des Begriffs Kund*innen wird deutlich, dass die Aufgabe der rituellen Begleitung des Todes auch eine Verkaufsbeziehung ist und es daher auch um die Orientierung an den Nachfragenden geht. Es wird deutlich, dass die Ritualleiter*innen ihre Strategien und Semantiken an die Kund*nnen anpassen und zwischen ihren Semantiken und denen der Kund*innen unterscheiden. Die Begleitung der Toten wird den Kund*innen gegenüber angepasst und je nach den Bedürfnissen der Kund*innen nicht zwingend als rituell gerahmt, sondern als «praktisch-notwendiges» Handeln verstanden. Sie unterscheiden zwischen ritualgewohnten und ritualungewohnten Menschen. In den obigen zitierten Abschnitten aus dem Interview geht es gerade darum, wie sie mit den nicht ritualgewohnten Menschen umgehen: gehen wir nen umgekehrten weg. D. h., dass sie es als ihre Aufgabe sehen, ihren Kund*innen rituelle Handlungen näher zu bringen. Für sie entstehen rituelle Handlungen durch das bewusste und persönliche Ausführen von praktischen Handlungen. Es ist nicht eindeutig formuliert, wer mit «wir» gemeint ist. Aus einer vorhergehenden Sequenz wissen wir, dass MSchäublin und die anderen Frauen es als Aufgabe der Angehörigen verstehen, dass sie ihre Toten zu Grabe tragen (P 80). Daraus lässt sich folgern, dass sich das Agens «wir» hier auf die Angehörigen inklusive der Ritualleiter*innen bezieht.

Auf die Wichtigkeit der Beisetzung geht UMeier ein:

ich wünsche mir, dass man menschen auch weg gibt, dass man sie auch loslässt ja, ohne loslassen hat man keine freien hände (R:mhm), dass man aufhört menschen im eigenen garten zu bestatten, ich find das dem toten gegenüber eine frechheit ihn nicht ziehen zu lassen (UMeier, P 207)

Im Zitat von UMeier geht es dabei sowohl darum, dass die Angehörigen die Tote loslassen, um frei zu sein, als auch darum, dass die Toten auch gehen können und damit auch „frei“ sein können. UMeier spricht sich gegen die Bestattung im eigenen Garten aus, da der Tote dann nicht frei ist. Es kann dann keine Veränderung der Trauer geschehen, da die Angehörigen die Trauer nicht bewältigen können, wenn sie nicht loslassen. Auch die Toten sind dann bei den Angehörigen gefangen. Dass darin eine «Frechheit dem Toten gegenüber» besteht, zeigt eine Perspektivenübernahme: Die Ritualleitende sieht sich auch in der Verantwortung gegenüber den Verstorbenen. Gerade für Beide, Angehörige und Tote, besteht die Beisetzung aber aus der Markierung der Überleitung in einen neuen Abschnitt in anderer Form als vor dem Tod (s. o. 8.2.1, s. u. 8.2.4).

8.2.4 Die Aufgabe der Verabschiedung

An dieser Stelle zitiere ich nochmal einen Interviewbeleg, der bereits in 8.2.1 angeführt wurde, weil er unmittelbar zur Aufgabe der Verabschiedung führt:

unsere aufgabe ist zu verabschieden und die lebenden ähm die toten in in andere welten hinüberzuleiten in die freiheit und die lebenden in den neuen abschnitt in das leben nach diesem menschen zu begleiten (UMeier, P 40)

Die Aufgabe, die UMeier hier formuliert, lässt sich sowohl allgemein als auch konkret verstehen. Die Aufgabe des Verabschiedens wird bereits in der allgemeinen Bezeichnung Abschiedsfeier benannt. UMeier macht explizit, welche Aufgabe sie dabei als Ritualleitende hat.

Allgemein geht es darum, für die Toten und die Hinterbliebenen einen Übergang zu vollziehen, so dass beide einen Wandel vollziehen können. Die Toten können in andere Welten gehen, und die Lebenden können sich auf ein Leben einlassen, in dem der geliebte Mensch in der Form, in dem sie ihn gekannt haben, nicht mehr da ist. Insofern geht es dabei auch darum, einen Trennungsmoment zu schaffen und zu zelebrieren:

das transformative, nämlich ziehen lassen und zwar rituell in einer gewissen [L.R. Ordnung], ähm das transformative nämlich ziehen lassen rituell, das ist ja ein mantra dieses zaubertrio dank (R:mhm) zusage wunsch (UMeier, P 110)

Es wird deutlich, dass für sie der Trennungsmoment performativ vollzogen werden muss und dies für sie das Ritual ausmacht. Die Aufgabe der Ritualleiterin ist es, die Feier und die Abfolge der einzelnen Teile so zu gestalten, dass eine Transformation gelingen kann. Die Performanz in der Abfolge versteht sie dabei als rituell. Für UMeier müssen die Teile Dank, Zusage und Wunsch in der Feier vorkommen. In der Gestaltung des Ablaufs spielt Körperlichkeit durchgehend eine wichtige Rolle. Im ersten Teil geht es um den Dank. Dabei steht die Körperlichkeit des Verstorbenen im Mittelpunkt:

da sag ich danke für deinen körper und sage eher körperliche sachen, direkt für deinen duft, danke für deinen duft für deine sinne (UMeier, P 118)

Bevor die eigentliche Verabschiedung in der Beisetzung vollzogen werden kann, erfolgt der Dank. Dabei sollen die Anwesenden die verstorbene Person nochmals vergegenwärtigen. Dabei wird zwischen verschiedenen Graden von Ritualität unterschieden, und es wird deutlich, dass sich auch die eigene Arbeit verändert hat, wie an dieser Stelle über die Aufgabe der Verabschiedung erläutert wird:

und jetzt kommt ein wichtiges rituelles element, was für mich immer immer mehr platz einnimmt, nämlich ich sage mir die körperliche verabschiedung wirklich so die seele in den himmel schicken, das können wir draußen da oder da auf jeden fall, aber wo haben denn diese leute gelegenheit äh diesen menschen zu verabschieden, ob leiblich oder nicht (UMeier, P 68)

An dieser Stelle antwortet UMeier ausführlich auf meine Frage nach dem Ablauf eines Abschiedsrituals. «Und jetzt» schliesst an vorangegangene Ausführungen dazu an.

UMeier hebt im Beleg die «körperliche Verabschiedung» der Verstorbenen hervor. Auf diese Weise soll eine eindeutige Trennung vom Verstorbenen sichtbar gemacht werden: Die Seele wird sichtbar verabschiedet. Zudem betont sie hier auch die Bedeutung einer bewussten Verabschiedung von dem Toten für die Hinterbliebenen und kritisiert durch eine rhetorische Frage, dass die Hinterbliebenen heutzutage kaum noch die Möglichkeit zur Verabschiedung des Verstorbenen haben. Die Wendung, die «Seele in den Himmel schicken», verdeutlicht etwas, was nicht sichtbar ist (s. o. 7.4.6).

Noch vor der Beisetzung geht es darum, die Beziehung zu der Toten abzuschliessen:

ich möchte ihnen gerne die gelegenheit geben, ihre beziehung zu diesem toten abzuschließen (R:mhm), sie verbinden sich dann […] mit diesem menschen, und können ihn innerlich in der stille noch mitgeben dieser seele, […]meine aufgabe ist hier nicht auf die uhr schauen, sondern diese stille verantwortung rituell dieser stille einen rahmen zu geben, das ist, ich sehe immer da, ich sitze nicht, ich stehe, und bin in einer gebetsartigen haltung, mit dem bewusstsein meine aufgabe ist jetzt als geistliche die menschen in diesem thema zu halten damit sie nicht abdriften

(I: mhm so meditativ dann fast eigentlich dann)

jawohl das ist schwer- arbeit schwerstarbeit, das ist meine aufgabe, und wenn ich dann einfach spüre, das ist ab- das kannst du metrisch nicht messen, ich danke ihnen, und jetzt können wir diesen menschen auch ziehen lassen (R:mhm) (UMeier, P 71–75)

UMeier ermöglicht den Anwesenden, dass sie die Beziehung zu der Verstorbenen abschliessen können («sie verbinden sich dann mit dieser seele»). Ihre Präsenz ist entscheidend, damit dies gelingen kann. «ich bin in einer gebetsartigen haltung». Über ihre Körperlichkeit und das Stehen drückt UMeier eine hohe Präsenz und Konzentration aus. Ihr geht es um die Herstellung einer Präsenz der Beziehung zwischen den Hinterbliebenen und der Verstorbenen in der Stille. Sie versucht, die Konzentration auf die Verstorbenen und die Angehörigen zu lenken. Sie nimmt an, dass eine Verbindung und eine Wandlung bzw. ein Abschluss der Beziehung zu den Toten an diesem Punkt der Abschiedsfeier möglich sind. Es scheint, dass sie sich an dieser Stelle selbst eine Rolle zuweist, die darin besteht, als Vermittlerin und Medium Transzendenz herzustellen. Sie sieht es als ihre Aufgabe, dieser Stille rituell eine Verantwortung zu geben. Stille ist somit nicht gleich Schweigen, sondern rituell gestaltete Konzentration. Somit ist sie dann nicht beiläufig, sondern es laufen nicht sichtbare Prozesse bei den Beteiligten ab.

meine aufgabe ist hier nicht auf die uhr schauen, sondern diese stille verantwortung rituell dieser stille einen rahmen zu geben […]

meine aufgabe ist jetzt als geistliche die menschen in diesem thema zu halten, damit sie nicht abdriften, das ist schwerstarbeit (UMeier, P 73)

Sie spricht sich selbst eine Wirksamkeit zu, insofern sie die Konzentration der Hinterbliebenen lenken und eine Verbindung zur Seele des Verstorbenen herstellen kann. Dieser Moment der Stille wird von ihr als ausserzeitlich konstruiert: das kannst du metrisch nicht messen. D. h., dass für UMeier nicht eine bestimmte Zeiteinheit den Moment der Stille beendet, sondern sich eine eigene Zeitlichkeit als Wirksamkeit des Moments ergibt.

Nach Beendigung der Stille wendet sich UMeier dem Sarg bzw. der Urne zu, um den Verstorbenen seelisch und körperlich zu verabschieden (P 107; s. zur Bedeutung der Trennung von Körper und Seele in der Bestattung und deren Implikationen für ihre Vorstellungen von Postmortalität auch o. 7.4.6). Wie wichtig ihr dabei die persönliche Verabschiedung der Toten ist, macht sie am Beispiel einer reformierten Bestattung deutlich, die sie besucht hat:

dass er nicht zu dieser frau gesagt hat lebe wohl und und sie noch verabschiedet hat der sarg und der körper ist noch da, (R: mhm) der sarg und der körper ist noch da, der abschied ist noch nicht vollzogen, das stört mich ich kanns nicht mehr unterstützen (UMeier, P 100-101)

Aus dieser Aussage geht hervor, dass der Tote auch über den Sarg oder die Urne noch körperlich präsent sei und daher eben auch persönlich angesprochen werden solle.

Die Beisetzung sieht sie als auch persönlich zu gestaltende Aufgabe für die Tote:

und dann von dem her ist es natürlich rituell, denn ich ich begegne dieser frau und verabschiede also begleite ihren körper, oder ihre asche ihre urne zum boden, und dann schau ich aber in den himmel, und dann mit einem blick zu ihr, und beim kopf und zum himmel und häh denke, das ist meine geistliche aufgabe, wir lassen wir lassen dich ziehen, du darfst gehen wir lassen dich ziehen, woah flieg, und das ist natürlich schön, wenn ich das draussen machen kann, ich das fenster öffne (UMeier, P 107)

Die Tote wird über ihre Körperlichkeit im Ritual materialisiert und somit über den Sarg und die Urne konkretisiert. Sie spricht den Toten an («flieg»), da er über den Sarg oder die Urne für sie zumindest körperlich noch anwesend und ‚ansprechbar‘ ist.

Ihre Aufgabe erwächst hier aus ihrem Selbstbild. Sie ist diejenige, die die rituelle und die geistige Leitung innehat. UMeier verkörpert eine rituelle Autorität und Zuversicht. Sie betont die Wichtigkeit der persönlichen Ansprache bei der Bestattungsfeier (du darfst gehen). Sie setzt die persönliche Ansprache der Verstorbenen gezielt als ein Mittel der Kontaktaufnahme ein und sieht diese als unabdingbar für die Trauerfeier an. Ihre geistliche Aufgabe besteht darin, dass sie sich im Moment der Beisetzung der Erde (Boden) und dem Himmel zuwendet und dabei auch die menschlichen Überreste anschaut (und dann mit einem Blick zu ihr), so dass sich die Transformation des Körpers und der Seele vollziehen kann. Das dieser Aussage zugrundeliegende Weltbild wird an anderer Stelle erläutert (s. o. 7.4.6).

UMeier stellt beispielhaft dar, wie sie die Beisetzung gestaltet.

und dann die asche in die hand nehmen und schön verstreuen, und das loch wieder zudecken und so das ist dann schon noch ritueller, aber wenn ich natürlich bei diesem grab stehe, und sage du deinen körper, so viele haben deinen körper berührt geliebt, oder deine hand gespürt und weisst du noch ein bisschen so zu der frau rede, und sage jetzt darfst du deiner wege ziehen […] so wirkt das natürlich sehr rituell (UMeier, P 102)

An dieser Stelle nennt sie zwei Beispiele, wie sie Körperlichkeit in der Beisetzung herstellt, um sie – in ihren eigenen Worten – «ritueller» erscheinen zu lassen. Die Körperlichkeit und Präsenz der Toten werden über das In-die-Hand-Nehmen der Asche und das Verstreuen der Asche erfahrbar und steigern sich in ihrer Performanz noch durch das Reden mit der verstorbenen Person. Die Angehörigen werden hier miteinbezogen. Über das Ritual wird so Kontakt zu der Toten ermöglicht. Es ist der Kontakt zu der Toten, der für UMeier die Beisetzung «rituell» macht. Die Transformation des Toten vom Leichnam zur Urne wird so für die Anwesenden «be-greifbar». Die Zuwendung zur Asche verkörpert den Abschied von der Person. Es kann als ein Akt der letzten körperlichen Zuwendung gedeutet werden. Die Asche wird liebevoll umsorgt, und durch die Ansprache wirkt die Beisetzung sehr persönlich. Die Asche symbolisiert den Körper und die Person der Verstorbenen, der bis zur Verabschiedung geehrt wird: jetzt darfst du deiner wege ziehen (P 102)

UMeier verdeutlicht an dieser Stelle, dass sie während der Beisetzung auch körperliche Attribute der Toten anspricht (s. o.). Damit wird der Körper der Toten geehrt. Die Gestaltung der Verabschiedung in der Darstellung von UMeier bietet eine sehr ausgeprägte Veranschaulichung der Aufgaben der Beisetzung und des Begreifens von Tod und Abschied. Die Asche in die Hand zu nehmen und selbst zu verstreuen, wird zu einem Motiv, das auch von den Teilnehmenden an den Ritualen sehr positiv wahrgenommen wird (vgl. auch Interview mit AGrunder, Angehöriger, der für seine Mutter ein Ritual bei UMeier in Anspruch genommen hat. In diesem Fall fand die Beisetzung nur im engsten Kreis der Familie statt. Seine Kinder, er selbst und seine Ehefrau haben die Asche der Mutter in der Nähe eines Sees in der Erde verstreut).Footnote 5

Der zitierte Beleg ist im internen Kontext des Interviews auch als Abgrenzung zu einer weniger «rituellen» Beisetzung zu sehen. UMeier reflektiert ihre eigene Entwicklung, die auch immer «freier» geworden sei und sich immer weiter weg von ihrer Ausbildung und Erfahrung als reformierte Theologin entfernt habe (s. auch u. 9.1, 9.4.2).

Die Verabschiedung des Körpers und der Seele im Sinne der rituellen Veränderung durch «Ver-himmelung» und «Ver-erdung» (s. o. 7.4.6) bildet das Kernanliegen von UMeier. In der Übergabe des Körpers an die Erde und der Seele an dem Himmel sieht UMeier die wichtigste Aufgabe der Abschiedsfeier und der Beisetzung. Dabei konnten Teilaufgaben rekonstruiert werden, die aus ihren Ausführungen hervorgegangen sind: Der Körper wird der Erde übergeben, und dem Körper wird «gute Ruhe» und der Seele «Freiheit» gewünscht:

zusage ist, wir wollen ja verkünden als geistliche, also geistlich also irgendeine religion, es kommt gut, auch wenn dus nicht glaubst (UMeier, P 115)

Transzendenz spielt in der Darstellung der rituellen Struktur von UMeier eine entscheidende Rolle. Sie wird explizit mit Religion in Verbindung gebracht, und UMeier schreibt sich entsprechend auch selbst eine religiöse Rolle als «Geistliche» zu. Die Aufgabe der «Zusage» im Sinne einer positiven Verkündigung ist eine Aufgabe, die sie sich als Geistliche zuschreibt.

es kommt gut, auch wenn dus nicht glaubt (P 115)

Zur Veranschaulichung dieses Gedankens gibt sie den Angehörigen dann Zweige mit Knospen mit (P 719). Die Erläuterung und Symbolisierung dessen, was eine «Zusage» ist, zeigt, wie UMeier ein religiöses Konzept veranschaulicht, das sich vom «Glauben» gelöst hat. Es lässt sich als Handlungsmuster bei UMeier herausarbeiten, dass die Veranschaulichung religiöser und metaphysischer Konzepte als wichtiges Anliegen gesehen wird (s. u. 9, Differenz).

8.2.5 Die Aufgabe der Ritualarbeit

Ritualleiter*innen sprechen gerne von «Ritualarbeit», wenn sie ihre Aufgabe beschreiben. Darunter verstehen sie die Arbeit mit Ritualen. Eine zentrale Aufgabe der Ritualarbeit ist es, Präsenz zu schaffen. Im Vergleich der Ritualleiter*innen zeigen sich verschiedene Varianten, Präsenz zu schaffen. Invivo-Kodes in diesem Zusammenhang sind «Verbindung schaffen», «Verdichtung», «den Raum halten» und «einen Rahmen halten». Das sind Kodes, die ein breites Deutungsspektrum haben. Es geht um Präsenz im Sinne von Konzentration. Es bleibt aber offen, worauf die Konzentration gerichtet ist. Zumeist ist damit eine Konzentration auf die verstorbene Person, das Geschehen der Abschiedsfeier, die Beziehung zwischen der verstorbenen Person und den Anwesenden oder die Bewusstwerdung der eigenen Sterblichkeit gemeint. Die Ritualleiter*innen sind diejenigen, die durch ihre eigene Präsenz und die Gestaltung des Rituals die Konzentration und Präsenz der Anwesenden steuern und «halten» können.

Die Verbindung zur verstorbenen Person herzustellen (s. o. 7.3), kann über eine Ritualisierung gelingen und zugleich verstärkt werden. Die Teilnehmenden der Abschiedsfeier bringen dazu z. B. eine Kerze oder eine Blume nach vorne. Die Verbindung zur verstorbenen Person kann auch bei der Grabbeilegung und beim «letzten Geleit» hergestellt werden.

RTanner erläutert im zweiten Interview ihre Vorstellung von einer Energetik der Ritualarbeit.Footnote 6

also es isch eigentlich wie nen energetik vo de ritualarbeit, dass du ebbe eigentlich die ganze energetik chanscht in verbindig si mit dem rituelle, vo mit de rituelle ablauf und dötte ebbe in das halte innego, das heisst si mit dem was isch (mhm) und allenfalls au spüre also, wo ma öppas mal muss interveniere oder öppas innegä als impuls, oder wos ebbe au eifach guat isch id dere de leerruum mit zu träge (RTanner, Interview II, P 1)

also es ist eigentlich wie eine energetik von der ritualarbeit, dass du eben eigentlich mit der ganzen energetik kannst in verbindung sein mit dem rituellem, mit dem rituallem ablauf dort eben in das halten hineinkommst, dass heisst sein mit dem, was ist (mhm) und allenfalls wahrnehmen, also wo man mal ein bisschen intervenieren muss oder einen impuls eingeben, oder wo es eben einfach auch gut ist, den leeraum mitzutragen (RTanner, Interview II, P 1)

Aus dem Zitat geht hervor, dass «Ritualarbeit» für die Ritualleiterin die Aufgabe beinhaltet, dass sie dem rituellen Ablauf auch auf einer emotionalen Ebene begleitet. Für RTanner hat ein Leerraum einen wichtigen Stellenwert in ihrem Ablauf des Abschiedsrituals. D. h., dass sie bewusst einen Teil des Abschiedsrituals als «Leerraum» definiert, in dem Platz für Anekdoten der Anwesenden oder auch Stille ist.

und das darf si, und ich chann das eigenlich nummer wirklich guat, wenn ich die emotione selber bei mir chan ushalte au wieder auch das das isch so chli symbolisch, oder also ich chann eigentlich nummer das ushalte, was ich auch chan in mir chan halte, drum red ich au immer gern vom gefäss, dass es drum gaht ein gutes gefäss zu werden (ja), als als ritualberaterberateri, wo eifach ganz viel möglich isch, und viel platz hät, und das hat natürlich au ganz viel au mit dem persönliche weg zu tue, mit de entwicklig die persönliche entwicklig (I: von von einem selber?) (RTanner, II P 4)

und das darf sein, und ich kann das eigentlich nur wirklich gut, wenn ich die emotionen selber bei mir aushalten kann, auch wieder, auch das ist so ein bisschen symbolisch, oder, als ich kann eigentlich nur das aushalten, was ich auch in mir kann halten, darum rede ich auch immer gerne vom gefäss, dass es darum geht, ein gutes gefäss zu werden (ja), als als ritualberaterberaterin, wo einfach ganz viel möglich ist, und viel platz hat, und das hat natürlich auch ganz viel dem persönlichen weg zu tun, mit der persönlichen entwicklung mit der entwicklung (I: von von einem selber?) (RTanner, II P 4)

RTanner spricht hier von einer Übertragung der Stimmung der Teilnehmenden auch auf sie selbst. Sie hat als Ritualleiter*innen die Aufgabe, ein «Gefäss» zu werden. D. h., dass sie empfänglich ist und die Reaktionen der Teilnehmenden und die Trauersituation aufnehmen kann: wo eifach ganz viel möglich isch und viel platz hät.

Das bedeutet, dass sie sich als Ritualleiter*in unvoreingenommen dem Ritual nähern kann und diesem auch begegnen kann. Wenn sie ein «Gefäss» wird, dann wird sie Teil des Rituals und zugleich zu einer überindividuellen Instanz.

In diesem Zusammenhang ist auch das Konzept der «rituellen Verantwortung» von Interesse, das UMeier erwähnt. An einer Stelle im Interview spricht sie von der «rituellen Verantwortung» als Ritualleiter*in (UMeier, P 669). Darin kommt zum Ausdruck, dass die Ritualleiter*innen eine Gestaltungsmacht und -zuständigkeit für ein gutes Ritual haben und diese auch nutzen sollten.

Einige Ritualleiter*innen haben gemeinsam, dass sie ihre Aufgabe in einer Vermittlungsfunktion sehen. Dabei geht es um Wahrnehmung, Zuschreibung und Kommunikation von Bedeutungen. Dies geschieht auf verbale und nonverbale Weise. Zusammengefasst sieht UMoser seine Aufgabe darin:

wahrnehmen was ist, zeigen was ist (R:mhm), und irgendeinen bezug schaffen äh über über den menschen hinaus oder so oder über den moment hinaus (UMoser, P 102)

RTanner sieht ihre Aufgabe im Sichtbarmachen von Gefühlen und Stimmungen:

aber letschtendlich gahts eigentlich immer drum äh z’luege, was isch schtimmig für de mensch wie fühlts sich schtimmig ah, wie chammers äh ine rituelli symbolischi sprach übersetze und e so öppis ine sichtbarkeit inebringe (I: mhm)

das isch für mich glaub e so öppis äh ganz zentrals oder die (4) ja: das sichtbarmache vom eigete prozess wo en mensch grad macht (RTanner, P 22)

aber letztendlich geht es immer darum ähm zu schauen, was ist stimmig für den menschen, wie fühlt es sich stimmig an, wie kann man es in eine rituelle symbolische sprache übersetzen und äh so erwas in eine sichtbarkeit bringen (I: mhm)

das ist für mich glaube ich so etwas äh ganz zentrales oder die (4) ja: das sichtbarmachen des eigentlichen prozesses, den ein mensch gerade macht (RTanner, P 22)

Ihre Aufgabe ist es, zusammen mit den Angehörigen die inneren Prozesse der Angehörigen sichtbar zu machen. Wenn die Übersetzungsarbeit gelingt, dann fühlt es sich für die Anwesenden «stimmig an».

RFischer sieht ihre Aufgabe darin, «energetisch» und «inhaltlich» das Ritual zu halten:

ja ähm es geht darum letzlich, dass ich den rahmen halte energetisch, inhaltlich es geht auch darum, dass ich helfe, dass das ritual ein ganzes ist, es gibt so elemente, die dabei sein müssen, dass ein ritual in sich stimmig ist, darauf achte ich und ähm häufig ist es schon so, dass ich durchs ritual dann leite (RFischer, P 67)

Diese drei Beispiele machen deutlich, dass die Aufgabe der Ritualleitung eine Übersetzungs-, Ordnungs-, Leitungs- und auch Emotionsarbeit ist.

Für die Aufgabe der Ritualarbeit sind Bells ritual-ähnliche Merkmale ‘Steuerung durch Regeln’, ‘Präzise Ausführung’ und ‘Performanz’ zentral (s. o. 3.1.2). ‘Präzise Ausführung’ zeigt sich hier in der physischen Kontrolle (Stehen in einer gebetsartigen Haltung UMeier) und der Lenkung der Konzentration der Teilnehmenden auf die verstorbene Person.

‘Steuerung durch Regeln’ (Bell 1997: 153) zeigt sich darin, dass die Ritualleiterinnen UMeier und RTanner insbesondere auch Gefühle der Trauernden zu lassen und in ihrer Ritualgestaltung bewusst auch Unstrukturiertes zu lassen. Dieses ‘Chaos’ haben sie aber vorab festgelegt und es wird von ihnen gesteuert, in dem sie als Ritualleiterinnen hier auch regulativ eingreifen, falls dies nötig ist. Das ritual-ähnliche Merkmal der ‘Performanz’ (Bell 1997: 160) wird hier (neben der Aufführung symbolischer Handlungen) über die Erfahrung von Emotionen und die Metakommunikation der Rituallleiterin eingelöst.

8.3 Agency

Die Agency dieser Positionierungsdimension zeigt sich in einer kollektiven, d. h. durch mehr als eine*n Akteur*in verursachten Form. Das gemeinsame Handeln oder blosse Vorhandensein von mehreren Akteur*innen im rituellen Geschehen zeichnet diese Agency aus. Diese Agency meint die Kopräsenz von Personen in Zeit und Raum, mit der eine kollektive Handlungs- und Gestaltungsmacht verbunden wird. Sie kommt deshalb unmittelbar in der Performanz des Ritualgeschehens zum Ausdruck und zeigt sich in einer zugeschriebenen Emergenz.

Die Kompetenz der Ritualleitenden besteht im Umgang mit dieser Agency darin, das performative Geschehen (mit)zu gestalten und zu deuten: Emische Konzepte sind z. B. «Wachheit des Tuns» (MSchäublin) oder «wahrnehmen was ist, zeigen was ist» (UMoser, P 102). Folgende Dimensionen sind darin enthalten: Konzentration («Wachheit», «Präsenz») aufgrund von zugeschriebener Relevanz, Zeigen von Relevanz und Sichtbarmachen durch Sprechen, Gestaltung und Zeit. Aus diesem situativen Handeln entwickelt sich eine rituelle Kraft (P 66), die dann wiederum zur Gemeinschaftsbildung unter den Teilnehmenden beiträgt. Dabei greifen die Ritualleitenden auf eigene rituelle Erfahrungen zurück, auf Details über den Verstorbenen und Anekdoten über die Beziehungen zwischen den Hinterbliebenen und den Verstorbenen. Die Agency des spezifischen Falles im Sinne einer sich am individuellen Geschehen entwickelnden rituellen Kraft ergibt sich aus der Orientierung an den Bedürfnissen der Verstorbenen und seiner Angehörigen sowie der genauen Beobachtung des situativen Rahmens wie des Wetters, der Umgebung oder des Ortes des (rituellen) Geschehens. Die Ritualleiter*innen versuchen, auf alle diese Aspekte zu reagieren und fassen diese als kollektive Handlungs-und Gestaltungsmacht auf.

Wie dies im konkreten Fall abläuft, verdeutlicht das Zitat von MSchäublin.

die hätten das alle auch nie gesehen und die wären, wenn sie nicht die unterstützung vom wetter gehabt hätten, wären ihre gefühle wohl nie ins fliessen gekommen (1) aber da war es möglich, und da kann ich nichts machen dafür, aber ich kann in meiner wahrnehmung so wach sein, dass ich das wahrnehme und sage und ausdrücke (MSchäublin, P 86)

Das Wetter als Ausdruck externer Agency sorgt dafür, dass sich die kollektive Agency durchsetzen kann. Die Ritualleiterin nutzt ihre eigene Agency, da sie die Situation deutet: Sie geht auf die äusseren Einflüsse (Wetter, Umgebung: z. B. Vögel) in Bezug auf die Trauersituation ein, kommentiert sie und geht dann spontan auf die Anwesenden ein: Wahrnehmen, was ist, und dem Ausdruck und Bedeutung zu geben, konkretisiert sich hier darin, die Anwesenden auf das Wetter und ihre eigenen Gefühle aufmerksam zu machen. In einem weitergehenden Ergebnis bedeutet dies, dass sich für MSchäublin innere psychologische Prozesse im Aussen manifestieren, also äussere Umstände wie eben das Wetter für sie mit der jeweiligen Situation in Verbindung stehen.

Welche Rolle gemeinschaftliches Handeln für das Gelingen des Rituals spielt, verdeutlicht dieses Beispiel einer gemeinschaftlichen Urnenbeisetzung:

wir haben auch schon, äh freundinnen haben aus aus stoffbändern (L:mhm) nen urnenbeutel gebunden, und dann haben wir, wir standen im kreis das war auf nem gemeinschaftsgrab, da war wirklich nur wiese wir standen im kreis rundherum […], da war in der mitte eben diese urne, da haben wir versucht gemeinsam die bänder so anzuspannen, dass die urne abhebt und sie dann rüber zu bringen, es war wirklich ne übung hat keine die urne direkt führen müssen, wir habens geschafft miteinander, das war irre, es waren etwa 16, 18 menschen und alle hatten son buntes band, das war irre diese koordination diese feinfühligkeit, die es da braucht, und dann diese die, das so zu entspannne, dass es wirklich gerade runter geht, das war irre, aber es geht (L: mhm) (MSchäublin, 103)

Diese Erzählung verdeutlicht die kollektive Agency, die durch gemeinsames Handeln entsteht. Die Urne wird hier gemeinsam von einem Ort zu einem anderen gebracht und dann auch gemeinsam beigesetzt.

In der Erzählung wird ausgeführt, dass es jede einzelne Person für das Gelingen des Beisetzungsvorgangs braucht. Einen Kreis um die Urne zu bilden und damit für den Vorgang der Beisetzung gebraucht zu werden, symbolisiert eine Gleichheit der Anwesenden. Anhand dieses Beispiels stellt MSchäublin dar, wie der «pragmatische Ansatz» über die Kopräsenz und das gemeinsame Handeln zu einer rituellen Handlung wird.

8.4 Deutungsmuster

Die Deutungsmuster im thematischen Feld Ritual beziehen sich auf unterschiedliche Aspekte, die gemeinsam haben, dass sie an einen affirmativen Ritualbegriff anknüpfen und die Bedeutung einer rituellen Erfahrung hervorheben. Das den Akteur*innen zugrundeliegende Ritualverständnis geht von einer bestimmten Abfolge von Handlungen (im Sinne einer klassischen Ritualstruktur) aus oder stellt die Wirksamkeit von persönlichen Erfahrungen ins Zentrum der Definition. Empirisch finden sich häufig auch Mischformen.

Im Folgenden soll zunächst anhand eines Prospektes einer Ritualleiterin ein prototypisches Beispiel für ein emisches Ritualverständnis erläutert werden, dass sich sehr stark an einem Performanzcharakter von Ritualen orientiert (Abbildung 8.1). Im Anschluss daran sollen weitere Deutungsmuster des thematischen Feldes Ritual vorgestellt werden.

8.4.1 Performanz

Abbildung 8.1
figure 1

Prospekt Cof, Text

Dieser Ausschnitt aus dem Selbstdarstellungsprospekt von CHof stellt exemplarisch ein Ritualverständnis dar, das sehr viel Ähnlichkeiten zu den Vorstellungen anderer Ritualleiter*innen aufweist. Die Überschrift impliziert eine Ähnlichkeit der gewählten Begriffe, aber gleichzeitig Unterschiede zwischen diesen Begriffen («Rituale – Feiern – Zeremonien»). Der Begriff «Ritual» wird in einem weiten Verständnis gebraucht, das sich nicht nur auf religiöse Rituale im engeren Sinne bezieht, sondern auch alltägliche «Feiern» einschliesst. In dem Motto «Rituale und Feiern, gestalten. Leiten, begleiten, beraten» zeigt sich zudem eine Kundenorientierung. Die Flexibilität der Rolle der Ritualleiterin wird mit diesen Auswahlmöglichkeiten deutlich. Situativ stellt sie sich auf die Vorstellungen und Wünsche der Kund*innen ein. Die Funktion von Ritualen bezieht sich hier auf «diesseitige» Lebensbereiche. Dieses Verständnis sieht Rituale zuallererst in der Funktion der Externalisierung von Gefühlen und als Instrument der Lebenshilfe, wie folgender Satz sehr deutlich macht: «Rituale helfen, begleiten und bilden eine Brücke». Rituale, wie sie im Prospekt aufgezählt werden, haben vor allem die Funktion der Bewältigung von individuellen Lebensereignissen. Eine gemeinschaftsbildende Funktion des Rituals steht hier nicht im Zentrum. Rituale bieten ein Repertoire zum selbstbestimmten Umgang mit äusseren und inneren Lebensereignissen. «Es ereignet sich etwas, das tiefe Gefühle auslöst, und es liegt bei uns, ihnen mit Ritualen (Feiern, Zeremonien) ein Gefäss zu schaffen». Gefühle sollen demnach ausgedrückt werden, und Rituale helfen dabei, ein Spektrum von Gefühlen zu bearbeiten: «Freude zu feiern», «die Trauer zu bearbeiten», «Bilanz zu ziehen, oder Danke zu sagen und das Leben zu feiern». Ein Ritual wird als eine bewusste Wahrnehmung von Veränderung beschrieben. Über Rituale spürt der/die Einzelne eine Einbettung in einen grösseren Zusammenhang, der als Umgebung in Form von Natur, Menschen, Tieren und Lebenskraft umschrieben wird.

Es wird ein Common-Sense-Wissen von Ritualen vorausgesetzt, da nicht genau definiert wird, was ein Ritual ist. Rituale scheinen per se als positiv zu gelten: Sie sind Mittel zur Selbstregulierung des Einzelnen, und ihnen wird eine universale Wirkmächtigkeit für kleine und grössere Ereignisse zugeschrieben, die von ihnen selbst ausgeht. Rituale sind ein «Gefäss», und sie geben einen «Rahmen». Die Formulierung «es liegt bei uns» appelliert an die Selbstverantwortung des Menschen, seine Lebensereignisse mit Hilfe von Ritualen selbst zu gestalten und zu regulieren. Rituale scheinen bewusst nicht weiter definiert zu werden, um ein breites Deutungsspektrum von immanenten und transzendenten Konnotationen zu ermöglichen. Die Zuschreibung der Wirksamkeit von Ritualen in einem umfassenden Sinne lässt sie im Licht religiöser Traditionen erscheinen. Entscheidend scheint hier, dass sie durch ihre Funktion zugleich im Spannungsverhältnis von Psychologie und Religion angesiedelt werden: Neben die religiöse Dimension tritt eine im weiteren Sinne therapeutisch-psychologisierende Dimension. Dennoch liess sich die Performanz der Ritualisierung immer wieder als das bestimmende Merkmal für das Ritual-Verständnis erkennen. Häufig ergibt sich der eigene Ritualbegriff implizit. Z. B. geht der Ritualbegriff bei UMoser aus der Beschreibung seiner Aufgabe hervor.

wahrnehmen was ist, zeigen was ist (R:mhm), und irgendeinen bezug schaffen, äh über über den menschen hinaus oder so, oder über den moment hinaus (UMoser, P 170)

UMoser formuliert seine Aufgabe als Ritualleiter wie folgt: bewusst machen, was passiert da eigentlich […] also auch so ein systemischer blick und sie darauf aufmerksam zu machen, was möglich wäre, was vielleicht hilfreich wäre, auszudrücken, von dem was ist (P 166). Er sieht seine Aufgabe in der Wahrnehmung, der Übersetzung und in der Einbettung des Geschehens in Dimensionen, die über den Menschen und die Situation hinausweisen. Im Sinne einer über den Moment hinausgehenden Qualität hat auch Transzendenz in einer solchen Definition Platz. Die Reichweite der Transzendenz bleibt aber offen. Die Aufgabe ist es, den konkreten Fall in einen grösseren Zusammenhang einzubetten, der flexibel nach den Bedürfnissen der Kund*innen ausgewählt wird. Unter einem Ritual kann also ein Geschehen verstanden werden, dass als Handlungsrahmen Einbettungen eines momenthaften Ereignisses in einen grösseren Zusammenhang ermöglicht.

Der Ritualbegriff von MSchäublin weist Ähnlichkeiten mit diesem Verständnis auf. Dabei steht die Wahrnehmung und Einordnung des Geschehens durch die Ritualleiter*innen im Mittelpunkt:

also mein ritualverständnis heißt, es ist, wir machen das, was es zu tun gibt und wir machen das nicht beiläufig, sondern sehr bewusst und gestaltet, das ist mein ritualbegriff (L:mhm), es geht nicht darum viel firlefanz zu erfinden (L:mhm), sondern es geht darum, das was es zu tun gibt, bewusst und und in in auch in transparenz, dass wir das jetzt tun also in der wachheit des tuns zu tun (MSchäublin, P 59)

Ähnlich wie bei U. Moser gibt die konkrete Aufgabe pragmatisch das Ritualverständnis vor. Der Ritualbegriff richtet sich also nach der pragmatisch verstandenen Aufgabe, «was [jeweils, L.R.] zu tun ist». Die Bestattung und (rituelle) Begleitung sind für MSchäublin demnach ohne «viel firlefanz zu tun». Die Fokussierung auf das, was es zu tun gibt, bedeutet für MSchäublin ein aufmerksames Handeln im konkreten Fall. Der Ausdruck «Wachheit des Tuns» umfasst Aufmerksamkeit für die jeweiligen Handlungsschritte der Begleitung in Bezug auf die Verstorbenen und Hinterbliebenen und den jeweiligen äusseren Rahmen der Situation (v. a. der Ort, das Wetter). Darüber hinaus braucht es keinen «firlefanz». Das «Ritualverständnis» ist also ein dezidiert pragmatisches, das sich wie von selbst versteht, wenn man weiss, «was es zu tun gibt». Die bewusste Ausführung und die Gestaltung des Geschehens begründen dann den Ritual-Charakter der eigenen Handlungen. Die Ritualleiterin nimmt die Situation wahr und interpretiert sie. Handlungen sehr bewusst auszuführen, bedeutet für die Ritualleiterinnen auch, dass sie eine nicht-rituelle Situation so gestalten, dass sie eine (rituelle) Wirksamkeit bekommt.

Das zentrale Konzept der «Wachheit des Tuns» wurde an einer anderen Stelle ebenfalls diskutiert (s. o. 8.2.2)

Auffällig ist auch, dass sich die Ritualleiterinnen um einen einfachen Ritualbegriff bemühen und sich damit gegen ein Spezialist*innenwissen abgrenzen und Ritual zuallererst in einem immanenten Sinne verstehen, das sich aus dem unmittelbaren Geschehen ableitet und auch darin sichtbar wird (P 67). Ritual wird nicht abstrakt verstanden, sondern konkret (P 59, 67). Die «Kundinnen» seien «nicht unbedingt ritualgewöhnte Menschen» (P 68), daher wählen sie «einen pragmatischen Ansatz» für ihr rituelles Handeln (P 69).

Das Beisetzungsritual als Ritual

Aus den Ausführungen der Ritualleitenden über den Akt der Beisetzung wird deutlich, dass sie ihn als eine Form sehen, die mehr oder weniger unveränderlich für den rituellen Umgang mit dem Tod ist. Hinsichtlich der Art und Weise der Beisetzung bringen sie aber eine grosse Offenheit zum Ausdruck. Sie bestehen mit Nachdruck darauf, dass die Handlung der Beisetzung im Beisein der Angehörigen und durch die Angehörigen erfolgen soll:

die grablegung ist das haupt, ist die rituelle handlung, und wir müssen nicht viel erfinden drum herum sondern, das, was es zu tun gibt tun, und es ist die aufgabe der angehörigen, dass sie ihre toten zu grabe tragen (MSchäublin, P 70)

MSchäublin betont, dass es nicht um viel mehr als die bewusste Beisetzung der Toten geht. Sie definiert die Grablegung als Tradition, die nicht erklärungsbedürftig ist. Sie hebt hervor, dass sie als Ritualleitende Altbekanntes anbieten und durchführen. Sie sieht sich in einer Kontinuität einer bewährten Tradition stehend, die aber für sie nicht mehr selbstverständlich zu sein scheint. Sonst müsste sie diese nicht erklären.

Die Beisetzung ist demnach ähnlich wie in anderen Traditionen die wichtigste rituelle Handlung. RFischer, UMeier und MSchäublin richten sich gegen eine (rituelle) Begleitung des Todes, bei der die Beisetzung nicht im Beisein der Angehörigen erfolgt. Dies gilt es für sie möglichst zu vermeiden. Denn der Beisetzungsvorgang konfrontiert die Teilnehmenden mit dem Tod und dem Loslassen der verstorbenen Person und stellt zugleich die Frage nach einer postmortalen Existenz. Da Abschiedsfeier und Bestattung in der Schweiz immer mehr getrennt werden, haben die Ritualleitenden Strategien entwickelt, wie sie den Beisetzungsmoment und Abschiedsmoment auch dann in der Abschiedsfeier performativ gestalten können, wenn die Beisetzung nicht direkt vor oder nach der Trauerfeier erfolgt, sondern an einem anderen Termin im kleinen Kreis.

RFischer betont die Wichtigkeit des Trennungsmomentes, wenn die Urne bzw. der Sarg beigesetzt wird.

und ich denke, das ist eine these von mir dadurch, dass man die zeit vorher nicht hat, (mhm ja) sich zu verabschieden und eigentlich dann viele erst in trauerfeier sinnlich konkret konfrontiert sind (ja) mit dem tod, brauchen sie diesen moment dieser abschiedsmoment, das finde ich sowieso etwas sehr wichtiges und also das wäre die trauerfeier mit diesem abschiedsmoment (ja) (RFischer, P 31)

Zum Abschiedsmoment gehört nach RFischer auch der Weg zum Grab. Sie knüpft an die Tradition des Weggeleits an und versteht es wörtlich.

dass man sich nicht schon am grab trifft, weil mir der weg wichtig dünkt, (ja) diesen letzten weg gehen zu können mit der person ein stück weg noch zu gehen, (ja ja) und das ist, es mir am grab oder am ort, wo dann die asche verstreut wird, ist nochmal wichtig wie so mit dem element in kontakt zu gehen, also sei das mit der erde oder mit dem wasser, und da meist noch irgendein ein text oder eine meditation, dieses ankommen auch in diesem moment auch mit deutungsworten, die teilweise ähm an die tradition anlehnen (RFischer, P 32)

Die Bewusstmachung des Abschiedsmoments funktioniert an dieser Stelle besonders durch die Verbindung zum Beisetzungsort durch eine Handlung mit der Materie, in die der Tote beigesetzt werden soll.

Trennung, Übergang und Wiedereingliederung

Es ist hervorzuheben, dass die Abschiedsrituale der Ritualleitenden meist sehr genau den Ablauf von Trennung, Übergang und Wiedereingliederung performativ durchlaufen und markieren. Durch den Einbezug der Angehörigen kommt es in der Interaktion zur Verkörperung von Trennung, Übergang und Wiedereingliederung. Es zeigt sich, dass sich die Ritualleitenden in diesem Kontext vor allem darum bemühen, eine Schwellenphase zu kreieren. Die einzelnen Elemente von Trennung, Übergang und Wiedereingliederung werden variabel mit psychologischen Konzepten, mit Symbolen des Christentums und alternativ-religiösen Traditionen gestaltet. Typisch für diese ritualbezogene Positionierung ist also, dass verschiedene Traditionen nebeneinandergestellt und dabei liturgische und kulturgeschichtliche Verweise und Beziehungen, spezifische und weniger spezifische, hergestellt werden.

In den Daten zeigt sich, dass einige Ritualleiter*innen in ihren Ritualkonzeptionen bewusst an Theorien des Schwellenrituals anknüpfen, wie sie ursprünglich von van Gennep und Turner entwickelt (Abbildung 8.1) und inzwischen vielfach in populären Ritualtheorien und psychologischen Konzepten und Methoden aufgegriffen wurden. So werden z. B. die performativen Elemente des Bestattungsrituals hervorgehoben:

wichtig isch eifach, es sind immer die drü phasen oder, vo de ablösungsphase oder rückschau, und denn vonere schwellephase, wo ma quasi gegenwart au symbolisiert, aber au vom losloh, und nachher äh die integrationsphase, wo dann meh stoht für die wünsch, no mitgeh uf em weg, und sich wieder dem lebe zu wende, (mhm) wieder die rückverbindig ins lebe, das isch so chli de de, die phase chommed eigentlich in alle übergangsritual immer wieder vor, (mhm) oder, (mhm), und es gibt so chlis bild dazu (RTanner, II, P 20)

wichtig ist einfach, es sind immer drei phasen, oder, von der ablösungspahse oder rückschau, und dann von der schwellenphase, wo man quasi die gegenwart auch symbolisiert, aber auch vom loslassen, und nachher äh die integrationsphase, die dann mehr für die wünsche steht, die man noch mit auf den weg mitgibt, und sich wieder dem leben zuwendet, (mhm) wieder die rückverbindung ins leben, das ist so ein bisschen der der, die phasen kommen eigentlich in allen übergansritualen immer wieder vor, (mhm) oder, (mhm), und es gibt so ein bisschen ein bild dazu (RTanner; II; P 20)

RTanner knüpft in diesem Beleg an die Rezeption des Übergangsrituals an und erklärt sehr anschaulich die drei Prozesse und Ziele der drei Phasen: Rückschau, Schwellenphase und Rückverbindung ins Leben, die performativ durchlaufen werden sollen. Die drei Phasen können auch als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verstanden werden.

Die Vorstellung einer liminalen Phase wird z. B. von RProbst hervorgehoben. In dieser Phase bestehe die Möglichkeit, einen Kontakt zu den Verstorbenen herzustellen. Dazu werden Techniken aus der Psychologie (wie Imagination, innere Bilder, Aufstellungsarbeit) angewendet. Psychologische und religiöse Traditionen gehen an dieser Stelle, wie schon vermerkt, ineinander über.

Wie Techniken in der Abschiedsfeier praktisch angewendet werden können, erläutert RProbst wie folgt. Dabei spielt die Stille eine besondere Rolle, um die Visualisierung der Verstorbenen durch die Anwesenden zu ermöglichen:

das isch für vili lüt ganz ungwohnt gsi das chund halt e chli us meditativene meditative technike oder us de meditatione

(I: mhm) das me die person de visualisiert und alles im stille natürlich mitteilt, was äh was mer no wott säge (I: mhm) und wemme güebt isch i imagination denn, cha das si das s’gegenüber denn aso jetzt die verstorbeni person jetzt i dem bild, ebe eim au antwort git. (I: ja) (RProbst, P 24)

das war für viele leute ganz ungewohnt, das kommt halt ein bisschen aus meditativen mediativen techniken oder aus der meditation

(I: mhm) das man die person da visualisiert und alles in der stille natürlich mitteilt, was äh man noch sagen mächte (R: mhm) und wenn man gebübt ist in der imagination dann kann das sein dass das gegenüber dann also jetzt die verstorbene person jetzt in dem bild, eben auch antwort gibt (I: ja) (RProbst, P 24)

RProbst führt in diesem Zusammenhang die Technik der Imagination nach C.G. Jung an (vgl. Dorst/Vogel 2014), die er für die Verabschiedung der verstorbenen Person einsetzt. Damit soll eine Verdichtung der Erfahrung erreicht werden. Die Hinterbliebenen sollen sich die verstorbene Person innerlich vergegenwärtigen.

Auch UMeier knüpft in ihrer Gestaltung des Aufbaus einer Abschiedsfeier sehr stark an die Ritualtheorien von van Gennep und Victor Turner an. Der Ablauf wurde oben schon kurz erläutert (s. o. 8.2.4). An dieser Stelle soll der Ritualbegriff von UMeier vertiefend dargestellt werden. Dieser Fall ist sehr interessant in Bezug auf die Etablierung eines eigenen rituellen Skriptes. Gleichzeitig erinnert der Ablauf in einzelnen Elementen an die Liturgie eines reformierten Gottesdienstes.Footnote 7 Er ist offenbar (auch) an eine reformierte Abschiedsfeier angelehnt (s. o. 4.2).

Der Ablauf besteht aus drei Teilen: Dank, Zusage und Wunsch. Formal erinnert diese Struktur mit ihrem Dreischritt an typische Ritualstrukturen mit ihrer Fokussierung auf einen Prozess der Transformation. Transformation scheint für UMeier ein Schlüsselbegriff für ihr Ritualverständnis zu sein. So spricht sie mit Bezug auf den o.g. Dreischritt von einer Trilogie der Transformation (P 118). Transformation soll in der Abschiedsfeier über das «Ziehenlassen» der Verstorbenen und die Zusage einer Umwandlung der Überreste in eine neue Daseinsform erreicht werden.

Im ersten Teil, dem Dank, geht es darum, für das Leben der verstorbenen Person zu danken und für das zu danken, was die Gemeinschaft der Hinterbliebenen von der verstorbenen Person lernen konnte. Dieser Teil erinnert an andere Abschiedsrituale, in denen der Lebenslauf eingebaut und eingebracht wird. Auffällig ist dabei die Einbeziehung des Körpers des Verstorbenen und die Anlehnung an Wissen aus dem Theologie-Studium und der Tätigkeit als Pfarrerin:

da sag ich danke für deinen körper, und sage eher körperliche sachen direkt für deinen duft, danke für deinen duft für deine sinne, wie sie die welt gesehen haben oder so, und hier sag ich danke einfach für dein einfach dein sosein deine persönlichkeit, du bist einmalig, es gab niemand wie dich (UMeier, P 118)

dass ich auch für das danke, dass du provoziert hast oder angeregt, wenn man für das dankt, das habe ich schon im studium gelernt, die ganz guten gebete man dankt nicht nur für das gute, wenn man schon gläubig ist, dann dankt man gott auch für das, dass er einen als rätsel auferlegt oder so, das das sind das sind die echten dank, das ist für mich glaube (UMeier, P 114)

Aus den Zitaten geht hervor, dass es UMeier darum geht, ein möglichst authentisches Bild vom Toten herzustellen. Deshalb werden neben positiven Eigenschaften auch negative genannt. Sie stellt an dieser Stelle dann einen expliziten Bezug zu ihrer theologischen Ausbildung her. Auch für das Schwierige im Leben dankbar zu sein, ist für sie «Glaube».

Im zweiten Teil geht es um die «Zusage». Sie wird wie folgt definiert:

zusage also das ist zutrauen, zusage ist, wir wollen ja verkünden als geistliche also geistig also irgendeine religion, es kommt gut auch wenn dus nicht weisst (R:mhm) (UMeier, P 115)Footnote 8

Dieser Teil beschreibt die Umwandlungsphase des Übergangsrituals, die von einer Geistlichen begleitet wird, die verkünden kann, dass sich der Ist-Zustand (des Trauerns und Verlusts) zum Guten wandelt. Es geht um die Versicherung eines Vertrauens in eine transzendente Wirkmacht (irgendeine Religion), die nicht näher bestimmt wird und die im konkreten Fall der Beobachtung v. 02.02.15 auch ein Teil der Natur (der See am Fusse eines Berges) sein kann, der die Umwandlung des Verstorbenen vollzieht. Im dritten Teil dem Wunsch geht es um die Hinführung zur Zukunft, in dem der Verstorbene und die Hinterbliebenen «frei» sind.Footnote 9 UMeier ist im Interview nicht sehr explizit, wie der dritte Teil des Wunsches ausgestaltet wird (s. o. 8.2.4). Es geht darum, dass die Wünsche der Hinterbliebenen für sich selbst und für den Verstorbenen geäussert werden können (P 84).

In ihrer Beschreibung des rituellen Aufbaus von Dank, Zusage und Wunsch stellt sie jedes dieser Elemente in einem Zusammenhang, der über die Person hinausgeht. Gleichwohl zeigt sich aber auch ein Spannungsfeld zwischen Erwartungen der Kund*innen, den eigenen Vorstellungen als Ritualleiterin und bestehenden (insbesondere christlichen) Traditionen. Das Leben des Einzelnen wird in einen grösseren Zusammenhang eingebettet, der dem Individuum nicht bewusst sein muss: Es kommt gut, auch wenn du es nicht weisst. Die Aufgabe der Verkündigung, die UMeier sich zuweist (s.o), bleibt vage, wird aber dennoch sehr bildlich und wörtlich ausgeführt: dass eben alles wachsen wird aus der erde. UMeier vermittelt damit ein positives Bild der Zukunftsdeutung. Sie überführt in diesem Moment die Gegenwart des Todes in eine Vielfalt an neuen Lebensformen und in die Integration der Toten in einen Kosmos. Innerhalb dieses Ablaufs geht es ihr um die Herstellung eines Gleichgewichts (P 112).Footnote 10

wenn ich natürlich bei diesem grab stehe, und sage du deinen körper so viele haben deinen körper berührt geliebt oder deine hand gespürt, und weisst du noch ein bisschen so zu der frau rede, und sage jetzt darfst du deiner wege ziehen, auch aus ihr [der Verstorbenen, L.R.] wird wunderbare erde werden, da wird auch da werden gräser und bäume wachsen, und wenn ganz viele kinder da sind, die grossmutter, da werden spinnnen und würmer und libellen, und es gibt neue kühe aus dieser erde und wunderschöne neue menschen, und so he da wirkt das natürlich schon sehr rituell (UMeier, P 102)

Wie das Zitat belegt, vermittelt UMeier die Idee der Transformation anhand der Veränderung der Materialität der sterblichen Überreste. Für ihre Vorstellung von ritueller Wirksamkeit nutzt sie Materialität insbesondere in Form von physischer Körperlichkeit der Menschen und der sie umgebenden Natur, die auch sonst in ihren Ausführungen eine bedeutende Rolle spielt: dann kommt ein wichtiges rituelles Element, nämlich die körperliche Verabschiedung. Dabei wird der menschliche Körper der Natur (Mutter Erde) übergeben.

Die Erfahrung von Wirksamkeit

Die Ritualleiter*innen machen entsprechend deutlich, dass bei ihnen an erster Stelle nicht Konzepte, sondern Erfahrungen und Emotionen stehen. So heisst es auch in den Ausbildungsunterlagen der ehemaligen «Schule für Rituale» programmatisch: «Wahrnehmen, Wissen, Handeln» (Weiterbildung zur Fachperson für Rituale, Schule für Rituale, o. J.: 3). Dazu passt auch die These der Ritualleiter*innen, dass es ihre eigene und die unmittelbar persönlichen Erfahrungen der Teilnehmer*innen seien, die letztlich die Wirksamkeit des Rituals hervorbringen. Die Ritualleitenden und die Teilnehmenden werden sich des Rituals bzw. der Situation bewusst. Indem die Ritualleitenden eine Handlung als rituell deuten, wird sie rituell (vgl. dazu das religiöse Sinnstiftungsmuster der permanenten Evidenzsicherung s. u. 11.1).

Die Grenze zwischen ritualisiertem Handeln und nicht-ritualisiertem Handeln liegt dabei in der bewussten Ausführung des Handelns. Für MSchäublin bedeutet dies, das Bestattungshandwerk und die darin eingebetteten Todesrituale mit bewusster Aufmerksamkeit und als konkretes Kommunikations- und Interaktionsereignis auszuführen. Indem sie sich Zeit für die individuellen Bedürfnisse der Verstorbenen und Angehörigen nehmen, den Anwesenden stets mitteilen, was sie tun und ihr Handeln selbst reflektieren, handeln sie – so ihr Selbstbild – rituell.

Die Ritualleitenden sind der Auffassung, dass sie über ein Ritual die Emotionen der Hinterbliebenen lenken können. Zugleich wird Ritualen die Kraft zugeschrieben, besondere Emotionen auszulösen, die als Ausgangspunkt für individuelle und gemeinschaftlich bedeutsame Erfahrungen gesehen werden. Auch Postmortalitätsvorstellungen können nach Auffassung der Ritualleitenden durch Rituale hervorgerufen werden. Wichtige Deutungsmuster, auf die sich dieses Verständnis stützt, sind systemische und tiefenpsychologische Ansätze, Ritualtheorien und alternativ religiöse Traditionen wie Naturspiritualität.

Ritualisierungen wird eine besondere Bedeutung für den Umgang mit Trauer zugeschrieben. Die Rezeption von Ritualtheorien ist ebenfalls Teil dieser psychologischen Ansätze. Oftmals werden Ritual- und Trauertheorien miteinander verknüpft. In einer Erzählung von MSchäublin macht ein Klient, ausgelöst durch das Tragen der Urne seiner Tochter, die Erfahrung, dass seine Tochter in seinen Träumen neben ihm hergeht.

und ich als technik technik versessener menschen=mensch akzeptiere, dass es, dass es was gibt was, was physisch nicht möglich scheint, nämlich dass ne verstorbene person neben mir her geht (R:mhm) (L:mhm), und er sagt ich weiss, ich kann sie nicht anschauen und nicht anfassen, aber sie ist da und des ist das ist die qualität (R:ja), die diesen die diesen moment eben zu etwas ganz besonderem macht, und was auch ähm was auch für ihn heilsam ist, und für mich damit heilig (R:ok) (L:mhm)(R:ja) (MSchäublin, P 119)

Das Ritual löst bei dem Angehörigen also individuelle Vorstellungen von Postmortalität aus. Der Vater der Verstorbenen fühlt sich in seinem Traum von der Tochter nach dem Tod begleitet: Sie geht neben ihm her. Neben dem Gemeinschaftshandeln, aus dem sich eine «besondere Kraft» entwickelt, können somit bei den Angehörigen der Verstorbenen individuelle Erfahrungen mit den Verstorbenen ausgelöst werden, die als «heilsam» und «heilig» bezeichnet werden. Für Angehörige kann diese Erfahrung «heilsam» werden, da sie ihnen bei der Bewältigung der Trauer hilft.

was auch für ihn heilsam ist, und für mich damit heilig

Religiöse und psychologische Semantiken werden hier gleichgesetzt. «Heilsame» Momente der Trauerbewältigung werden von MSchäublin als «heilige» Momente verstanden. Heilsam hat die Konnotation einer Linderung oder Genesung eines Leidens oder einer Krankheit. Heiligkeit bedeutet für die MSchäublin, die Kund*innen zu erreichen und eine Verbindung zwischen den Verstorbenen und Hinterbliebenen sowie unter den Anwesenden zu erlangen (P 86).

Wenn es ihnen gelingt, den Angehörigen bei der Trauerbewältigung zu helfen und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden, dann entsteht für sie Sakralität, die sich aus der Erfahrung von Kopräsenz während des ritualisierten Handelns ergibt.

weil alle mit herz und und seele dabei sind, weil wir die, weil wir es schaffen diese präsenz des verstorbenen herzuholen, und so zu verdichten, dass dann alle einfach mitmachen, dann wird stille auch nicht nicht mehr peinlich, sondern dann ist sie voll (MSchäublin, P 86)

Stille kann nur eingesetzt werden, wenn auch es den Ritualleitenden vorher gelungen ist, Präsenz zu schaffen. Stille wird eingesetzt, um Präsenz zu erlangen. Stille ermöglicht bewusstes Handeln und damit ein Ritual, weil sie durch Konzentration dazu führt, dass alle Anwesenden beteiligt sind. Dies wird dann als «heiliger Moment» bezeichnet, der demnach durch Kopräsenz erzeugt wird. Die Ritualleiterin knüpft hier an einen Diskurs von Ritual und Gemeinschaft an. Gemeinschaft untereinander und mit dem Verstorbenen wird als «Heiligkeit» bezeichnet.

Für das Erreichen dieser Heiligkeit stehen die Lebenden und die Toten im Zentrum der Ritualgestaltung. Die Präsenz der Teilnehmenden und die Präsenz der Verstorbenen sowie das Bemühen eines kollektiven «Wir» (der Ritualleitenden oder der Ritualleitenden und der Ritualteilnehmenden) und die rituelle Gemeinschaft führen zu einer möglichen Konstruktion von Heiligkeit. Heiligkeit wird durch kollektive Agency hervorgerufen. Der Ausdruck «zu verdichten» erweckt den Eindruck, dass es um Konzentration im Sinne von Meditation geht. Es könnte damit auch eine Abbildung des Wesens des Verstorbenen über das rituelle Handeln gemeint sein, die bei den Teilnehmenden eine Erinnerung auslöst. Dies gelingt nicht immer, und wenn es gelingt, ist es immer ein Gemeinschaftsprozess, die Ritualleitenden können dies nicht kreieren.

In der nächsten Sequenz fasst MSchäublin dann noch einmal zusammen:

und die die diese belebte diese gelebte stille, die ist, die zu kreieren ist unsere aufgabe als ritualleiterin respektiv als totenrednerin oder, also da da gehts darum die richtigen worte zu setzten, damit die menschen wirklich bei sich selbst ankommen (MSchäublin, P 87)Footnote 11

Der (rituelle) Rahmen der Stille, der von den Ritualleitenden kreiert wird, bietet der einzelnen Person einen inneren Prozess an, auf den die Beteiligten dann reagieren können (P 87). Sie werden sich ihrer selbst demnach in der Stille bewusst. Daneben ist es aber auch wichtig, dass die Ritualleiterin die richtige Wortwahl trifft.

Stille wird im rituellen Ablauf bewusst durch die Ritualleiterin eingesetzt. So geschieht dies auch bei UMeier:

meine aufgabe ist hier nicht auf die uhr schauen, sondern diese stille (R:mhm) ihre verantwortung, rituell dieser stille einen raum zu geben, das ist, bin in einer gebetsartigen haltung mit dem bewusstsein, meine aufgabe ist jetzt als geistliche, die menschen in diesem thema zu halten, damit sie nicht abdriften (UMeier, P 73)

Als gezieltes Mittel der Konzentration auf den Verstorbenen gilt die Stille auch bei UMeier als ein bedeutendes Element im Ritual. Was verbirgt sich hinter der Aussage: rituell dieser Stille einen Raum geben und ihrer dazugehörigen Erklärung? Offenbar sieht sich UMeier dafür verantwortlich, dass die Stille ausgefüllt wird. D. h., es geht darum, die Stille nicht einfach verstreichen zu lassen, sondern sie bewusst zu gestalten. So sieht sie es als ihre Aufgabe, die Konzentration der Anwesenden zu verstärken. Dazu nimmt sie eine stehende «gebetsartige Haltung» ein. Über ihre Semantik ordnet sie dieser Aufgabe und Handlung eindeutig einem religiösen Bereich zu. Hervorzuheben ist auch, dass das «Rituelle» hier etwas «Religiöses» meint, da es eindeutig einem der Religion nahen Bereich verbunden wird.

Präsenz kann auch durch den toten Körper und Handlungen der Totenpflege vor und während der Beisetzung zu einer Erfahrung von Wirksamkeit führen. Die physische Präsenz des Leichnams und das Präsentsein der Angehörigen während der Totenpflege können den Trauerprozess erleichtern.

Der Umgang mit dem toten Körper wird im Kontext der sozialen und emotionalen Bedeutung des Verabschiedens verstanden und ritualisiert, indem er von anderem Bestattungshandeln unterschieden und als Ritual bezeichnet wird. Eine personalisierende und wertschätzende Totenpflege macht hier die Unterscheidung aus. Äussere Veränderungen des toten Körpers und Handlungen mit dem toten Körper werden parallel dazu auch in inneren psychischen Veränderungen im Trauerprozess der Angehörigen verortet. Während der Totenpflege und der Abschiedsfeier geht es entsprechend darum, die «Präsenz der Verstorbenen» zu gestalten.

In anderen Beispielen wird die Beisetzung als gemeinschaftliches Handeln inszeniert. Stoffbänder symbolisieren hier jeden einzelnen Trauernden, die Beteiligten müssen sich konzentrieren und aufeinander abstimmen, Die Trauernden kommen dem Verstorbenen durch ihr Beteiligtsein (hier am Beisetzungsvorgang) nahe (MSchäublin, P 103, 148). Gemeinschaft entsteht dadurch, dass alle Anwesenden aktiv miteinbezogen werden.

Die Ritualleitenden vertreten in diesem Zusammenhang von Präsenz eine Akzeptanz des Zeigens von Trauer. Präsentsein wird durch eine gemeinsame Erfahrung und die individuelle Erfahrung ausgelöst. Sie unterstreichen, dass das gemeinsame Erleben von Trauer die Anwesenden untereinander miteinander verbindet und in der Abschiedsfeier auch das Erleben einer (imaginierten) Gemeinschaft mit der verstorbenen Person möglich ist. Die aktive Beteiligung während der Totenpflege und/oder der Beisetzung führt zu einer Erfahrung von Wirksamkeit.

Energetik

Präsenz, Emotion und Erfahrung werden von den Ritualleitenden auch als „Energetik“ umschriebem. Dabei geht um den Umgang mit einer Abfolge im Ritual, die einerseits geplant ist und sich andererseits auch erst ergibt. Dazu bietet sich als Beleg ein Zitat von RFischer an, in dem sie ihre Aufgabe beschreibt (s. o. 8.2.5):

ja ähm es geht darum letzlich, dass ich den rahmen halte energetisch, inhaltlich es geht auch darum, dass ich helfe, dass das ritual ein ganzes ist, es gibt so elemente, die dabei sein müssen, dass ein ritual in sich stimmig ist, darauf achte ich und ähm häufig ist es schon so, dass ich durchs ritual dann leite (RFischer, P 67)

RFischer erläutert in diesem Beleg eine Ritualstruktur, an der sie sich orientiert. Sie hat eine klare Vorstellung von den Teilen, die in einem Ritual vorhanden sein müssen und dass ein Ritual «energetisch» auch strukturiert werden muss. Indem ein Ritual eine Energetik entfaltet, besitzt es eine Kraft aus sich selbst heraus, die aber erkannt werden muss und gesteuert werden kann. Die Ritualleitende selbst kann dem Ritual auch die Energetik über die Struktur und über eine strukturierende Rolle als Leiterin verleihen (es geht darum, dass ich den rahmen halte, energetisch, inhaltlich).

Dabei geht es um die Choreographie der einzelnen Teile und um die Wirkung des Geschehens. Diese Konzepte der Ritualleiter*innen (Energetik, den Raum halten, den Rahmen halten, mit dem sein, was ist) zielen auf die Performanz von Ritualen ab.

Die Agency entsteht also aus der Performanz. Energetik bietet auch die Möglichkeit von Transzendenz, es bleibt aber offen, wie diese sich gestaltet. Möglich ist das Energetik als dem Ritual eigene Agency zu verstehen ist, die aus dem Ritual entsteht.

Weiter ziehe ich für den Code «Energetik» eine Schlüsselstelle aus dem zweiten Interview mit RTanner heran. Im Zusammenhang mit meiner Nachfrage, was es bedeutet, den «Raum zu halten» erklärt RTanner:

also es isch eigentlich wie nen energetik vo de ritualarbeit, dass du ebbe eigentlich die ganze energetik, chanscht in verbindig si, mit dem rituelle, vo mit de rituelle ablauf, und dötte ebbe in das halte innego, das heisst si mit dem was isch (mhm), und allenfalls au spüre, also wo ma öppas mal muss interveniere, oder öppas innegä als impuls, oder w Interview II, P 1)

also es ist eigentlich wie eine energetik von der ritualarbeit, dass du eben eigentlich mit der ganzen energetik kannst in verbindung sein mit dem rituellem, mit dem rituallem ablauf dort eben in das halten hineinkommst, dass heisst sein mit dem, was ist (mhm) und allenfalls wahrnehmen, also wo man mal ein bisschen intervenieren muss oder einen impuls eingeben, oder wo es eben einfach auch gut ist, den leeraum mitzutragen (RTanner, Interview II, P 1)

Sie schreibt ähnlich wie RFischer dem rituellen Ablauf eine Energetik zu. Die Ritualleiterin ist präsent und kann die Situation des Rituals auch «halten», sie kann mit dem sein, was ist und wahrnehmen, was ist und dementsprechend handeln. Sie kann wahlweise intervenieren, einen Impuls setzen oder auch Stille bewusst einsetzen.

8.4.2 Sinnzusammenhänge und Kontinuität

Zum Ritual gehört für die Ritualleitenden auch die Einbettung in einen grösseren Zusammenhang. Dieser erfolgt meist am Ende oder im Sinne eines Themas, das sich durch die gesamte Abschiedsfeier bzw. die gesamte rituelle Begleitung zieht. Dabei wird z. B. ein Symbol aus der Natur gewählt. Es finden sich explizite und weniger explizite Deutungen.

In dem von RFischer verwendeten Ablauf wird über das Element «Sinnhorizont» (s. o.) ein flexibles Deutungsspektrum eröffnet, innerhalb dessen unterschiedliche Grade von Transzendenz eingefügt werden können. In einem von RFischer durchgeführten Abschiedsritual, das im April 2015 stattfand, wurde ein solcher Sinnhorizont durch einen Text über Heiligkeit (vgl. Beobachtungsnotizen v. 28.04.15) hergestellt. Heiligkeit wurde dabei in einen weltlichen und transzendenten Zusammenhang gestellt. In ihrer Deutung von Heiligkeit, die in einem von ihr vorgelesenen Text zum Ausdruck kam, ist die Zahl sieben von besonderer Bedeutung.

Daher wurde das Leben der Verstorbenen auch in sieben Sinnabschnitte unterteilt. RFischer zieht eine Verbindung zwischen dem Leben der Verstorbenen und den Weltwundern und Tugenden. Über die Symbolik der Zahl sieben eröffnet sich ein Deutungshorizont, der das Leben der Verstorbenen in einen grösseren Zusammenhang und in Verbindung zu Errungenschaften stellt, die über die Zeitspanne des Lebens der Verstorbenen hinausgehen und ausserzeitlich sind. Dazu bringt sie die sieben Weltwunder, sieben Tugenden und sieben Kerzen für das Leben der Verstorbenen in einem Satz zusammen (vgl. Beobachtungsnotizen v. 28.04.15). Auffällig ist, dass sie einen Sinnhorizont wählt, der eine Deutungsoffenheit hat und dennoch innerhalb des Kontextes nicht völlig fremd ist. So sprechen verschiedene Traditionen innerhalb und ausserhalb des Christentums der Zahl sieben eine besondere Bedeutung zu (vgl. Schlüter 2011: sieben Schöpfungstage, sieben Sakramente, sieben Weltwunder, sieben Todsünden, sieben Tugenden). Heiligkeit wird hier in einen konkreten und abstrakten Deutungshorizont dargestellt.

Wichtig erscheint mir, dass die (Re-)interpretationen im Sinne von Kontinuitäten und Genealogien konstruiert werden. Christliche Feste werden in der Nachfolge prähistorischer Feste gedeutet und können somit in die rituelle Praxis integriert werden. So macht z. B. RTanner deutlich, dass sie auch offen ist für eine Zusammenarbeit mit der Kirche. Dabei klingt die Vision einer universalen erfahrungsorientierten rituellen Praxis an, die christliche Quellen und Elemente dort als Ressource verwendet, wo es sich gerade anbietet. Das Christentum ist dabei aber nur eine von mehreren Quellen, die verwendet werden können. Konstruktionen von «Germanentum» und «Keltentum» sowie von «Natur» bieten sich ebenfalls als Ressourcen an. Die Ritualleitenden identifizieren sich darüber hinaus auch gerne mit lokalen und konstruierten Traditionen. Damit legitimieren sie sich und betonen eine Kontinuität. Die Anbindung an lokale Traditionen, auch in Verbindung mit kirchlichen Kontexten (z. B. Wallis, Fünf Wunden Christi bei RFischer), ist ein wichtiges Element der neuen Rituale. Dabei geht es um die Wiederentdeckung von alten Traditionen und auch ein Herstellen von Kontinuität:

die prähistorische feschter und, ((räuspern)) das han ich sehr spannend gfunde, eifacht äh au die ganze verbindige gseh zu früener zu hüt, ähm und das übers prinzip aso das isch eigentlich öppis, wo mier blibe isch, so dass prinzip vode naturritual vo eifacht jetzt ohne das irgend ine schublade müesse ine zdrucke, eigentlich uf grund vo dem was ide natur passiert äh dass d’natur wie en spiegel isch i üsi menschlichi natur, oder (RTanner, P 18)

die prähistorischen feste und, ((räuspern)) das habe ich sehr spannend gefunden, einfach äh auch die ganzen verbindungen zu sehen zu früher zu heute, ähm und über das prinzip, also das ist eigentlich etwas, was mir geblieben ist, so das pronzip von den naturritualen, von einfach jetzt ohne das jetzt in eine schublade einzudrücken müssen, eigentlich aufgrund von dem was in der natur passiert äh dass die natur wie ein spiegel ist in unserer menschlichen natur, oder (RTanner, P 18)

RTanner betont die Kontinuität einer rituellen Praxis, die nicht systematisiert werden muss, da es sie schon immer gegeben hat und sie über die Natur erfahrbar ist. Selbsterfahrung in der Natur bietet also einen wichtigen Anhaltspunkt für ihre Konstruktion von Ritual.

Im zweiten Interview spricht sie von der Universalität der Sprache der Rituale. Das Handeln wird durch Traditionen bestätigt: Wir müssen nichts Neues erfinden (MSchäublin). Über diese Aussage findet eine Legitimierung als Expert*innen statt. Die Konstruktion der Universalität einer Ritualerfahrung, die für alle Menschen zugänglich ist, legitimiert die Affirmation von Ritualen.

Mit dem Anspruch an Universalität lässt sich auch die Neigung der Ritualleitenden für den vielfältigen Einsatz der vier Elemente erklären. Das Referieren auf die vier Elemente in den Interviews und Beschreibungen von Handlungen mit Wasser, Feuer, Erde, Luft weisen auf Naturspiritualität als Sinnressource hin. Schon eine Erfahrung mit einem Element machen zu können, wird bei UMoser beispielsweise als Ritual gedeutet. Insbesondere die Beisetzung und/oder andere Handlungen unterstreichen durch den Einbezug von Wasser (Schale mit Wasser) und Erde (die vor der Beisetzung in die Hand genommen wird) den Bezug zur Natur.

ja. dass ich vielleicht halte, die urne, und sie schöpfen, dass vielleicht wasser auf die urne wandert und das der schöpfkessel wandert ((sehr leise)) wie immer das getan wird. (4) ja (BMeili, P 28)

Den ehemaligen Verantwortlichen der «Schule für Rituale» (s. o. 4.3) dienen die vier Elemente als ein kultur- und traditionsübergreifender Anknüpfungspunkt. Die vier Elemente bieten Inspiration für die Gestaltung von Ritualen und dienen ihnen als Basis-für Ritualerfahrungen. Die in dieser Tradition stehenden Ritualleitenden leiten ihr Ritualverständnis aus symbolischen Handlungen mit jeweils einem oder mehreren der vier Elemente ab.

Die Gruppe um MSchäublin stellt eine Kontinuität her in der Begleitung des Übergangs vom Leben zum Tod an der Seite von Frauen. Ihr geht es um die Wiederbelebung einer bereits bestehenden Tradition. Von einer schon bestehenden Tradition, die es wiederzuentdecken gilt, spricht auch UMeier: wir haben eine kultur, wir müssen sie einfach nur wecken (UMeier, P 105). Wenn es heisst, genauso halte ich es mit dem Tod wie alle anderen Kulturen auch (P 61)Footnote 12, legitimiert UMeier ihr Anderssein. Die christliche Tradition der Schweiz wird von ihr als befremdende dargestellt. Aus dem inneren Kontext des Interviews geht hervor, dass sie sich damit auch gegen offene und versteckte Kritik des kirchlichen Umfeldes wendet. Sie ist ausgestiegen aus den konfessionell dogmatisierten richtlinien wie man menschen zu verabschieden hat.

Auch die Gruppe um MSchäublin geht von der Vorstellung alternativer europäischer Traditionen aus, die jenseits des Christentums bestehen und der Natur inhärent sind. Für die Positionierung sind dabei unterschiedliche Grade von Ritualisierung entscheidend. Ritualisierungen der Totenfürsorge und des Bestattungshandwerks gehören zu dieser Positionierung fest dazu. Ritualisierungen im Kontext von weiblicher Spiritualität bilden den Ausgangspunkt der Entstehung ihres Unternehmens und ihres Handelns. MSchäublin präsentiert im Interview, dass Verein und Unternehmen aus verschiedenen Gruppierungen entstanden sind, in denen erfahrungsbasierte Spiritualität und Weiblichkeit eine wichtige Rolle spielten (P 9). Hier werden sowohl die Positionierungressource Natur als auch die Positionierungsressource Ritual in Anspruch genommen. Die Ritualleiter*innen leiten Handlungsmacht vor allem aus ihrer rituellen Praxis ab. Die rituelle Praxis ist in Symbole und Mythologien eingebettet, aus der sich gemeinschaftlich und stetig ein Weltbild herausbildet, das sich um den Tod situiert. Bezugnahmen auf ähnliche Traditionen finden sich auch bei anderen Ritualleiter*innen. Üblicherweise sind dies Traditionen von Jahreskreisfesten, also vorchristliche Traditionen. Sie bieten alternative Deutungsangebote an. Explizit genannt werden z. B. Frauentraditionen, Mythologien der Landschaft und keltische und germanische Traditionen. UMeier bindet ihr Ritualverständnis an diese Traditionen an:

ja und für mich ist rituell eben ganz sicher nicht irgendetwas schamanisch importiertes aus einem anderen land, trommel und so, ist alles wunderbar, wenn die das dort lernen aber warum können wir nicht in europa mit dem, was wir hier hätten als vorchristliche germanisch immer noch genetisch dotierte bewiesen, wir haben eine kultur, wir müssen sie nur einfach wecken, es ist wie die Indianer, oder die weissen weg geputzt von den römern sie meinten, dass sei keine kultur und es ist ja noch heute so, ich weiß nicht wie das bei euch ist, aber äh theologie also glaubensgeschichte fängt mit der christianisierung europas an was vorher war, kommt nicht vor im studium (UMeier, P 105)

UMeier stellt dar, dass sie sich von bestimmten rituellen Traditionen abgrenzt. Ein Ringen mit Klassifizierungen ist sehr deutlich erkennbar. Rituale werden im Kontext von Festen und kalendarischen Ereignissen gedeutet. Ihnen wird eine universelle mythologische Tradition zugesprochen. Es geht hier nicht um Unterschiede von Ritualen, Festen oder Zeremonien, sondern um ihre Gemeinsamkeiten. UMeier verdeutlicht, dass für sie «rituell» eine europäische Kontinuität hat.

Sie geht von einer europäischen Kultur aus, die dem Christentum mindestens gleichwertig und durch dieses verdrängt worden sei. Sie verbindet demnach mit dem Attribut «rituell» eine eigene europäische Tradition.Footnote 13 Die Aussage wir haben eine Kultur, wir müssen sie nur wecken verdeutlicht dies (s. o., s. o. 6.1.2).

Die Beschäftigung mit Festen und ihren Ursprüngen ist nicht nur für UMoser der Beginn seiner Auseinandersetzung mit Ritualen gewesen. Für RTanner ist dies ähnlich. Dabei hat für sie die Verbindung von Musik und Ritual eine besondere Bedeutung. Rituale werden als mehr oder weniger voraussetzungsarm präsentiert, sie zeigen sich in der jeweiligen Situation und am jeweiligen Ort in der Präsenz von (Vor)gegebenem und dessen Interpretation. Das Muster – zunächst praktische Beschäftigung mit einem Aspekt der Ritualleitung und dann Suche nach Belegen in Quellen und Büchern – findet sich immer wieder in den Interviews (s. u. 10.4).

au spöter nocher au theoretisch gforscht i dem bereich, und ha gmerkt gha, dass das eigentlich en uralti einheit isch, wo wit is prähistorische zruck goht, dass musig eigentlich immer en rituelle charakter gha het früener (RTanner I, P 6)

auch später noch auch theoretisch geforscht in dem bereich, und habe gemerkt, dass das eigentlich eine uralte einheit ist, die weit ins prähistorische zurück geht, das musik eigentlich immer einen rituellen charakter gehabt hat früher (RTanner I, P 6)

Es scheint den Ritualleitenden bei diesem Procedere darum zu gehen, eine Referenz für eine Kontinuität anzuführen und das eigene Handeln in einen grösseren Bedeutungshorizont zu stellen, der gleichzeitig aber auch noch für andere Traditionen und persönliche Deutungen offen ist. In diesem Kontext ist das Sammeln von Quellen und das Erstellen eigener Materialien für die Etablierung einer eigenen Tradition ebenfalls anzuführen, das bei mehreren Akteur*innen beobachtet werden konnte. Die Gruppe um MSchäublin etabliert z. B. eigenes Liedgut. GGeiger spricht von einem «Herzton», den sie als Urton geschlagen habe (GGeiger, P 71).Footnote 14

Die Dienstleister*innen im Umgang mit dem Tod knüpfen also gezielt an Wissen und Traditionen an. Dabei verweisen sie sowohl auf eine historische und auf eine konstruierte Kontinuität. UMoser sieht z. B. eine Parallele zwischen der Entstehung der Sozialarbeit aus der Kirche (Diakonie) und der Entwicklung der Arbeit mit Ritualen. Dem entspricht die Vision der Etablierung des Berufsbildes der Ritualleiter*innen als anerkanntes weitverbreitetes Berufsfeld mit eigenen Berufsstandards, wie sie z. B. auch an der Fachschule für Rituale vertreten wird. Als Fähigkeiten eines Ritualleitenden werden die folgenden Kompetenzen angeführt: «Selbstkompetenz, Beratungskompetenz, Gestaltungskompetenz, Aufführungskompetenz, Führungskompetenz» (Weiterbildung zur Fachperson für Rituale, S. 5, Broschüre, die bis 2013 gültig war, zugeschickt von UMoser, Schule für Rituale, Berufliche Standards, Ritualfachpersonen https://www.fachschule-rituale.ch/lernziele-methoden.html, 02.05.21). Auffällig ist die Formulierung, dass Ritualleitende als «Diener des Rituals» zu verstehen seien und dass sie in ihren Handlungen offen zu sein hätten für die seelische Komponente des Rituals (Schule für Rituale, Berufliche Standards, Ritualfachpersonen, https://www.fachschule-rituale.ch/lernziele-methoden.html, letzter Zugriff: 02.05.21).

Es finden sich Parallelen zum Ritualbegriff von UMeier und den oben genannten Ritualverständnissen. Dennoch hat der Ansatz von UMeier eine hohe Eigenständigkeit, der durch die Einbettung in ein eigenes Weltbild demonstriert wird (s. o. 7.4.4, 8.2.4). UMeier setzt den Ritualbegriff an mehreren Stellen ein: Ein Ritual umfasst für sie Transformation. Die Ebene der Verkörperung lässt etwas besonders «rituell» erscheinen, in der Natur lässt sich die Transformation beobachten und über die Natur kann Transformation «rituell» inszeniert werden.

UMeier schreibt dem Abschiedsritual eine Transformation in einem doppelten Sinne zu. Es geht nicht nur um die Transformation im Sinne eines Abschieds, sondern auch um eine Transformation in einem kosmologischen Sinne (s. o. 8.2.4), die es sichtbar zu machen gilt. Auf der einen Seite wird eine Anlehnung an einen christlichen Diskurs deutlich, der auf ihre Ausbildung zurückzuführen ist. Gleichwohl kommt aber auch eine Naturspiritualität zum Ausdruck, die sie als erfahrungsbasiert präsentiert und die sie selbst an eine keltische und germanische Tradition anbindet. Sie geht davon aus, dass diese Tradition eine lokale und intuitive ist. Über eigene Erfahrungen (über den Umweg in der eigenen Naturarbeit) ist sie zu keltischen und germanischen Grundformen gekommen. Sie bezeichnet dies als «Korrektur ihres Theologiestudiums». (UMeier, P 119 f.) Es kommt also zu einer Synthese ihrer theologischen Ausbildung und ihrer Naturspiritualität. Ihre Glaubensvorstellung fusst auf einem Gottvertrauen und einem kosmologischen Konzept von der Erde als Mutter und dem Himmel als Vater. In der Immanenz zeigt sich für sie mindestens genauso stark das Göttliche wie in der Transzendenz.

Zur Herstellung von Kontinuität und zum Anknüpfen an eine Tradition werden auch verschiedene Formen des Segens in den Abschiedsritualen verwendet.

Die Bedeutung des Reisesegens findet sich bei RFischer und auch bei anderen Ritualleitenden (z. B. UMeier). UMoser stellt dar, was er unter einem Segen versteht:

und versuch dann also es gibt schon anlegungen also beispiel, sei ein segen, ich komm ich erklär dann, woher das das kommt irgendeine benediktion gut reden über, und das das hilfreich kann sein kann sich zu versöhnen falls noch offenes ist, oder so solche dinge gibt sicher auch äh=ähnlichkeiten, oder (R: mhm) (UMoser, P 10)

Das liturgische Element des SegensFootnote 15 wird in einem immanenten funktionalen Sinn in Zusammenhang mit der Würdigung des Verstorbenen und des Abschliessens der Beziehung zu den Verstorbenen verstanden. Interessant ist, dass der Segen ohne göttliche Instanz auskommt. Es geht nicht um die Würdigung der Beziehung zu Gott und den Schutz durch Gott, sondern darum, dass Transzendenz hier allenfalls in einer über den Tod hinausgehenden Beziehung zwischen den Hinterbliebenen und den Toten entsteht. In drei der besuchten Abschiedsrituale wurden Segen zum Abschluss des Rituals eingesetzt. Dabei wurden zweimal ein irischer Segen und einmal ein indianischer Segen verwendet. Dabei werden Texte ausgewählt, die innerhalb einer religiösen Tradition wenig voraussetzungsreich sind, d. h. leicht verständlich und bekannt sind und z. B. den Lebensrhythmus des Einzelnen vor dem Hintergrund einer kosmologischen Einheit verstehen.Footnote 16 Über dieses Element des Segens bietet sich eine Einbettung in einen grösseren Zusammenhang an. Die Kenntnis religiöser Traditionen und die Auseinandersetzung mit diesen Traditionen werden zur Legitimierung der Kompetenz als Ritualleitende eingesetzt. So übernimmt UMoser beispielweise für die Definition seiner Aufgabe das Verständnis eines SakramentsFootnote 17 in der Theologie von Leonardo Boff, interpretiert es aber nicht theologisch. Während Leonardo Boff mit den Begriffen Immanenz, Transparenz und Transzendenz eine Theologie entwirftFootnote 18, die eindeutig auf Gott bezogen ist, versteht UMoser Transzendenz in einem weiteren säkularen Sinne als «Bezug über den Menschen oder den Moment hinaus» und lässt theologische Konnotationen des Verständnisses weg. Das Gelingen und die Wirkmächtigkeit des Rituals entspringen einer eigenständigen Kompetenz, die als rezeptiv, empfangend und sich einlassend bestimmt wird und auf der eigenen Erfahrung beruht.

8.5 Strategien der Professionalisierung und Abgrenzung

Die bisher diskutierten Deutungsmuster können auch als Strategien der Professionalisierung verstanden werden. In Bezug auf die Verwendung des Ritualbegriffs können weitere Strategien der Strategien der Professionalisierung und der Abgrenzung rekonstruiert werden.

Reflexionen über den Ritualbegriff finden sich bei UMeier, UMoser und RGianelli.

Dabei zeigt sich einerseits eine sehr starke Anpassung an die Kund*innen und andererseits die Ablehnung, mit bestimmten Traditionen in Verbindung gebracht zu werden. Entsprechend erweist sich eine grosse Flexibilität im Umgang mit den gewählten Begriffen, wie auch schon aus dem Prospekt von CHof hervorgeht. In der Reflexion über ihre jeweiligen Ritualbegriffe zeigt sich insbesondere, wie sich die Ritualleiter*innen in Relation zum religiösen Feld positionieren. So können z. B. traditionell religiöse Elemente in den rituellen Ablauf integriert werden, wobei auch Auskunft gegeben wird, warum ein traditionell religiöses Element gewählt wird und ein anderes nicht (s. u. 9.4.2).

Für die Ritualleiter*innen stellt sich auch immer wieder die Frage nach der Berufsbezeichnung, mit der sie sich nach aussen hin positionieren wollen (s. schon o.). Ob und wie das Wort Ritual in der Berufsbezeichnung vorkommt, sagt auch etwas über ihr Verständnis von «Ritual» aus. Die «Schule für Rituale» bemüht sich um eine einheitliche Berufsbezeichnung und -standards, wie die Interviews mit den ehemaligen Ausbildner*innen und weitere eingesehene Dokumente zeigen. UMoser, der zur Gründungsgruppe der «Schule für Rituale» gehört (s. o. 4.3), stellt dar, dass die Berufsbezeichnung «Fachperson für Rituale» aus einem Aushandlungsprozess der Gründungsgruppe hervorgegangen ist. Die Gruppe hat sich für eine Bezeichnung entschieden, die vor allem anderen die fachliche Kompetenz für Rituale betont.

UMoser geht im Interview auf die Auseinandersetzung der Gruppe mit dem Ritualbegriff ein: Auf der einen Seite wird ein weiter Ritualbegriff abgelehnt, der das Ritual über das Merkmal der Wiederholung als reine Alltagshandlung sieht, die nicht mehr reflektiert wird. Ein Ritual sei ja gerade etwas Aussergewöhnliches (UMoser, P 49), eben nichts Alltägliches. Auf der anderen Seite habe sich die Gruppe auch mit enge(re)n Konnotationen des Ritualbegriffs auseinandergesetzt. Als Beispiele werden die Esoterik und der Nationalsozialismus genannt. Bei der Ablehnung solcher Konnotationen bezieht sich UMoser erstens darauf, dass der Esoterik-Begriff im Alltagsgebrauch oft negativ verwendet wird. Zweitens bezieht er sich auf negative Konnotationen des Ritualbegriffs von Ordnung und Disziplin, die mit dem Nationalsozialismus verbunden werden (UMoser, P 50).

Ein ähnliche Argumentation der Einfachheit des Ritualbegriffs befindet sich, wie schon erwähnt, bei MSchäublin und AWyrsch:

ja genau und ich empfinde das so, dass eigentlich viele menschen haben schiss vor ritualen (W:eben) weil sie das gefühl haben das ist irgendwie so heiliges getue:ja (L:ah ja) (W: mhm) ja das gibts wirklich es gibt wirklich menschen die denken ah rituale geh mir weg so (W: eben so so hexenzeug und und schamanismus) (MSchäublin, P 100)

MSchäublin grenzt Ritual bewusst von «heiligem Getue» und auch von «Hexenzeug und Schamanismus» ab und bestimmt es als bewusstes Handeln (P 100). AWrysch bekräftigt das Ritualverständnis ihrer Kollegin an mehreren Stellen.

beim begriff, begriff ritual hatte ich so irgendwelche hohe abstrakte ideen vorstellungen phantasien und hab dann gemerkt, um das geht es nicht, es geht wirklich darum, ähm diese situation zu schauen zu erkennen und zu schauen, was gibt es, eben wie du sagst zu tun und das in einer bewusstheit und das auch kommuniziert zu tun, also so so einfach so so einfach so auch leicht nachvollziehbar, äh das zu gestalten mehr braucht es nicht (AWyrsch, P 67)

Rituale sollen leicht zugänglich sein und nicht in einem religiösen oder spirituellen Sinn verstanden werden, der nur religiösen Spezialist*innen vorenthalten sei. Auffällig ist in allen Interviews, dass die Akteur*innen eine enge Ritualdefinition vermeiden. Der nicht genau(er) definierte Ritualbegriff mag dem Anspruch der Ritualleitenden nach ritueller Flexibilität geschuldet sein.

8.6 Zusammenfassung

Wichtig für das thematische Feld von Ritual ist die Hervorhebung des Rituals und/oder einer (rituellen) Erfahrung. Dazu gehört auch die Bestimmung von Elementen, die bei einem Todesritual zwingend dazugehören müssen, wie vor allem Beisetzung und Verabschiedung. Es handelt sich dabei um Ritualisierungen des Geschehens, da der rituelle Charakter der Bestattung hervorgehoben wird. Es geht dabei nicht um eine blosse Abfolge, sondern um die «bewusste» Ausführung, Kopräsenz und Wirksamkeit. Die einzelnen Teile müssen zusammenpassen, «stimmig sein». Rituale besitzen in diesem Sinn eine eigene Energetik, mit der es umzugehen gilt. Die Ritualleiter*innen legitimieren ihre Arbeit über ihre Expertise im Umgang mit Ritualen. Erfahrung spielt dabei eine grössere Rolle als Wissen.

Wichtig für die Entfaltung der Agency ist das Zusammenspiel mehrerer kopräsenter Akteur*innen. Die Ritualleitenden positionieren sich also durch eine Erweiterung eines traditionellen rituellen Repertoires.

Die Transformation des Übergangs soll im Ritual verdeutlicht werden. Daher ist Performanz ein so zentrales Deutungsmuster für die Ritualleitenden. Rituale besitzen für sie eine Universalität und knüpfen daher an eine Kontinuität an. Die Akteur*innen zeigen, dass sie kompetent im Umgang mit Ritualen sind. Sie haben sich vertieft mit dem Ritualbegriff auseinandergesetzt.