Schon die im vorausgehenden Kapitel skizzierte Datenerhebung impliziert methodologische und methodische Vorentscheidungen. Das gilt erst recht für die Aufbereitung und Auswertung der erhobenen Daten. Daher geht es im Folgenden um allgemeine methodologische und konkrete methodische Fragen und Entscheidungen, die bei der Umsetzung der Untersuchung eine wichtige Rolle gespielt haben. Das betrifft zunächst die Einordnung meiner Studie in die methodologische Tradition des Interpretativen Paradigmas in der Qualitativen Sozialforschung (s. u. 5.1). Dann stelle ich kurz den Forschungsprozess der Untersuchung vor, um die sich entwickelnden Forschungsfragen und die daran anschliessenden Entscheidungen transparent zu machen. Dazu gehört auch eine Übersicht über die Methoden der Datenerhebung, die Ansätze bei der Datenanalyse und die theoretischen Konzepte der Datenauswertung (s. u. 5.2). Auf die Auswahl der eingesetzten Methoden bei der Erhebung und Auswertung der Daten sowie die damit einhergehende Ausrichtung der Fragestellung(en) gehe ich dann jeweils ausführlicher ein (s. u. 5.3, 5.4). Hier ist auch der Ort, um die Grundlagen der Positionierungsanalyse und das methodologisch akzentuierte Agency-Konzept (s. o. 3: «agency II») vorzustellen (5.4.3).

5.1 Methodologische Verortung

In Methodologien werden die theoretischen Voraussetzungen von Methoden erörtert. Wie Daten generiert, aufbereitet und analysiert werden, sagt viel über das Verständnis der sozialen Wirklichkeit aus. Die Arbeit orientiert sich diesbezüglich am Interpretativen Paradigma der Qualitativen Sozialforschung. Im Folgenden wird deshalb das Wissenschafts- und Wirklichkeitsverständnis Qualitativer Sozialforschung kurz dargelegt.

Anders als in quantitativen Verfahren folgt die Forschungslogik in der Qualitativen Sozialforschung nicht numerischer Repräsentativität und dem Test bereits vorhandener Hypothesen anhand der empirischen Daten, sondern einem rekursiven Prozess der Entdeckung, Überprüfung und Verallgemeinerung der im Untersuchungsverlauf gewonnenen Hypothesen (vgl. dazu die Sammlung klassischer Texte zur Methodologie interpretativer Sozialforschung bei Strübing/Schnettler 2004). Innerhalb der Qualitativen Sozialforschung gibt es unterschiedliche Richtungen, die sich durch die Art des Zugangs und die Art der Auswertung unterscheiden.Footnote 1 Ich orientiere mich in diesem Kontext am Interpretativen Paradigma.Footnote 2 Als Ausgangspunkt für das Interpretative Paradigma gelten die Verstehende Soziologie Max Webers und die Weiterentwicklung des Sinnverstehens bei Alfred Schütz. In Max Webers berühmter Soziologiedefinition kommt zum Ausdruck, dass es darum geht, soziales Handeln und den subjektiv gemeinten Sinn der Akteur*innen deutend zu verstehen. Mit dem subjektiv gemeinten Sinn ist die Rekonstruktion der Intentionen gemeint, die ein Akteur/eine Akteurin mit ihrem Handeln verbinden (vgl. Weber 1972: 3).Footnote 3 Die Auseinandersetzung von Alfred Schütz mit dem Sinnverstehen bei Weber und deren Weiterentwicklung in Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die Verstehende Soziologie (1842) gilt für das Interpretative Paradigma als methodologisches Fundament. Schütz unterscheidet den Sinn einer Handlung für den Handelnden selbst, für den mit ihm/ihr interagierende*n Partner*in und für den/die aussenstehende*n Beobachter*in. Selbst- und Fremdverstehen müssen nicht gleich sein. Über Typisierungen eröffnet sich der Raum für Fremdverstehen. Typisierungen ordnen die Situation des Hier und Jetzt mit Hilfe von vorangegangenen Erfahrungen und im Sozialisationsprozess empfangener Deutungen sozialer Situationen ein (vgl. Rosenthal 2011: 30 f.). Interpretative Methoden unterscheiden sich z. T. dadurch, wie sie diese Ebenen des Sinnverstehens in ihren Analysen gewichten und zu integrieren versuchen.

Die Entwicklung des Interpretativen Paradigmas wurde nicht nur durch die Verstehende Soziologie, sondern massgeblich auch von der in den 19020er Jahren an der Universität Chicago entstandenen Tradition der Chicago School beeinflusst. Die Vertreter*innen der Chicago School setzten sich für eine Sozialforschung ein, die nicht primär am Schreibtisch oder in einer Laborsituation stattfindet, sondern ihren Entstehungsort in der Alltagswelt ihres Gegenstandes hat. So ist die berühmte Aufforderung Robert Ezra Parks an seine Studierenden zu verstehen, «hinaus ins Feld zu gehen und sich die Hosen dreckig zu machen» (vgl. Rosenthal 2011: 101). Weiter haben Herbert Blumer und der symbolische Interaktionismus zur Präzisierung methodologischer Konzepte der Qualitativen Sozialforschung und insbesondere der Interpretativen Sozialforschung beigetragen, wobei es zwischen dem amerikanischen Pragmatismus, dem Symbolischen Interaktionismus und der Chicago School eine Reihe von Überschneidungen gibt. Blumer hat ein viel zitiertes Plädoyer für eine sensible Methodologie in die Diskussion eingebracht (im Original 1954, Zum methodologischen Standpunkt des Symbolischen Interaktionismus, 1969, in: Strübing/Schnettler 2004: 319–385). Demnach geht es in der Sozialforschung nicht um die blosse Anwendung einer schon feststehenden Methode, sondern um die Entwicklung der Methode im Forschungsprozess selbst; die angemessene Methode ergibt sich aus dem zu erforschenden Forschungsgegenstand – und nicht aus einer davon abstrahierenden Methodenlehre (vgl. Kalthoff 2008: 18).Footnote 4 Sozialforscher*innen müssen deshalb bemüht sein, ihre wissenschaftlichen Konstruktionen auf Probleme aus der Alltagswelt zu beziehen und daraus abzuleiten. Eine Antwort auf dieses Postulat besteht im Konzept der Konstruktionen «zweiter Ordnung», die auf den Konstruktionen der Alltagshandelnden aufruhen (vgl. Schütz 2004 [1971]: 159).

Interpretative Sozialforscher*innen folgen dieser Annahme, wenn sie davon ausgehen, dass die Alltagswelt sozial konstruiert ist und dass sie es also mit einem Gegenstandsbereich zu tun haben, der selbst schon voller Konstruktionen (darunter eben auch Deutungen und Sinnstiftungen sozialer Handlungen) steckt. Die Aufgabe besteht dann darin, diesen Alltags-Konstruktionen keine weiteren, ‚wissenschaftlichen‘ Konstruktionen hinzuzufügen, sondern die Konstruiertheit der sozialen Welt selbst zum Thema zu machen und durch die Rekonstruktion solcher Konstruktionen empirisch zu belegen. Mit dieser Kernannahme kann sich die interpretative Sozialforschung auf die Tradition des Sozialkonstruktivismus berufen, wie sie aus der Rezeption vor allem der Arbeiten von Alfred Schütz hervorgegangen ist (Berger/Luckmann 2003 [1969], Schütz 2004 [1971], Schütz/Luckmann 2003 [1979]). Nach Alfred Schütz orientieren sich die Alltagshandelnden in ihrem Handeln an einer Sinn- und Relevanzstruktur, die auf Deutungen der sozialen Wirklichkeit beruht, die sie selbst interaktiv hergestellt haben (vgl. Schütz 2004 [1971]: 159, Rosenthal 2011: 38):

«In verschiedenen Common-Sense Konstruktionen der alltäglichen Wirklichkeit haben sie diese Welt im Voraus gegliedert und interpretiert, und es sind gedankliche Gegenstände dieser Art, die ihr Verhalten bestimmen, ihre Handlungsziele definieren und die Mittel zur Realisierung solcher Ziele vorschreiben […]» (Schütz 2004 [1971]: 159).

Im Laufe der Sozialisation verinnerlichen die Alltagshandelnden kollektiv geteilte Wissensbestände, die auch Handlungs- und Interaktionsregeln enthalten, die sie je nach konkretem Handlungskontext und biographischer Situation interpretieren (vgl. Rosenthal 2011: 39). In Anlehnung an diese Vorstellung geht die interpretative Sozialforschung davon aus, dass Interaktionssituationen durch die Beteiligten selbst gerahmt und dadurch sinnvoll gemacht werden (ebd.: 42 f.), wie das in Erving Goffmans «Rahmenanalyse» detailliert beschrieben worden ist (Goffman 1974). Individuen greifen in Interaktionen in ihrer persönlichen Definition der Situation auf bereits bestehende «Organisationsprinzipien» (Rahmen) der sozialen Wirklichkeit zurück und geben der Situation damit eine Rahmung und eine soziale Bedeutung. Eine solche Rahmung kann in meinem Untersuchungsfeld z. B. durch einen Segen geleistet werden, mit dem auch ein freies Bestattungsritual durch die Ritualleitende mit einer Rahmung religiöser Ordnung versehen werden kann.

Aus diesen Grundannahmen über die soziale Wirklichkeit geht hervor, dass die interpretative Sozialforschung ihre vordringliche Aufgabe darin sieht, die bereits aktiven Deutungsmuster und Handlungsstrukturen der Alltagshandelnden zu rekonstruieren. Es geht für mich also konkret nicht darum, interpretierend zu deuten, wie ein Ritual zu verstehen ist, sondern darum, empirisch zu rekonstruieren, wie es von den Beteiligten selbst gedeutet und mit Sinn versehen wird. Deshalb nehmen Deutungsmuster der Beteiligten eine zentrale Rolle ein; in ihnen manifestieren sich die in einer Gruppe oder Gemeinschaft geteilten Ressourcen von Sinngebung, auf die die Alltagshandelnden zurückgreifen können. Es geht also nicht um subjektive Deutungen oder subjektiv intendierte Bedeutungen: «Deutungsmuster sind kollektive Sinngehalte, habituell verfestigte subjektive Deutungen konstituieren noch kein Deutungsmuster» (Lüders/Meuser 1997: 59).Footnote 5

Bei der Rekonstruktion der Deutungsmuster und Handlungsstrukturen geht es deshalb darum, «nicht nur bewusst intendierte Perspektiven und Wissensbestände der Akteure», sondern auch implizites WissenFootnote 6 und Bedeutungen zu rekonstruieren, die jenseits der bewussten Absichten in der Interaktion hergestellt werden (Rosenthal 2011: 15). Es gehört zu den Grundeinsichten der interpretativen Sozialforschung, dass die Beteiligten nur in sehr beschränktem Ausmass über die Implikationen ihrer Deutungsmuster und Handlungsstrukturen reflektieren und Auskunft geben können (Garfinkel 1984, Oevermann et al. 1979). Für die Rekonstruktion der Deutungsmuster und Handlungsstrukturen ist die Wechselwirkung von subjektiven und überindividuellen Konstruktionen entscheidend:

«Dabei geht es nicht nur um die Rekonstruktion des subjektiv gemeinten Sinns, sondern vor allem darum, soziales Handeln als je individuellen Ausdruck überindividueller sozialer Zugehörigkeiten (Geschlecht, soziales Milieu, Generation u.a.) und kollektiver Orientierungen verständlich zu machen» (Meuser 1999: 142).

Erst damit wird das Sinnverstehen nach A. Schütz eingelöst (ebd.). Natürlich sind auch diese Rekonstruktionen selbst Teil von Wissenschaft und damit ihrerseits wissenschaftliche Konstruktionen. Aber sie müssen sich empirisch bewähren. Daraus resultiert eine spezifische Verschränkung von sozialer Wirklichkeit und wissenschaftlicher Beobachtung, wie sie auch für die in der interpretativen Forschung bis heute viel rezipierte Richtung der Grounded Theory bestimmend ist. Auch sie ist bemüht, ihre Erkenntnisse direkt aus den Konzepten der Alltagshandelnden abzuleiten. Das Theorieverständnis der Grounded Theory fusst also auf einer Theorie, die sich aus dem erforschten Gegenstand ergibt und nicht losgelöst vom erforschten Gegenstand erfolgt. Die Grounded Theory wurde von Barney Glaser und Anselm Strauss in den 1960er Jahren entwickelt. Sie weist vor allem mit den Arbeiten Barney Glasers und teilweise bei Strauss/Corbin (1990) Tendenzen eines objektivistischen bzw. positivistischen Gegenstandsverständnisses auf. Die Annahmen der Grounded Theory werden in dem Masse problematisch, in dem von einer externen Wirklichkeit ausgegangen wird, die durch ein*e unvoreingenommene*r Beobachter*in und unabhängig von ihm/ihr erfasst werden kann (vgl. Charmaz 2006: 131). Charmaz distanziert sich von einem solchen Verständnis und macht sich stattdessen für ein konstruktivistisches Verständnis der Grounded Theory stark (ebd.: 130 f.)Footnote 7:

«Rather than explaining reality, social constructionists see multiple realities and therefore ask: What do people assume is real? How do they construct and act on their view of reality? Thus knowledge and theories are situated and located in particular positions, perspectives, and experiences» (Charmaz 2006: 127).

Demnach geht es nicht nur um blosse Kategorienbildung, sondern darum zu zeigen, wie das jeweilige soziale Phänomen in grössere und oftmals versteckte Positionen, Netzwerke, Situationen und Beziehungen eingebettet ist. Es werden Unterschiede zwischen Menschen sichtbar, ebenso wie Hierarchien von Macht, Kommunikation und den Gegebenheiten, unter denen solche Unterschiede beibehalten und verstärkt werden (ebd. 127). Sowohl die Forschungssubjekte als auch die Forscher*innen interpretieren Bedeutungen und Handlungen. Anders gesagt: Auch die Rekonstruktion von Alltagskonstruktionen (s. o.) ist auf Interpretation angewiesen. Daher sollten die Forscher*innen reflexiv immer betrachten, wie die Daten und Theorien entstanden sind (ebd.: 131). Damit positioniert sich die Rezeption der Grounded Theory vor dem Hintergrund der Writing Culture Debatte, die die Ethnologie und die ethnographische Beschreibung nachhaltig geprägt haben. Die Ethnograph*innen stecken in einem Dilemma zwischen der Offenbarung von Feldinteressen, den Interessen der interviewten und beobachteten Personen und einer Befangenheit gegenüber dem Feld und ihren Beteiligten (vgl. Clifford 1986: 9). Vor einer ähnlichen Herausforderung sieht sich auch die interpretative Sozialforschung gestellt. Deshalb soll in diesem Kapitel der Forschungsprozess, aus dem meine Untersuchung hervorgegangen ist, methodologisch und methodisch möglichst transparent gemacht werden.

5.2 Forschungsprozess und eingesetzte Methoden

Da es das Ziel einer Interpretativen Sozialforscherin ist, die Sinn- und Relevanzstrukturen der Akteur*innen zu rekonstruieren, muss sie bestrebt sein, ihre eigenen Relevanzsetzungen zu Beginn weitestgehend zurückzustellen. Ansonsten würde über die eigenen Relevanzsetzungen das Verhalten der Alltagshandelnden zu sehr beeinflusst werden und in einem unreflektierten Zirkelschluss vermeintlich aus dem Material herausgeholt werden, was tatsächlich zuvor bereits durch eigene Setzungen darin eingeflossen ist. Das bedeutet nicht, dass die Forscher*innen keinerlei Vorannahmen über den Forschungsgegenstand mitbringen. Sie müssen diese aber stetig reflektieren und sind während des gesamten Forschungsprozesses dem Prinzip der Offenheit verpflichtet. Der sozialen Wirklichkeit soll also nicht wie in einem deduktiven Verfahren mit einer bereits vorhandenen Theorie begegnet werden. Stattdessen wird die Forschungsfrage im Sinne des Prinzips der Offenheit zunächst nur sehr vage formuliert, «bis sich die Strukturierung des Forschungsgegenstandes durch die Forschungssubjekte herausgebildet hat» (Hoffmann-Riem 1980: 346). Methodisch resultiert daraus eine Aufhebung der üblichen Phasentrennung von Datenerhebung und –auswertung; die Hypothesenbildung erfolgt stetig im Forschungsprozess in der Begegnung und Analyse mit den empirischen Phänomenen. Erste Auswertungsergebnisse entscheiden darüber, welche Fälle als nächstes erhoben werden, und sie helfen dabei, die Forschungsfrage fortlaufend weiter zu präzisieren. Die sich dabei entwickelnden Hypothesen werden am Material getestet und spezifiziert. Aus den erhobenen Fällen entwickelt sich so eine theoretische Stichprobe. Dieses Verständnis folgt der Programmatik der o. schon erwähnten «Grounded Theory» (Glaser/Strauss 2008 [1967]: 45). Mit dem Ausdruck «theoretische Stichprobe» wird eine Stichprobe bezeichnet, die alle relevanten Kategorien und Merkmale des zu untersuchten Phänomens erfasst. Ihre Grösse und Beschaffenheit kann, anders als bei einer statistischen Stichprobe, vorab nicht festgelegt werden, weil sie sich während der Datenerhebung und mit der Entwicklung einer sich aus dem Material ergebenden Theorie selbst erst entwickelt. Eine «theoretische Sättigung» («theoretical saturation», s. u.) ist dieser Vorstellung nach erreicht, wenn keine neuen Kategorien mehr gefunden werden und keine weiteren Merkmale der bereits gefundenen Kategorien anhand neuer Fälle entwickelt werden können. Typischerweise erkennt man diese «Sättigung» daran, dass dem*der Forscher*in der empirischen Forschung immer wieder ähnliche Beispiele begegnen, also vermehr Wiedererkennungs- anstelle von Entdeckungs- und Irritationseffekten auftreten (Glaser/Strauss 2008 [1967]: 61).

In einer Weiterentwicklung des Konzeptes der theoretischen Stichprobe hat Gabriele Rosenthal vorgeschlagen, im Laufe des Forschungsprozesses zwischen einer ersten und einer zweiten Stichprobe zu unterscheiden. Die erste Stichprobe umfasst alle erhobenen Fälle, für die zweite Stichprobe werden diejenigen Fälle aus der ersten Stichprobe ausgewählt, die einer genaueren Auswertung unterzogen werden sollen. Während und nach jeder Erhebung von Daten werden Memos (Notizen)Footnote 8 verfasst, die die Basis für erste Auswertungen (Globalanalysen) bilden. Anhand der Ergebnisse der Memos und Globalanalysen wird dann entschieden, welche Fälle genauer analysiert werden sollen (vgl. Rosenthal 2011: 87, 92).

Im vorliegenden Fall ist das Forschungsinteresse an Todesritualen aus einem von Dorothea Lüddeckens initiierten und geleiteten Forschungsprojekt hervorgegangen, in dem Interviews mit Ritualleiter*innen geführt wurden (vgl. Lüddeckens 2015b, 2018). Aus diesem Forschungsprojekt ergab sich mein eigenes Vorhaben, für das ich dann weitere Daten erhoben habe und für das ich die bereits erhobenen Daten vertiefend (re-)analysiert habe.. Dabei hat die Beschäftigung mit den Konzepten der Ritualleitenden und mit ihren Schilderungen über Rituale den Wunsch geweckt, auch selbst an den Ritualen teilzunehmen und auch weitergehend zu erforschen, wie die Teilnehmenden und Rezipienten der Rituale diese Rituale wahrnehmen. In der Folge habe ich an vier Bestattungsritualen teilgenommenund sieben Angehörige (die zwei Ritualleiterinnen zugeordnet werden können) interviewt, die gemeinsam mit den Ritualleiter*innen ein Bestattungsritual organisiert hatten (s. dazu o. 4.4 den Überblick über das Korpus). Aus den ersten Analysen entwickelte sich dann ein theoretisches und empirisches Interesse an Positionierungen und Ritualisierungen, das sich für die weitere Methodenwahl und ihre methodischen und theoretischen Implikationen als grundlegend erwiesen hat. Das Interesse an den Positionierungen führte dazu, dass die Interviews vertieft analysiert und weitere Interviewpartner*innen ausgewählt wurden, um für das Feld freier Ritualleitender möglichst eine Sättigung des Korpus zu erreichen. Über eine vertiefte Analyse liessen sich Kernkategorien und ihre Dimensionen aus der Analyse der Interviewtranskripte verallgemeinern und abbilden. Mein Forschungsinteresse entwickelte sich daraufhin in Richtung einer Analyse der Positionierungen der Ritualleitenden unter Hinzuziehung einer qualitativen Agency-Analyse (s. u. 5.4.5). Agency wurde als methodologisches Konzept hinzugezogen, weil damit empirisch gezeigt werden kann, wie die Ritualleitenden ihr Handeln legitimieren und wen oder was sie für ihr Handeln verantwortlich machen.

Parallel zu der vertieften Interviewanalyse erwies es sich als methodisch sinnvoll, ein konkretes Abschiedsrituals vertieft darzustellen. Daraus ist die exemplarische Deskription eines Ritualablaufs und –hintergrunds entstanden (s. o. 4.1). Mit Bezug auf dieses Ritual gelang mir ein vertiefter Feldzugang, so dass ich nicht nur die Perspektive der Ritualleiterin, sondern auch das Ritual selbst und die Rezeption des Rituals durch die Teilnehmenden auf exemplarische Weise in getrennten Auswertungsschritten miteinbeziehen konnte. Auch konnte ich die Agency-Darstellungen und die Positionierungen auf der Grundlage der Versprachlichung des unmittelbaren Vollzugs des Rituals beobachten, während sich die Analysen der Interviews natürlich viel stärker auf die Reflexion des Handels beziehen.Footnote 9 Zudem muss man sich an dieser Stelle vor Augen führen, dass unterschiedliche Methoden auch unterschiedliche Daten evozieren. So unterscheiden Ethnomethodologen zwischen einer Darstellungs- und Vollzugswirklichkeit (vgl. Bergmann 1988: 52 ff.): Das Interview vollzieht sich in der Vollzugswirklichkeit zwischen Interviewerin und interviewter Person. Die Darstellung im Interview bezieht sich auf Ereignisse und Sachverhalte, die ausserhalb der Interaktion liegen, deren Darstellung aber durch die Interaktionsbeziehung (bzw. den Interaktionsrahmen) beeinflusst wird. Ein Interview befindet sich (auch in der Tradition des narrativen Interviews, s. u. 5.3.3) prinzipiell ausserhalb der alltäglichen Methoden der Wirklichkeitserzeugung und kommt nur auf Initiative der Forscherin zustande. Ein Bestattungsritual findet dagegen auch ohne das Zutun der Forscherin/des Forschers statt. Gleichzeitig finden aber auch Interviews nicht losgelöst von der sozialen Wirklichkeit statt. Sie verweisen auf diese und produzieren selbst soziale Wirklichkeit. Ich habe entsprechend versucht, analytisch zwischen dem Vollzug der Handlung und seiner nachträglichen Deutung und Darstellung zu unterscheiden. An einigen Stellen konnte die Positionierungsanalyse durch den Einbezug weiterer Erhebungen (z. B. von Ritualen, die im Zusammenhang mit dem Tod stehen wie z. B. Jahreskreisrituale) ergänzt werden.

Der analytische Wert der Daten erwächst aus einer theoretischen Verallgemeinerung der Beobachtungen. Dies wird über den kontrastiven Vergleich von Fällen und über die Rekonstruktion von Wirkungszusammenhängen am Einzelfall angestrebt. Somit konnte abschliessend beantwortet werden, welche Wirkungszusammenhänge sich zwischen Ritualisierungen und Positionierungen über das gesamte Feld ergeben. Vereinfacht gefragt: Was sagen die Positionierungen der Ritualleitenden über ihre jeweiligen Legitimationen aus? Diese Frage wird in einer vergleichenden Agency-Analyse im Rahmen der Rekonstruktion der Positionierungen beantwortet (Abbildung 6.1, «Agency»; s. zur theoretischen Reflexion dieser Ergebnisse u. 10).

Im Ergebnis hat sich im Forschungsprozess im Zusammenspiel von Datenerhebung, -analyse und -auswertung ein komplexes Mit- und Nebeneinander von konkreten Methoden der Erhebung und der Analyse sowie theoretisch-konzeptionellen Schwerpunkten der Datenauswertung ergeben, das je nach Datentyp unterschiedlich ausgeprägt ist, weil unterschiedliche Datentypen methodisch, methodologisch und theoretisch unterschiedliche Anforderungen stellen. Abbildung 5.1 führt die in meiner Untersuchung angewendeten Methoden und Konzepte geordnet nach Untersuchungsschritten und Datentypen auf.

Abbildung 5.1
figure 1

Methoden der Datenerhebung, Grundlagen der Datenanalyse und theoretischer Hintergrund der Datenauswertung

Der Schwerpunkt meiner Untersuchung und der Darstellung im Empirieteil (s. u. 69) liegt, wie schon mehrfach erwähnt, auf den Interviewdaten, die unter Hinzuziehung verschiedener Analyseverfahren untersucht und vor allem mit Bezug auf Positionierung und Agency ausgewertet wurden. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass sich diese theoretische Schwerpunktbildung im Sinne der Grounded Theory aus der Auseinandersetzung mit dem Material heraus ergeben und nach und nach weiterentwickelt hat.

Bei der Analyse der 16 Interviews mit den Ritualleitenden habe ich mich auf die Rekonstruktion der Selbstpositionierungen der Ritualleitenden und ihres Verständnisses von Ritualisierung(en) konzentriert. Einige Ergebnisse dieser Analysen korrespondieren mit den Ausführungen in Lüddeckens 2016. Ein Ziel meiner Untersuchung war es, neben der Rekonstruktion der Perspektive der Ritualleitenden und der Angehörigen auch die rituelle Praxis selbst in den Blick zu nehmen. Dafür wurde eine MethodentriangulationFootnote 10 von Interviewanalyse und der Analyse von Ritualereignissen durchgeführt. Damit knüpft die Untersuchung an verschiedene empirische religionswissenschaftliche Arbeiten der letzten Jahre an. Die methodologische und methodische Verbindung von narrativen Konstruktionen und religiöser Praxis findet sich auch bei Miczek (2013), Kupari (2016) und Utriainen (2002, 2010). Miczek hat eine Forschungslücke in der analytischen Verknüpfung von narrativen Konstruktionen und religiöser Praxis gesehen und darauf aufmerksam gemacht, dass mit einer solchen Verknüpfung auch beantwortet werden kann, ob und wie narrative Strukturen konkret Einfluss auf die Ausgestaltung von Ritualen nehmen. Zudem weist sie noch auf Forschungsbedarf bezüglich der (intermedialen) Aushandlungen von Erzählmustern und medialen Positionierungen hin (vgl. Miczek 2013: 202), der in dieser Arbeit aber nur am Rande diskutiert wird, da mediale Ausdrucksgestalten wie Internethomepages und andere Textquellen nur ergänzend ausgewertet werden. Ähnlich wie Helena Kupari analysiere ich die Interviewtranskripte aus einer praxistheoretischen Perspektive. Ich untersuche, wie die Interviewpartner*innen über die rituellen Praktiken sprechen und ihnen Bedeutung zusprechen (vgl. Kupari 2016: 7). Mit Utriainen kann man eine solche Analyse von Interviews als in die Ethnographie eingebettet verstehen (vgl. Utriainen 2002) oder auch mit Knoblauch 2001 von einer «fokussierten Ethnographie» sprechen.

Die Arbeit setzt sich vornehmlich mit der Darstellungsebene der Ritualleitenden in sprachlichen Äusserungen auseinander. Dabei ist zu beachten, dass der Zugriff auf das Geschehen im Ritual in der Darstellungswirklichkeit im Interview durch die Interviewsituation gerahmt ist. Ergänzend konnte durch die teilnehmende Beobachtung einzelner Rituale stärker die Vollzugswirklichkeit des Rituals in den Blick genommen werden.

Im Anschluss an diesen Überblick über den Forschungsprozess und die eingesetzten Methoden soll im Folgenden auf die Entscheidungen bei der Datenerhebung und Datenauswertung ausführlicher eingegangen werden.

5.3 Datenerhebung und -aufbereitung

Die folgende Darstellung der Datenerhebung und –aufbereitung umfasst den Feldzugang (5.3.1), die Form der Dokumentation der Daten (5.3.2), die Interviewmethodik (5.3.3) und die teilnehmende Beobachtung ausgewählte Rituale (5.3.4).

5.3.1 Feldzugang

Im Sinne einer Orientierung am Prinzip der Kommunikation (Hoffmann-Riem 1980) wurde den Ritualleitenden und Angehörigen bei der Gestaltung der Forschungssituation ein möglichst großer Raum zugesprochen, um die Relevanzstrukturen der Beteiligten möglichst unverfälscht zu erfassen. Das Prinzip der Kommunikation besagt, dass der Forscher/die Forscher*in nur dann einen tiefergehenden Zugang zu bedeutungsstrukturierenden Daten gewinnt, wenn er/sie eine Kommunikationsbeziehung mit dem Forschungssubjekt eingeht und sich dabei auch auf das kommunikative Regelsystem des Forschungssubjekts einlässt (vgl. Hoffmann-Riem 1980: 346 f.). Das fängt damit an, dass ich es zu Beginn der Interviews jeweils offengelassen habe, ob das Interview auf Mundart oder in Standarddeutsch geführt werden soll. Da ich selbst nicht Mundart spreche, haben die Interviewpartner*innen häufig zu Standarddeutsch gewechselt, ohne dass darüber geredet wurde. In anderen Fällen haben die Interviewpartner*innen aber auch weiter in Mundart gesprochen, ohne dass es dadurch zu Verständigungsproblemen gekommen ist.

Um den Zugang zur Teilnahme an einem Abschiedsritual der jeweiligen Ritualleitenden zu erhalten und um trauernde Angehörige für Gespräche zu gewinnen, war es besonders wichtig, über einen längeren Zeitraum eine persönliche und vertrauensvolle Kommunikationsbeziehung zu den Ritualleitenden aufzubauen und zu erhalten. Gerade für den sensiblen Bereich der Trauer, mit dem die Beteiligten sehr unterschiedlich umgingen, erwies sich die Qualität der Beziehung zu den Interviewpartner*innen als ausschlaggebender Faktor. Die Erfahrungen der Interviews mit den Angehörigen waren sehr unterschiedlich (s. dazu bereits o. 4.6).

Nachdem der Feldzugang etabliert war, habe ich einzelne Abschiedsrituale besuchen können und weitere Interviews mit Ritualleitenden geführt, die in der ersten Erhebungsphase noch nicht erreicht worden waren oder sich erst aus den ersten Interviews ergaben.

5.3.2 Dokumentation der Daten

Bei der Durchführung der Interviews habe ich mich vor allem an der Methode des narrativen Interviews orientiert (s. u. 5.3.3). Die Dokumentation der Interviews erfolgte mit einen Audioaufnahmegerät (nach ausdrücklicher Einverständniserklärung und unverdeckt) und über Notizen während der Erhebung. Zur Vorbereitung für die Analyse (und im Sinne eines ersten Schrittes der intensiven Beschäftigung mit dem Material) wurden die Interviews transkribiert. Dabei orientierte ich mich an den Transkriptionszeichen, die Jörg Bergmann vorgeschlagen und Gabriele Rosenthal weiterentwickelt hat (Abbildung 5.2 nach Rosenthal 2011: 93; vgl. Bergmann 1976; 1988: 21).

Abbildung 5.2
figure 2

Transkriptionsnotationen nach Rosenthal 2011: 93

Neben den Interviews und Transkriptionen wurden Beobachtungsprotokolle und Memos von Beobachtungen erstellt. Ausserdem wurden weitere Dokumente gesammelt und angefertigt: Screenshots von Websites, Broschüren und Zeitungsartikeln.

5.3.3 Narratives Interview

Bei der Vorbereitung und Durchführung der Interviews habe ich mich an der Methode des narrativen Interviews orientiert, wie sie von Fritz Schütze in den 70er Jahren entwickelt und von Gabriele Rosenthal weiterentwickelt wurde (Schütze 1976, Schütze 1983, Rosenthal 1995, 2011). Die Methode des narrativen Interviews zielte ursprünglich darauf ab, Interviewparnter*innen durch geeignete Fragen dazu zu bringen, Erzählungen aus ihrer Lebensgeschichte zu produzieren, die in ihren Schwerpunkten und Ausgestaltungen möglichst wenig durch Vorgaben des Interviewers/der Interviewerin gesteuert sind. Es ging darum, möglichst autonom gestaltete Erzählungen der Interviewpartner*innen zu evozieren, um dann die durch die Form des Erzählens realisierten Sinngebungen rekonstruieren zu können. Der Entwicklung des narrativen Interviews lag entsprechend die Annahme zugrunde, dass sich Erfahrungen und Erlebnisse in Erzählungen als der für die Darstellung von selbst Erlebtem prädestinierten Textform auf unmittelbare Weise zeigen. Fritz Schütze konnte sich in dieser Annahme auf die linguistische Erzählanalyse nach Labov und Waletzky (1973) berufen.

Inzwischen ist das narrative Interview zu einer allgemeineren Interviewtechnik weiterentwickelt worden, bei der es darauf ankommt, möglichst «autonom gestaltete(n) Präsentationen einer bestimmten Thematik» hervorzulocken (Rosenthal 2011: 15).

Am Anfang des narrativen Interviews steht deshalb typischerweise ein Erzählimpuls, der im Erfolgsfall zu einer längeren autonom gestalteten Erzählung der*des Interviewten führt.

Der von mir gewählte Erzählimpuls lautete: «Können Sie mir einmal von der Situation erzählen, in der sie sich entschieden haben, Ritualleiter*in zu werden und was sie in dieser Zeit bis heute so erlebt haben? Ich werde sie erstmal nicht unterbrechen. Sie können erzählen, was Ihnen in den Sinn kommt. Ich werde mir ein paar Notizen machen und dann später nochmal nachfragen.» Der Erzählimpuls wurde bewusst möglichst offen und möglichst nah an der Alltagssprache der Interviewten formuliert. Im Sinne der Fokussierung auf erzählende Darstellungen wurde ein temporaler Rahmen eröffnet. Die Formulierung mit «so» («… bis heute so erlebt haben …») sollte dazu dienen, den Gegenstand möglicher Erzählungen weitgehend der Wahl der/des Interviewten zu überlassen.

Schon bei der Vorbereitung der Interviews war klar, dass sowohl eine akteurszentrierte als auch eine ritualtheoretische Perspektive im Zentrum des Auswertungsinteresses stehen würden. Diese Perspektiven habe ich entsprechend auch im Interview eingebracht, wenn sich entsprechende Fokussierungen nicht von selbst ergeben haben. Im Vorfeld der Erhebung wurde zudem ein Leitfaden mit Themen entwickelt, die im Laufe der Interviews schon aus Gründen der Vergleichbarkeit zur Sprache kommen sollten.Footnote 11 Dabei ging es zunächst um den Werdegang als Ritualleiter*innen und dann um ein für die Interviewten «typisches» Ritual. Schliesslich stellte ich einzelne Fragen zur Vernetzung mit anderen Ritualleitenden, zu Postmortalitätsvorstellungen, zur Rolle der Angehörigen im Bestattungsritual und zur eigenen Religiosität bzw. Spiritualität.Footnote 12 Zu den einzelnen autonom gestalteten Passagen der Interviews habe ich Nachfragen zur Verständnissicherung und zur Vertiefung gestellt, die im Stil des narrativen Nachfragens nach Rosenthal formuliert wurden (vgl. Rosenthal 2011: 163). Diese Fragetypen wurden ursprünglich für ein biographisch orientiertes narratives Interview entwickelt, lassen sich jedoch auch auf andere narrative Interviewtypen übertragen (s. u.). In den von mir geführten Interviews spielte die Biographie der Interviewten für sich genommen keine besondere Rolle. Wenn bestimmte Lebensphasen im Zusammenhang mit meinem Forschungsinteresse erwähnt wurden, habe ich jedoch an diesen Stellen gezielt nachgefragt. Im Folgenden werden zur Illustration der sechs Nachfragetypen des narrativen Nachfragens von Rosenthal (2011: 163) Beispiele aus den eigenen erhobenen Interviews aufgeführt und zugeordnet, wobei ich die konkreten Formulierungen natürlich variiert habe:

  1. 1.

    Ansteuern einer Lebensphase:

    «Sie erwähnten, dass die Beschäftigung mit dem Tod durch die eigene Konfrontation mit dem Tod ausgelöst wurde. Könnten Sie davon noch etwas mehr erzählen?»

  2. 2.

    Eröffnung eines temporalen Rahmens bei scheinbar statischen Themen:

    «Könnten Sie mir noch einmal von der Situation erzählen, als Sie sich das erste Mal entschieden haben, dass Sie es anders machen wollten und wie sich das bis heute entwickelt hat?»

  3. 3.

    Ansteuern einer benannten Situation:

    «Sie erwähnten vorhin, dass in bestimmten Situationen eine Heiligkeit entstehen würde? Können Sie mir davon noch etwas mehr erzählen?»

  4. 4.

    Ansteuern einer Erzählung zu einem Argument:

    «Sie erwähnten, dass Sie das richtig wütend gemacht hat. Können Sie mir davon noch etwas genauer erzählen?»

  5. 5.

    Ansteuern von Tradiertem bzw. Fremderlebten:

    «Sie erwähnten Jahreszeitrituale. Könnten Sie mir davon noch etwas mehr erzählen?»

  6. 6.

    Ansteuern von Zukunftsvorstellungen oder Phantasien:

    «Können Sie mir noch etwas von Ihren Wünschen für die Zukunft eines alternativen Umgangs mit dem Tod erzählen?»

Die Interviews können, da es sich um eine Verbindung aus einem narrativen und leitfadengestützten Interview handelt, auch als episodische Interviews bezeichnet werden (vgl. Lamnek 2010: 363, Flick 1995).Footnote 13 Es zeigt sich auch eine Nähe zu dem Verfahren des Expert*innen-Interviews, da den Forschungssubjekten ein Expert*innenstatus verliehen wurde (vgl. Meuser/Nagel 1991: 443). Expert*innen-Interviews können auch narrativ geführt werden, wenn die Fragen mit Hilfe der narrativen Fragetechnik gestellt werden:

Der Vorteil von narrativen Interviews gegenüber stärker strukturierten und standardisierten Interviews liegt darin, dass sie den Gesprächspartner*innen mehr Raum in der Darstellung lassen, was speziell für mein Interesse an Positionierungen sehr wichtig ist.

5.3.4 Teilnehmende Beobachtung

Über die Interviews mit den Ritualleitenden hinaus ist es mir gelungen, einen Zugang zu ausgewählten Ritualen zu bekommen. Bei diesen Ritualbesuchen habe ich mich an den Prinzipien der Teilnehmenden Beobachtung orientiert. Insgesamt konnte ich an vier Abschiedsritualen sowie an weiteren Ritualen (z. B. Jahreszeitritualen) der Ritualleitenden teilnehmen. Auch wenn die Interviews im Mittelpunkt meiner Auswertungen gestanden haben, soll im Folgenden kurz auf die Tradition der Feldforschung und die dabei immer wieder zitierte Praxis der teilnehmenden Beobachtung eingegangen werden. Im Mittelpunkt steht dabei nicht so sehr die in die Ethnologie zurückreichende Tradition der teilnehmenden Beobachtung selbst, sondern die Frage, welcher zusätzliche Erkenntnisgewinn für meine Fragestellung mit dieser Zugangsweise verbunden ist.

Die Tradition der Teilnehmenden Beobachtung ist eng mit der Feldforschung und Ethnografie verbunden. In vielen neueren Arbeiten wird anstelle von Feldforschung von Ethnografie gesprochen, weil damit auch auf die Erforschung der eigenen Gesellschaft erfasst werden kann. Die Ethnografie ist entsprechend nicht nur aus der klassischen Ethnologie, sondern auch aus der Chicago School und der Soziologie des Alltags hervorgegangen und hat durch diese Traditionen eine weite Verbreitung gefunden (vgl. Breidenstein et al. 2013: 13). Klassische Feldforschung hatte die Erschliessung von Gesellschaften zum Ziel, die als „fremde“ explizit in Abhebung von der «eigenen» Gesellschaft gebracht wurden. In diesem Kontext war die teilnehmende Beobachtung keineswegs selbstverständlich, sondern bezeichnete eine wichtige Neuorientierung. Davon zu unterscheiden ist der Verweis auf Ethnographie, Feldforschung und teilnehmende Beobachtung, um die «eigene» und vertraute Gesellschaft gezielt mit einem «befremdeten» Blick zu betrachten (vgl. Hirschauer/Amann 1997: 12, Breidenstein et al. 2013: 13). Meine empirische Forschung fand in der Deutschschweiz und damit in einem weiteren Sinne in der «eigenen» Gesellschaft statt. Auch wenn ich als kurz zuvor in die Schweiz gezogene Deutsche und als mit Trauerritualen nicht speziell vertraute Person zu Beginn des Forschungsprojektes auch mit Fremdheitserfahrungen konfrontiert worden bin, bestand die methodische Herausforderung vor allem darin, mit einem „befremdeten“ Blick auf das Feld der «freien» Rituale zu schauen. Auch in dieser Hinsicht erhebt meine Untersuchung nicht den Anspruch, eine Ethnografie von Todesritualen zu leisten. Allenfalls könnte man mit Bezug auf meine Studie in Anlehnung an Knoblauch 2001 von einer «fokussierten» Ethnografie sprechen. Narrative Interviews, wie sie dieser Studie zugrunde liegen, sind in diesem Sinne immer auch Teil von Feldforschung und Ethnografie; sie schliessen den Kontext der Befragten mit ein und müssen die konkrete Interaktionssituation zwischen Befragten und Interviewenden reflektieren und analysieren. Anders als bei einem strikt standardisierten Interview oder einer Fragebogenerhebung, bei der der/die Forscher*in als Person kaum oder gar nicht in Erscheinung tritt, ist der/die Forscher*in im narrativen Interview nicht nur in der Rolle als Forscher*in anwesend, sondern gleichzeitig auch als Alltagshandelnde/r präsent. Sie gibt sich also auch mit ihrer/seiner Persönlichkeit in den Forschungsprozess ein.

Beobachtung durch und während der Teilnahme an einem Geschehen erlaubt einen erlebenden Mit- und Nachvollzug am fraglichen Geschehen, wie genau auch immer die Anteile von Beobachtung und Teilnahme dabei ausgestaltet werden. Sie stellt eigene Anforderungen an die Forscherin, die insbesondere mit Nähe und Distanz zu tun haben; bei teilnehmender Beobachtung bringt sich die*der Forscher*in immer auch selbst in das Geschehen ein und gibt dabei gezielt einen Teil der professionellen Distanz auf. Zu dieser Form der Datengewinnung gehört deshalb immer ein Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz zwischen der Forscher*in und dem untersuchten Feld (Wistuba 2003). Während der teilnehmenden Beobachtung – aber auch während eines offenen Interviews – gilt es, möglichst nah an den Forschungsgegenstand heranzutreten. Bei der Analyse der Daten ist dann wieder die professionelle Distanz zu den Daten erforderlichFootnote 14 (vgl. Breidenstein et al. 2013: 71–80). Darauf soll an dieser Stelle aber nicht näher eingegangen werden, weil die aus der Teilnahme an Ritualen gewonnenen Beobachtungen für meine Studie nur ergänzenden Charakter haben.

Während oder unmittelbar nach dem Feldaufenthalt habe ich in Notizen und Protokollen Eindrücke über das Geschehen festgehalten. Notizen, Protokolle und Memos haben die Funktionen von «Speicherung, Darstellung und Explikation» der Daten (vgl. Breidenstein et al. 2013: 106). So ist es z. B. sinnvoll, den gesamten Ablauf des Geschehens aus dem Gedächtnis oder, wenn nicht störend, direkt während des Geschehens mitzuschreiben. Neben dem Beschreiben des Ablaufs sollen auch immer eigene Gedanken und Gefühle mitnotiert werden. Bei der Niederschrift der Notizen (und auch bei weiteren Analysen inklusive der Darstellung der Ergebnisse) gilt es, die unterschiedlichen Informationen kenntlich zu machen, so dass zwischen allgemeinen und beschreibenden Informationen und eigenen Deutungen differenziert werden kann. Gleichwohl ist jede Form der (sprachlichen) Aufzeichnung immer auch schon eine Interpretation (vgl. Breidenstein et al. 2013: 103, Rosenthal 2011: 137).Footnote 15 In den von mir besuchten Ritualen war es schwierig, während der Bestattungsrituale Notizen zu machen (was ich in zwei Fällen auf möglichst unauffällige Weise versucht habe), weil ich z. T. mitten im Geschehen war, also z. B. mit Familienangehörigen an einer Tafel gesessen habe. Man sieht daran, wie Teilnahme und Beobachtung im Feld selbst zu einem nicht immer auflösbaren Spannungsverhältnis führen können. Die Anfertigung von Notizen im unmittelbaren Nachhinein (z. B. schon bei der Rückreise) erwies sich in dieser Hinsicht als wesentlich unproblematischer. In diesen Situationen des Festhaltens relativ frischer Eindrücke sind auch bereits erste Hypothesen entstanden, woran sich zeigt, wie die Beschreibung im ethnografischen Sinne immer auch schon «Schaffung von Ordnung und Kohärenz» impliziert und somit nicht gänzlich von der Analyse zu trennen ist: Im Schreiben werden zugleich Daten konstituiert und Erfahrungen analysiert. Sie werden gedeutet, sprachlich gestaltet, pointiert, arrangiert und sequenziert (vgl. Hirschauer 2001, Breidenstein et al 2013: 103). In der Analyse wird die Beschreibung dann mit analytischen Kategorien und theoretischen Konzepten versehen.

Wie schon erwähnt, habe ich insgesamt an vier Bestattungsritualen teilgenommen. Aufgrund der Ergiebigkeit habe ich mich vor allem auf einen Fall von Ritualleitung konzentriert, bei dem es mir gelang, auch mit den Angehörigen des Verstorbenen ein Interview zu führen. Dieser Fall, in dessen Zentrum das Abschiedsritual vom 22.10.16 steht, wurde mit ethnografischen Methoden (Breidenstein et al. 2013) im Sinne der «fokussierten Ethnographie» (Knoblauch 2001) beschrieben und analysiert. Die Ritualleiterin stellte mir im Anschluss an die Trauerfeier ihr Manuskript zur Verfügung, an dessen Wortlaut sie sich während der Feier mehr oder weniger unverändert gehalten hat. In die Beschreibung dieses Rituals (s. o. 4.1) ist dieses Manuskript neben meinen eigenen Notizen eingegangen. In den Kontext dieses Rituals gehören auch die Interviews, die ich mit der Ritualleiterin geführt habe. Das erste Interview wurde vor dem Besuch des Rituals geführt, das zweite nach dem Besuch und nach Gesprächen mit zwei beteiligten Angehörigen. Die Gespräche mit den Angehörigen wurden ebenfalls getrennt analysiert, so dass sich in diesem Fall eine Zusammenschau von Ritualbeschreibung und Interviewauswertung ergeben hat.

5.4 Auswertung der Daten

Im Prozess der Auswertung meiner Daten habe ich verschiedene textanalytische VerfahrenFootnote 16 miteinander verbunden. Neben dem Kodierverfahren aus der Grounded Theory im Sinne einer Constructing Theory (Charmaz 2006) habe ich mich bei der Auswertung auf die Narrationsanalyse (Schütze 1987), ihre Weiterentwicklung als Text und thematische Feldanalyse (Rosenthal 2011) und auf die Agency-Positioning-Analyse (Helfferich 2012, Lucius-Hoene 2013) gestützt. In der interpretativen Sozialforschung sind viele Ansätze von der Methodologie der Grounded-Theory-Methodologie beeinflusst, ohne dass sie jedoch die Auswertungsmethode des Kodierverfahrens der Grounded Theory anwenden (z. B. Rosenthal 2011). Die vorliegende Arbeit versucht, sich die Vorteile und Erkenntnismöglichkeiten verschiedener interpretativer Verfahren zunutze zu machen, ohne dabei strikt einer Methode zu folgen. Das setzt aber voraus, dass die einzelnen Verfahren in ihren Anwendungsmöglichkeiten, Vorteilen und Grenzen reflektiert werden (s. u. 5.4.15.4.5).

Textanalytische Verfahren innerhalb des interpretativen Paradigmas haben bei allen Unterschieden bestimmte Orientierungen gemeinsam. Dazu gehört insbesondere, dass sie sequentiell-rekonstruktiv vorgehen. Bei der Datenauswertung erfolgt die Umsetzung des Prinzips der Offenheit deshalb über das Prinzip der Rekonstruktion. Ein offenes Vorgehen bei der Auswertung schliesst insbesondere aus, dass die erhobenen Daten (z. B. ein Interviewtranskript oder ein Beobachtungsprotokoll) wie bei einem subsumptionslogischen Verfahren nach vorab bestimmten Kategorien gegliedert und inhaltsanalytisch ausgewertet werden (vgl. Rosenthal 2011: 57). Stattdessen geht es beim Prinzip der Rekonstruktion darum, die Kategorien Schritt für Schritt möglichst aus dem Material selbst zu entwickeln. Dafür wird ein abduktives und sequenzielles Vorgehen bei der Hypothesengenerierung angewendet. Ein abduktives Verfahren ist ein Verfahren, das zunächst Hypothesen generieren soll. Bei der Auswertung sequentiell zu verfahren, bedeutet, die dokumentierte soziale Wirklichkeit (z. B. ein Interviewtranskript) Einheit für Einheit in der Abfolge des Interaktionsgeschehens zu interpretieren (ebd.). Bei der Analyse soll eben nicht von Anfang an auf das Wissen zurückgegriffen werden, was später im Interview gesagt wird, sondern zunächst sollen jeweils verschiedene Möglichkeiten aus dem Text rekonstruiert werden, an die das Folgende anschliessen könnte, und in seinem inneren Kontext des Vorangegangen zu analysieren. Sowohl das hypothesengenerierende als auch das sequentiell-rekonstruktive Prinzip sind im Verfahren der «objektiven Hermeneutik» (Oevermann et al. 1979) auf besonders strikte Weise vorgeführt worden.

Es sei noch hinzugefügt, dass in der Tradition der Interpretativen Sozialforschung Daten immer wieder systematisch in Gruppen ausgewertet werden (Reichertz 2013). Vor allem zu Beginn des Forschungsprozesses bietet sich die gemeinsame Analyse von Transkriptionsausschnitten in einer Forschungsgruppe an. Es ist sinnvoll, während des Erhebungs- und Auswertungsverfahrens immer wieder den Kontakt zu einer Gruppe (z. B. im Rahmen einer Forschungswerkstatt) zu suchen, um mit einem möglichst unvoreingenommenen Blick analysieren zu können und in einem späteren Prozess die eigenen ersten Hypothesen zur Diskussion zu stellen. Soweit das praktisch möglich war, habe ich von dieser Möglichkeit bei meiner eigenen Studie immer wieder Gebrauch gemacht.

5.4.1 Narrationsanalyse

Wie schon dargelegt (s. o. 5.3.3) waren es erzähltheoretische Grundlagen, die zur Entwicklung der Erhebungsmethode des narrativen Interviews geführt haben. Diese sind auch für die Narrationsanalyse entscheidend:

«Die Narrationsanalyse ist ein Verfahren, das sich explizit auf die Analyse von Stegreiferzählungen konzentriert. Die narrative Gesprächsführung bietet den Interviewten den grösstmöglichen Raum zur Selbstgestaltung der Präsentation ihrer Erfahrungen und bei der Entwicklung ihrer Perspektive auf das angesprochene Thema […] Des Weiteren zielt das Hervorlocken von Erzählungen auf den möglichen Nachvollzug von Handlungsabläufen ab» (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2013: 151).

Die erzähltheoretischen Grundlagen der Narrationsanalyse umfassen insbesondere die Zugzwänge und die Kommunikationsschemata (Kallmeyer/Schütze 1977). Die Zugzwänge des Erzählens bestehen nach Kallmeyer und Schütze in einem Kondensierungs-, einem Detaillierungs- und einem Gestaltschliessungszwang. Wer etwas erzählen will, muss das fragliche Ereignis als solches auf einen Punkt bringen, den fraglichen Ablauf in einer gewissen Auflösung vergegenwärtigen und das Versprechen des Erzählens einer Geschichte mit Anfang und Ende einlösen. Aus diesen Zugzwängen, die mit dem Erzählen verbunden sind, ergibt sich die Fruchtbarkeit für Erzählungen in Interviews: Die Zugzwänge bewirken eine mehr oder weniger autonome Präsentation von Ereignissen, ohne dass sie durch den Interviewer jeweils explizit eingefordert werden müssen (s. schon o. 5.3.3). Die Kommunikationsschemata umfassen nach Kallmeyer und Schütze neben dem Erzählen noch Beschreiben und Argumentieren (1977: 160).

In meiner Arbeit liegt ein besonderes Augenmerk auf der Analyse von Argumentationen in Erzählungen. Bei Fritz Schütze (1987) und Gerhard Riemann (1986)Footnote 17 finden sich hilfreiche Überlegungen zur Bedeutung von Argumentationen im Rahmen von längeren Erzählungen (Argumentative(n) Stellungnahmen im Erzählduktus als Ausdruck der theoretischen und evaluativen Haltung des Erzählers).

Für die Ritualleitenden ist es typisch, dass sie sich als Expert*innen ihrer selbst präsentieren.Footnote 18 Schütze wählt dafür den Begriff der «Eigentheorie» (1987: 138). Die Erzähler*innen greifen auf Erklärungstheorien zurück, um ihre Erzählungen begreiflich zu machen. «Sie [die Erklärungstheorien, L.R.] beinhalten systematische Überlegungen des Erzählers bzw. des Geschichten- oder Ereignisträgers zu den Beweggründen, Auslösefaktoren und Bedingungen von Ereignisabläufen […]» (ebd.: 179).

Eine Unterkategorie einer solchen Erklärungstheorie ist eine Hintergrundkonstruktion als eine in den Erzählfluss eingeschobene Argumentation, die «sich auf grössere Zusammenhänge beziehen und eine komplizierte argumentative Eigendynamik entfalten» können (ebd.: 180).

Erzählungen zeichnen sich nach Ansicht der Narrationsanalytiker*innen gegenüber anderen Textsorten dadurch aus, dass sie sehr nahe am tatsächlich Erlebten der interviewten Personen sind und einen hohen Detaillierungsgrad aufweisen (ebd.: 153).

«Damit ist jedoch nicht gemeint, dass die Erzählung sich jemals mit dem Erleben in der Vergangenheit decken könnte, sondern nur, dass die Erzählung eine grössere Annäherung an den Handlungsablauf in der damaligen Situation ermöglicht als andere Formen der sprachlichen Darstellung» (Rosenthal 2010: 200).

Der Narrationsanalyse wurde oftmals vorgeworfen, dass sie Narration und Wirklichkeit gleichsetzen würde. Przyborski und Wohlrab-Sahr weisen aber darauf hin, dass es dabei eher um eine Korrespondenz der Orientierungsstrukturen des Handelns und der Strukturen der Darstellung gehe (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009: 229, Schütze 1987).

Erzählungen haben nach Fritz Schütze «den Charakter langfristiger sozialer Prozesse, die in der Regel über einzelne Gesprächssituationen, Begegnungen, Interaktionsepisoden hinausgehen und im Kern aus ‚autohistorischen‘ bzw. autobiographischen, beziehungsgeschichtlichen und/oder kollektiv-historischen Abläufen bestehen» (Schütze 1987: 14).

Sie bieten deshalb stärker als andere Kommunikationsschemata Einblicke in generalisierbare Deutungsmuster, wie sie für die Positionierungsanalyse von Bedeutung sind (s. u. 5.4.4). Als solche sind sie vergleichsweise stabil und auch in Interviewsituationen evozierbar. Die Narrationsanalyse geht entsprechend davon aus, dass durch das Erinnern während des Erzählvorgangs «Eindrücke, Gefühle, Bilder, sinnliche und leibliche Empfindungen oder bisher zurückgedrängte Komponenten der erinnerten Situationen vorstellig werden, die mit der Gegenwartsperspektive nicht kompatibel sind, d. h. nicht dem Präsentationsinteresse und den Regeln der gegenwärtig wirksamen sozialen Diskurse entsprechen (Rosenthal 2010: 200)».

Erzählungen sind folglich durch eine besondere Nähe zu detaillierten vergangenen Situationen gekennzeichnet, die beim Argumentieren und Beschreiben nicht gegeben ist. Daher unterteilt die Narrationsanalyse das Datenmaterial nach Textsorten bzw. Kommunikationsschemata (s. o.). Diese sind, wie schon festgehalten, neben Erzählungen vor allem Argumentationen und Beschreibungen. Argumentationen sind theoriehaltige Äußerungen, die sich an der Gegenwart des Sprechers orientieren (s. o. die «Eigentheorien» im Sinne von F. Schütze). Beschreibungen beziehen sich nicht auf einmalige Erlebnisse. Eine Unterkategorie der Beschreibung ist deshalb die «verdichtete Situation», bei der wiederkehrende Erlebnisse wie z. B. Routinen dargestellt werden (vgl. Rosenthal 2011: 153). In den von mir untersuchten Interviews kommen diese verschiedenen Textsorten immer wieder vor.

5.4.2 Text- und thematische Feldanalyse

Gabriele Rosenthal hat ein sequentiell-rekonstruktives Verfahren insbesondere für die Methode der biographischen Fallrekonstruktion entwickelt (vgl. Rosenthal 2011:174–211). Ich habe mich bei meinen Auswertungen insbesondere der Methode der Textanalyse und thematischen Feldanalyse orientiert, die ein wichtiges Element einer Fallrekonstruktion darsellt (Rosenthal 2011: 196–202). Bei dem Verfahren der Text- und thematischen Feldanalyse geht es um die Analyse der Selbstpräsentation des Erzählers und der Erzählerin. Dieses Verfahren wird insbesondere mit der Objektiven HermeneutikFootnote 19 in Verbindung gebracht (vgl. Oevermann et al. 1979, Wernet 2009Footnote 20). Dazu wird das Datenmaterial zunächst in Sequenzen unterteilt, die dann sequenzanalytisch untersucht werden (s. dazu o. 5.4.2). Kriterien für einen Sequenzwechsel sind Sprecherwechsel, Textsortenänderung und inhaltliche Modifikationen (ebd.: 70 f.). Es geht darum, den Möglichkeitsraum der gewählten Präsentation, innerhalb derer die Sequenz hervorgebracht wurde, möglichst genau abzubilden, So können dann folgende Fragen beantwortet werden: Warum wurde etwas an dieser Stelle im Interview so und nicht anders präsentiert? Auf was verweist diese Präsentation? Was wird nicht präsentiert? (vgl. Rosenthal 2011: 200). Im rekonstruktiven Verfahren, zu dem eine Text- und thematische Feldanalyse gehört, erfolgt dieser Prozess der Hypothesenbildung und -überprüfung über das abduktive Schlussfolgerungsverfahren, das von Charles Sanders Peirce entwickelt worden ist (ebd.). Das abduktive Schlussfolgerungsverfahren besteht aus drei Schritten:

Am Anfang steht der abduktive Schluss, der «Vorgang, in dem eine erklärende Hypothese für ein bestimmtes Phänomen gebildet wird» (Rosenthal 2011: 58). Im zweiten Schritt, dem induktiven Schließen, werden Folgehypothesen gebildet, die am empirischen Material zu testen sind. Der dritte Schritt, das deduktive Schließen, ist dann der empirische Test am Einzelfall (vgl. Rosenthal 2011: 58 f.).

Die nächste Sequenz wird mit den bereits gebildeten Hypothesen verglichen, die dann weitere Plausibilität erlangen, verändert oder abgelehnt werden (ebd.: 59). Rosenthal hat die Sequenzanalyse mit der Gestalttheorie von Aron Gurwitsch weiterentwickelt (vgl. Rosenthal 1995). Der gestalttheoretische Gewinn dieses Auswertungsschrittes besteht darin, dass auch die jeweils kopräsenten, wenn auch nicht gleichermaßen explizit gemachten Gegebenheiten innerhalb einer Sequenz bestimmt werden. Darin beruft sich Rosenthal auf Gurwitschs Unterscheidung von «Thema» und «Thematischem Feld». Das thematische Feld bezeichnet Gurwitsch als «die Gesamtheit der mit dem Thema kopräsenten Gegebenheiten, die als sachlich mit dem Thema zusammenhängend erfahren werden und den Hintergrund oder Horizont bilden, vor dem sich das Thema als Zentrum abhebt. Unter ,Thema’ versteht er das, was uns in einem gegebenen Augenblick beschäftigt und im Zentrum unserer Aufmerksamkeit steht. Themen sind jeweils in ein thematisches Feld eingebettet» (1974: 4, zitiert nach Rosenthal 2010: 211).

In der Verbindung von Narrationsanalyse, Objektiver Hermeneutik und Gestalttheorie hat Rosenthal Fragen für die Sequenzanalyse formuliert, die sie an jede Sequenz stellt:

  1. 1.

    «Weshalb wird dieser Inhalt an dieser Stelle eingeführt?

  2. 2.

    Weshalb wird dieser Inhalt in dieser Textsorte präsentiert?

  3. 3.

    Weshalb wird dieser Inhalt in dieser Ausführlichkeit oder Kürze dargestellt?

  4. 4.

    Was könnte das Thema dieses Inhalts sein bzw. was sind die möglichen thematischen Felder, in die sich dieses Thema einfügt?

  5. 5.

    Welche Lebensbereiche und welche Lebensphasen werden angesprochen und welche nicht?

  6. 6.

    Über welche Lebensbereiche und Lebensphasen erfahren wir erst im Nachfrageteil, und weshalb wurden diese nicht während der Haupterzählung eingeführt?»

(Rosenthal 2011: 200)

Die Text- und thematische Feldanalyse nach Rosenthal wurde hier etwas ausführlicher dargestellt, weil sich meine Positionierungsanalyse mit ihrem Nachweis verschiedener thematischer Felder (s. u. 79) methodisch an diesen Ansatz anlehnt.

5.4.3 Kodierverfahren der Grounded Theory

Auch das Kodierverfahren der Grounded Theory kann als textanalytisches Verfahren genutzt werden. Es hat den Vorteil gegenüber den anderen vorgestellten Verfahren, dass damit grössere Textmengen analysiert werden können. Nachteilig ist, dass Forscher*innen bei einer technokratischen Anwendung eines Kodierverfahren dazu tendieren, die Feinheiten und Regelmässigkeiten eines spezifischen Falles zu übersehen.

Ausführungen zum Kodierverfahren finden sich bei Strauss 1987 und Strauss und Corbin 1990 und Charmaz 2006. Mit Hilfe des Kodierens werden Fragen an die Daten gestellt, aus denen sich Konzepte und Kategorien ergeben. Ausserdem werden Beziehungen zwischen diesen Kategorien hergestellt (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009: 210). Dies geschieht über drei Kodiermodi. An erster Stelle steht das offene Kodieren. Weitere Schritte sind das axiale und das selektive Kodieren.

Das offene Kodieren wird genutzt, um einen ersten Zugang zum Datenmaterial zu erhalten. Dafür wird der Text Zeile für Zeile (teilweise auch Wort für Wort) untersucht und mit Kodes versehen, die sich aus den wortwörtlichen Äusserungen (invivo-Kodes) und ersten provisorischen Überlegungen zu der Frage ergeben, über welches/welche Phänomen/e die Daten Auskunft geben und welche Eigenschaften diese Phänomene haben (vgl. Strauss 1987: 28–32). Die dabei entstehenden Kodes werden konstruierte Kodes genannt. Beim offenen Kodieren werden zunächst breite und eher unverbundene Kategorien und Konzepte gebildet (vgl. Strübing 2008: 21).Footnote 21 Beim axialen Kodieren werden diese Kategorien und Konzepte dann stärker geordnet und zu Kategorien mit Subkategorien zusammengefasst (vgl. Strauss 1987: 32 f.). Konzepte werden in ihrem Zusammenhang genauer definiert und einige Konzepte in Kategorien umgewandelt (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2013: 201f, vgl. Corbin/Strauss 1990: 423). Beim selektiven Kodieren wird eine Kernkategorie gebildet, die sich aus der vorherigen Analyse ergibt (vgl. Strauss 1987: 69–74).

Um die Dimensionen einer einzelnen Kategorie zu bestimmen, bietet es sich jeweils an, das von Strauss vorgeschlagene Kodierparadigma anzuwenden, das nach den (1) Bedingungen, (2) Handlungen und Interaktionen und (3) Konsequenzen dieser Handlungen und Interaktionen fragt (vgl. Strauss 1987: 27 f.).

Ich habe mich in meinem Verständnis der Grounded Theory vor allem an der Adaption des Ansatzes bei Charmaz orientiert (s. o. 5.1). Insbesondere folge ich in der Auswertung ihrem Plädoyer, die Grounded Theory mit interpretativen Analysen weiterzuentwickeln (2006: 10). Ihr Vorschlag, sich beim Kodieren auf Handlungen und deren Prozesshaftigkeit zu konzentrieren, hat sich als sehr hilfreich bei dem Versuch erwiesen, nicht auf einem deskriptiven Level der Beschreibung einzelner Individuen zu verbleiben (Charmaz 2006: 136).Footnote 22 In diesem Sinne habe ich die übergeordneten Ziele der Ritualleitenden aus den Daten konstruiert (s. u. 69).

Grounded Theory im Sinne einer konstruktiven Grounded Theory von Charmaz und andere rekonstruktive Verfahren gehen auf ähnliche theoretische Traditionen zurück. Dazu gehört z. B. die Chicago School. Anselm Strauss, der Mitbegründer der Grounded Theory, sieht sich selbst in der Nachfolge der Chicago Tradition und zählt auch die Arbeiten von Fritz Schütze und Gerhard Riemann als Vertreter*innen einer Narrationsanalyse zu dieser Tradition (The Chicago Tradition’s Ongoing Theory of Action/Interaction, Strauss 1991 [1990]: 22). Auf Verbindungen zwischen der Grounded Theory, der Chicago School und dem Symbolischen Interaktionismus wurde auch an anderen Stellen hingewiesen (vgl. Charmaz 2006: 7, vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009: 191). Entscheidend für die Verbindung von Grounded Theory und anderen rekonstruktiven Verfahren ist die Frage, wie die Kategorienbildung verstanden wird. Charmaz (2006: 62–63) und Kelle (2005) werfen die Frage auf, inwiefern axiales Kodieren hinderlich oder hilfreich ist.

Neben dem Kodieren hat es sich zudem als sinnvoll erwiesen, einigen Textstellen besondere Aufmerksamkeit mit vertieften textanalytischen Verfahren zukommen zu lassen und dabei verstärkt auch formale Aspekte in die Analyse mit einzubeziehen sowie Textstellen zu betrachten, die in ihrer sequentiellen Abfolge in den Text eingebettet sind. Eine solche Analyse wird der Rekonstruktion der «formalen kommunikativen Prinzipien und Mechanismen der (Re-)Produktion von sozialer Ordnung» (Rosenthal 2011: 57) besser gerecht als eine Grounded Theory, die nicht auf eine genaue sprachliche Analyse abzielt, sondern von Anfang an Kategorien als Beziehungen zwischen verschiedenen Textstellen und verschiedenen Interviews herstellt und so der Analyse von einzelnen Interviews und ihren Besonderheiten wenig Rechnung trägt.

In einem späteren Zeitpunkt der Analyse der Daten und des Fallvergleichs hat sich das Kodierverfahren zur theoretischen Verallgemeinerung der Fälle angeboten. Es wurde dabei in einem konstruktivistischen Sinne nach Charmaz (2006) angewandt.

In einem konstruktivistischen Verständnis der Grounded Theory, das an den Konstruktionen der Alltagshandelnden ansetzt, lässt sich dies mit rekonstruktiven Methoden der Qualitativen Sozialforschung verbinden (s. u. 5.4.5).

5.4.4 Agency- und Positionierungsanalyse

Während im Theorieteil die theoretische Diskussion von Agency im Zentrum stand («agency I»), wird an dieser Stelle die methodologische Dimension von Agency diskutiert («agency II»), und es wird ein Verfahren zur empirischen Analyse von Agency in seiner konkreten Anwendung vorgestellt. Bethmann et al. (2012) haben einen Vorschlag zur qualitativen Agency-Analyse gemacht, der sich mit dem von mir verwendeten Auswertungsverfahren gut vereinbaren lässt.

In diesen Zusammenhang gehört auch die Positionierungsanalyse. Positionierungen sind eng mit der methodologischen Agency verbunden: Wie und als was für eine*r jemand sich selbst und andere in sprachlichen Handlungen darstellt, gibt in der Regel auch Hinweise auf die Wahrnehmung eigener und fremder Verantwortlichkeit, Handlungs- und Wirkungsmacht in einem konkreten Handlungsfeld und den damit einhergehenden Beziehungs- und Sozialstrukturen (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2002: 59). Der Ansatz der sozialen Positionierung geht auf neuere Entwicklungen in der Sozialpsychologie zurück, in denen die «diskursive» Herstellung von sozialen Positionen und der Prozesscharakter von Positionierungen betont werden. Soziale Positionen bezeichnen dabei so etwas wie einen Standpunkt in einem gesellschaftlichen Umfeld, der von Akteur*innen eingenommen werden kann und metaphorisch auf ein Konglomerat von Einstellungen, Haltungen und Überzeugungen verweist. Positionen beziehen sich reflexiv auf soziale Handlungen (eigene Handlungen und die anderer), um sie auf unterschiedlichste Weise zu thematisieren, also z. B. zu evaluieren oder zu legitimieren. Positionen sind dabei nicht als gesellschaftlich gegebene Fixpunkte zu verstehen, die mit den Akteur*innen fest verbunden sind, sondern als «Diskurskonstrukte», die in unterschiedlichen Verfestigungen zur Verfügung stehen und kommunikativ jeweils aktiviert und manifestiert werden müssen. Wie das konkret geschieht, wie also Positionen in der Interaktion aufgerufen, eingenommen, mit anderen Positionen in Beziehung gesetzt und auch wieder verlassen und ausser Kraft gesetzt werden können, ist Gegenstand der Positionierungsanalyse. Mit dem Einnehmen von sozialen Positionen gehen typischerweise auch Rechte und Pflichten, Berechtigungen und Verpflichtungen einher, so dass es bei Positionierungen auch um Macht und Einfluss geht.

Eine viel zitierte Studie, in der der Positionierungsansatz erstmals ausdrücklich auf die Analyse konkreter Interaktionen und speziell auf die Analyse von Erzählungen in Gesprächen bezogen wurde, stammt von G. Davies und R. Harré (1990).Footnote 23 Harré und Langenhove (1991) brachten dann die Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdpositionierung in die Diskussion ein, womit vereinfachend gesagt deutlich gemacht werden sollte, dass Interaktionsteilnehmer nicht nur selbst Positionen einnehmen, sondern auch ihren Interaktionspartnern die Einnahme von Positionen nahelegen und zuschreiben können.

In Weiterentwicklung dieser Ansätze für die Zwecke empirischer Positionierungsanalysen gehen interaktionstheoretische Positionierungskonzepte davon aus, dass Individuen sich und anderen in Interaktionssituationen ständig Positionen zuweisen, was mal stärker im Vordergrund der Interaktion stehen und sprachlich explizit erfolgen, aber auch unscheinbar im Hintergrund und eher implizit (oder auch nonverbal) stattfinden kann (vgl. Deppermann 2015). Positionierungen vollziehen sich über soziale Praktiken und sind nicht essentialistisch zu verstehen, da sie sich in sozialen Interaktionen auch verändern können und in verschiedenen Interaktionssituationen auch unterschiedliche Positionierungen eingenommen werden können (De Fina/Georgakopoulou 2008, Deppermann 2015).Footnote 24 Lucius-Hoene und Deppermann haben betont, dass mit der Positionierung die soziale Bestimmbarkeit einer Person in dem für die laufende Interaktion gerade relevanten Ausmass gewährleistet wird:

«‘Positionierung’ beschreibt, wie sich ein Sprecher in der Interaktion mit sprachlichen Handlungen zu einer sozial bestimmbaren Person macht, eben eine ‘Position’ für sich herstellt und beansprucht und dem Interaktionspartner damit zu verstehen gibt, wie er gesehen werden möchte (Selbstpositionierung). Ebenso weist er mit seinen sprachlichen Handlungen dem Interaktionspartner eine soziale Position zu und gibt ihm zu verstehen, wie er ihn sieht (Fremdpositionierung). Der Interaktionspartner kann seinerseits auf die Positionierung reagieren und sie bestätigen oder zurückweisen» (Lucius-Hoene/Deppermann 2002: 62).

Es geht also nicht um «Identität» in einem umfassenden oder vorgegebenen Sinn,Footnote 25 sondern um situativ relevante Aspekte und Facetten von Selbst- und Fremdbildern auf unterschiedlichsten Ebenen.Footnote 26 In Positionierungen werden Aspekte sichtbar, die den Sprecher/die Sprecherin charakterisieren, und ihn über seine Narrationen und Interaktionen sozial erkennbar werden lassen. Damit können Positionierungen in grosser Vielfalt rekonstruiert werden: die Positionierung einzelner Akteur*innen in Abgrenzung zu anderen Akteur*innen, die Präsentation als Individuum und als Zugehörige/r zu einer Gruppe, die Zuschreibung von Eigenschaften und Motiven, die die eigene Identität konstituieren (vgl. Lucius-Hoene 2013: 85 f.). In dieser Unbestimmtheit von dem, was eine soziale Position ausmacht, liegen Stärke und Schwäche des Ansatzes zugleich: Einerseits kommt die Abgrenzung des Konzepts sozialer Positionierung gegenüber verwandten Konzepten wie etwa dem der sozialen Kategorisierung oder dem des Identitätsmanagements zu kurz. Andererseits wird es zu einer empirischen Frage, wie genau die jeweilige Position in einer Interaktion ausgefüllt wird und welche Aspekte und Facetten der eigenen Identität und Zugehörigkeit und der Identität und Zugehörigkeit anderer damit konkret verbunden werden. Identität und Zugehörigkeit werden als Teil von sozialer Positionierung empirisch zum Gegenstand gemacht. Positionierung kann deshalb als eine der grundlegenden Formen beschrieben werden, Identitäten in sozialen Interaktionen zu konstruieren und auszuhandeln (Lucius-Hoene/Deppermann 2002: 196). Damit wird folgende Frage geklärt: «Was bin ich für ein Mensch, als was für ein Mensch möchte ich von meinem Interaktionspartner betrachtet und behandelt werden?» (Lucius-Hoene/Deppermann 2004: 168).

Lucius-Hoene und Deppermann haben ihr Verfahren für textförmige Daten entwickelt. Es stehen die sprachlichen Formen der Positionierung im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Daher bietet es sich auch hier aufgrund der Art der behandelten Daten (Interviews) und ihrer Aufbereitung (Transkriptionen) als wichtige Inspiration für die Analyse der Positionierungen der Ritualleitenden an. Bei der Anwendung des Positionierungskonzepts auf die Ritualleitenden geht es mir um sprachliche Positionierungen, die in den erhobenen Interviews geäussert wurden. Weitere sprachliche Positionierungen, wie sie in Prospekten zum Ausdruck kommen oder wie ich sie bei Teilnehmenden Beobachtungen gesammelt habe, fliessen ebenfalls in die Analyse mit ein.

Eine besondere Bedeutung kommt dabei den schon o. ins Zentrum gerückten Erzählungen zu (s. o. 5.3.2 und 5.3.3); in Erzählungen gehört die Positionierung der beteiligten Protagonisten (also die eigene Positionierung in der erzählten Geschichte und die Dritter) zum Erzählen dazu. Darin kommt u. a. zum Ausdruck, worin die Handlungsspielräume der Akteur*innen jeweils bestanden haben und wie sie am Geschehen beteiligt waren. Dies wird in Form der Analyse von sprachlichen Beanspruchungen von Handlungsmacht und Wirkmächtigkeit, sogenannten «Agentivierungen» (Lucius-Hoene 2012), bearbeitet:

«Als Agentivierung wird das bezeichnet, was der Erzähler sprachlich macht, indem er dem Geschehen in den Darstellungen von Ereignissen in den Erzählsätzen eine Urheberschaft oder Wirkkomponente sprachlich zuordnet» (2012: 42).

Ein Wechsel in der sprachlichen Darstellungsform zeigt entsprechend eine Veränderung in der subjektiven Handlungsmächtigkeit an (Helfferich 2012b: 218). Für den hier betrachteten Kontext ist von besonderem Interesse, dass «nicht nur Personen, sondern auch von Menschen erzeugte Mittel und ausserhalb des Menschen stehende Geschehnisse wie die Vorgänge in der Natur agentiviert werden können» (ebd.: 52).

So wird z. B. in meinen eigenen Daten in einem Beispiel das Wetter für die Wirkmächtigkeit des Rituals verantwortlich gemacht: «Das Wetter hat’s gemacht. Das Wetter hilft uns ganz oft». In einem anderen Beispiel wird Musik eine besondere Wirkmächtigkeit zugeschrieben: «Musik bringt etwas zum Fliessen». Auf diese Weise kann anhand konkreter Äusserungen gezeigt werden, in welcher Weise die Dienstleister*innen sich selbst, die Teilnehmenden und die Rituale Handlungs- und Wirkkomponenten in der jeweiligen Situation zuordnen. Die Ausprägung solcher Agentivierungen im Zusammenhand der Präsentation eigener Handlungsmacht und der Handlungsmacht anderer und der Zuschreibung von Wirkmächtigkeit ist für mich von besonderem Interesse.

Mit Blick auf die methodologische Begründung des Zusammenspiels von Agency und Positionierung orientiere ich mich an Emirbayer und Mische (1998), Lucius-Hoene und Deppermann (2004), Bethmann et al. (2012) und Helfferich (2012), weil in diesen Arbeiten theoretische und empirische Perspektiven für Agency- und Positionierungsanalysen miteinander verbunden worden sind. In der qualitativen Agencyanalyse (Bethmann et al 2012, Helfferich 2012) geht es darum zu rekonstruieren, wie die Akteur*innen selbst ihre Handlungsspielräume und ihre eigene Teilhabe an einem sozialen Geschehen in der Interaktion kommunizieren. Selbstbild und Agency (als Zuschreibung und Inanspruchnahme von Handlungs- und Wirkmächtigkeit) bilden also wichtige Dimensionen von Positionierungen ab (s. u. 5.4.5). Position(ierung)en lassen sich, anders gesagt, direkt auf die mit ihnen implizierte Darstellung von Agency beziehen. Methodisch geschieht dies über eine detaillierte Textanalyse. Lucius-Hoene und Deppermann vertreten einen narrationsanalytischen Ansatz, den sie auch für die Analyse von Agency fruchtbar gemacht haben (2002: 59). Eine Erweiterung der Agency-Analyse auf andere qualitative Forschungsmethoden finden sich im Sammelband Agency, Qualitative Rekonstruktionen und gesellschaftstheoretische Bezüge von Handlungsmächtigkeit von Bethmann et al. (2012). Dabei geht vor allem Helfferich (2012: 21 f.) auf die Kompatibilität dieses Ansatzes mit anderen qualiativen Forschungsmethoden ein.

Anhand der Interviews (in Form von Transkriptionen) sowie der schriftlichen Dokumente (z. B. im Rahmen von Internetauftritten) sollen nun in den empirischen Kapiteln (s. u. 69) Agency-Konstruktionen in Bezug auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des relevanten Positionierungsfeldes und die darin verfügbaren Positionierungsressourcen rekonstruiert werden. Konkret gibt die Analyse der Selbst- und Fremdpositionierungen am empirischen Material erstens Antwort darauf, wie die Sprecher*innen Positionierungen kommunikativ herstellen bzw. innerhalb dieses Prozesses auch von sich weisen. Zweitens beantwortet sie, welche Deutungsmuster den Positionierungen zugrunde liegen, mit denen die Sprecher*innen ihre Sicht konstruieren und legitimieren. Diese Dimension ist wichtig, weil damit nicht nur individuelle Selbst- und Fremddarstellungen, sondern auch die dahinter liegenden kollektiv geteilten Konzepte und Deutungsmuster rekonstruiert werden können. Über die Rekonstruktion der Selbstdarstellungen werden auch Legitimationsstrategien der Dienstleister*innen sichtbar, mit denen sie sich im Feld des rituellen Umgangs mit dem Tod behaupten. Positionierungen entstehen immer in sozialen Beziehungen und entwickeln sich in Differenz zu anderen Positionierungen innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen Raums. Im Zentrum meiner Untersuchung steht das Feld der Anbieter*innen von Todesritualen ausserhalb kirchlicher Gemeinschaften in der Deutschschweiz. Für diese Gruppe wurde der Oberbegriff «Ritualleitende» eingeführt, um religiöse und nicht-religiöse Anbieter*innen, Anbieter*innen der rituellen Begleitung von Lebensübergängen und Anbieter*innen, die sich ausschliesslich auf den Übergang von Leben und Tod spezialisiert haben, zu erfassen (s. o. 1, 4.3). Ich habe die Akteur*innen in den Interviews als Ritualleitende adressiert, insofern mir abweichende Selbstbezeichnungen nicht schon vorab bekannt waren. Einige Akteur*innen wählen die Bezeichnung Ritualleiter*in oder eine Abwandlung davon auch als Selbstbezeichnung. Es gibt aber auch Personen im Sample, die dieser Bezeichnung eher skeptisch gegenüberstehen oder sie ausdrücklich ablehnen. Dieser Hintergrund wird hier noch einmal betont, um die empirische Aufgabe deutlich zu machen, die mit der Positionierungsanalyse bearbeitet werden soll: Es geht darum zu untersuchen, welche Selbst- und Fremdbilder im skizzierten Feld vertreten sind und ob der Sammelbegriff «Ritualleitende/r» tatsächlich eine relevante soziale Position im Feld markiert oder ob sich im Feld verschiedene soziale Positionen finden, die je nach Bedarf und je nach Situation eingenommen werden.

5.4.5 Synthese von Grounded Theory und Agency-Analyse

Die von Helfferich vorgeschlagene thematische Perspektive von Agency lässt sich mit verschiedenen Methoden qualitativer Sozialforschung vereinen (2012: 21 f.).Footnote 27 Zur Rekonstruktion subjektiver Agencykonzepte hat sich neben der Narrationsanalyse auch die Methode der Grounded Theory angeboten, um verschiedene Fälle miteinander zu vergleichen und Kategorien hinsichtlich der sozialen Positionierung Ritualleitende hervortreten zu lassen. Im Forschungsprozess hat sich in einem späteren Zeitpunkt der Auswertung ein Analyseschema mit Hilfe des Kodierens der Grounded Theory ergeben, mit dem Beziehungen zwischen verschiedenen Fällen der Ritualleitung dargestellt werden können.

Dabei wurde anknüpfend an die Fragestellung der Arbeit gefragt, welche Spielräume innerhalb der Positionierung Ritualleitende bestehen. Im Anschluss an das Kodierparadigma wurden dabei (1) Bedingungen, (2) Handlungen und Interaktionen und (3) Konsequenzen dieser Handlungen (s. o. 5.4.3, vgl. Strauss 1987: 27 f.) unterschieden:

«While engaged in axial coding, Strauss and Corbin apply a set of scientific terms to make links between categories visible. They group participants’ statements into components of an organizing scheme to answer their questions above. In one such organizing scheme, Strauss and Corbin include: 1) conditions, the circumstances or situations that form the structure of the studied phenomena; 2) actions/interactions, participants’ routine or strategic responses to issues, events, or problems; and 3) consequences, outcomes of actions/interactions. Strauss and Corbin use conditions to answer the why, where, how come, and when questions (Strauss/Corbin 1990: 128). Actions/interactions answer by whom and how questions. Consequences answer questions of ‘what happens’ because of these actions/interactions» (Charmaz 2006: 61).

In der Anwendung dieses Kodierschemas haben sich folgende Kategorien als relevante Positionierungsdimensionen ergeben: Selbstbild, Agency, Aufgaben und Deutungsmuster. Mit den Deutungsmustern lassen sich die Bedingungen der jeweiligen Positionierungen darstellen. Das sind die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sich die marktförmigen Angebote der Ritualleiter*innen in der Schweiz etabliert haben. Es handelt sich dabei um überindividuelle Sinnstrukturen, die sich aus sozio-historischen und kontextuellen Faktoren ergeben haben. In den Aufgaben der Ritualleitenden zeigen sich spezifische Handlungen und Interaktionen, Routinen und strategische Antworten, die auf das jeweilige Problem (z. B. das Problem des Todes) reagieren. Die Kategorie Selbstbilder beantwortet, durch wen die Aufgaben ausgeführt werden sollen. Die Kategorie Agency beschreibt, wie die Ritualleiter*innen ihre Aufgaben ausführen und wem sie dabei Handlungs- und/oder Wirkmächtigkeit zuschreiben.

Die Analyse der Interviews nach diesen Kategorien hat verschiedene thematischen Felder hervortreten lassen, die im Sinne des Kodierparadigmas als Konsequenzen verstanden werden können: Natur, Ritual und Differenz (s. u. 6). Die Ritualleiter*innen des Samples positionieren sich durchgängig innerhalb dieser thematischen Felder. Abbildung 5.3 veranschaulicht die Kategorienbildung.

Abbildung 5.3
figure 3

Grounded Theory und Positionierungsanalyse

Im folgenden empirischen Teil wird gezeigt, wie sich die Zellen dieser Tabelle durch die rekonstruktive Analyse der Daten füllen lassen (s. u. 69).