Eine Arbeit zu Todesritualen kommt nicht darum umhin, sich mit dem Ritualbegriff und seinen Weiterentwicklungen auseinanderzusetzen. Der Ritualbegriff ist mit seinen Weiterentwicklungen für den von mir untersuchten Phänomenbereich der Todesrituale ausserhalb konfessioneller Gemeinschaften unmittelbar relevant, weil diese Rituale im Hinblick auf ihre Strukturierung und ihre wiederkehrenden Elemente eine hohe Flexibilität aufweisen und z. B. bewusst neben der Übernahme von traditionellen Elementen auch die Aussparung solcher Elemente einsetzen. Was als Ritual zu gelten hat, erscheint also nicht mehr als starr und vorab festgelegt, sondern als dynamisch und flexibel. An diese Beobachtung kann mit ritualtheoretischen Ansätzen angeschlossen werden, in denen Rituale nicht primär durch einen immer wiederkehrenden Ablauf vorab festgelegter Elemente definiert werden, sondern durch graduelle Unterschiede zwischen mehr oder weniger rituellen Handlungen. Darauf soll hier mit dem Begriff Ritualisierung Bezug genommen werden. Ritualisierungsansätze können rituelle Abläufe erfassen, innerhalb derer neben rituellen Handlungen auch nicht-rituelle Handlungen vorkommen können. Zugleich helfen sie zu erklären, dass Rituale durch die beteiligten Akteure aktiv gestaltet und hervorgebracht werden (s. u. 3.1).

Mit dem Konzept der Ritualisierung werden somit die Handlungsspielräume der Beteiligten sichtbar, wie sie sich im Zusammenspiel mit strukturellen Rahmenbedingungen ergeben. An dieser Stelle wird das Konzept von Agency für meine Arbeit relevant. Agency-Konzepte beschreiben die strukturellen Gegebenheiten und die Handlungsoptionen der Akteur*innen auf einer allgemeinen gesellschaftstheoretischen Ebene, auf der die konkreten Handlungsspielräume der Akteur*innen sichtbar werden («agency I»). Ritualisierung stellt in diesem Zusammenhang eine wesentliche Antwort auf den Umgang mit Agency statt. Die sozialtheoretischen Konzepte von Agency bieten insofern einen passenden theoretischen Rahmen für die Grundannahmen meiner Untersuchung und für die Interpretation meiner Ergebnisse (s. u. 3.2). Zugleich soll in dieser Arbeit auf einer methodologischen und methodischen Ebene rekonstruiert werden, wie die Beteiligten selbst ihre eigene Handlungs- und Wirkungsmacht in den von ihnen geleiteten Ritualen darstellen und wie sich dabei im Feld positionieren («agency II»). Diese Seite von Agency steht im Mittelpunkt des Methodologie-Teils (s. u. 5).

3.1 Ritual und Ritualisierung

Die Bezeichnung «Todesritual» geht von einem Ritual in Bezug auf den Tod aus. Die populäre und zunehmende Verbreitung des Begriffs «Ritualleitende» (s. u. 4.2) zeigt, dass der Ritual-Begriff längst nicht nur etisch und wissenschaftsintern verwendet wird, sondern immer mehr auch im von mir untersuchten religiösen FeldFootnote 1 selbst auftaucht, rezipiert und mit unterschiedlicher Aufladung genutzt wird. Für die Beschreibung der empirischen Phänomene kann die Arbeit schon deshalb nicht komplett auf den Ritualbegriff verzichten. Da sich bei dieser Beschreibung aber gezeigt hat, dass die Rolle der Beteiligten viel aktiver ist, als es der traditionelle Ritualbegriff vorsieht, tritt zum Begriff des Rituals notwendig auch der der Ritualisierung, weil mit ihm die Rolle der Akteur*innen selbst, die einen Handlungsablauf erst zu einem Ritual machen, viel stärker in den Blick kommt. Ich gehe zunächst auf zentrale Aspekte des Ritualbegriffs ein (3.1.1) und komme dann auf das Konzept der Ritualisierung zu sprechen (3.1.2).

3.1.1 Ritualbegriff

Was ist überhaupt ein Ritual? Es gibt eine Vielzahl von Ritualverständnissen, von engen und weiten Definitionen von Ritual. Etymologisch besteht eine enge Verwandtschaft zwischen den Begriffen Ritus und Ritual. Der Ritusbegriff geht historisch viel weiter zurück als der Ritualbegriff (vgl. Quack 2013: 197). Unter einem Ritus werden formale und regulierte Handlungen innerhalb religiöser Ordnungen verstanden. In der Neuzeit wurde der Ritusbegriff zunehmend vom Ritualbegriff abgelöst.Footnote 2 Mit dem Gebrauch und der Verbreitung des Ritualbegriffs ging auch eine Bedeutungsveränderung einher, von der genauen Ausführung von Handlungen hin zu Handlungen, die etwas Besonderes darstellen sollen (Asad 1993, vgl. Quack 2013: 197). Die Bedeutung des Ritusbegriffs ist wesentlich trennschärfer und weniger umstritten als die des Rituals.

Für Grimes ist ein Ritus eine spezifische Inszenierung, die sich durch eine konkrete Bezeichnung, einen konkreten Ort und die Ausführung von rituellen Spezialist*innen auszeichnet und von einer Gruppe auch als solche erkannt wird (wie z. B. Taufe oder Bar Mitvah; vgl. Grimes 1990: 9). Ritual ist für Grimes ein formaler akademischer Begriff, bei dem es um Definitionen und Charakterisierungen geht (ebd.: 10). Catherine Bell hat ebenfalls betont, dass der Ritualbegriff zunächst vor allem ein akademischer Begriff sei (Bell 2009 [1992]). Dennoch hat er in den letzten Jahrzehnten auch ausserhalb des wissenschaftlichen Diskurses immer mehr Verbreitung gefunden (Bell 2009b [1994]). Dabei hat sich auch das semantische Feld «Ritual» immer mehr ausgeweitet, so dass inzwischen ein breites, kaum abschliessbares Spektrum an Phänomen mit dem Begriff erfasst werden kann und das Bedeutungsspektrum Begriffe umfasst wie Zeremonie, Feier, Spiel, Sport, Fest, Theater, Etikette, Brauch, Sitte und Routine (Bell 1994, vgl. Michaels 2003: 1).

Der viel rezipierte Ritualbegriff von Roy Rappaport zielt auf Wiederholbarkeit und die Tradition von Ritualen ab. Nach Rappaport ist das Ritual eine Form oder eine Struktur mit «mehr oder weniger unveränderliche[n] Sequenzen», wobei es zu einer Performance kommen muss (vgl. Rappaport 2006: 191 f.). Rappaports Verständnis von Ritual bezieht sich einerseits sehr stark auf formale und regulierte Handlungen, andererseits aber auch auf den Aspekt der Bedeutung dieser Handlungen. Für Rappaport ist das Ritual eine Form der Kommunikation zwischen transmitter (Sender) und receiver (Empfänger) (2004: 50). Darüber, dass die Teilnehmer*innen, das Ritual mitmachen, zeigt sich eine acceptance der rituellen Ordnung, 2004: 108).

Michaels (1999, 2003) spricht sich für eine polythetische Ritualdefinition aus, wobei er fünf Merkmale zusammengefasst hat, mit denen Rituale von anderen Aktivitäten unterschieden werden können. Dabei müssen nicht in jedem Fall alle Kriterien erfüllt sein. Sobald aber eines der Kriterien erfüllt ist, liegt für ihn ein Ritual vor: Das Vorhandensein eines oder mehrerer der Merkmale macht aus einer Handlung ein Ritual. Die Merkmale, die Rituale von anderen Aktivitäten unterscheiden, werden in Bezug auf ihre inhaltlichen Aspekte immer wieder auch in anderen Ritualbegriffen thematisiert:

  1. (1)

    Verkörperung: Inszenierung, Aufführung und Performativität,

  2. (2)

    Förmlichkeit (Wiederholbarkeit und dadurch Möglichkeit der Reproduktion und Wiedergabe von Ritualen),

  3. (3)

    Rahmung (Bateson 1954, Goffman 1974, Handelman 2004),Footnote 3

  4. (4)

    Transformation und Wirksamkeit,

  5. (5)

    Überhöhung, Vertrauens- und Verpflichtungsanteil in Ritualen, Rituale stehen für etwas anderes (Althoff 2003).

Neben der Definition von dem, was ein Ritual gegenüber anderen Handlungszusammenhängen auszeichnet, ist auch die Frage der Dynamik von Ritualen ein breit diskutiertes Forschungsgebiet. Einige Ritualdefinitionen beinhalten bereits ein Verständnis von Ritualdynamik, andere dagegen nicht. Eng verbunden mit der Vorstellung von Ritualdynamik ist der Übergang von Ritual zu Ritualisierung, weil in diesem Übergang der dynamische Charakter gegenüber dem fix-fertigen Charakter eines starren Ritualrahmens bereits impliziert ist. Ritualisierung verweist auf einen Prozess und weniger auf das Resultat.

Es gibt Konzepte der Ritualdynamik, die sich konkret mit den durch Ritualisierungsprozesse entstehenden Veränderungen und Komponenten von Ritualen beschäftigen. Diese Ansätze sind insofern für meine Untersuchung interessant, als mit ihnen die Entstehung von «neuen» Ritualen rekonstruiert werden kann. Dazu gehören Konzepte wie transfer of ritual/Ritualtransfer (Langer et al.: 2006), Ritualdesign und Ritualkreativität (Radde-Antweiler 2006, Karolewski/Miczek/Zotter 2012). Die Theorie des Ritualtransfers geht davon aus, dass sich bei Veränderungen des äusseren Kontextes des Rituals (z. B. durch sozialen Wandel) auch die internen Dimensionen des Rituals verändern (vgl. Langer et al.: 2006: 2). Zu den internen Dimensionen des Ritualtransfers gehören z. B. Performanz, Ästhetik, Struktur, Intentionalität, Interaktion und Symbole (ebd.). Das kann z. B. heissen: Je weniger Menschen sich der äusseren Form von traditionellen Ritualen zugehörig fühlen, desto mehr kommt es auch zu Veränderungen von Ritualen. Konkret kann sich das darin äussern, dass z. B. vermehrt populäre psychologische Konzepte und Inhalte aus klassischen ethnologischen Ritualtheorien in den Kontext von Bestattungsritualen hineindiffundieren. In der Positionierung von Ritualleitenden und dem damit verbundenen Umgang mit Ritualen manifestiert sich so gesehen auch ein Ritualtransfer (s. o. Langer et al. 2006). Der Inhalt der Rituale ist in diesen Fällen nicht traditionell institutionell über Ordnungen und Liturgien festgelegt, sondern leitet sich aus Adaptionen von Ritualtheorien ab, mit denen die Bezeichnung «Ritualleitende» einen technisch- formalen, deskriptiven Charakter bekommt. Ritualdesign und Ritualkreativität beziehen sich auf ähnliche Phänomene der Veränderung wie das Konzept des Ritualtransfers. Ritualdesign kann als spezielle Form von Ritualtransfer angesehen werden (vgl. Radde-Antweiler 2006: 68), bezieht aber stärker eine ökonomische Perspektive mit ein. Ritualdesign zeichnet sich entsprechend durch eine hohe Kundenorientierung, durch Betonung von Ästhetik und Marktorientierung aus (Karolewski et al. 2012: 19).

Ob rituelle Veränderungen als ritual creativity, ritual invention, ritualizing, ritual making oder ritual revision benannt werden, ist für Ronald Grimes eher zweitrangig, solange man Rituale als dynamische Prozesse beschreibt und sie nicht als feste Strukturen oder flüchtige Ereignisse begreift (vgl. Grimes 2000: 12). Grimes schlägt für die Beschreibung «neuer» Rituale zwei Typen vor: das Diviner- und das Plumber-Modell. Für die Anwender*innen des Plumber- Modells («Klempner») sei es vor allem wichtig, dass ein Ritual richtig zusammengesetzt sei und funktioniere. Die Diviner- (Wahrsager-) Anwender*innen achten hingegen vielmehr auf äussere Hinweise bei der Komposition ihrer Rituale (vgl. Grimes 2000: 12).

Im Zusammenhang mit der Diskussion um Ritualdynamik hat Grimes auch auf Ritualkritik aufmerksam gemacht. Ritualkritik zeigt sich für ihn in der Interpretation eines Rituals oder einer einzelnen Ritualsequenz mit der Intention, die eigene Praxis zu verändern (vgl. Grimes 1990: 16). Die Urheber*innen müssen dabei Bezug auf die grössere Tradition eines Rituals nehmen. Im Fall des Christentums kommt es dabei zu einer Reinterpretation und Kontinuität christlicher Praktiken und Symbole. Ritualkritik bezieht sich nicht nur auf das Ritual selbst, sondern beinhaltet unweigerlich auch Politik und Ethik sowie Ästhetik und Poetik (ebd.).

Die zuletzt behandelten Konzepte weisen bereits auf die eine oder andere Weise auf eine Dynamisierung des Ritualbegriffes hin, um Prozesse von Ritualgenese und Ritualwandel erfassen zu können. Das ist für mich der Anlass, um auf das schon angeklungene Konzept der Ritualisierung näher einzugehen.

3.1.2 Ritualisierungskonzepte

Die für meine Arbeit grundlegende ritualtheoretische Annahme setzt bei der Ritualisierung als Prozess der sozialen Konstruktion von Ritualität an, für den unterschiedliche Merkmale in unterschiedlicher Ausprägung relevant werden können. Insgesamt geht es mir weniger um eine Vorab-Definition von Ritual (die sich zudem als schwierig erweisen dürfte: s. o. 3.1.1) und vielmehr um die Rekonstruktion des Prozesses der Ritualisierung durch Akteur*innen (s. u. 5 und 69). Dabei schliesse ich mich Quack (2013) und Walthert (2020) an, die vorschlagen, von Graden von Ritualisierungen zu sprechen und dabei Merkmale von Ritualdefinitionen zu verwenden, um zwischen Aktivitäten unterscheiden zu können. Dafür verzichte ich auf den Gattungsbegriff von Ritual, weil damit eine Gleichheit der untersuchten Phänomene postuliert wird, die empirisch nicht eingelöst werden kann (vgl. Quack 2013: 202).

Das Ritualisierungskonzept ist für meine Arbeit wichtig, da darin das Moment der Unterscheidung einer Handlung von einer anderen als massgeblich für die Bestimmung eines Phänomens, das als Ritualisierung auftritt, entscheidend ist. Dieser Aspekt ist für die von mir untersuchten Rituale entscheidend, da diese sich bewusst von gemeinschaftsgebundenen Ritualen unterscheiden. Zudem ist es ratsam, an Stelle von Ritualen von Ritualisierungen zu sprechen, um ein exklusives oder inklusives Ritualverständnis zu vermeiden, demzufolge ein Ritual entweder als eigenständiges und von allen anderen sozialen Aktivitäten unterscheidbares Phänomen verstanden wird oder als etwas, das alle Aspekte des menschlichen Lebens mit einschließt (s. o. 2.2 zu den klassischen Ritualtheorien). Ritualisierungskonzepte gehen vielmehr davon aus, dass Rituale erst durch Handlungen mit Bedeutungen versehen werden und dass die Beteiligten selbst etwas erst zu einem Ritual machen. Ritualisierungen müssen dabei nicht zwangsläufig Glaubenssysteme repräsentieren, wie es in traditionellen Religionen der Fall ist (s. dazu o. 2.2 zu Durkheims «elementaren Formen des religiösen Lebens»). Ritualisierungen von Handlungen können im Gegenteil losgelöst von fest etablierten Glaubenssystemen erfolgen.

Der konzeptionelle Übergang von Ritual zu Ritualisierung ist vor allem in den Arbeiten von Catherine Bell prominent hervorgetreten, auch wenn schon früher auch in anderen Arbeiten von Ritualisierung die Rede ist. John Skorupski hatte bereits 1976 von Ritualisierungen gesprochen und dazu allgemein auf «ceremony, magic and religion» verwiesen, durch die Vorstellungen von Ritual vereint werden. Eine Handlung als ,religiös’, ,magisch’ oder ,zeremoniell’ zu beschreiben, charakterisiert nach seiner Darstellung jeweils unterschiedliche Dimensionen von Ritualisierungen. So kann eine rituelle Handlung a) einen mehr oder wenigen direkten Bezug zu einem religious being haben, b) mehr oder weniger zweckgebunden sein und c) mehr oder weniger formal und normgebunden sein (ebd.: 169), worin sich jeweils Grade von Ritualisierung ausdrücken können, die auch für Bells Ansatz wichtig sind.

Statt den Ansatzpunkt bei funktionalen oder symbolischen Aspekten zu suchen (wie das bei den klassischen Ansätzen der Fall war), geht es Bell um die Art und Weise, wie von den Beteiligten eine Handlung von einer anderen Handlung unter dem Aspekt des Rituellen unterschieden wird. Wie werden rituelle Handlungen von anderen (alltäglichen) Handlungen abgegrenzt und unter welchen Gegebenheiten geschieht dies? In ihrem Werk Ritual Theory. Ritual Practice fragt sie entsprechend:

«Under what circumstances are such [ritual] activities distinguished from other forms of activity? How and why are they distinguished? What do these [ritual] activities do that other activities cannot or will not do?» (Bell 1992: 70).

Das Problem ist dieser Sichtweise zufolge nicht das Problem der wissenschaftlichen Definition eines Rituals, sondern ein Problem der Handelnden selbst: Was gewinnen sie dadurch, dass sie eine Ritualisierung von Handlungen vornehmen? Was leisten diese rituellen Aktivitäten, das andere Aktivitäten nicht leisten können? Entscheidend ist also, was Menschen tun und wie sie es tun («the very doing of the act», ebd.). Ähnlich hat Don Handelman für eine akteurszentrierte Perspektive (interactive perspective) und ein Verständnis von rituellem framing plädiert: Akteur*innen bestimmen selbst, ob etwas ein Ritual ist (vgl. Handelman 2006: 578, 581). In diesem Sinn beschreibt Utriainen (2016), dass ein frame auch zwischen Ritual und Nicht-Ritual hin- und herwechseln kann, so dass auch Mikrorituale entstehen können.

Die Fokussierung auf die Handlungen der Akteur*innen deutet bereits an, dass es in Bells Ansatz nicht in erster Linie um die hinter einem Ritual stehenden Glaubensvorstellungen geht, sondern um konkrete Praktiken und eine konkrete soziale Praxis. Darin grenzt sie sich von Durkheim ab, für den über rituelle Handlungen die symbolische Ordnung repräsentiert wird (s. o. 2.1). Für Bell entsteht und verändert sich die symbolische Ordnung erst durch die rituelle Praxis. Die Praxis selbst bringt das Heilige hervor, als eine Praxis, die heiligt (vgl. Bell 1992: 91). D. h. durch die Art und Weise, wie etwas getan wird, wird es erst zum Heiligen. Wie sich dies in der Praxis der freien Bestattungsrituale genau zeigt, werde ich in den empirischen Kapiteln detaillierter darlegen (s. u. 69). Die Fokussierung auf konkrete Praktiken und eine konkrete soziale Praxis zeigt, dass die Ritualisierung einer Handlung auch nachfolgende oder ähnliche Handlungen beeinflusst (vgl. Bell 1997: 74). Wird also z. B. eine Handlung als bedeutsam von der Ritualleiter*in gerahmt, dann sind die Zuhörer*innen eher geneigt, ihre Aufmerksamkeit ganz besonders auf nachfolgende oder ähnliche Handlungen zu richten, als wenn eine (erste) Handlung eher unkommentiert bleibt. Mit Catherine Bell lässt sich eine Handlung entsprechend als mehr oder weniger ritualisiert verstehen (vgl. 1992: 89, 1997: 81) – bis zum Fall der Ent-Ritualisierung.

Bells Verständnis von Ritualisierung(en) ist kontextuell geprägt, insofern es an den jeweiligen Gegebenheiten und kulturellen Strategien ansetzt, die Aktivitäten generieren und voneinander abgrenzen (ebd.: 74). Die kulturellen Strategien der Ritualisierungen zeigen sich z. B. darin, wie Unterscheidungen zwischen heilig und profan eingeführt werden, wodurch eine Handlung als höherwertiger als eine andere verstanden wird oder als von Menschen hervorgebracht vs. als über menschliche Kräfte hinausweisend angesehen wird. Das, was als Ergebnis von Ritualisierung verstanden wird, ist deshalb nicht universal gültig, sondern immer an den jeweiligen Kontext gebunden (ebd.). Anders als in den einleitend zitierten Ritualbegriffen geht es also nicht darum, definieren zu wollen, was ein Ritual ist und was nicht. Stattdessen schlägt sie einen Ansatz vor, der danach fragt, wie und mit welchen Strategien Ritualisierungen bestimmter Aktivitäten vorgenommen werden. Damit geht allerdings auch eine gewisse Unschärfe in den Begriffen und Konzepten einher, was diese aber zugleich sehr vielseitig anschlussfähig macht, so dass man darin zugleich Schwächen und Stärken des Ansatzes sehen könnte.

So ist beispielsweise Bells Verständnis kultureller Strategien sehr weitreichend, und es kann vieles beinhalten. Kulturelle Strategien werden z. B. dort angewandt, wo die Ritualleiter*innen an traditionelle rituelle Ordnungen und religiöse Semantiken anknüpfen. Das geschieht beispielweise, wenn sie das Unser Vater sprechen und damit auf eine spezifische religiöse Tradition verweisen, aber auch wenn sie in kreativer Weise neue Formen einsetzen, in denen Erfahrungen von Transzendenz anklingen (s. u. 10.4).

Sozialtheoretisch knüpft Bell an Bourdieus Praxisbegriff an. Es ist die soziale Praxis, durch die die Akteur*innen den Umgang mit kulturell verfügbaren Ritualisierungen sich aneignen, verkörpernFootnote 4 und zugleich flexibel anpassen. Dafür wählt Bell das Konzept der «ritual mastery», dass sie aus ihrem Konzept des «sense of ritual» im Sinne einer Verkörperung eines Habitus abgeleitet hat (1992: 80). Ihre Defintion von ritual mastery lautet:

«Ritual mastery is the ability – not equally shared, desired, or recognized – to (1) take and remake schemes from the shared culture that can strategically nuance, privilege, or transform, (2) deploy them in the formulation of a priviledged ritual experience, which in turn (3) impresses them in a new form upon agents, able to deploy them in a variety of circumstances beyond the circumference of the rite itself» (Bell 1992: 116).

Ritual mastery ist demnach in der Fähigkeit zu sehen, Rituale an die jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen anzupassen und dabei Gestaltungsformen zu etablieren, die von den Akteur*innen in vielfältigen Zusammenhängen über das jeweilige Ritual (hier rite, Ritus) hinaus angewandt werden können. Bei dieser Art der Ritualisierung berufen sich die Akteur*innen nach Bell auf Kräfte, die ausserhalb ihres Wirkens stehen (‘externe’ Agency: s. u. 6). Sie sehen nicht, dass sie selbst es sind, die die Situation formen und schaffen (vgl. Bell 1997: 82). An diese These werde ich mit meinen empirischen Analysen unmittelbar anschliessen können, weil sie die Art und Weise der (Selbst-)Positionierung der Ritualleitenden betrifft.

Bell hat an einem anderem Ort (1997) auch ritual-ähnliche Handlungen beschrieben und damit den Prozess des Ritualisierens noch deutlicher hervortreten lassen. Dabei hat sie sechs allgemeine Kategorien entwickelt, die weder exklusiv noch definitiv zu verstehen sind und mit denen eine Handlung zu einer mehr oder weniger stark ritualisierten Handlung gemacht werden kann (vgl. Bell 1997: 128). An dieser Stelle zeigt sich konkret, wie Ritualdefinitionen, die auf Ritual-Kriterien beruhen, für die Rekonstruktion von Ritualisierungshandlungen empirisch fruchtbar gemacht werden können. Bei Bell lauten die sechs teilweise nicht trennscharf voneinander abgrenzbaren Merkmale: Formalismus, Traditionalismus, präzise Ausführung, Steuerung durch Regeln, sakraler Symbolismus und Performanz. Da es sich um zentrale, der Sache nach immer wieder ähnlich thematisierte Ritual(isierungs)-Kriterien handelt (s. schon o. 3.1.1), sollen sie im Folgenden kurz erläutert und mit Beispielen aus meiner eigenen Arbeit illustriert werden. Wichtig ist, dass es sich um Merkmale handelt, die sowohl in traditionellen religiösen Ritualen als auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen (wie der Politik) und selbst in alltäglichen Interaktionen ausgenutzt werden können, um Ritualisierungen vorzunehmen.

  1. (1)

    ‘Formalismus’ bezieht sich im Allgemeinen auf eine strikt organisierte (formalisierte, d. h. vorgeformte) Sprache und auf vorgeformte Gesten, die sich beispielweise in routinisierten Interaktionssituationen zeigen (140 f.).Footnote 5 Das Aufsagen des Unser Vater und eines Segens am Ende der Abschiedsfeier wären typische Beispiele für das Ausnutzen eines solchen Formalismus im Sinne Bells.

  2. (2)

    Unter dem Aspekt ‘Traditionalismus’ beschreibt sie, dass die meisten Rituale an eine historische Tradition bereits etablierter und bekannter Ritualen anschliessen (vgl. Bell 1997: 145). In einem weiteren Sinne führt sie hier den Anschluss an eine spezifische historische Tradition eines Festes an (wie bei Thanksgiving). Traditionalisierung kann sich aber auch durch den blossen Hinweis auf «unsere Ahnen» manifestieren (ebd.).

  3. (3)

    Die ‘Präzise Ausführung’ zeichnet sich vor allem durch die genaue Wiederholung eines Ablaufs, die physische Kontrolle und die Konzentration der Akteur*innen aus. Bell zählt auch Meditation dazu (ebd.: 151 f.).

  4. (4)

    ‘Steuerung durch Regeln’ meint Normen, die eine soziale Handlung und eben auch ein Ritual steuern. Bell führt an dieser Stelle aus, dass Kontexte, die sich vor allem durch Chaos auszeichnen und die sich durch spezifische Regeln kontrollieren lassen, mit Ritualen vergleichbar seien (vgl. Bell 1997: 153). Für das in dieser Arbeit interessierende Phänomen ist interessant, dass sich einige beobachtete Rituale für einen kurzen Zeitraum von maximal zehn Minuten bewusst von einer strikten Ritualstruktur lösen, dieses «Chaos» aber auch vorab festgelegt ist.

  5. (5)

    ‘Sakraler Symbolismus’ bezeichnet Handlungen, in denen die Bedeutung von Schlüsselsymbolen zum Ausdruck kommt (vgl. 156). Bells Argument ist hier, dass Rituale eben nicht eine Annahme heiliger Eigenschaften der Dinge voraussetzen, sondern dass sie das Heilige selbst hervorbringen, indem Dingen eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird. Diese Dinge sind demnach nicht wie andere Dinge, sondern sie stehen für etwas Besonderes, werden also als spezielle Symbole eingeführt: Ihnen wird die Qualität zugeschrieben, Bilder und Eindrücke mit starken Erfahrungen hervorrufen zu können (vgl. 157). Sie nennt hier als Beispiel die amerikanische Flagge (Stars and Stripes), die nicht einfach ein Stück bedruckter Stoff ist, sondern über ihre konkrete Materialität hinaus für verschiedene Ideen und damit verbundene Emotionen steht und diese entsprechend evozieren kann (und soll) (156 f.).

  6. (6)

    Nicht nur Gegenstände sondern auch Orte, Gebäude und Menschen können diese Art der Sakralität erlangen. In Bezug auf Orte sind besonders Landschaften und spezifische geographische Referenzpunkte zu nennen (ebd.). Die besondere Hervorhebung von Dingen und historischen Figuren oder Orten findet sich auch in meinen Beispielen (s.u. z. B. die Verenaschlucht in Solothurn 7.4.3, 9.1).

  7. (7)

    ‘Performanz’ zeigt sich in der Aufführung hoch symbolischer Handlungen. Der Effekt der Performanz liegt in der Erfahrung. Bell bezieht sich hier auf die Anthropologin Barbara Myerhoff: «not only is seeing believing, doing is believing» (vgl. Myerhoff 1977: 223, zit. nach Bell 1997: 160). Performanz wird auch über den Akt der Rahmung einer Handlung metakommunikativ vorgenommen (ebd.). Eine solche Rahmung geschieht z. B. über den Ausruf: «This is different, deliberate and significant – pay attention!» (ebd.). Um diesen Aspekt zu verdeutlichen, bezieht sie sich auf Don Handelman (vgl. 160f, Handelman 1990: 81) Eine solche Rahmung liess sich bei dem eingangs beschriebenen Bestattungsritual immer wieder beobachten. Das geschah z. B. durch die Aufforderung an die Teilnehmenden, sich auf das Ritual einzulassen, und durch die Erläuterung, was ein Ritual sei (s. o. 4.1).

Bell bezieht sich mit diesen Merkmalen auf ähnliche empirische Phänomene der Ritualisierung, die sich auch im Feld der von mir untersuchten Rituale vorfinden lassen. Dazu zählt die populäre Rezeption von Ritualkonzepten:Footnote 6 Rituale dienen demnach als Mittel, um Gemeinschaft zu schaffen und zu erneuern, um Identitätsformen zu wandeln und den Individuen und der Gemeinschaft einen existentiellen Sinn zu verleihen (vgl. Bell 1997: 241, 262–263).Footnote 7 Ritual ist in diesem Sinne eine allumfassende affirmative Strategie. Die Gewichtung von Ritual in einer Gesellschaft als transformierende, gemeinschaftsstiftende ideelle Grundlage führe demnach zu einem vermehrten Einsatz dieser Strategie (ebd.: 264). In einem umfassenden Sinne kann Ritual als symbolischer Ausdruck universal sein und darüber zu einer Transformation führen. Ritual hat in diesem Sinne eine individuelle und gesellschaftliche Komponente. Es kann einen innerpsychologischen und einen sozialen Prozess auslösen. Dabei gehe es in vielen neueren Ritualisierungen eher um das Selbst als um das Göttliche. Es gehe, so Bell, eher um Ganzheitlichkeit und Verwirklichung als um Transzendenz und Erlösung (ebd.: 241).

Was Bell an dieser Stelle beschreibt, ist eine oft beobachtete Strategie der Ritualleiter*innen. Ritual wird zu allererst als symbolischer Ausdruck von individuellen und gemeinschaftlichen Prozessen verstanden.

Wie Bell selbst betont, ergeben sich die oben genannten Strategien von Ritualisierungen aus dem Hineindiffundieren von Ritualtheorien in die rituelle Praxis selbst. Die rituelle Praxis gewinnt Erkenntnisse aus den Ritualtheorien und verändert sich dadurch wiederum (ebd.: 263). In diesem Zusammenhang der Reflexion von Ritualisierungen weist Bell ausdrücklich auch auf ritual entrepreneurs hin, die sich ihrer Erfindung von Ritualen bewusst sind (self-conscious ritual entrepreneurship) (ebd.: 224). Michael Stausberg hat diesen Gedanken der Bezugnahme auf Ritualtheorien in neueren Ritualen weiterentwickelt. In Anlehnung an Giddens’ Idee der reflexiven ModerneFootnote 8 spricht er von «reflexiven Ritualisationen»:

«Die Hüter der Ritualtradition werden durch die Experten der Ritualforschung (Turner etc.) ersetzt, und das von ihnen generierte ‚Wissen’ kehrt z. B. mit Hilfe der Populärliteratur zu seinem Gegenstandsbereich, der rituellen Praxis, zurück, der bzw. die auf diese Weise zugleich umgestaltet wird» (Stausberg 2004: 60).

Das Konzept ‘Ritual’ wird von den Beteiligten im Feld verwendet, da mit ihm die Effekte erreicht werden, die Ritualforscher*innen «Ritualen» zuschreiben (wie Entstehung einer Gemeinschaft ‘Communitas’ im Sinne von Victor Turner oder emotionaler Komfort: vgl. Stausberg 2004: 57). Das Wissen über Rituale haben nicht mehr nur die traditionellen Autoritäten, sondern die Expert*innen, deren Wissen auf die (populäre) Rezeption von Ritualtheorien zurückgeht, dann seinerseits rituelle Praktiken prägt und schliesslich auch wieder zu den Veränderungen im Feld der rituellen Praxis beiträgt (ebd.: 60).

Wie schon o. angemerkt, zeichnet sich der Ansatz von Bell durch eine konzeptionelle Vagheit aus. Dies hat mit einer Strategie zu tun, die Definition von Ritual auf Prozesse von Ritualisierung zurückzuführen. Daran ist eine gewisse Zirkularität kritisiert worden (Quack 2010). Anschliessend soll deshalb auf einen anderen Ansatz zum Verständnis von Ritualisierungen noch kurz eingegangen werden (Humphrey/Laidlaw 1994).

Ähnlich wie Catherine Bell betonen Catherine Humphrey und James Laidlaw in ihrer Ritualdefinition die Unterscheidung von Handlungen. Sie sprechen von einer «rituellen Einstellung», die sich von einer alltäglichen Einstellung unterscheidet.

Ritualisierung zeichnet sich durch Nicht-Intentionalität der Handlung aus. Humphrey und Laidlaw unterscheiden zwischen der Intention, die eine ausführende Person einer Handlung gibt (als intention-in-action), und einer intention-to-action, die einer Handlung bereits voraus geht. Zur Verdeutlichung der Unterscheidung: Die Bedeutung des Kreuzzeichens geht der Intention der ausführenden Person bereits voraus. Das bedeutet aber nicht, dass die Ausführenden sich darüber jedes Mal Gedanken machen, wenn sie die Handlung ausführen und auch nicht, dass sie selbst als nicht intentional agieren: «The actors both are, and are not, the authors of their acts. The act appears as already formed almost like an object, something from which the actor might ‘receive’» (Humphrey/Laidlaw 1994: 5).

Ritual ist nicht eine Art von Event und auch kein Aspekt jeglichen Handelns, sondern eine spezielle Qualität, die eine Handlung haben kann (vgl. 64). Nach Humphrey und Laidlaw kann jede Handlung theoretisch diese Qualität annehmen (vgl. 71). Sie grenzen sich also von der vorherrschenden Meinung ab, dass ein Ritual immer expressiv und kommunikativ sei (vgl. 73). Ritualisierungen werden über eine Tradition oder eine spontane Inspiration legitimiert, die selbst nicht erklärungsbedürftig zu sein scheint (vgl. Humphrey/Laidlaw 1994: 213).

Dazu beschreiben Humphrey und Laidlaw vier Aspekte (vgl. 1994: 89):, die eine ritualisierte Handlung ausmachen und die eine Ergänzung und Akzentuierung der bereits aufgeführten Ritual(isierungs)-Kriterien bieten:

  1. (1)

    Nicht-Intentionalität: Eine ritualisierte Handlung wird nicht durch die Intentionalität des sie ausführenden Akteurs bestimmt.

  2. (2)

    Die ritualisierte Handlung wird von dem Akteur/der Akteurin als vorgeschrieben und nicht als zufällig wahrgenommen («The person performing ritual ‘aims’ at the realization of a preexisting act. Celebrants’ acts appear, even to themselves, as ‘external’, as not their own making»).

  3. (3)

    Ritualisierungen stellen sich den Akteur*innen als eigene Entitäten dar und haben einen elementaren und archetypischen Charakter.

  4. (4)

    Die ritualisierten Handlungen können von den Akteur*innen leicht aufgenommen werden und an die Intentionen, Einstellungen und Vorstellungen der Akteur*innen angeglichen werden.

Das besagt, dass die Akteur*innen eine ritualisierende Handlung anders als eine andere Handlung wahrnehmen:

«Ritualization creates a different form of knowledge: a different way of thinking about, and a different way of organizing acts. The ritualized act is no longer just that action; it is now treated as a token of its stipulated type» (Humphrey/Laidlaw 1994: 150).

Durch den Vorgang der Ritualisierung wird die fragliche Handlung zu einem token für etwas Anderes. Sie wird als gegeben angenommen und nicht hinterfragt. Über Ritualisierung wird eine Handlung als vorgeschrieben erlebt. Dabei führen die Akteur*innen, in meinem Fall die Ritualleiter*innen und Adressat*innen, Handlungen aus, die sie nicht in Frage stellen und die somit bereits vorgeschrieben sind. Dabei kann es auch – wie in meinem Material – zu einer Wiederaufführung eines bereits existierenden Rituals mit einer anderen oder neuen Intention kommen: So wird z. B. das Unser Vater in ein neues Ritualskript eingeführt und in der Erläuterung der Ritualleiterin in eine universale Sammlung von Texten und Gebeten eingebettet, so dass die ursprüngliche Bedeutung in den Hintergrund tritt. Humphrey und Laidlaw sprechen in solchen Fällen von «intentionally adopted modes of ritual re-enactment» (ebd.: 212). Ritual re-enactment kann sehr unterschiedlichen Formen annehmen. Es können auch nicht-intentional ein Ritual oder rituelle Skripte wiederaufgeführt werden.

In meinem Beispiel sind vor allem intentionale Handlungen zu beobachten. Dennoch gibt es innerhalb des Rituals Sequenzen, die eine breite Deutungsoffenheit haben, deren Intention sich den Teilnehmenden nicht unbedingt erschliesst, die aber trotzdem von den Teilnehmenden aufgenommen werden können, da sie «ritual commitment» besitzen. Das «ritual commitment» kann zwischen den Teilnehmer*innen eines Rituals unterschiedlich ausgeprägt sein, in diesem Fall zwischen den nahen Angehörigen, der weiteren Trauergemeinde und den Leiter*innen des Rituals.

Humphrey und Laidlaw unterscheiden «liturgy-centred» und «performance-centred rituals». Sie gehen davon aus, dass performanz-zentrierte Rituale weniger ritualisiert sind (ebd.: 11). In performanz-zentrierten Ritualen geht es weniger um die Ausführung von Sequenzen von Vollzugsregeln und vielmehr um das Wirken von übersinnlichen Kräften, wie z. B. in schamanischen Trance-Ritualen (ebd.: 8–11). In performanz-orientierten Ritualen spielen entstehende Stimmungen («emergent moods»), die z. B. durch Trance hervorgerufen werden, eine entscheidende Rolle. Ein besonderes emotionales Empfinden macht dann auch eine Ritualisierung aus (ebd.: 227). Die Akteur*innen nehmen sich selbst dann nicht als die Urheber*innen einer Stimmung oder einer spontanen Inspiration wahr, sondern als Teilhabende, die etwas empfangen.

Liturgie-orientierte Rituale richten sich stattdessen nach der Frage «Haben wir es richtig gemacht?». Performanz-orientierte Rituale richten sich nach der Frage «Hat es funktioniert?» (ebd.: 11).

Je stärker Handlungen als vorgeschrieben, d. h. als nicht durch die eigene Intention bestimmt erlebt werden, desto stärker sind sie nach Humphrey und Laidlaw ritualisiert (ebd.: 12). Sie nehmen ihren Einwand, dass performanz-zentrierte Rituale weniger ritualisiert seien, allerdings später zurück (Laidlaw/Humphrey 2006: 281). Die unterschiedlichen Arten, wie ein Ritual konstituiert und ausgeführt sein kann, machen ein Ritual nicht zu einem Ritual, sondern entscheidend ist, dass es sich von alltäglichen Handlungen unterscheidet, die ohne rituelle Einstellung ausgeführt werden (ebd.).

Humphrey und Laidlaw haben ihren Ansatz entlang eines Rituals des Jainismus entwickelt, das sich sehr stark durch Regeln und Formalität auszeichnet. Wie verhält es sich nun aber mit Ritualen bzw. rituellen Sequenzen, die nicht so stark einer liturgischen Ordnung folgen? Houseman und Severi (1998) kritisieren entsprechend, dass sich die Theorie Humphrey und Laidlaws kaum auf Todesrituale anwenden liesse (vgl. Krüger et al. 2005: 28), da in Trauerritualen eine enge Verbindung zwischen individueller Intention und ritueller Form bestehe. Ich teile diesen Einwand nur bedingt. Wie oben gezeigt werden konnte, lassen sich auch in Trauerritualen rituelle Sequenzen finden, in denen die Intentionalität die rituelle Handlung nicht vordergründig bestimmt, sondern vor allem das «ritual commitment». Besonders für die Untersuchung einzelner ritueller Sequenzen erscheint mir der Ansatz von Humphrey und Laidlaw geeignet. Die Verstetigung von Handlungen im Sinne ritueller Handlungen und die Entstehung neuer vorgeschriebener Handlungen (wie die Praxis des Sargschliessens, s. u.) können mit dem Ansatz gut erklärt werden.

3.2 Theoretische Entwürfe von Agency

Wenn man sich für die Analyse des Verhältnisses von Handlungsspielräumen und sozialen Strukturen interessiert, wie es innerhalb von Ritualen und insbesondere im Kontext von Ritualisierung(en) zum Ausdruck kommt, liegt es nahe, sich mit dem Konzept der Agency zu beschäftigen.Footnote 9 Agency ist ein schillerndes Konzept, das in der sozialwissenschaftlichen Theoriediskussion in den letzten Jahrzehnten sehr viel Aufmerksamkeit bekommen hat und auch für die Qualitative Sozialforschung fruchtbar gemacht wurde(vgl. Bethmann et al. 2012). Entscheidend für das Konzept ist, dass es handlungstheoretische und strukturtheoretische Entwürfe miteinander vereint. Es bietet einen Ausweg aus der Unvereinbarkeit der Annahme deterministischer gesellschaftlicher Strukturen auf der einen Seite und der Annahme selbstbestimmt agierender Individuen auf der anderen Seite. Die Handlungsspielräume der Akteur*innen und die gesellschaftlichen Strukturen werden also nicht gegeneinander ausgespielt, sondern als miteinander in Relation stehend verstanden. Die wohl prominentesten Arbeiten zu Agency-Konzepten stammen von Anthony Giddens aus der Theorie der Strukturierung (Giddens 1979; 1984) und von Pierre Bourdieu als Teil des Habituskonzeptes (vgl. Bourdieu 1976; Bourdieu/Waquant 2006). Natürlich gibt es auch noch weitere mit dem Begriff verbundene Konzepte so z. B. von Sewell (1992). Ein neueres und sehr breit rezipiertes Konzept von Agency wurde von Mustafa Emirbayer und Ann Mische (1998) vorgestellt. Es ist speziell geeignet, meine Untersuchung zu fundieren, weil es eine dezidiert relationale Perspektive einnimmt und sich auf empirische Analysen unmittelbar übertragen lässt. Giddens’ und Bourdieu’s Konzepte sollen aber einleitend kurz vorgestellt werden, da Emirbayer und Mische an einige Überlegungen ihrer Vorgänger anschliessen, sich aber auch davon abgrenzen.

3.2.1 Giddens’ Theorie der Strukturierung

Giddens’ Arbeiten lassen sich als direkte Antworten auf die offenen Fragen des Strukturalismus verstehen. Dazu gehört insbesondere die Einsicht, dass Strukturen nicht losgelöst von den Handlungen zu denken sind, innerhalb derer die Handelnden immer wieder ähnliche Handlungsschemata anwenden und damit gesellschaftliche Strukturen (re)produzieren. Das sozialtheoretische Konzept von Agency hat Giddens vor allem in seinen Werken Central Problems in Social Theory (1979) und The Constitution of Society. Outline of a Theory of Structuration (1984) dargelegt. Agency wird in diesen Arbeiten als dynamisches Konzept von Handlung verstanden. Für Giddens ist Agency ein kontinuierlicher Handlungsstrom («continuous flow of conduct», Giddens 1979: 55). Handeln zeichnet sich für Giddens nicht nur durch einzelne zweckgerichtete Handlungsintentionen, Gründe und Motive aus, sondern besteht vielmehr aus einem kontinuierlichen Handlungsstrom, der sich aus durchlebten Erfahrungen zusammensetzt (vgl. Giddens 1984: 53 f.). D. h., dass sich die Akteur*innen nach Giddens erst in ihrem Handeln ihrer Absichten bewusst werden und diese dann im Handlungsstrom reflexiv verändern können. Somit können sich die Handlungsziele der Akteur*innen im Handeln kontinuierlich ändern und sich im Handeln auch überhaupt erst ergeben.

Agency bezieht sich nicht auf einzelne Handlungen (unit acts) und die Intentionen der Akteur*innen hinter einer konkreten Handlung, sondern auf das Potential der Akteur*innen, Dinge zu tun. Als Urheber bzw. «Verursacher» von Handlungen hat das Individuum Agency und damit Macht, da es im Prinzip jederzeit auch hätte anders handeln können.

«Agency refers not to the intentions people have in doing things but to their capability of doing those things the first place (which is why agency implies power) […] Agency concerns events of which an individual is the perpetrator, in the sense that the individual could at any phase in a given sequence of conduct, have acted differently. Whatever happened would not have happened if that individual had not intervened» (Giddens 1984: 9).

Agency befindet sich in Relation zur Struktur, für die Giddens den Begriff der structuration verwendet, um damit einen nicht-statischen Strukturbegriff zu verwenden, der die «Idee der Gemachtheit und Machbarkeit von Strukturen» unterstreicht (Joas/Knöbl 2004: 403) – ähnlich wie der Begriff der «Ritualisierung» die Gemachtheit und Machbarkeit von Ritualen betont (s. o. 3.1.2).

Es ist wichtig zu sehen, dass der Agencybegriff bei Giddens vor allem eine theoretische Kategorie ist, um eine bestimmte Leerstelle in der Theorie zu füllen. Seine Stärke liegt darin, die Akteur*innen als Agens von Handlungen im Sinne eines Faktors und Indikators gesellschaftlicher Strukturen einzubeziehen, ihnen damit also zugleich Fähigkeiten wie Beschränktheiten eigenen Handelns zuzuschreiben. Damit kommen konkrete Handlungsspielräume in konkreten Situationen in den Blick, wie sie in der vorliegenden Arbeit am Beispiel der Ritualisierung von Handlungen durch Ritualleitende untersucht werden sollen.

3.2.2 Pierre Bourdieus Habitus Konzept und seine Praxistheorie

Bourdieus Habitus- und Praxistheorie ist für diese Arbeit interessant, weil sich daraus auch Implikationen für das Konzept von Agency ableiten lassen. Es geht darin aber nicht um die Rekonstruktion konkreter Handlungsziele, sondern viel stärker um eine Abstraktion und einen festgelegten Rahmen, innerhalb dessen Agency vorkommt. Betont wird aber weniger die Handlungsmacht der Akteur*innen. Vielmehr geht es um die Relevanz von Machtstrukturen und die Auseinandersetzungen um Positionen und zwischen Positionierungen innerhalb eines gesellschaftlichen Feldes (s. noch u.), innerhalb dessen Handlungsspielräume erkämpft und verortet werden müssen. Wie die Begriffe schon andeuten, lässt sich diese Perspektive sehr gut auf das von mir untersuchte Feld beziehen: Es sind die konkreten Positionierungen der Ritualleitenden, in denen sich die Auseinandersetzung auf dem Markt der Anbieter*innen von Todesritualen manifestieren (s. dazu u. 4.2 und 6).

Es kommt hinzu, dass sich die Ansätze zur Ritualisierung, auf die im Theorieteil schon Bezug genommen wurde (s. o. 3.1), z. T. in ihrem Verständnis von sozialer Praxis stark durch Bourdieus Arbeiten haben anregen lassen (vgl. dazu Bell 1994: 78 ff., 82 ff.). An dieser Stelle zeigt sich eine unmittelbare Schnittstelle zwischen einem Konzept von Agency im Sinne der Praxis- und Habitustheorie von Bourdieu und dem Ritualisierungskonzept von C. Bell, auch wenn die Rezeption von Bourdieu bei Bell ausschnitthaft und ganz im Zeichen der eigenen Argumentation erfolgt (Quack 2010, s. auch o. 3.1). Die weitergehende Perspektive von Bourdieu, dass sich in den sozialen Praktiken der Akteur*innen die symbolische Reproduktion von Macht- und Herrschaftsstrukturen zeigt, die ebenfalls von Catherine Bell übernommen wird, steht in den von mir fokussierten Agency-Konzept nicht im Zentrum.

Ähnlich wie bei Giddens ist auch Bourdieus Habitus-Konzept durch den Versuch eines Brückenschlags zwischen einem strukturtheoretischen und einem handlungstheoretischen Ansatz zu verstehen. In diesem Sinne lässt es sich also auch als Agency-Konzept rezipieren; im viel rezipierten Konzept des Habitus verschmelzen Akteur*in und Struktur. Bourdieu und Wacquant können den Habitus deshalb als das «Ergebnis des Eingehens des Sozialen in die Körper» definieren (Bourdieu/Wacquant 1996: 160). Dabei legen die verinnerlichten Motive die Handlungsspielräume des Individuums fest.

Ein weiterer wichtiger Begriff aus Bourdieus Theorie ist der schon o. genannte Begriff des «Feldes». Ein Feld versteht Bourdieu als «Ergebnis des Eingehens des Sozialen in die Sachen oder in die Mechanismen, die gewissermassen die Realität von physischen Objekten haben» (ebd.). Aus der Definition geht hervor, dass Habitus und Feld in Relation zueinanderstehen. Die Akteur*innen befinden sich in sozialen Feldern, in denen um einzelne «Kapitalsorten» gestritten wird. Das jeweilige Feld gibt die Handlungsoptionen des Individuums vor (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 160). Handeln geschieht also immer in Relationen zwischen Habitus und Feld.

Mit dem Habituskonzept lassen sich vor allem routinierte Handlungsabläufe gut erklären. In den sozialen Praktiken der Akteur*innen zeigt sich die symbolische Reproduktion von Macht- und Herrschaftsstrukturen. Bourdieu hat aus den Begriffen Habitus und Praxis entsprechend eine eigene Praxistheorie entwickelt:

«Begriffe wie Habitus, Praxis usw. hatten unter anderem die Funktion, daran zu erinnern, dass es ein praktisches Wissen gibt, eine praktische Erkenntnis, die ihre eigene Logik hat, nicht reduzierbar auf die Logik der theoretischen Erkenntnis; dass in gewissem Sinne die Akteure besser über die soziale Welt Bescheid wissen als die Theoretiker; und dennoch daran festhalten, dass sie nicht wirklich Bescheid wissen und dass die Arbeit des Wissenschaftlers darin besteht, dieses praktische Wissen explizit zu machen»(Bourdieu 1991: 275).

Innerhalb der Logik einer solchen Praxis ist das Verständnis von Agency zu entwickeln. Hilfreich dafür ist Bourdieus Verständnis von Strategien als den «Möglichkeiten, die in der unmittelbaren Gegenwart gegeben sind» und aus denen sich «die grossen objektiven Handlungsverläufe» ergeben. Die Strategien werden von den sozialen Akteuren ständig in der Praxis und als Praxis konstruiert und mit einer bestimmten Konstellation des Feldes immer wieder neu definiert (vgl. Bourdieu/Wacquant 2006: 162). Die Logik und die Konstellation des Feldes ergeben sich also aus der Praxis heraus und sind dieser nicht vorgelagert. Neben die Strategien treten bei Bourdieu die «Interessen» der Beteiligten. Sie konstituieren das jeweilige Beteiligt-Sein der Akteure am sozialen Geschehen. Die Interessen sind deshalb «spezifisch». Sie werden «beim Funktionieren von historisch eingrenzbaren Feldern zugleich vorausgesetzt und produziert». Ein Interesse zu haben, bedeutet für die Handelnden, dass das, was geschieht, auch einen Sinn für sie als (im engeren Sinne) «Beteiligte» hat (Bourdieu/Wacquant 1996: 148). Das spezifische Interesse differenziert sich je nach Position: «Die Interessen können nur «ex post» durch eine historische Analyse und empirische Analyse und durch die empirische Beobachtung erkannt und nicht a priori abgeleitet werden» (Bourdieu/Wacquant 1996: 149.).

Interessen im Sinne Bourdieus kommen den von mir rekonstruierten Positionierungen im Feld der Ritualleitenden sehr nahe, weil sie erstens einen strikt empirischen Charakter haben (also nicht schon aus den strukturellen Randbedingungen z. B. des Umgangs mit Verstorbenen abgeleitet werden können) und weil sie in einem basalen Sinn die Art der Beteiligung der Akteur*innen im Feld der Todesrituale erkennbar werden lassen: Es ist ihre Art, ihr Tun als Ritualleitende von Todesritualen für sich selbst und andere «sinnvoll» zu machen (s. o.). Dieser soziale Sinn ihres Tuns wird u. a. durch die von mir in den Mittelpunkt gestellten Deutungsmuster hergestellt (s. u. 79).

Bei Bourdieu geht es dabei abstrakter um die «Relation zwischen zwei Realisierungen des historischen Handelns» und weniger um das Individuum und seine Intentionen. Deshalb bilden Praktiken (und nicht Handlungen) den Ausgangspunkt für Bourdieus Verständnis von Geschichte und Struktur. In den Praktiken äussern sich Geschichte und Struktur in Form von inkorporiertem und reproduziertem Wissen. Diese Sichtweise ist mit den von mir beschriebenen Positionierungen durchaus vereinbar. Auch dabei geht es nicht um eine Rekonstruktion der Intentionen der Handelnden, sondern um Positionierungen als Teil einer sozialen Praxis (s. u. 5).

Häufig geäusserte Kritik an Bourdieus Habitus-Konzept ist, dass die Akteur*innen lediglich die Strukturen reproduzieren würden. Dagegen wendet Bourdieu ein:

«Da der Habitus eine unbegrenzte Fähigkeit ist, in völliger (kontrollierter) Freiheit Hervorbringungen – Gedanken, Wahrnehmungen, Äuβerungen, Handlungen – zu erzeugen, die stets in den historischen und sozialen Grenzen seiner eigenen Erzeugung liegen, steht die konditionierte und bedingte Freiheit, die er bietet, der unvorhergesehenen Neuschöpfung ebenso fern wie der simplen mechanischen Reproduktion ursprünglicher Konditionierungen» (Bourdieu 1987: 103, zitiert nach Joas/Knöbl 2004: 547).

Es geht also, wie schon bei Giddens, um eine Vermittlung zwischen scheinbar unvereinbaren theoretischen Annahmen, die in diesem Zitat mit der Alternative zwischen «Neuschöpfung» und «mechanischer Reproduktion» sozialer Strukturen beschrieben werden. Das Konzept des Habitus steht für den Versuch, eine solche Dichotomie zu überwinden – das macht es für ein angemessenes theoretisches Verständnis von Agency attraktiv.

Sowohl bei Giddens als auch bei Bourdieu geht es um Agency im Kontext einer allgemeinen Gesellschaftstheorie. Fragen der Anwendung des Konzeptes im Rahmen konkreter empirischer Analysen bekommen dabei zwangsläufig eine untergeordnete Rolle. Im Folgenden soll deshalb noch ein Ansatz vorgestellt werden, der eine stärkere empirische Fundierung des theoretischen Konzepts von Agency erlaubt.

3.2.3 Agency bei Emirbayer und Mische

Mustafa Emirbayer und Anne Mische (1998) schlagen ein Agency-Konzept vor, das im Gegensatz zu Giddens und Bourdieu den Anspruch einer empirischen Fundierung und Anwendbarkeit erhebt. Ausserdem sehen Emirbayer und Mische vor allem bei Bourdieu eine zu starke Betonung der Determinierung der Akteur*innen durch die Struktur (vgl. Emirbayer/Mische 1998: 983). Ihr eigenes Konzept von Agency betont deshalb eine radikal relationale Perspektive:

«We define it [Agency, L.R.] as the temporally constructed engagement by actors of different structural environments—the temporal relational contexts of action—which, through the interplay of habit, imagination, and judgment, both reproduces and transforms those structures in interactive response to the problems posed by changing historical situations» (Emirbayer/Mische 1998: 970).

Agency lässt sich damit nur in situativ-temporaler Perspektive und in Bezug auf Problemstellungen konkreter historischer Situationen bestimmen, die im Zusammenwirken mit anderen Akteur*innen in einer konkreten Interaktionssituation beantwortet werden. Wie diese Zuspitzung zeigt, orientieren sich Emirbayer und Mische (1998) sehr stark am symbolischen Interaktionismus, wobei sie sich insbesondere auf George Herbert Meads’ Verständnis von Handlungen in temporaler Perspektive beziehen (vgl. Emirbayer/Mische 1998: 967–971). Die o. skizzierten Agency-Konzepte von Giddens und Bourdieu werden zudem vor dem Hintergrund von Sozialphänomenologie (A. Schütz), Ethnomethodologie (H. Garfinkel) und amerikanischem Pragmatismus (J. Dewey) diskutiert, ohne dass diese Diskussion hier im Einzelnen nachgezeichnet werden soll.

Im Ergebnis kommen Emirbayer und Mische zu einem stärker differenzierten Handlungsbegriff als Giddens und Bourdieu. Innerhalb einzelner Handlungskomponenten sind etwa strukturelle Orientierungen immer schon von sich aus enthalten. Weiter ist in diesem Ansatz Intersubjektivität ein entscheidender Bezugspunkt. Im Sinne von Mead kommt die Intersubjektivität dabei nicht nachträglich als weitere Handlungsorientierung hinzu, sondern ist von vornherein Teil dieser Handlungsorientierung des Einzelnen. Sie wird also massgeblich durch die soziale Interaktion nicht nur beeinflusst, sondern mitkonstituiert. Damit bekommt der im Agency-Konzept integrierte Handlungsbegriff einen stark interaktionsorientierten Zug.

Handeln besteht nach Emirbayer und Mische aus der Aktivierung und dem Zusammenspiel der Komponenten von habit, imagination and judgement (Gewohnheit, Vorstellungskraft und Urteil). Durch das Ineinandergreifen diese drei Komponenten werden die Strukturen in interaktiver und intersubjektiver Resonanz reproduziert und transformiert (vgl. Emirbayer/Mische 1998: 971):

  1. (1)

    Habit zeichnet sich durch die Wiederholung und Habitualisierung sozialer Abläufe aus (iterational element). Im Handeln wird demnach immer auf soziale Schemata Bezug genommen, die bereits etabliert sind, als bekannt erkannt werden, aber auch unbewusst und unbemerkt ins Handeln eingehen (ebd.: 975). Mit der Beschreibung dieser Agencydimension beziehen sich Embirmayer und Mische besonders auf Giddens’ (Strukturierung) und Bourdieus (Habitus)Footnote 10. Sie begrüssen entsprechend Giddens’ Idee einer «discoursive consciousness» (die Akteur*innen sind sich ihrer selbst bewusst) und Bourdieus Zugriff zur «reflexiven Soziologie», kritisieren aber, dass sich die Ausweitung des Handlungsspektrums der Akteur*innen vorrangig an vergangenen Situationen orientiert und dabei zu kurz kommt, dass sich die Akteur*innen nicht selbst neue Möglichkeiten des Denkens und Handelns schaffen können (ebd.: 981, 983).

  2. (2)

    Imagination bezeichnet ein auf die Zukunft ausgerichtetes Handeln (projective element). Das Individuum hat demnach die Fähigkeit, aus vorangegangenen Handlungen Erwartungen für die Zukunft abzuleiten (ebd.: 989). Handelnde erkennen in neuen Erfahrungen alte Muster und passen neue an alte Erfahrungen an.

  3. (3)

    Judgement als praktisch-evaluierendes Handeln besteht aus verschieden practical-evaluative elements, zu denen problematization (Problematisierung), decision (Entscheidung) und execution (Ausführung) gehören (ebd.: 997).

Für Emirbayer und Mische zeigen sich insbesondere in den Handlungsroutinen gesellschaftliche Strukturen, da hier auf bereits etablierte Handlungsmuster Bezug genommen wird. Das heisst aber nicht, dass routinisierte Handlungen selbst frei von Agency und als blosse Struktureproduktionen anzusehen wären. Um Routinen durchzuführen können, müssen die Akteur*innen die Handlungen zuvor als Typen erkennen. Auch entwickeln sie Routinen für neue Handlungsanforderungen, indem sie fortlaufend Handlungen in Beziehung zu anderen Handlungen, Personen und Kontexten setzen. Diese Überlegungen sind stark an der Phänomenologie (Schütz 1962) und ihren Weiterentwicklungen im Sozialkonstruktivismus (Berger/Luckmann 1969) und in der Ethnomethodologie (Garfinkels 1984) orientiert.

Damit zeigt sich ein variables Agency-Konzept, mit dem Agency nicht als Eigenschaft von Individuen und sozialen Gruppen vorausgesetzt werden muss, sondern in den jeweiligen sozialen Strukturen und Prozessen als Ermöglichung und Aktualisierung einer sozial nicht determinierten Handlungsfähigkeit analysiert und auch empirisch bestimmt werden kann (vgl. Scherr 2012: 103). Handeln wird in diesem Sinne als Manifestation von Agency verstanden, die nicht ausserhalb oder gegenüber von Strukturen steht, sondern diese insbesondere in Form von Handlungsroutinen immer schon einbezieht. Die Handlungsfähigkeit der*s Einzelnen entsteht demnach aus einem Zusammenspiel der Handlungsorientierungen mit den strukturellen Gegebenheiten, die selbst von Akteur*innen (vor ihnen) geschaffen wurden und stetig von ihnen verändert werden. Mal bestimmen die Handlungsorientierungen der Akteur*innen die Strukturen, mal determinieren umgekehrt die strukturellen Gegebenheiten die Handlungen der Akteur*innen (vgl. Emirbayer/Mische 1998: 983). Für die Analyse von Agency ist für Emirbayer und Mische deshalb die variable und veränderbare Beschaffenheit des Zusammenspiels von Struktur und Handlung entscheidend. Handlung und Struktur konstituieren sich demnach wechselseitig. Jeweils situativ kann sich die Kapazität von Agency für Erneuerung, Wahl oder Transformation in Relation zum jeweiligen Kontext erhöhen oder auch abschwächen (ebd.: 1002 f.). Die empirische Aufgabe besteht dann darin, die verschiedenen Agencyausprägungen und ihre jeweiligen strukturierenden Kontexte zu lokalisieren, zu vergleichen und vorherzusagen (ebd.: 1005). Eingebunden in das Spannungsverhältnis von Handlung und Struktur ist auch das Verständnis von ritueller Handlungsmacht, ihrer Legitimation und Reflexivität, wie es vereinzelt in religionswissenschaften Beschäftigung mit Agency betont worden ist (s. u. 3.2.4) und insbesondere in dem für meine Arbeit zentralen Ergebnis einer «ritualisierenden Agency» wichtig ist (s. u. 10). Mit dem Einschluss phänomenologisch-sozialkonstruktivistisch-ethnomethodologischer Konzepte nähert sich die Konzeption von Emirbayer und Mische bereits einem Konzept von Agency an, das auch für empirische Analysen unmittelbar fruchtbar gemacht werden kann. Ich schliesse an dieses relationale Konzept von Agency an. Methodologisch wird damit dieFrage nach der Selbstdarstellung und Positionierung konkreter Akteure in einem konkreten Feld beantwortet (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2002: 62, Bethmann et al. 2012, Helfferich 2012; im Folgenden «agency II, s. dazu u. 5.4.4). Über die Rekonstruktionen der Positionierungen der Ritualleiter*innen lässt sich auch etwas über die Beschaffenheit der sozialen Strukturen im Feld von Todesritualen in der Deutschschweiz aussagen (vgl. 7–10).

3.2.4 Agency in der Religionswissenschaft

In der Religionswissenschaft wurden und werden Konzepte von Agency rezipiert und auch Verbindungen zwischen Agency und Ritualisierung hergestellt. Einige Arbeiten beschäftigen sich mit «ritueller Agency» (Krüger et al. 2005, Sax 2010, Chaniotis 2010, Hornborg 2016). Ausserdem wird das Verhältnis von Ritual und Agency im zweiten Band der von Axel Michaels herausgegebenen Reihe «Ritual Dynamics and the Science of Ritual» unter dem Titel «Body, Performance, Agency and Experience» thematisiert (Chaniotis/Michaels 2010).

Die Vorstellungen von ritueller Agency sind sehr stark aus der empirischen Beobachtung konkreter Rituale abgeleitet. Krüger et al. (2005) haben dabei zwischen drei Typen ritueller Agency unterschieden (19–24):

  1. (1)

    Agency als Gestaltungsmacht (performative agency) – hier geht es um die Frage, wer ein Ritual durchführen darf und wie genau ein Ritual im Einzelnen durchgeführt wird.

  2. (2)

    Agency als WirkungsmachtFootnote 11 (ritual agency) – hier geht es darum, dass einem Ritual aus sich selbst heraus eine Wirkung zugeschrieben wird. Dies ist vor allem eine emische Perspektive (die z. T. auch bei den von mir untersuchten Ritualleitenden vertreten wird, s. u. 10), aber auch von Wissenschaftler*innen geteilt wird (Sax 2010).

  3. (3)

    Agency als Verwaltungsmacht (administrative agency) – hier stehen die Gültigkeit und Nichtwiederholbarkeit von ausgewählten empirischen Ritualen im Mittelpunkt.

Für meinen Untersuchungsgegenstand sind vor allem die ersten beiden Typen von Agency relevant. Die Frage der Gültigkeit und Nichtwiederholbarkeit eines Rituals spielt dagegen nach meinen Beobachtungen bei gemeinschaftungebundenen Todesritualen in der Deutschschweiz so gut wie keine Rolle.