Die Daten der vorliegenden Untersuchung stammen aus dem Kontext der Durchführung von ausserkirchlichen Todesritualen in der Deutschschweiz. Um einen Eindruck von dem Ablauf eines solchen Rituals zu geben und um möglichst anschaulich in das von mir untersuchte empirische Feld einzuführen, stellte ich der Erläuterung des dieser Untersuchung zugrundeliegenden Korpus die Beschreibung eines von mir beobachteten und dokumentierten Rituals voran. Das beschriebene Ritual steht stellvertretend für weitere von mir beobachtete Rituale, auf die in den Interviews immer wieder Bezug genommen wird. Da im empirischen Teil der Arbeit diese Interviews – also die Darstellungen der Ritualleitenden und nicht die Rituale selbst – im Mittelpunkt stehen werden, soll an dieser Stelle in bewusst detaillierter und bewusst deskriptiver Annäherung in ein konkretes Ritualgeschehen, seinen Hintergrund und seine Abläufe eingeführt werden (s. u. 4.1).

Im Anschluss daran wird der Ablauf eines gemeinschaftungebundenen Abschiedsrituals typologisch zusammenfassend aus dem empirischem Material dargestellt und in den Kontext der institutionellen-religiösen Liturgiender reformierten und der katholischen Kirche in der Deutschschweiz gestellt (s. u. 4.2).

Danach werden das Feld freier Ritualleitender und die Entwicklung freier gemeinschaftsungebundener Rituale in der Deutschschweiz dargestellt, um vor diesem Hintergrund die erhobenen Daten einordnen zu können (s. u. 4.3). Anschliessend wird dann das Korpus überblicksartig vorgestellt (s. u. 4.), wobei den Interviews mit den Ritualleitenden aufgrund der Relevanz dieser Daten für die Studie besondere Beachtung geschenkt wird (s. u. 4.5). Abgeschlossen wird das Kapitel mit Bemerkungen zu Besonderheiten der Datenerhebung, in denen kurz auf Schwierigkeiten im Umgang mit einem höchst sensiblen Erhebungsfeld eingegangen wird (s. u. 4.6).

4.1 Beschreibung eines freien Todesrituals

Anhand der Beobachtung eines konkreten Abschiedsrituals wird ein freies Todesritual beschrieben.

Beteiligte Personen

RTanner: die Ritualleiterin

Anita: die Ehefrau des Verstorbenen

Franz: der Verstorbene

Claudia: die ältere Tochter

Anna: die jüngere Tochter

Susanne: die neue Partnerin des Verstorbenen

Dominik: der Sohn des Verstorbenen

Familiensituation

Die Familiensituation der Familie ist geprägt durch schwierige Streitigkeiten, die zu Kontaktabbrüchen führten. Anita war über 50 Jahre mit Franz, dem Verstorbenen, verheiratet. Vor etwa 5 bis 8 Jahren haben sich Franz und Anita getrennt. Zwei Jahre vor seinem Tod lernte Franz seine neue Partnerin Susanne kennen. Vater Franz und Sohn Dominik waren zerstritten und haben sich nicht mehr versöhnt. Anita und die beiden Töchter haben ebenfalls keinen Kontakt zu Dominik. Anna und Anita sind ebenfalls zerstritten. Zwischen Claudia und Anita besteht ein gutes Verhältnis.

Entschluss zu einer freien Abdankungsfeier

Die Idee, das Abschiedsritual durch RTanner begleiten zu lassen, kam von Anita, der Ehefrau des Verstorbenen. Anita kennt RTanner schon seit vielen Jahren. Anita singt in einem der rituellen Chöre von RTanner. RTanner arbeitet neben ihrer Tätigkeit als Ritualleiterin auch als Sängerin und Leiterin von Chören. Den 70. Geburtstag von Anita hatte RTanner musikalisch und rituell begleitet. Franz, der Verstorbene,fühlte sich der Kirche nicht mehr verbunden, war aber nicht ausgetreten. Der Verstorbene wurde bereits zu Lebzeiten von seiner älteren Tochter, Claudia, gefragt, ob er sich ein Ritual durch RTanner vorstellen könne. Er willigte ein, er hatte RTanner bei der Geburtstagsfeier von Anita und bei anderen Anlässen singen gehört und er habe gesagt, dass er sich das gut vorstellen könne, da sie schön singen könne. Claudia teilte ihm auch mit, dass das Ritual von seinen beiden Töchtern und seiner neuen Partnerin mitgestaltet werde.

Vorbereitung der Feier

Franz starb 78jährig nach schwerer Krankheit. Auf Wunsch des Verstorbenen wurde die Todesanzeige erst nach der Trauerfeier bekannt gegeben, und zur Trauerfeier wurden nur die engsten Familienangehörigen und ihre Partner*innen eingeladen.

RTanner hat die Feier also zusammen mit den beiden Töchtern und der neuen Partnerin des Verstorbenen gestaltet. Anita und Dominik waren aufgrund der oben genannten familiären Streitigkeiten nicht an der Vorbereitung der Feier beteiligt. Im dreieinhalb stündigen Vorgespräch mit RTanner haben die Beteiligten RTanner von dem Verstorbenen erzählt und gemeinsam mit ihr Gegenstände und Symbole zur Gestaltung der Feier ausgewählt. Claudia, Anna und Susanne haben die Einladungskarte zur Trauerfeier gemeinsam entworfen und mit dem Gedicht «Es weht der Wind ein Blatt vom Baum»Footnote 1versehen. Auf der Einladungskarte stand auch die Aufforderung, zur Abschiedsfeier eine Blume für den Verstorbenen mitzubringen.

RTanner schickte den Beteiligten ein paar Tage vor der Abschiedsfeier einen Ablaufplan mit genauen Angaben zur jeweiligen Handlung, dem Ablauf, den Beteiligten, dem Material sowie der Dauer des jeweiligen Abschnittes.Footnote 2 Anderthalb Stunden vor der Abschiedsfeier war RTanner bereits vor Ort in der Abdankungshalle und gestaltete den Raum. Die beteiligten Angehörigen waren ebenfalls eingeladen, sie bei der Vorbereitung zu unterstützen. Claudia und ihr Lebensgefährte halfen RTanner bei der Vorbereitung des Raumes in der Abdankungshalle.

Ort der Abschiedsfeier

Die Trauerfeier fand in einer Abdankungshalle im Kanton Luzern statt. Die Abdankungshalle ist mit grossflächigen Wandmalereien der Kreuzigung Jesu eindeutig christlich traditionell gestaltet. Jene Wandmalereien können seit September 2016 je nach Wunsch aber auch mit Stoffbahnen verhängt werden.Footnote 3 Bei der besuchten Trauerfeier ist dies nicht der Fall. Der Raum ist durchgängig ebenerdig. Zunächst soll die Anordnung des Raumes beschrieben werden. RTanner hatte den vorderen Bereich des Raumes (Altarraum) mit persönlichen Gegenständen des Verstorbenen und Gegenständen aus ihrem eigenen Repertoire geschmückt. Zu Beginn der Feier sieht der Raum nun wie folgt aus: Auf der linken Seite des Raumes steht ein kleiner Tisch, auf dem die Urne, ein selbstgemaltes Bild von Franz, ein Foto von Franz und Engeln stehen. Zwischen Tisch und Altar befindet sich ein Metallgestell, an dessen Rahmen vier Klanghölzer befestigt sind. Der Altar in der Mitte des Raumes wurde bei der Vorbereitung von der Ritualleiterin mit einem Tuch bedeckt. Auf dem Altar liegt ein gemaltes Bild des Verstorbenen. Neben dem Altar steht ein runder Baumstamm mit einem Durchmesser von etwa 40 Zentimetern. Ein Rednerpult befindet sich auf der rechten Seite des Raumes.

Bei der Trauerfeier waren nur engste Familienangehörige mit ihren Partner*innen anwesend. Insgesamt waren etwa 50 Personen anwesend.

Begrüssung und Vorstellung

Nach der Begrüssung der Trauergäste stellt RTanner sich selbst und ihre Tätigkeit vor. Sie erwähnt die Bedeutung des Singens für ihre Arbeit mit Ritualen. Dann informiert sie die Anwesenden darüber, dass sie die Feier mit den zwei Töchtern und der neuen Partnerin des Verstorbenen vorbereitet habe.

Einladung zu einer Reise durch das Leben von Franz

Es folgt eine Aufforderung:

Ich lade eu ii, uf e gmeinsami Reis, durs Läbä vom Franz. Ich lad eu ii, do z sii mit allne Gfühl, wo mit somene Abschied verbunde sind: Truur, Aateilnahm, mit Dankbarkeit, mit Spannige und Enttüschig, Verzwiflig. Alles hett sin Platz do, genauso wies grad isch. Fühled eu frei, so doziss und teilzneh, wies für eu stimmt.

Blume nach vorne zum Foto des Verstorbenen bringen

RTanner sagt nun, dass sie sogleich mit dem ersten Lied anfangen wolle. Vorher instruiert sie die Anwesenden, noch jeweils die Blume, die sie für den Verstorbenen mitgebracht haben, während des ersten Liedes in eine Vase zu stellen. RTanner tritt in die Mitte des Altarraumes und singt das hebräische Lied «Kadosh» und begleitet es auf der Gitarre. Die Stimme der Ritualleiterin erfüllt den Raum. RTanner vermittelt eine hohe Auftrittskompetenz. Sie wirkt selbstbewusst und sehr professionell: Ihr Gesicht strahlt zugleich Ernsthaftigkeit und Offenheit aus. Keine Nebengeräusche sind zu hören. Das Lied zeichnet sich durch viele Wiederholungen aus. Die Trauergäste stehen nun auf und treten einzeln nach vorne zur Vase. Die Vase steht auf dem Boden unterhalb des Tischchens mit dem Bild des Verstorbenen. Nachdem sie ihre Blume in die Vase gestellt haben, verweilen sie jeweils kurz vor dem Bild des Verstorbenen.

Nochmalige Begrüssung der Anwesenden

Nach dem Lied geht RTanner zum Rednerpult und begrüsst nochmals die Anwesenden. Dabei begrüsst sie namentlich die engsten Verwandten des Verstorbenen in folgender Reihenfolge: Kinder, Ehefrau und neue Lebenspartnerin, dann namentlich die Enkelkinder und die Partner der Kinder (darunter auch die, die nicht da sind). Schliesslich begrüsst sie alle weiteren Anwesenden.

Einführung eines Symbols für den Verstorbenen

RTanner liest das Gedicht, das auch auf der Einladung der Trauerfeier steht, vor: «Es weht der Wind ein Blatt vom Baum, von vielen Blättern eines». Das Gedicht wird von ihr Hermann Hesse zugeschrieben und als solches eingeführt.Footnote 4

Dann führt RTanner das Thema der Abschiedsfeier den Baum ein. Dieses Symbol hätten sie für den Verstorbenen gewählt. Dazu beginnt sie mit dem Vorlesen des Gedichtes: «Es weht der Wind ein Blatt vom Baum von vielen Blättern eines, ein einzig Blatt, man merkt es kaum, denn eines ist ja keines. Doch dieses eine Blatt, war Teil von unserem Leben. Darum wird dies eine Blatt allein uns immer fehlen.» Die Darbietung des Gedichtes durch die Ritualleiterin wirkt auf den ersten Blick so, als ob es die eigenen Worte von RTanner wären. Es fügt sich in ihren Sprachgebrauch und ihre Wortwahl sehr gut ein.

Interpretation des Gedichts durch RTanner

Sie fährt mit ihrer Deutung des Gedichtes fort:

Das Gedicht vom Hermann Hesse beschribt einersits de Anfang vom Herbscht, de Prozess vom Baum, wo au grad jetzt i derer Johresziit es Thema isch. Wider gohts au im Johreskreislauf um Losloh, Abschied neh, sich vo de Üsserlichkeit zruck noch inne zieh loh. De Baum isch es wunderbars Symbol vom Läbe und au vom Sterbe. D Wurzle lönd us froge, woher mir chämed, was üsi Grund und Bode, üsi Heimat und üsi Verankerig isch. De Stamm isch s Symbol vom Wachstum, vo üsere Entwicklig und vom Energiefluss. Aber aud d Verbindig zwischem em irdische und em himmlische. D Chrone vom Baum zeigt villicht, wie mir üs i dere Welt zum Usdruck bringed. Wie mir üs de Platz nemed, üsi Visione, döt hi, wo mir üs entwicklet. De Baum loht sich jedes Johr vo de Johrezite bewege: keime, wachse, blüehe und gedeihe, Frücht tröge, ernte, und wider losloh und sterbe.

In ihrer Interpretation werden die Jahreszeiten und ihre wiederkehrenden Veränderungen auf den Menschen übertragen. Sie nimmt Bezug zur Jahreszeit des Herbstes, die auch der Zeitpunkt des Todes von Franz und der Trauerfeier ist. Die Veränderungen der Natur im Herbst zeigen sich nach ihrer Deutung auch bei den Menschen: Der Herbst ist die Jahreszeit des Sterbens. Es geht um Loslassen, Abschiednehmen und darum, sich nach innen ziehen zu lassen. Sie geht nun auf den Baum genauer ein, der für sie ein Symbol von Leben und Sterben, von Entwicklung und Veränderung sei. Sie beschreibt die einzelnen Teile des Baumes genauer und weist ihnen verschiedene Bedeutungen für die Entwicklung des Einzelnen im Leben und dessen Verbindung zwischen irdischen und himmlischen Bereichen zu. Am Baum liesse sich jedes Jahr im Jahreszeitenverlauf zyklisches Werden und Vergehen beobachten. Die einzelnen Blätter am Baum sind die Menschen, an deren Lebensbaum nun ein Blatt, das Blatt von Franz fehlt: «De Hermann Hesse hett das Bild vo de Blätter übertreit uf üs Mensche und das eine Blatt, wo jetzt a üsem Läbesbaum fehlt isch de Franz».

Franz und sein Bezug zum Baum

De Franz isch en Naturverbundene Mensch gsi. Er hett i de Natur vil Chraft gschöpft. Und wemmer bim schöpfe sind: er isch au sehr en schöpferische Mensch gsi, so vil kreativ gstaltet und gwirkt hett. S Holz isch dedebii es wichtigs Mittel für ihn gsi. Und us dene Gründ, hend mir de Baum als Symbol gwählt für de Franz. Mer hend en symbolische Baumstamm mitbrocht, wo am Franz sin Läbeswäg zum Usdruck bringe söll. D Claudia ((anonymisiert)) hett als Chind de Stamm mol heibrocht und immer behaltet. Drum wird jetzt d Claudia, die Cherze für ihre Vater uf dem Baumstamm entzünde.

Der Baumstamm im Raum

Nun wendet sich RTanner dem Baumstamm zu, der in der Mitte des Altarraumes steht. Die Tochter Claudia, die den Baumstamm als Mädchen in der Schule mit nach Hause gebracht hat, wird gebeten, die Kerze auf dem Baumstamm anzuzünden. Sie geht nach vorne und zündet die Kerze auf dem Baumstamm an.

Rückschau auf das Leben von Franz mit Hilfe eines Klangspiels

Das Bild des Baumes diene auch dazu um, auf das Leben des Verstorbenen zurückzuschauen:

«[…] Und so wie de Baum sini Johresring macht und innerlich zeichnet wömmer uf 4 so Läbesring vom Franz sim Läbe zruckluege».

Nun verweist die Ritualleiterin auf das Klangspiel, das in der Mitte des Altarraumes steht. Der Verstorbene hat es selbst gebaut. RTanner bindet ein Band um den Baumstamm und beginnt, von einer Lebensphase des Verstorbenen zu erzählen. Dann fordert sie jeweils eine Person auf, nach vorne zu kommen und das Klangspiel zum Klingen bringen, die für die jeweilige Lebensphase prägend war. Dann fährt sie mit der nächsten Lebensphase fort. Als erste tritt die Tochter der Patentante von Franz vor, bei der er als Kind ein paar Jahre gelebt hat. Sie streicht mit der Hand sanft über alle Klangspiele und bringt das erste Klangspiel auf der linken Seite zum Klingen. Nachdem sich die Tochter der Patentante wieder gesetzt hat, bindet RTanner ein weiteres Band um den Baumstamm. RTanner erzählt, wie der Verstorbene Anita kennengelernt hat und von der gemeinsamen Gründung einer eigenen Familie. Dann bittet sie, Anita nach vorne zu kommen. RTanner bindet ein weiteres Band um den Baumstamm. Sie erzählt von der Familienzeit und bittet dann die jüngere Tochter, nach vorne zu kommen. Die neue Partnerin tritt als letzte nach vorne.

In ihrer Erzählung präsentiert RTanner ein umfassendes, vielschichtiges Bild des Verstorbenen. Dabei erscheint ein lebensnahes, sehr persönliches Bild des Verstorbenen. Wir erfahren: Der Verstorbene hat eine sehr schwierige Kindheit gehabt. Er war ein uneheliches Kind und in seiner Kindheit und Jugend nicht anerkannt worden. Sein Wunsch nach einer eigenen Familie und Familiengründung und Familienzeit sowie Depressionen, Trennung, und Neuanfang sowie Tod sind weitere Themen der Lebenserzählung. RTanner fasst dann das Leben des Verstorbenen noch einmal zusammen.

Abschliessend werden alle vier Personen gebeten, noch einmal nach vorne zu kommen und gemeinsam die Klangspiele zum Klingen zu bringen und «Harmonien» und «Dissonanzen» zum Klingen zu bringen. Nachdem sich die vier beteiligten Frauen wieder auf ihre Plätze gesetzt haben, singt die Ritualleiterin das Lied «Von guten Mächten wunderbar geborgen».

Erzählungen der Anwesenden über den Verstorbenen

Dann bittet RTanner die Anwesenden, Anekdoten über den Verstorbenen zu erzählen. Seine Töchter, sein Sohn und eine Enkelin erzählen jeweils von einer Begebenheit mit dem Verstorbenen. Dabei wird auch gelacht. Der Verstorbene sei ein sparsamer Mensch gewesen, der immer gerne Familienpackungen im Supermarkt kaufte und an seine Familienmitglieder verschenkte. Der Sohn erzählte, er habe einmal Weinbergschnecken, die im Supermarkt im Angebot waren, gekauft, und es gab für jeden nur eine abgezählte Anzahl Schnecken zu essen. Er habe noch mehr Schnecken essen wollen, und der Verstorbene habe gesagt, nur wenn du die Häuser auch mitisst. Die Geschichte bleibt ohne Kommentar stehen.

Das Ungelöste

Das Erzählen der Anekdoten dauert etwa zehn Minuten. Dann entsteht eine Pause, und RTanner beginnt wieder zu sprechen. Sie bedankt sich für die Erzählungen und fährt fort, einiges sei «ungelöst» und «unbefreit» geblieben. Das gelte es einerseits auszuhalten, andererseits sei vielleicht eine Abschiedsfeier auch eine Chance. Sie betont die Wichtigkeit des Rituals mit ihrer Ritualdefinition. Es stellt etwas dar und macht etwas erfahrbar, was sonst nicht direkt zum Ausdruck komme und unbewusst bliebe. Danach liest sie einen Text von Rainer Maria Rilke vor: «Das Gedicht gegen das Ungelöste im Herzen»:

Und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht mehr nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich in die Antworten hinein.

Franz als Teil seiner Familie

Die Anwesenden werden nun von RTanner gebeten, sich noch einmal mit dem Verstorbenen zu verbinden, in dem sie sich um seinen Baumstamm versammeln. Weiter sagt RTanner, dass es darum gehe, sich dem System noch einmal bewusst zu werden. Egal wie die Gefühle und Bezüge untereinander gerade seien, das Familiensystem bleibe immer eines und ebenfalls die Verbindungen. Franz sei in dieser Familie als erster vorausgegangen.

Alle versammeln sich um den Baumstamm

Sie bittet nun die Familie und die Anwesenden, nach vorne zu kommen und sich in drei Kreisen um «seinen» Baumstamm zu versammeln. In dem engsten Kreis steht seine Familie, im zweiten die erweiterte Familie, und im äussersten Kreis stehen alle weiteren Anwesenden. In Stille gehen die AnwesendenFootnote 5 nacheinander nach vorne und zünden eine Kerze an, stellen sich in den Kreis und stehen mit der Kerze in der Hand um den Baumstamm herum. Die Vorderen reichen die Kerzen in den zweiten und dritten Kreis. Als alle eine Kerze in der Hand halten, beginnt RTanner, das Lied «Kehre zurück in das Land deiner Seele» zu singen. Als das Lied zu Ende ist, werden die Kerzen an den Fusse des Baumstammes gestellt. Die Anwesenden setzen sich wieder auf ihre Plätze.

Leben im Angesicht des Todes

Agsichts vom Tod, wo letschtendlich immer es grosses Mysterium bliibt – egal welem Glaube das mer aghöört – sind mir als sogenannt «Hiterblibeni» gforderet, dä Abschiid vomene gliebte Mensch aazneh. Mer sind ufgruefe, au üsere Truur en Usdruck z geh und – schlussendlich au, dä Mensch chöne loszloh. Denn au wenn e Verbindig bliibt – de Kontakt isch jetzt ufere ganz andere Ebeni – ebä nümm physisch. Und doch bliibt das Lebendig, was der XY uf dere Wält gläbt hät. Es intensive Läbe. Mir sind ufgruefe, üses Läbe z läbe. Mit Huut und Hoor, das z verkörpere, was mir sind. S Läbe i all sine Facette uschoschte und ebe z läbe. Ich glaub, das isch au im Sinn, vom Franz.

RTanner macht hier eine Überleitung zum Weiterleben der Hinterbliebenen nach dem Tod von Franz. Das, was der Verstorbene gelebt habe, bleibe lebendig. Alle seien aufgefordert, ihr Leben zu leben und mit Haut und Haar, dass zu verkörpern, was sie seien.

Danksagung und Segen

Zum Abschluss der Feier bedankt sie sich und spricht einen Segen.

Liebi Gäscht, i möchte mi bi eu allne bedanke, für euers mit-fiire, mit-truure, mit-fühle für euers Debii-sii. Ganz zum Schluss möchte ich nomol Bezug neh nomol zum Thema, wo am Afang vo dere Fiir gstande isch: de Baum.

Sie liest einen Segen, der sich auf das Symbol des Baumes bezieht:

Mög eue Läbesbaum witerwachse, am Liecht entgäge.

Mög d Lebensenergie dur de Stamm ströme,

Mög sich euri Baumchrone chöne netfalte, immer wider blühe und Frücht träge

Mög eue Baum das werde, was im Chern i ihm agleit isch.

Weiterer Ablauf der Feier

Dann erklärt RTanner den weiteren Ablauf der Feier. Die Friedhofsgärtner werden die Urne jetzt gleich abholen kommen und dann zusammen mit allen Anwesenden zum Grab bringen. Dann werde am Grab noch das Lied «Time to say goodbye» gespielt, dass der Verstorbene immer sehr gern gehört habe. Nach der Beisetzung sei für die Trauergäste ein Tisch im Restaurant reserviert.

Urnenbeisetzung im Gemeinschaftsgrab

Zwei Friedhofsgärtner kommen über die Seitentür in die Abdankungshalle, und einer trägt die Urne. Sie gehen mit der Urne über den Mittelgang nach draussen. Die Trauergäste folgen den Friedhofsgärtnern zum Grab. Der Verstorbene wird in einem Urnengemeinschaftsgrab beigesetzt. RTanner nimmt die Blumen, die am Anfang der Feier gesammelt worden sind, mit zum Grab.

Als sich alle um das Grab versammelt haben und die Friedhofgärtner die Urne beigesetzt haben, liest die RTanner das Gedicht «Stehe nicht an meinem Grab und weine» vor:

«Stehe nicht an meinem Grab und weine. Ich bin nicht dort, ich schlafe nicht. Ich bin wie tausend Winde, die wehen. Ich bin das diamantene Glitzern des Schnees. Ich bin das Sonnenlicht. Ich bin der sanfte Herbstregen. Ich bin der Morgentau. Wenn du aufwachst in des Morgens Stille, bin ich der flinke Flügelschlag friedlicher Vögel im kreisenden Flug. Ich bin der milde Stern, der in der Nacht leuchtet. Stehe nicht an meinem Grab und weine. Ich bin nicht dort, ich bin nicht tot.»

Danach wird von einem kabellosen Lautsprecher «Time to say goodbye» abgespielt, und die Anwesenden treten einzeln vor das Grab und streuen Rosenblätter in das Grab. Die Trauernden weinen, und die Friedhofsgärtner reichen Taschentücher. Das Lied wird dreimal hinter einander gespielt, bis alle vorgetreten sind. RTanner verabschiedet sich mit Umarmung von Anita und den beiden Töchtern und gibt den anderen Gästen die Hand. Die Gäste gehen langsam zum Parkplatz zurück.

4.2 Der Ablauf eines Bestattungsrituals

Die Rituale der Ritualleitenden des Samples weisen eine Varianz auf von einem sehr stark an einem kirchlichen Ritual orientiertem Ablauf bis zu einem Picknick im engsten Familienkreis mit anschliessender gemeinsamer Verstreuung der Asche (z. B. UMeier, Interview mit RGrunder (Angehöriger I). Trotz dieser Unterschiede zeigen sich doch sehr starke Ähnlichkeiten im Sinne eines «typischen Ablaufs eines Bestattungsrituals». Die Ritualleitenden haben in den Interviews den Ablauf eines für sie «typischen» Rituals zudem erläurtet.Footnote 6 Ich habe den Ablauf zusammenfassend aus den Angaben der Interviews zusammengefasst. Ähnliche Abläufe finden sich beispielweise bei RFischer, RTanner und UMeier. Im Folgenden soll deshalb gezeigt werden, wie der Ablauf eines «typisches Bestattungsrituals» für die Ritualleitenden aussieht und an welchen rituellen Skripten sie sich dabei orientieren. Die vorangestellte detaillierte Beschreibung kann dabei als illustrierende Hintergrundfolie fungieren.

Der Ablauf einer typischen gemeinschaftsungebundenen Abschiedsfeier besteht aus folgenden Teilen:

Abschiedsfeier in der Kirche, Abdankungshalle, Hotelsaal

  1. 1.

    Übergang von Alltag und Ritual gestalten,

    Rahmung durch Musik, einleitende Worte der Ritualleiterin

  2. 2.

    Vortragen und/oder Gestaltung des Lebenslaufes unter Einbezug der Angehörigen

Je nach Ritualleiter*in gibt es an dieser Stelle die Möglichkeit eines offenen Raumes für Anekdoten.

  1. 3.

    Verbindung und Verabschiedung vom Toten, Stille

    Möglichkeit eines Rituals; einer symbolischen Handlung

  2. 4.

    Zurück ins Leben (optional: Segen)

Beisetzung am Grab/in der freien Natur

  1. 1.

    Gemeinsamer Weg zum Grab

  2. 2.

    Ankommen am Grab

  3. 3.

    Beisetzung

  4. 4.

    Zurück ins Leben gehen, Deutungen für das eigene Leben

Typisch ist auch dass, die gesamte Feier durch ein Symbol, das sowohl zum Verstorbenen passt als auch darüber hinaus geht, gerahmt wird. Dabei kann es sich um ein Symbol aus der Natur (Tier-oder Pflanzenwelt) handeln.

Als Ergebnis meiner Erhebungen bleibt gleichwohl festzuhalten, dass fast alle Elemente der christlichen Liturgie ebenfalls in einer freien gemeinschaftsungebundenen Abschiedsfeier vorkommen können. Elemente traditioneller ritueller Ordnungen oder gesamte Sequenzen werden übernommen und als solche flexibel eingesetzt. In einigen Fällen werden sie auch als traditionelle Elemente benannt, wie z. B. beim «Segen». Auf der anderen Seite werden zusätzlich (neue) rituelle Sequenzen eingeführt. Das Deutungsspektrum von Ritual und Transzendenz wird von den Ritualleitenden mehr oder weniger implizit oder auch explizit adressiert (s. o. 6.2.4 zu Transzendenz und Postmortalitätsvorstellungen).

Um beantworten zu können, inwiefern die solchermassen beschriebenen rituellen Ordnungen an christliche rituelle Ordnungen anknüpfen, ist es sinnvoll, einen Blick in die offiziellen Liturgien der reformierten und katholischen Kirchen der Schweiz zu werfen. Der reformierten Liturgie nach sieht die Struktur wie folgt aus:

«In der Kirche/Friedhofskapelle

Sammlung

Musik

 

Gruss

 

Eingangswort

 

Abkündigung

 

Trostwort/Gebet

Gedächtnis

Lebenslauf oder Lebensdaten und Lesung

 

eventuell andere Redner

 

Schlusswort, Stille, Gebet

 

Musik

Verkündigung

Predigt

 

Musik

Fürbitte

Gebet/Unser Vater

 

Lied

Sendung

Dank/Kollekte/Mitteilungen

 

Sendungswort

 

Segen

 

Musik»

(Deutschschweizerische Liturgiekommission 2000: 76–77).

Das katholische Begräbnis in der Schweiz orientiert sich an dem Manual «Die kirchliche Begräbnisfeier in den Bistümern des deutschen Sprachgebiets» (Ständige Kommission für die Herausgabe der gemeinsamen liturgischen Bücher im deutschen Sprachgebiet 2009). Exemplarisch werden hier einmal der Ablauf einer Abschiedsfeier in der Kirche und einer Urnenbeisetzung wiedergegeben:

Abschiedsfeier in der Kirche (Ständige Kommission 2009: 36):

«Gedenkworte je nach den örtlichen GewohnheitenFootnote 7

Stilles Gedenken

Anrufungen

Verabschiedungsgebet

Prozession»

Die Feier der Urnenbeisetzung (Ständige Kommission 2009: 147–151):

«Eröffnung

Segnung des Grabes

Beisetzung

Psalm 23 (22)

Oration

Stilles Gedenken

Anrufungen–Fürbitte

Vater Unser

Abschluss»

Es fällt auf, dass anders als in der reformierten Liturgie der Lebenslauf der verstorbenen Person in der katholischen Liturgie noch nicht explizit aufgenommen wurde. Es gibt jedoch die Anmerkung, dass nach «den örtlichen Gewohnheiten Gedenkworte vor der letzten Anempfehlung und Verabschiedung» gesprochen werden können (vgl. Ständige Kommission 2009: 35, 36).

In dieser Arbeit wird kein Vergleich gemeinschaftsgebundener kirchlicher Rituale mit gemeinschaftsungebundenen Ritualen angestrebt. An dieser Stelle sollen die einzelnen Teile der kirchlichen Bestattungen auch nicht theologisch gedeutet werden. Festzuhalten ist allerdings, dass in einigen kirchlichen Abschiedsfeiern inzwischen auch vermehrt Variationen auftreten, wie an Hand des Besuchs von kirchlichen Bestattungen beider Konfessionen beobachtet werden konnte.

Für das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung ist vor allem wichtig, dass fast alle Elemente der christlichen Liturgie ebenfalls in einer freien gemeinschaftsungebundenen Abschiedsfeier vorkommen können. Elemente traditioneller ritueller Ordnungen oder gesamte Sequenzen werden übernommen und als solche flexibel eingesetzt. In einigen Fällen werden sie auch als traditionelle Elemente benannt, wie z. B. beim «Segen». Auf der anderen Seite werden zusätzlich (neue) rituelle Sequenzen eingeführt. Das Deutungsspektrum von Ritual und Transzendenz wird von den Ritualleitenden mehr oder weniger implizit oder auch explizit adressiert (s. o. 6.2.4 zu Transzendenz und Postmortalitätsvorstellungen).

4.3 Ritualleitende in der Deutschschweiz

Der Begriff Ritualleitende wird hier als Sammelbegriff für Anbieter*innen von Ritualen verwendet, die ausserhalb einer religiösen Gemeinschaft stattfinden. In der Schweiz werden solche Rituale seit inzwischen mehr als 20 Jahren angeboten. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie besonders flexibel auf individuelle Bestattungswünsche reagieren. Ritualleitende lassen sich nicht eindeutig einem Berufs- und Aufgabenfeld zuordnen, sondern übernehmen Aufgaben im Umgang mit dem Tod zwischen Ritualgestaltung, Begleitung von Trauernden, Bestattungen, Abschiedsfeiern und Administration. In der Schweiz schlossen sich um die Jahrtausendwende an Ritualen interessierten Theolog*innen, Psycholog*innen und Sozialpädagog*innen sowie weitere Akteure zu einem «Ritualnetz» zusammen. Lange Jahre war die Homepage www.ritualnetz.ch eine wichtige Plattform dieser Gruppierung. Inzwischen wurde die Seite vom Netzt genommen.

Es finden sich verschiedene Selbstbezeichnungen für das Tätigkeitsfeld der rituellen Begleitung. Die Akteur*innen bieten ihre Dienstleistungen sowohl freiberuflich als auch hauptberuflich an. Die Tätigkeiten werden als Ritualleitung, -begleitung, und -gestaltung beschrieben. Darin zeigen sich auch unterschiedliche Nuancen des Selbstverständnisses und die Flexibilität des Feldes (s. u. 10.2). Seit einigen Jahren gibt es auch Bestrebungen, einen Berufsverband zu gründen und Ausbildungsformate zu etablieren, die sich allerdings häufig gegenseitig konkurrenzieren, z. T. wieder schliessen mussten, um später wieder neu eröffnet zu werden (wie die «Schule für Rituale», die 2012 geschlossen wurde und 2014 wieder neu eröffnet wurde). In der Schweiz gibt es mittlerweile einige Ausbildungsformate für freie Ritualleitende, die sehr unterschiedlich organisiert sind. Länger andauernde berufsbegleitende Ausbildungen werden von der «Schule für Rituale» und «Schule für Ritualgestaltung» angeboten.Footnote 8 Beide Ausbildungsformate bestehen seit 2000 und wurden in den letzten Jahren grundlegend neugestaltet. So richtet sich die Ausbildung in der «Schule für Ritualgestaltung» seit 2016 dezidiert nur noch an Frauen.Footnote 9 Darüber hinaus bieten auch freie Theolog*innen, schamanische Anbieter*innen und Freidenker*innen sowie Bestatter*innen Kurse zur Ritualgestaltung an (vgl. z. B.: https://www.lebensgrund.ch/kurse/, https://www.taneska.ch/angebot/schamanische-rituale-und-zeremonien/schamanische-abschiedsfeier/, https://frei-denken.ch/humanistische-rituale, https://www.charona.ch/kurse). 2016 wurde erneut ein Berufsverband gegründet: der Ritualverband (https://ritualverband.ch).

Einige Akteur*innen bewegen sich auch ausserhalb dieser Netzwerke. Ihnen scheint es um eine Alleinstellung ihrer Arbeit zu gehen. Zahlreiche Aktivitäten auf Internetplattformen und Neuausrichtungen bzw. Spezifizierungen der Angebote und Ausrichtungen belegen die Aushandlungsprozesse, die innerhalb des Feldes stattfinden. Gegenwärtig verlagert sich die Plattform vom Ritualnetz.ch (und zeremoniennetz.ch) auf den Ritualverband mit deutlich mehr registrierten Nutzer*innen (ritualnetz.ch: 12 registrierte Nutzer*innen, am 18.07.2018, Ritualverband: 74 registrierte Nutzer*innen, davon 66 aktiv https://ritualverband.ch/mitglieder/ am 18.07.2018).

Es wird deutlich, dass es sich bei dem Feld der gemeinschaftsungebundenen Anbieter*innen von Todesritualen um ein Berufs- und Praxis-Feld handelt, das sich noch in der Entstehung befindet und von einem stetigen Aushandlungsprozess zwischen Zusammenhalt und Vereinzelung der Akteur*innen geprägt ist. Einige Ritualleiter*innen haben ihre Angebote mit der Zeit auch verlagert und in anderen Bereichen (z. B. in Chören, Beratungen) weiterentwickelt.

Die Ritualleitenden orientieren sich an prominenten Vorbildern, die durch populäre Publikationen auf sich aufmerksam gemacht haben. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang z. B. der deutsche Bestatter Fritz Roth und die deutsche Bestatterin Claudia Marschner sowie auch der Therapeut und Psychologe Jorgos Canakakis, deren Bücher im Feld als wichtige Inspirationsquellen dienen (Canakakis 1987, Bode/Roth 1998, Marschner 2002).

4.4 Übersicht über das Korpus

Die von mir erhobenen Daten bestehen aus Interviews, Notizen aus teilnehmender Beobachtungen und schriftlichen Dokumenten (Prospekte, Internetauftritte, Publikationen der Ritualleitenden sowie interne Begleitdokumente). Im Forschungsprozess hat sich aus mehreren Gründen eine Fokussierung auf die Ritualleitenden und die mit ihnen geführten Interviews ergeben (s. u. 5). Die für meine Untersuchung relevanten Fälle werden deshalb durch die jeweiligen Ritualleitenden konstituiert und die ihnen jeweils zuordbaren Daten (Interviews, Beobachtungen, Dokumente). In diesem Sinne liegen der Studie insgesamt 16 Fälle zugrunde, wobei nicht alle Fälle gleichermassen intensiv berücksichtigt wurden.: Als Vergleich und Korrektiv wurden zur Explorierung der Kategorie «Ritualleitende» drei Interviews mit nicht gemeinschaftsungebundenen Ritualeitenen geführt. Dies waren ein Interview mit der Leiterin der Schweizer Freidenker Vereinigung, ein Interview mit einem reformierten Pfarrer im Emmental und ein Interview mit einem Bestatter der Stadt Zürich. Zusätzlich zu den Interviews mit den Ritualleitenden wurden weitere Daten erhoben. Diese umfassen Interviews mit Angehörigen, Beobachtungen von Ritualen, Beobachtungen weiterer Veranstaltungen Ritualleitender (Gesprächskreise, Vorträge) und schrifliche Dokumente (Publikationen, Websites und Prsopekte). Die Interviews wurden zwischen Ende 2015 und 2018 geführt.

Im Vordergrund der Auswertung stehen die Interviews mit den Ritualleitenden (s. u. 4.5 zum Umfang und zu den Eckdaten der Interviews; auf die methodischen und methodologischen Aspekte wie die Wahl der Interviewmethode und die Art der Aufbereitung gehe ich gesondert ein: s. u. 5.4). Die je nach Fall zur Verfügung stehenden weiteren Daten habe ich jeweils ergänzend hinzugezogen. Bei den Ritualbeobachtungen handelt es sich um die in Abbildung 4.1 erwähnten Ergebnisse.

Abbildung 4.1
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Übersicht Ritualbeobachtungen

Neben Primärdaten wurden auch Sekundärdaten bei der Analyse hinzugezogen. Dabei handelt es sich um Dokumente wie Prospekte, Websites und Publikationen der Interviewpartner*innen. Die Prospekte wurden in Darstellung und Analyse eingesetzt, um die Positionierungen zu illustrieren (s. u. 79). Die Publikationen können aufgrund von Datenschutz (Zuordbarkeit zu anderen Daten und anonymisierten Interviewdaten) nicht aufgeführt werden.

Zu Beginn des Forschungsprozesses waren auch Interviews mit Angehörigen geplant. Sie konnten aber nur in zwei Fällen geführt werden, weil sich der Feldzugang und der Kontakt zu möglichen Interviewpartner*innen als sehr schwierig erwies. Zudem ergaben sich auch Komplikationen im Hinblick auf die Analyse dieser Interviews (s. dazu u. 4.6). Den Schwerpunkt der Datenauswertung (s. u. 5.4) bilden deshalb auch aufgrund der Datenlage die Interviews mit den gemeinschaftsungebundenen Ritualleitenden.

Mit Bezug auf die mich interessierende Gruppe der in der Schweiz aktiven Anbieter von Ritualen ausserhalb kirchlicher Gemeinschaften ergeben sich nach eigenen Recherchen im Feld und in Anlehnung an Recherchen in den Projekten von D. Lüddeckens drei (nicht immer trennscharf abzugrenzende) Gruppierungen von Akteur*innen, die in der von mir getroffenen Auswahl auch vertreten sind:

  • Anbieter*innen, die sich auf das Thema Tod spezialisiert haben (MSchäublin, AWrysch, PKuster und RGianelli),

  • Anbieter*innen, die sich als Ritualleitende (oder auch Ritualschaffende, -begleitende, -gestaltende, -designer*innen) bezeichnen (RTanner, RProbst, GGeiger und HBischof, BMeili und UMoser),

  • Anbieter*innen, die sich als freie Theolog*innen verstehen (HBürgi, UMeier, RFischer, MIitten).

Die Zahl der Aufträge für Bestattungsrituale bei den interviewten Ritualleitenden fällt sehr unterschiedlich aus. Die Ritualleitenden, die hauptberuflich Bestattungsrituale anbieten, führen etwa zwischen 50 und 70 Bestattungen im Jahr durch.

In erster Annäherung an das Feld habe ich mich an Akteur*innen orientiert, die auch in den Schweizer Medien sehr präsent sind und mit eigenen Publikationen auf sich aufmerksam gemacht haben. Aus Gründen des Datenschutzes wird hier aber auf die Nennung dieser Akteur*innen verzichtet. Mir ging es darum, die Anfänge der Entstehung freier Ritualangebote nachzuvollziehen und relevante Weiterentwicklungen des Feldes zu rekonstruieren. Deshalb habe ich zunächst versucht, mit den Initiant*innen freier Rituale in der Schweiz zu sprechen (RTanner, UMeier, UMoser, RProbst). Ich habe mich dabei bemüht, ein möglichst ausgeglichenes Bild der verschiedenen im Feld vertretenen Perspektiven zu gewinnen und mit Bezug auf die zu erhebenden Fälle die Vielfalt des Feldes zu erfassen, also unabhängig von der Prominenz und Dominanz bestimmter Akteur*innen auch mit eher aussenstehenden und jenseits von Netzwerken agierenden weniger bekannten Akteur*innen zu sprechen (GGeiger, HBischof). Dabei habe ich auch Ritualleiter*innen der zweiten Generation eingeschlossen, d. h. solche, die bereits Ausbildungen bei anderen Ritualleiter*innen gemacht haben (MIitten, HBürgi, CHof), um nachvollziehen zu können, inwiefern diese sich an anderen Ritualleitenden orientieren und inwiefern ihre eigene Arbeit von ihren Lehrer*innen beeinflusst wird. Auf diese Weise ist es gelungen, die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Angebote durch die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der in die Studie einbezogenen Ritualleitenden abzubilden.

4.5 Beschreibung der Interviews mit den Ritualleitenden

Im Folgenden werden die Interviewpartner*innen kurz beschrieben. Aus Datenschutzgründen und der Überschaubarkeit des Feldes wurden die Namen der Personen anonymisiert und nähere biographische Angaben weggelassen, wenn aus ihnen auf die Identität der Interviewten direkt zurückgeschlossen werden könnte.

Die Interviews fanden zwischen 12/14 und 04/17 statt. Sie dauerten zwischen 30 min und 3 Stunden. Ich überliess meinen Gesprächspartner*innen den zeitlichen Rahmen des Gesprächs (s. u. 5.3.3 zur Gestaltung der Interviews). Die Ritualleitenden sind zum Zeitpunkt der Interviews zwischen 40 und 70 Jahre alt. Die Mehrheit ist zwischen 50 und 60 Jahre alt. Sie sind allesamt freiberuflich tätig. Die meisten von ihnen bieten freiberuflich noch weitere Dienstleistungen im Bereich von psychosozialer und spiritueller Begleitung an. Im folgenden gebe ich eine kurze Charakterisierung der Interviewpartner*innen, um einen Eindruck von der Biograpie der Akteur*innen zu vermitteln. Aus Gründen des Datenschutzes fasse ich mich hier jedoch knapp und gebe keine Ortsangaben an.

RTanner fand bereits mit Anfang 20 zur Beschäftigung mit Ritualen. Sie ist seit 1991 aktiv in der Ritualgestaltung tätig. Sie leitete von 2000–2012 zusammen mit RProbst, UMoser und HBürgi die Schule für Rituale, ein Ausbildungskonzept für Leiter*innen von Übergangsritualen. Nach der Auflösung der alten Schule für Rituale eröffnete sie 2014 allein die Schule für Rituale neu. RTanner arbeitet sehr viel mit Musik. Sie ist begeisterte Sängerin und leitet mehrere Ritualchöre und bietet neben der Ausbildung zur «Fachperson Rituale» auch eine Ausbildung zur Singgruppenleiterin und Kurse im integrativen Stimmtraining an. Ihr Angebot in der Ritualbegleitung umfasst Rituale zu allen Lebensübergängen. Neben Geburt, Hochzeit und Tod werden auch Rituale zum Erwachsenwerden und zur Pensionierung sowie das Singen zu besonderen Anlässen, z. B. Geburtstagen und Jubiläen, angeboten.

UMeier ist eine der ersten freien Theologinnen der Schweiz. Als evangelisch-reformierte Pfarrerin war sie 20 Jahre im Kirchendienst, trat dann aus der Kirche aus und gründete ihr eigenes Unternehmen («geistiges Unternehmen»). Ihre Arbeit ist sehr durch ihren sehr starken Bezug zur Natur geprägt. Sie beschäftigt sich auch mit Wildkräutern und bot lange Zeit einen Partyservice an. Sie ist in den Medien sehr präsent und hat mehrere Bücher verfasst. 2018 ging sie in den Ruhestand.

MSchäublin gründete 2005 einen Verein zu Bestatungsritualen und Ritualen aus einer weiblichen Perspektive. Der Verein besteht heute aus über 100 Mitgliedern. Mittlerweile arbeiten vier Frauen im Unternehmen und bieten in unterschiedlichen Regionen in der Schweiz Dienstleistungen des Bestattungshandwerks und Abschiedsrituale an. Zu der Vereinsarbeit gehören Gesprächskreise und Jahreskreisfeste, die sich im engeren und weiteren Sinne mit dem Thema Tod auseinandersetzen.

AWyrsch arbeite lange Jahre als Hebamme und entschloss sich nach dem Tod ihres Vaters, Bestatterin zu werden. Sie machte eine Ausbildung bei PKuster. Mit ihr kam es zu einem Bruch. Sie lernte MSchäublin kennen und wurde Teil des oben genannten Vereins.

BMeili ist Erwachsenbildnerin und seit 1997 als Ritualleiterin tätig, seit 2009 bietet sie ein Ausbildungskonzept für Ritualgestalter*innen an, seit 2016 bietet sie dieses Angebot nur noch für Frauen an. Daneben bietet sie noch andere Dienstleistungen an (z. B. schamanische Rituale). MItten machte bei ihr eine Ausbildung.

PKuster hat 1999 ein ganzheitliches Bestattungsunternehmen gegründet. Bis zu ihrem 40igsten Lebensjahr war sie Hausfrau. Sie bot von 1999 bis 2016 Bestattungsdienstleitungen und Rituale an. 2016 hat sie ihr Geschäft an ihre Nachfolgerin weitergegeben.

CHof hat eine Ausbildung als Katechetin und arbeite lange in diesem Beruf in der katholischen Kirche. Sie ist zum Zeitpunbkt des Interviews seit zehn Jahren als Ritualleiterin tätig. Sie machte eine Ausbildung bei der Schule für Rituale.

MItten hat bei einer der anderen interviewten Ritualleiter*innen eine Ausbildung zur Ritualleiterin gemacht. Sie arbeitete 25 Jahre als Katechtin in der katholischen Kirche, bis sie sich für eine freiberufliche Tätigkeit als Ritualleiterin entschied, da sie unter der Haltung der katholischen Kirche gegenüber modernen Lebenswelten und der Rolle von Frauen litt.

HBürgi hat katholische Theologie studiert. Sie war lange Zeit sowohl in der Kirche als auch ausserhalb der Kirche in der Gestaltung von Ritualen beschäftigt. Ausserdem war sie an der Schule für Rituale beteiligt.

RFischer hat katholische Theologie studiert. Ihre erste freie Bestattung bot sie 1995 an. Sie bietet Kurse zur Ritualgestaltung an.

RProbst ist einer der beiden Gründer der Schule für Rituale. Er ist Psychotherapeut mit einer Spezialisierung in Gestalttherapie und Systemischer Therapie. Er bietet Supervision, Coaching und spirituelle Psychotherapie an.

GGeiger und HBischof, Sozialarbeiterin und Unternehmer, spezialisierten sich nebenberuflich auf individuelle Bestattungsrituale. GGeiger und HBischof gründeten zusammen ein Unternehmen, das vor allem Abschiedsfeiern in der freien Natur anbietet. Diese Tätigkeit bezeichnen sie im Interview als eine «Herzensangelegenheit». Zum Zeitpunkt des Interviews haben sie etwa fünf Abschiedsfeiern begleitet. Inzwischen ist die Website ihres Unternehmens vom Netz genommen worden.

UMoser arbeitete lange als Primarlehrer. Er ist einer der beiden Gründer der Schule für Rituale. Bis zur Auflösung der Schule für Rituale war er in der Leitung der Schule tätig. Nebenberuflich bietet er Rituale für alle Lebensübergänge an.

RGianelli hat ein Atelier für Sarggestaltung. Daneben bietet sie auch Trauerbegleitung, Gesprächsgruppen und Abschiedsfeiern an, die sie aber nicht als Rituale bezeichnet.

SErlanger ist Bestatter bei der Stadt Zürich. Der wichtigste Satz während des Interviews war «Die Würde des Menschen hört mit dem Tod nicht auf.»

RMüller ist Pfarrer in einer reformierten Kirchgemeinde in einer ländlichen Region in der Deutschschweiz. Er geht in seinen Bestattungsfeiern auf die Wünsche der Angehörigen ein.

ABerger ist Leiterin der Schweizerischen Freidenker Vereinigung. Innerhalb der Freidenker Bewegung ist die Praxis von Ritualen umstritten. Dennoch gehen sie auf den Bedarf nach «freien» Ritualen ein und bieten auch Ausbildungen zur Leitung von Ritualen an.

4.6 Erhebungsbesonderheiten

Die Ritualleitenden zeigten sich mir als Forscherin gegenüber in der Regel sehr aufgeschlossen und waren in der Regel gerne bereit, in Interviews Auskunft über ihre Tätigkeit zu geben. Dagegen erwiesen sich die Interviews mit den Angehörigen und die Möglichkeit der (teilnehmenden) Beobachtung der Rituale als grosse Herausforderung, was damit zu tun hat, dass der Anlass ein für die Angehörigen in vielen Fällen emotional belastendes und zudem sehr persönliches Ereignis ist und die Rituale selbst in ihrem Vollzug genau darauf reagieren. Es handelt sich insofern um ein öffentlichkeits- und beobachtungssensibles Feld. Der Zugang zu den Interviews mit den Angehörigen war nur über und in Absprache mit den Ritualleitenden möglich, die aus naheliegenden Gründen zurückhaltend auf die Weitergabe der Kontaktdaten ihrer Angehörigen (und Kunden) reagiert haben. In den insgesamt wenigen Fällen, in denen Interviews mit Angehörigen zustande gekommen sind (UMeier und RTanner), zeigten die Interviewten durchgängig eine sehr positive Einstellung gegenüber dem Ritual und der/dem Ritualleiterin. Zukünftige Untersuchungen müssten, wenn sie sich stärker mit der Rezeption der Rituale auseinandersetzen wollen, die Datenbasis an dieser Stelle erweitern und z. B. auch Teilnehmende einbeziehen, die mit den Angeboten eher weniger oder gar nicht zufrieden sind.

Im Rahmen meiner Annäherung an die Todesrituale und die daran Beteiligten ist mir die Sensibilität des Feldes für Störungen von aussen immer wieder aufgefallen. Ich habe mich deshalb schon während des Erhebungsprozesses intensiv mit den forschungsethischen Implikationen meiner Untersuchung auseinandergesetzt. Mir ist sehr bewusst geworden, dass ich mit meiner Präsenz im Feld teilweise in sehr private und emotional aufgeladene Lebensbereiche vorgedrungen bin, was sich mit dem Erhebungsinteresse einer möglichst weitreichenden Teilnahme, Beobachtung und Befragung nicht immer ohne weiteres vereinbaren liess. Ausserdem betrachte ich es als methodisch sehr wichtig, die eigene Rolle als Beobachterin immer wieder zu reflektieren. Die Erhebung erwies sich zumeist dort am fruchtbarsten, wo ich nicht nur punktuell die Beziehung zu den Protagonistinnen gesucht habe, sondern auch kontinuierlich an dem Aufbau und der Pflege einer vertrauensvollen Beziehung zu den Beteiligten gearbeitet habe. Die Interviews mit den Angehörigen waren dabei besonders herausfordernd. Einerseits ermöglichten mir nur wenige Ritualleiter*innen den Zugang zu ihnen, und andererseits war die Trauer und Lebensgeschichte und Beziehung zu der verstorbenen Person sehr präsent und weniger die genaue Ritualgestaltung. Die Kontakte und Interviews mit den Angehörigen waren durch die stets gegenwärtige Situation der Trauer geprägt. Auch wenn die von mir vorgenommene Fokussierung auf die Arbeit der Ritualleiterin z. T. dazu geführt hat, dass sich die Interviewpartner*innen jenseits ihres Trauerschmerzes auch auf andere Aspekte ihrer Erfahrung mit dem Ritual einlassen konnten, stand doch die Trauersituation immer im Vordergrund des Gesprächs. Aus der Sicht der Angehörigen ging es in den Interviews immer auch darum, das Gespräch als Teil der Trauerbewältigung zu verstehen. Hier war es umso wichtiger für mich, das Vertrauen der Betroffenen zu gewinnen und nicht zu enttäuschen. Ich musste lernen, mit der Manifestation von Trauer (und der Konfrontation mit Tränen) und sehr persönlichen Erzählungen über familiäre Verstrickungen umzugehen (vgl. auch Rowling 1999: Being in, being out, being with).

An dieser Stelle würde es sich anbieten, die Forschung zu vertiefen. Die Angehörigen berichteten zum Teil über eigene Copingstrategien und Ritualisierungen, die teilweise durch die Ritualleiter*innen angeregt waren, teilweise durch hybride Formen oder sich aus anderen Quellen speisten. Dafür müssten die Angehörigen aber über einen längeren Zeitpunkt begleitet werden.