Für das Thema der freien Todesrituale ist die Einbettung in den gesellschaftlichen Kontext des Umgangs mit dem Tod in einem umfassenden Sinne wichtig, da die freien Todesrituale direkt an diesen anschliessen und sich von ihm abgrenzen. Es soll zunächst die zeitdiagnostische Einordnung der Verdrängung oder der Wiederkehr des Todes nachgezeichnet werden, die dann in grundlegende Bemerkungen zur sozialen Konstruktion des Todes münden. Dazu sollen die wichtigsten Begriffe und Konzepte erläutert werden, mit denen der Tod bestimmbar gemacht wird. An dieser Stelle sind auch religionswissenschaftliche Konzepte und Begriffe zu nennen, mit denen der Tod als ausserhalb der empirischen Wirklichkeit liegend gefasst werden kann. Dabei erfolgt dann auch der Rückgriff auf Religionsbegriffe, die die Sinngebung des Todes unmittelbar thematisieren (s. u. 2.1).

Wie Gesellschaften mit dem Tod umgehen,Footnote 1 ist seit den Anfängen der Ethnologie und Soziologie ein wichtiges Thema empirischer Studien und theoretischer Reflexion. Einen besonderen Stellenwert nehmen hier die klassischen Studien zu den sogenannten «Übergangsritualen» (rites de passage) ein, die auch von den Ritualleitenden selbst stark rezipiert werden (s. u. 2.2). Von diesen Studien sind auch neuere und gegenwärtige Arbeiten zu Todesritualen und ihren Veränderungen beeinflusst, gehen aber auch darüber hinaus. Die Rezeption und Vorstellung dieser neueren Arbeiten zu Veränderungen von Todesritualen eröffnet unmittelbare Anknüpfungspunkte und Desiderate für meine eigene Untersuchung, mit denen diese im unmittelbar einschlägigen Forschungskontext verortet werden kann (s. u. 2.3). Daran anschliessend werde ich mich der These von Psychologisierung und Therapeutisierung von Religion widmen (2.4), da diese in der Religionswissenschaft breit rezepiert wird und es sich anbietet diese im Hinblick auf Veränderungen von Todesritualen zu diskutieren. In diesem Zusammenhang werden dann auch Religionskonzepte referiert, bei denen die unmittelbare Erfahrung im Zentrum steht. Schliesslich wird die These der zunehmenden Bedeutung von Coping und Emotionalisierung im gesamtgesellschaftlichen Rahmen diskutiert.

Das zweite Kapitel schliesst mit der Organisation des Todes in der Deutschschweiz, die wichtig für das Verständnis des unmittelbaren empirischen Kontextes ist und zum gesellschaftlichen Kontext von Todesritualen gehört (2.5).

2.1 Tod, Gesellschaft und Religion

Es zeigt sich, dass der Tod ein Thema ist, das im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen DiskursFootnote 2 von vielen Seiten und bis heute immer wieder thematisiert wird. So gibt es seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ein verstärktes interdisziplinäres Interesse am Feld der Thanatologie («Wissenschaft vom Tod», «Sterbeforschung»), im Zuge dessen die sog. «death studies» entstanden sind, deren wichtigste Zeitschriften im internationalen Raum «mortality» und «death studies» sind. Für den deutschsprachigen Raum sind z. B. die Sammelbände von Tag et al. zu nennen, die sich interdisziplinär aus sozialwissenschaftlicher, juristischer und medizinischer Perspektive mit dem Umgang mit Tod und totem Körper auseinandersetzen (vgl. Groβ et al. 201).

Zu den wichtigen Studien zählen die berühmt gewordenen kulturgeschichtlichen Arbeiten von Philippe Ariès zur Wahrnehmung des Todes vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. In seiner «Geschichte des Todes» beschreibt der Autor, dass und wie sich das Todesbild ab dem 19. Jahrhundert entscheidend gewandelt hat und wie Urbanisierung und Medikalisierung dazu führten, dass der Tod immer mehr in der Öffentlichkeit versteckt und in diesem Sinn aus dem Alltagsleben verdrängt wurde (vgl. 1987: 715–753). Vor dem Hintergrund der viel zitierten These von der Verdrängung des Todes ab dem 19. Jahrhundert zeichnet sich seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Art Wiederentdeckung des Todes ab, u. a. mit Bezug auf die Ursprünge der Sterbe- und Hospizbewegung. Der britische Soziologe Tony Walter spricht von einer steten Wiederkehr des Todes («Revival of Death» Walter 1994; auch 1996). Im Hinblick speziell auf die sinnlich wahrnehmbare Präsenz von Sterbenden und Toten in Künsten und Medien ist auch die Rede von einer neuen Sichtbarkeit des Todes, die ab dem Jahr 2000 beobachtet wird (vgl. Macho/Marek 2007).

Walter zeichnet die Wiederkehr des Todes in vergleichender historischer Perspektive nach und unterscheidet dabei drei Typen des Todes: den traditionellen, den modernen und den postmodernen Tod. Er schreibt jedem der drei Typen eine charakterisierende Eigenschaft zu: Den traditionellen Tod sieht er als religiös, den modernen Tod als medizinisch und den postmodernen Tod als persönlich geprägt an. Die zentralen Dimensionen der drei Typen hat Walter in vergleichender Perspektive gegenübergestellt, wie Abbildung 2.1 zeigt.

Abbildung 2.1
figure 1

Drei Typen des Umgangs mit dem Tod nach Walter 1996: 195Footnote

Ich übernehme die Übersetzung von H. Knoblauch (vgl. Knoblauch 2011: 3).

Abbildung 2.1 zeigt, wie sich der Umgang einer Gesellschaft mit dem Tod unterscheiden lässt und wie neben die Religion (traditioneller Tod) die Delegation der Verantwortung an Medizin, Technik, Gemeinschaft, Familie oder das Individuum getreten ist. Die Vertreter*innen der Verdrängungsthese zeichnen ein Bild des Todes, wie es insbesondere den charakteristischen Merkmalen des modernen Todes entspricht. Der traditionelle Tod wird ganz von der Tradition der Religion und einer sozialen Gemeinschaft bestimmt. Der moderne Tod zeichnet sich dadurch aus, dass er ganz dem Bereich der Medizin überlassen wird. Im postmodernen Tod schliesslich steht das Individuum im Zentrum des Umgangs mit dem Tod und entscheidet selbst, wie es sterben und bestattet werden möchte. Die Wiederentdeckung des Todes geht also nicht von der Religion oder der Medizin aus, sondern von den Betroffenen, d. h. von Sterbenden und Trauernden.

Mit der These der Wiederbelebung des Todes einher geht die Annahme, dass wir es mit einem gesellschaftlichen Prozess der Individualisierung zu tun haben, der immer wichtiger wird und sich dadurch auch auf den Bereich des Umgangs mit dem Tod auswirkt:

«In a culture of individualism that values a unique live uniquely lived, the good death is now the death that we choose. The good funeral is the funeral that uniquely marks the passing of a unique individual» (Walter 1994: 2).

Die Wiederbelebung des Todes vollzieht sich für Walter in dreifacher Hinsicht:

  1. (1)

    in einer Wiederbelebung des Todes als Thema,

  2. (2)

    über die Bezugnahme auf die Idee, in einer traditionellen ‚natürlichen‘ Art zu sterben (wie sie z. B. in der Hospizbewegung um Cicely Saunders vertreten wurde) und

  3. (3)

    in einer religiösen Wiederbelebung des Todes (ebd.: 3).

Walter beschreibt eine Spannung zwischen zwei zentralen Entwicklungssträngen der Wiederbelebung des Todes, die er als expert (late-modern) strand und radical (postmodern) strand bezeichnet: Einerseits gibt es immer mehr Expert*innen, die sich für neue Formen des Sterbens und Trauerns einsetzen und sich dabei vor allem an psychologischen Modellen orientieren. Andererseits gibt es eine radikale individualistische Entwicklung, bei der die Sterbenden und Trauernden sich ganz auf sich selbst berufen (vgl. Walter 1994: 198).

Für die Wiederbelebung des Todes ist nach Walter schliesslich auch eine Feminisierung des Diskurses charakteristisch. So waren es vor allem Frauen, die in den 60er Jahren die Rationalisierung, Technisierung und Medikalisierung des Todes kritisierten und sich für alternative Formen des Sterbens einsetzten. Cicely Saunders und Elisabeth Kübler-Ross waren wichtige Pionierinnen der Hospizbewegung und Sterbebegleitung, die entscheidend zu einer anderen Wahrnehmung des Todes beigetragen haben (ebd.: 13).

Im Umgang mit dem Tod geht es nach Walter seit den 60er Jahren weniger um die spirituelle Dimension des Umgangs mit der eigenen und fremden Endlichkeit und vielmehr um emotionale Zufriedenheit (ebd.: 22). Die Moderne habe zwar die ökonomischen und sozialen Probleme des Todes gelöst, das emotionale Problem des Umgangs mit dem Tod aber eher noch vergrössert. Eine Antwort auf diesen Widerspruch sei der Rückzug ins Private gewesen, der das Leiden der Sterbenden und Trauernden vor der Öffentlichkeit versteckt habe (ebd.: 23).

Der Rückgang der institutionellen Religiosität und die Technisierung und Professionalisierung des Umgangs mit dem Tod, die mit einer Herauslösung des Todes aus dem Bereich der Nachbarschaft und Familie hin zur Medizin einhergingen, führten mit Einsetzen der Moderne zu einer immer stärker werdenden Verdrängung des Todes (s. schon o.). Nassehi und Weber (1989) vertreten vor diesem Hintergrund die These, dass der Tod in der modernen Sinngebung in der Religion nicht mehr vorhanden sei und dort keinen Platz mehr habe. In der modernen Welt gebe es «kein funktionales Äquivalent für die traditionelle symbolische Sinnwelt» der Religion, so dass der Tod in der modernen Gesellschaft verdrängt werden müsse. Die Sinngebung des Todes müsse das einzelne Individuum nun selbst leisten (vgl. Nassehi/Weber 1989: 165).Footnote 4

Wie man die Thesen von der Verdrängung und der Wiederkehr des Todes auch konkret entwickeln und miteinander verbinden mag, sind sie doch eindrückliche Beispiele für die soziale Konstruktion von Leben und Tod, die auch das Sterben als Übergang von Leben und Tod einschliesst. Soziale Konstruktionen des Todes sind über die Begriffe Leben und Tod als Gegensatzpaar untrennbar miteinander verbunden; ein Begriff ist ohne den anderen nicht bestimmbar. Wie die zitierten Studien zeigen, sind die Begriffe von Leben und Tod dabei einem steten Wandel unterworfen. Ihr Gebrauch sagt sehr viel über den gesellschaftlichen Kontext aus (vgl. Metcalf/Huntington 1991, vgl. Ahn/Miczek/Rakow 2011: 26, vgl. Soeffner 2007).Footnote 5 Als Ende des menschlichen Lebens konfrontiert der Tod alle Menschen, ob religiös oder nicht, mit einer Grunderfahrung von Transzendenz, da er ausserhalb der empirisch-erfahrbaren Wirklichkeit liegt. Transzendenz schliesst unmittelbar an neuere Religionsbegriffe an. Insofern ragt die Sinngebung des Todes nach diesem Verständnis wie von selbst in den Bereich des Religiösen hinein.

Entsprechend ist der Tod ethnologischen und soziologischen Ansätzen immer wieder als ein Problem beschrieben worden, das nur durch religiöse Kategorien erklärt werden kann. Bronislav Malinowski erklärt die Entstehung von Religion sogar aus einer Schwäche, die eigene Sterblichkeit zu akzeptieren (Malinowski 1973). Mit dem Soziologen Niklas Luhmann lässt sich der Tod dem Bereich der Transzendenz zuordnen, der für ihn das System von Religion definiert (s. o.). Der Tod hat seinen Bezugspunkt ausserhalb der erfahrbaren Welt und findet deshalb an der Schwelle von Immanenz und Transzendenz statt. Das Individuum kann den Tod eines Anderen erfahren und so auch den eigenen Tod antizipieren, aber der Tod selbst bleibt im Bereich der Immanenz eine Leerstelle: «Der Sinn des Todes ist ein Problem, an dem sich die Religion zu bewähren hat» (Luhmann 2002: 48). Der Tod kann nicht als Einzelproblem herausgegriffen werden. Er gewinnt nach Luhmann nur im System von Religion an Bedeutung (ebd.: 52). Bei Luhmann lässt sich Transzendenz nicht ohne Religion bestimmen. Konkret zeichnet sich Religion für ihn durch die Leitdifferenz von Transzendenz (Unbestimmbarkeit) und Immanenz (Bestimmbarkeit) aus (vgl. Luhmann 2002: 34). Aufgabe der Religion ist es, Unbestimmbares in Bestimmbares zu überführen (vgl. Luhmann 1997: 78 f). Der Tod gilt Luhmann als Beispiel für Unbestimmbarkeit per se, so dass er nur innerhalb eines Systems von Religion zugänglich gemacht und erklärt werden kann, d. h. bestimmbar werden kann. Anders gesagt: Immer dann wenn der Tod mit sozialen Konstruktionen des Todes erklärbar gemacht werden soll, geht es um Religion – auch wenn der Begriff an dieser Stelle explizit gar nicht auftaucht.

In Hinblick auf den Forschungsgegenstand dieser Arbeit stellt sich deshalb die Frage, ob und wie Transzendenz in gemeinschaftsungebundenen Ritualen sprachlich verhandelt oder anders manifest wird. Ich verstehe Transzendenz dabei als ausserhalb der unmittelbar erfahrbaren empirischen Wirklichkeit liegend. Diese sehr weitreichende Transzendenzdefinition, die nicht nur an Luhmann, sondern auch an den Transzendenz-Begriff von Thomas Luckmann anschliessen kann,Footnote 6 bietet einen wichtigen Anhaltspunkt für ein auch empirisch operationalisierbares Verständnis von Transzendenz, das sich in der Auseinandersetzung mit dem empirischen Material fruchtbar machen lässt. Weitergehende und umfassende theoretische Diskussionen zu dem darauf beziehbaren Religions-Begriff sollen an dieser Stelle aber ausgespart bleiben.

Transzendenz kommt insbesondere auch in Postmortalitätsvorstellungen zum Ausdruck, da sie über den Tod hinausweisen und seine prinzipielle Unbestimmbarkeit durch Konzepte von dem, was danach kommt, bearbeiten: Der Begriff Postmortalität beschreibt einen Zustand nach dem Tod. Die darauf bezogenen Vorstellungen beantworten die Frage, ob der Tod als «Zukunft, Ende, Grenze des erfahrbaren Lebens» zu verstehen ist und wie ein «Danach» aussieht (vgl. Soeffner 2007: 202). Der von mir untersuchte Kontext ist, wie die empirischen Ergebnisse zeigen werden, vornehmlich durch Postmortalitätsvorstellungen der europäischen Religionsgeschichte geprägt. Dazu zählen nicht nur die Vorstellung der «Auferstehung», sondern auch die der «Unsterblichkeit» und der «Reinkarnation/Seelenwanderung/ Wiedergeburt». Sie haben in der europäischen Religionsgeschichte eine weit zurückgehende Tradition (vgl. Ahn 2001: 11). Gregor Ahn bestimmt diese Vorstellungen wie folgt:

  1. «–

    Unsterblichkeit als das potentiell unbegrenzte Fortbestehen eines wesentlichen Teils des Menschen (z. B. der Seele) oder des gesamten Menschen in transformierter Gestalt,

  2. Auferstehung als die Wiedervereinigung der im Tod voneinander getrennten Bestandteile des Menschen, Körper und Seele, in einer jenseitigen Welt zu einem neuen, zeitlich unbefristeten Leben und

  3. Reinkarnation/Seelenwanderung/Wiedergeburt als die mehrfach oder virtuell sogar unbegrenzt häufige Inkorporation eines Individuums oder wesentlicher Anteile der Persönlichkeit des Verstorbenen» (Ahn 2001: 11).

Postmortalitätsvorstellung wie die hier skizzierten sind typische Beispiele dafür, wie durch soziale Konstruktionen die Endgültigkeit und die Unbestimmbarkeit des Todes durch religiöse Sinnstiftung bearbeitet und aufgelöst werden können. Sie überführen in diesem Sinne Transzendenz in Immanenz. In den empirischen Studien wird zu fragen sein, ob ein vergleichbarer Umgang mit der Transzendenz des Todes auch in den von mir untersuchten Todesritualen feststellbar ist, was eben auch die Postmortalitätsvorstellungen betrifft (s. dazu speziell u. 7). Dass in diesem Kontext Veränderungen zu erwarten sind, belegen Erhebungen über Glaubensorientierungen von Kirchenmitgliedern für den Kontext Westeuropas, aus denen hervorgeht, dass neben der Auferstehung vermehrt auch andere Postmortalitätsvorstellungen von den Anhänger*innen der Kirchen nicht ausgeschlossen werden. So geben kirchliche Erhebungen Aufschluss darüber, dass auch Mitglieder*innen protestantischen Glaubens die Idee der Unsterblichkeit z. B. statt mit der Auferstehung mit Reinkarnationsvorstellungen kombinieren (vgl. Zander 1999: 598–602, vgl. Ahn 2001: 33, vgl. Knoblauch 2011: 172–175). Daneben kann auch an zahlreichen anderen Beispielen beobachtet werden, dass überweltliche Begriffe wie «Himmel» und «Seele» immer mehr Eingang in einen innerweltlichen Kontext finden und dabei neu interpretiert und verortet werden (vgl. Ahn 2001: 35, Quartier 2009a).

2.2 Klassische Studien zu Todesritualen: Übergangsrituale (rites de passage)

Die klassischen Ritualtheorien von Arnold van Gennep und Victor Turner sind heute noch die wichtigsten Referenzgrössen für das Verständnis von Todesritualen. Sie werden auch im Feld selbst vielfältig rezipiert.

Grundlegend für das Verständnis von Todesritualen als Übergangsrituale ist die Vorstellung des Todes als Übergang in einen anderen Bereich, mit dem die menschliche Endlichkeit überschritten wird und der in Jenseitsvorstellungen und rituellen Handlungen thematisiert wird (vgl. z. B. Hertz 1907, van Gennep 1986 [1909], Bloch 1971, Metcalf/Huntington 1991).

Übergangrituale (rites de passage) bestehen nach van Gennep (1909) aus drei Phasen:

  1. (1)

    Trennung von einem Status (Separation),

  2. (2)

    Übergangszustand (Transition) und

  3. (3)

    Eingliederung in einen neuen Status.

Zu jeder dieser Phasen beschreibt van Gennep wiederum einzelne Rituale: Trennungs-, Umwandlungs- und Angliederungsrituale. Bezogen auf Bestattungsrituale lassen sich die einzelnen Phasen wie folgt anwenden: Es gibt ein oder mehrere Ritual(e) zur Trennung der Toten von den Lebenden, aber auch der Lebenden von der Toten (Phase 1); es gibt Rituale, die den Übergang vom Leben zum Tod verdeutlichen (Phase 2), und es gibt Rituale, die die Lebenden in das (Weiter-)Leben ohne die Toten entlassen (Phase 3). Es wird sich zeigen, dass die Sichtbarmachung von Übergängen in gegenwärtigen Todesritualen von zentraler Bedeutung ist, was auch damit zu tun hat, dass die klassischen Ritualtheorien auch von den Akteur*innen selbst rezipiert werden (s. u. 8.4.1).

Neben van Gennep’s Theorie findet bis heute Victor Turner’s Ritualtheorie von 1969 (The ritual process – structure and antistructure) eine breite Rezeption, da sie die Performanz des Übergangs sehr stark verdeutlicht. Victor Turner hat sich in seinen Untersuchungen vor allem auf die zweite Phase, den Übergangszustand, konzentriert und diese Phase als „liminale“ Phase (Zwischen-Phase) beschrieben. Der liminalen Phase schreibt er eine Antistruktur zu, die im Gegensatz zur alltäglichen gesellschaftlichen Struktur steht und in der die ansonsten gültigen üblichen sozialen Strukturen und üblichen Rollen aufgehoben werden. In dieser Phase findet sozialer Wandel statt. Oftmals wird die liminale Phase durch einen symbolischen Tod und durch Wiedergeburt versinnbildlicht (vgl. Turner 1967; 1969). Wichtig in dieser Theorie sind die Begriffe Limitas (Schwellenphase) als Phase des Chaos und der Entstehung von Communitas (Gemeinschaftsgefühl). Das Gemeinschaftsgefühl steht in der Phase des Übergangs im Mittelpunkt und wird als solches von den Beteiligten erfahren. Communitas und Limitas verkörpern die transformative Kraft eines Rituals. Die Idee der Übergangsrituale und vor allem der Communitas und der Limitas haben auch ausserhalb von Lebensübergängen verbreitet Anwendung gefunden. Turner selbst bezieht sie auch auf vielfältige gesellschaftliche Veränderungen, sofern sie durch Umbrüche gekennzeichnet sind (vgl. Turner 1982).

In der breiten Anwendung und relativen Vagheit der Konzepte von Turner liegen zugleich die Stärke und die Schwäche dieses Ansatzes. Das Verdienst liegt in der Fokussierung auf die «Gestaltungskraft ritueller Prozesse, die individuelle und kollektive Kreativität freisetzen» (Bräunlein 2012: 157). An diesem Punkt setzen auch viele freie Rituale an, wie im empirischen Teil noch deutlich wird (s. u. 49).

Auch Emile Durkheim und sein Schüler Robert Hertz haben die soziale Bedeutung der Todesrituale für den Zusammenhalt einer sozialen Gemeinschaft betont. Schon in den «elementaren Formen des religiösen Lebens» von 1912 geht Durkheim auf die soziale Bedeutung des Trauerns ein. Bemerkenswert ist hier die Beobachtung, dass Trauern und emotionale Betroffenheit nicht automatisch miteinander verbunden sein müssen. Die Trauer ist, so Durkheim, nicht in erster Linie der direkte Ausdruck einer emotionalen Betroffenheit, sondern sie dient als soziale Praxis vor allem der Herstellung von Gemeinschaft im Sinne einer Solidarität gegenüber der Gruppe, deren Zusammenhalt durch den Verlust eines Mitgliedes gefährdet ist (vgl. Durkheim [1912] 1981: 538). Insofern gibt es eine soziale Erwartung des Trauerns, die sich nicht an die eigene Betroffenheit wendet, sondern daran, diese nach aussen zu demonstrieren und die deshalb als Pflicht erlebt werden kann:

«Man klagt nicht, weil man traurig ist, sondern weil man die Pflicht hat zu klagen. Es handelt sich um eine rituelle Haltung, die man aus Respekt für den Brauch anzunehmen verpflichtet ist, die aber in starkem Maβ unabhängig ist vom Gefühlszustand des Individuums» (Durkheim [1912] 1981: 532).

Die Handlungen der Trauernden stärken das Gemeinschaftsgefühl der Gruppe, so dass der Zusammenhalt wiederhergestellt werden kann (vgl. Durkheim [1912] 1981, 532–540). Robert Hertz, ein Schüler von Durkheim, knüpft in seinem Essay «Contribution à une étude sur la représentation collective de la mort» (1907) am Beispiel der Doppelbestattung in Indonesien (Borneo) an den Gedanken der Gefährdung der Gemeinschaft durch den Tod an. Der Tod ist nach Hertz ein Ereignis, bei dem sich Körper, Seele und Gesellschaft neuformieren. Vom toten Körper, dem Leichnam, geht zunächst eine biologische, eine soziale und eine psychologische Bedrohung aus. Um dieser Bedrohung etwas entgegenzusetzen, wird die von Hertz beobachtete Praxis der Doppelbestattung vollzogen, bei der der Leichnam von der Gemeinschaft zunächst entfernt wird (Desintegration). Darauf erfolgt eine Trauerzeit, und mit der Endbestattung wird der Verstorbene dann in die Welt der Ahnen überführt und damit in die Gemeinschaft zurückgeholt (Synthese). Der Tod erschüttert also die Grundlage der Gesellschaft (vgl. Hertz 2007 [1907]: 154). Um die Gesellschaft nicht dauerhaft zu bedrohen, werden Reinigungsriten durchgeführt, die am Leichnam erfolgen. Die rituellen Handlungen am Leichnam dienen nicht nur der Beseitigung des toten Körpers, sondern sie bedingen symmetrisch dazu, dass die Seele den Körper verlassen kann und die Trauernden von ihrer Trauer befreit werden. Zunächst muss der Leichnam beseitigt werden, da er eine Gefahr darstellt. Deren äusserliches Anzeichen ist der Leichengeruch, der durch seine unmittelbare Wahrnehmbarkeit an die Möglichkeit eines weiteren Todes erinnert. Der Übergang wird dabei durch die Praxis der Doppelbestattung sichtbar am Leichnam vollzogen. Die erste Bestattung dient der Entfernung des Leichnams aus der Gesellschaft (Desintegration), und erst über die zweite Bestattung findet dann die Verbindung der Verstorbenen zu den Ahnen, also eine Synthese statt (vgl. Hertz 2007 [1907]: 160). Die Gemeinschaft konstituiert sich zwischen beiden Bestattungen neu. Die Endbestattung stellt zugleich den Übergang der Seele des Verstorbenen zu den Ahnen wie auch die Beendigung des Trauerprozesses für die Hinterbliebenen dar (ebd.). Das Ritual wendet sich also an Verstorbene und Hinterbliebene gleichermassen.

An die Überlegungen von Hertz hat Alois Hahn in einer soziologischen Studie von 1968 angeknüpft. Inspiriert von Hertz beschreibt er den Doppelcharakter der Leiche und entwickelt diese Idee weiter. Im Original bei Hertz heisst es:

«Der Tod beschränkt sich nicht darauf, der sichtbaren körperlichen Existenz eines Lebenden ein Ende zu setzen; er zerstört zugleich das soziale Dasein, das die physische Individualität überlagert und dem das kollektive Bewusstsein [conscience collective] eine mehr oder weniger groβe Bedeutung und Würde verleiht» (Hertz 2007 [1907]: 152).

Nach Hahn wird die Persönlichkeit des Verstorbenen in Anwesenheit des Leichnams noch einmal als vorhanden erlebt und dadurch über den toten Körper zugleich mitvergegenwärtigt: «Der Leichnam ruft die Vorstellung einer Persönlichkeit hervor und macht die Person appräsent» (Hahn 1968: 4). Obwohl das Leben eines nahen Angehörigen zu Ende gegangen ist, ist seine Person noch «appräsent» und damit noch in unseren Vorstellungen und Handlungen gegenwärtig: «Der Leichnam repräsentiert für die Hinterbliebenen die Persönlichkeit des Verstorbenen, an den man sich erinnert, auf den man handlungsmäßig eingestellt ist und in der Regel auch noch für eine Weile bleibt». Aus dieser Perspektive ist der Leichnam für die soziale Funktionalität des Todesrituals als Übergangsritual nicht nur eine Bedrohung (s. o.), sondern zugleich auch eine Chance und Ressource der Vergegenwärtigung eines Mitglieds der sozialen Gemeinschaft.

Die Studien von Hertz und Hahn werden hier herausgegriffen, weil darin die Bestattung als Beseitigung des toten Körpers und als Ende bzw. Transformation der personalen Identität zum Ausdruck kommt und weil der Umgang mit dem toten Körper und die daraus resultierenden Implikationen für den Trauerprozess von den von mir interviewten Ritualleiter*innen breit reflektiert werden (s. u. 7, 8 und 9).

Hier zeigt sich ein Zusammenspiel von Biologie und Gesellschaft, das für die Übergangsrituale offenbar von grosser Bedeutung ist, weil durch das Ritual eine Veränderung des Körpers (die auch sinnlich unmittelbar wahrnehmbar ist, s. o.) auch als Veränderung der Gemeinschaft, d. h. als soziale Veränderung erlebt und erfahren werden kann. Todesrituale dienen also nicht primär dazu, den Umgang mit dem toten Körper zu regulieren, sondern dazu, einen sozialen Übergang zu vollziehen und dadurch für die Beteiligten erfahrbar zu machen:

«Ceremonies must transform the corpse into a properly deceased person; death is only the necessary condition for the departure from the world of the living» (Myerhoff 1982: 109).

Nach dieser Vergewisserung der Bedeutung von Todesritualen als Übergangsritualen sollen im Folgenden Veränderungen von Todesritualen beschrieben werden, die näher an den aktuellen Gegenstandsbezug meiner Studie heranführen.

2.3 Veränderungen von Todesritualen

Metcalf und Huntington argumentieren in ihrer vergleichenden anthropologischen Studie Celebrations of Death (1991) zusammenfassend, dass sich daran, wie eine Gesellschaft rituell mit dem Tod umgeht, wichtige soziale und kulturelle Werte dieser Gesellschaft ablesen lassen (vgl. Metcalf/Huntington 1991: 25). Diese Einsicht ist für den Zusammenhang von gesellschaftlichen Werten und Veränderungen von Todesritualen relevant; es gibt empirische Belege dafür, dass sich gesellschaftliche Veränderungen des sozialen und kulturellen Wertesystems konkret in Veränderungen im Umgang mit dem Tod, d. h. in der Gestaltung und Performanz von Todesritualen manifestieren. Obwohl es in dieser Untersuchung schwerpunktmässig um gemeinschaftsungebundene Todesrituale geht, lässt sich festhalten, dass sich solche Veränderungen auch in Todesritualen innerhalb einer religiösen Gemeinschaft zeigen. In den letzten Jahren sind deshalb Todesrituale und ihre aktuellen Veränderungen in vielen unterschiedlichen geographischen und institutionellen Kontexten in sozialwissenschaftlichen Studien zum Thema gemacht worden (vgl. hierzu die Sammelbände von Garces-Foley 2006, Jacobsen 2013, Venbrux 2013, die für meine eigene Studie unmittelbar relevant sind und eine genauere Verortung erlauben).

Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive sind hier z. B. Arbeiten zu einer «alternativen» Trauerkultur zu nennen, die sich mit Veränderungen von Bestattungen seit den 80er Jahren (ausgelöst u. a. durch die Hospizbewegung und durch die Verbreitung der Infektion mit dem HIV-Virus: vgl. Lüddeckens 2015: 212) auseinandersetzen (vgl. Sörries 2008, 2011), aber auch weiter zurückgreifende Arbeiten aus kulturhistorischer Perspektive (vgl. Fischer 1997, 2001, 2011). Anders als in diesen Arbeiten geht es in der vorliegenden Arbeit aber nicht um die Frage nach einem gesellschaftlichen Wandel der Bestattungskultur, wie er sich seit den 90er Jahren abzeichnet (vgl. Sörries 2008, vgl. Fischer 2003: 225–238). Neu aufgekommene Besonderheiten der Friedhofs- und Bestattungskultur wie z. B. Gräberarten, Friedwälder und Aschediamanten stehen für sich genommen ebenso wenig im Mittelpunkt wie der postulierte Wandel der Friedhofs- und Bestattungskultur im Allgemeinen. Auch geht die vorliegende Arbeit nicht automatisch von einem Wandel, sondern auch von einer Kontinuität der Bestattungskultur aus, wie sie sich z. B. über die genaue Analyse der gemeinschaftsungebundenen Todesrituale zeigen lässt (s. u. 69).

Zu nennen sind im vorliegenden Zusammenhang auch die z. T. schon erwähnten Arbeiten von T. Walter (s. o. 2.1), in denen sich der Autor mit Organisationsformen von Bestattungen und Veränderungen in den professionellen Aufgabengebieten und Zuständigkeiten der Bestattung und Begleitung der Toten und Trauernden in Europa, Japan und Nordamerika auseinandergesetzt hat (vgl. Walter 2005, 2012, 2015, 2017) und auf die ich bei der Beschreibung meiner Datengrundlage noch zurückkommen werde, weil sie zu den Rahmenbedingungen der von mir untersuchten Todesrituale gehören (s. u. 4).

Weiter sei an dieser Stelle auf Arbeiten hingewiesen, zu denen sich hinsichtlich bestimmter Beobachtungen Überschneidungen zu meinen Befunden ergeben. So gehören zu den weitreichenden Veränderungen des Umgangs mit dem Tod in dem von mir untersuchten Deutschschweizer Kontext Veränderungen des Umgangs mit Emotionen (auch in Bezug auf Trauer s. u. 11) und die Betonung des Wertes von Autonomie bei der Wahl der Art des Bestattungsrituals (s. u. 9.4.2). In diesen Punkten ergeben sich Überschneidungen zu den Beobachtungen bei Myerhoff, die darauf hinauslaufen, dass moderne Übergangsrituale immer mehr in den Bereich des Privaten gedrängt werden (vgl. 1982: 126, 129), was auch an anderen Stellen konstatiert worden ist. So beschreibt auch Walter einen Bedeutungsverlust traditioneller Rituale zugunsten eines Bedeutungszuwachs privater Trauernormen, die sich losgelöst von Ritualen und institutionellen Regeln finden, deswegen aber nicht weniger reguliert sind (s. dazu schon o. 2.1 die Ausführungen zum «postmodernen Tod» nach Walter). Angeführt wird z. B. die Norm, dass die Trauer eine gewisse Expressivität erhalten, aber nur über einen beschränkten Zeitraum erfolgen solle (vgl. Walter 1999: 148–152). Und auch Jakoby et al. stellen mit Bezug auf gegenwärtige Entwicklungen eine Tendenz zur Emotionalisierung der Trauer fest, der für sie in einem Wandel von Verhaltens- zu Gefühlsnormen besteht (2013: 254), was in einem Widerspruch zu der bei Durkheim betonten sozialen Relevanz der Trauer steht, für die gerade nicht die Gefühle selbst, sondern die soziale Verpflichtung zur Trauer im Zentrum standen (s. o. 2.2). Auch in den von mir untersuchten freien Bestattungsritualen in der Deutschschweiz lässt sich eine Emotionalisierung in Form der Betonung privater Trauernormen als Bestandteil des Rituals beobachten (s. u. 11). In diesem Sinne könnte man auch davon sprechen, dass die (z. T. öffentlichen) Rituale privater werden. Dazu passt auch die von verschiedenen Autor*innen konstatierte Entwicklung zu sogenannten life-centred funerals, in denen das Leben und die Einzigartigkeit der Verstorbenen im Zentrum stehen, womit nicht nur eine Individualisierung, sondern auch eine Privatisierung des Rituals einhergeht (vgl. Walter 1994: 175, Bailey/Walter 2015; s. auch o. 2.2 die Hinweise auf die zunehmende Vielfalt von Postmortalitätsvorstellungen bei Kirchenangehörigen). Ich komme darauf abschliessend noch zurück, wenn ich meine Beobachtungen zur Flexibilität der Todesrituale in den grösseren Kontext gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen stelle, wie sie unter den Stichworten Emotionalisierung, Individualisierung, Psychologisierung und Therapeutisierung diskutiert werden (s. u. 11).

Freie Bestattungsrituale sind nicht nur aus kulturwissenschaftlicher und soziologischer Perspektive untersucht worden, sondern auch aus theologischer Sicht. So setzen sich Hermelink (2000), Kramer Abebe (2000) und Fincke (2004) mit den Anbieter*innen freier Bestattungsritualen auseinander. Kramer Abebe und Fincke haben dabei auch die Szene der freie Ritualleiter*innen und Redner*innen in der Schweiz analysiert. Die Veränderungen kirchlicher Todesrituale haben vor diesem Hintergrund auch damit zu tun, dass Kirchenmitgliedschaft und Inanspruchnahme von Bestattungsritualen nicht mehr zwingend zusammenfallen, dass, allgemein gesagt, immer weniger Menschen auch Mitglieder von Kirchengemeinden sind. Die Trauergemeinschaften werden deshalb zunehmend heterogener; auch ehemalige Mitglieder, die aus der Kirche ausgetreten sind, und kirchenferne Personen nehmen an den Trauerfeiern teil, so dass nicht mehr wie selbstverständlich von einer Einbettung der Teilnehmer*nnen in eine religiöse Gemeinschaft ausgegangen werden kann. Theolog*innen werden so gesehen vor die Aufgabe gestellt, ihr traditionelles kirchliches Bestattungsritual zu reflektieren und mit individuellen Wünschen zur Gestaltung des Rituals in Einklang zu bringen, so dass auch in diesem Kontext mit Erwartungen einer Individualisierung des Rituals zu rechnen ist (vgl. Bieritz 2008, Klie 2008, 2015 et al., Fechtner 2015, Grethlein 2015, Kunz 2015, Morgenthaler 2015, Schlag 2015, Weyel 2015). Bei Brouwer 2015 wird beispielsweise konkret diskutiert, ob der/die Verstorbene aus theologischer Sicht mit «du» angesprochen werden dürfe und welche Implikationen damit verbunden sind. In der liturgischen Regulierung der evangelischen Bestattungspraxis (z. B. in Form spezieller Agenden) ist dies nicht vorgesehen, da sich die Bestattungsfeier vor allem an die Trauernden zu richten habe. Aus seelsorgerlicher Verantwortung spricht sich Brouwer aber dafür aus (vgl. 2015: 240).Footnote 7 Diese Arbeiten sind für mich interessant, weil das Phänomen freier Bestattungsrituale von theologischer Seite schon früh aufgegriffen wurde und die Ausführungen zu den Veränderungen kirchlicher Rituale deutlich machen, worin die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu freien Todesritualen und den von mir beschriebenen Entwicklungen bestehen.

Zahlreiche Untersuchungen zeigen zudem, dass Veränderungen von Bestattungsritualen oftmals allgemeiner Natur sind, also sowohl in gemeinschaftsgebundenen (z. B. vgl. Brouwer 2015) als auch in gemeinschaftsungebundenen Kontexten anzutreffen sind. Damit nähern sich gemeinschaftsgebundene und gemeinschaftsungebundene Rituale einander an. In beiden Kontexten kommen Elemente vor, die sowohl religiös als auch säkular gedeutet werden können (vgl. Quartier 2009, Wojtkowiak et al. 2010, Mathijssen 2013, 2017). Die oft anzutreffende Rede von alternativen Bestattung(sritual)en ist daher irreführend, wenn damit einseitig auf Phänomene ausserhalb der kirchlichen Bestattungskultur aufmerksam gemacht werden soll (vgl. Sörries 2008, Schäfer 2011). Zur Beschreibung des Feldes gegenwärtiger Bestattungsrituale erscheint mir die Typologie von Holloway et al. (vgl. 2013: 2) treffender. Sie beschreiben einen traditionellen Typus, der sowohl religiös(er) als auch säkular(er) sein kann, einen alternativen, individuell massgeschneiderten Typus, der durch feierliche Events gekennzeichnet ist (Eventisierung), und einen technologischen Typus, bei dem eine hochtechnisierte und rationalisierte Form der Bestattung des Körpers im Fokus steht (wobei bei den Autor*innen die Grenzen zwischen Bestattungshandwerk und –ritual nicht immer klar zu ziehen sind). Die Studie von Holloway et al. ist für mein Vorhaben wichtig, insofern hier die gleichen Erhebungsmethoden gewählt wurden, die auch meiner Studie zugrunde liegen. Die Daten bestehen aus Beobachtungen von Bestattungen sowie aus Interviews mit Ritualleitenden und Angehörigen (in diesem Fall Familien) (vgl. 2013: 31). Aus den Befunden geht hervor, dass die Bestattungen eher celebrations of life (Feiern des Lebens) sind und weniger im klassischen Sinn einen Übergang symbolisieren (ebd.. 35), was zu der auch bei Walter festgestellten Tendenz zu life-centered funerals passt (s. o.). In Abgrenzung zu Holloway et al. konzentriert sich meine Untersuchung vor allem auf Todesrituale, die stark ritualisiert sind. Dabei hat sich gezeigt, dass sich die freien Rituale tatsächlich auch symbolisch mit dem Tod und dem Übergang in einen anderen Zustand auseinandersetzen, dafür aber andere Deutungsmuster wählen als traditionelle Rituale (s. dazu u. konkret 69); der von Holloway et al. aus meiner Sicht sehr passend so genannte «individuell massgeschneiderte Typus des Bestattungsrituals» kommt in dem von mir untersuchten Deutschschweizer Kontext nicht ohne Thematisierungen und Manifestationen von Transzendenz aus, umfasst also mehr als nur eine Feier des Lebens.

Meine am Beispiel der Deutschschweiz vorgenommenen Beobachtungen weisen in dieser Hinsicht viele Überschneidungen mit Studien auf, die sich auf die Situation in den Niederlanden beziehen. In den Niederlanden wurden sowohl kirchliche als auch nichtkirchliche Bestattungsrituale hinsichtlich der zugrundeliegenden Konzepte und vorfindbaren Praktiken untersucht. Die Studien von Mathijssen für kirchliche und nichtkirchliche Rituale (2013), von Quartier für katholische Rituale (2009) und von Venbrux zu Gedenkritualen (2012) haben ergeben, dass in allen Ritualen gleichermassen individuelle und kollektive Deutungsressourcen vorkommen. Dabei fällt besonders auf, dass Stabilität und Wiederholbarkeit (routinization) auch in nichtkirchlichen freien Ritualen wichtige Elemente sind (vgl. Mathijssen 2013: 151). Mathijssen (2017) hat mit einem mixed methods-Forschungsdesign gegenwärtige rituelle Praktiken und Glaubensvorstellungen der Trauernden in den Niederlanden untersucht. Die Beobachtungen sind sehr nah an meiner eigenen Untersuchung, insofern das theoretische Konzept des «situational belief», mit dem die empirischen Ergebnisse diskutiert werden, sehr gut die Perspektive der Trauernden abbildet. Ähnliche Beobachtungen wurden auch in meiner Studie gemacht. Die Arbeit verortet sich aber anders als meine Arbeit viel stärker in der Tradition der «death studies» (s. o. 2.1) und unterscheidet sich vor allem in ihrem methodologischen und methodischen Zugriff von der an der rekonstruktiven Sozialforschung orientierten Vorgehensweise in dieser Arbeit (s. dazu u. 5). Quartier arbeitet für den niederländischen Kontext heraus, dass in katholischen Bestattungsritualen Symbole und Praktiken vorzufinden sind, die sowohl persönlicher als auch religiöser Art sind. Transzendenz und Immanenz sind dabei mögliche Ausprägungen des gleichen rituellen Bedeutungszusammenhangs. Er bezeichnet diese Bewegungen zwischen Säkularität und Religiosität als rituelle Pendelbewegungen (vgl. Quartier 2009: 201). Diese metaphorische Beschreibung erfasst auch viele meiner Beobachtungen sehr treffend. Neue rituelle Praktiken im Kontext des Todes werden ebenfalls von Venbrux für den niederländischen Kontext untersucht. Er hat die Neuerfindung von Allerheiligen beobachtet, ein traditionell kirchlicher Anlass des Totengedenkens, der mit einer neuen individuellen und kollektiven Praxis als nicht länger kirchlich gebundenes Gedenkfest wiederbelebt wird (vgl. Venbrux 2012: «re-invention»). Diese in den Niederlanden entstandenen Studien zeigen auf exemplarische Weise auf, dass wir es mit den Veränderungen der Todesrituale offenbar mit einem nicht auf einzelne Regionen begrenzten Phänomen zu tun haben, sondern Spuren eines auch regional wie gesamtgesellschaftlich übergreifenden Phänomens finden.

Das gilt offenbar auch religionsübergreifend. So hat Venhorst in muslimischen Ritualen in der niederländischen Diaspora lebenszentrierte muslimische Rituale beobachtet, in denen «lived eschatologies» zum Ausdruck kommen (vgl. Venhorst 2013: 71–93). Venhorst/Venbrux/Quartier haben in einer früheren Untersuchung zur niederländischen Diaspora zudem verschiedene Ebenen des Ritualtransfers bei islamischen Todesritualen beobachtet (vgl. 2011: 185). Sie stellten in einer heterogenen Gruppe von Muslimen einen Ritualtransfer auf verschiedenen Ebenen fest, zu denen sie «time, objects, languages, sounds, senses, commentary criticism» zählen (ebd.).

Auch für den Buddhismus sind in ausgewählten Regionen neue Herausforderungen in der Gestaltung von Bestattungsritualen festgestellt worden. Religiöse, politische, soziale und ökonomische Entwicklungen haben so etwa zur Entstehung von neuen Bestattungspraktiken in Japan beigetragen (vgl. Rowe 2011: 2). Rowe zeigt, dass sich im Umgang mit den Toten in Japan eine fundamentale Herausforderung für den japanischen Buddhismus ergeben hat (ebd.): Sich verändernde Lebensformen stellen das traditionell buddhistische Familiengrab in Japan in Frage und führen zu einer steigenden Nachfrage von neuen Bestattungsformen und zu neuen Umgangsformen mit Tempeln, die auf individueller Wahl und weniger auf Verpflichtung basieren (ebd.: 4).

Abschliessend soll im Folgenden noch spezieller auf die religionswissenschaftliche Perspektive auf Bestattungsrituale eingegangen werden, weil innerhalb dieser Perspektive ein ritual- und diskurstheoretischer Fokus gesetzt wird und die vorliegende Studie aus diesem Kontext hervorgegangen ist.

In der deutschsprachigen Religionswissenschaft sind Veränderungen von Bestattungen mehrfach und unter unterschiedlichen Perspektiven untersucht worden (vgl. Heller/Winter 2007, Kirsch 2007, Krüger 2007). Kirsch untersuchte vor allem Bestattungsinstitute und -redner*innen sowie die Diskurse, die innerhalb des sich wandelnden Umgangs mit dem Tod vorherrschen. Krüger untersuchte ritualökonomische Veränderungen.

Im internationalen Kontext zeigen sich auch in diesem Zusammenhang wieder weitreichende Überschneidungen mit meinen eigenen Beobachtungen. So hat Garces-Foley (2003) für den US-Amerikanischen Kontext in einer Untersuchung über nichtkirchliche Rituale mit Bezug auf das Spannungsfeld von ritueller Praxis, Ansprüchen der Ritualleitenden und Ansprüchen der Ritualteilnehmenden ähnliche Beobachtungen gemacht, wie sie in den für meine Studie unmittelbar relevanten Arbeiten von D. Lüddeckens berichtet werden (s. u.). Beobachtet wurden einerseits der informelle Charakter und die Betonung von Spontaneität in freien Ritualen, andererseits eine hoch standardisierte Ritualstruktur. Zudem finden sich neben der Fokussierung des Rituals auf das Diesseitige, das Leben der Verstorbenen (life-centred, s. o.) auch in nichtkirchlichen Ritualen geteilte Glaubensvorstellungen. Diese können sich in Postmortalitätsvorstellungen unterschiedlichster Art äussern, z. B. als persönlicher Unsterblichkeitsglaube, in einem Glauben an Gott oder in der von den Anwesenden geteilten Bedeutung der Führung eines ethisch verantwortlichen Lebens (vgl. Garces-Foley 2003: 287).

Auch auf die Rolle der Ritualleiter*innen (die in meiner Studie zentral sind, s. u.) gehen einige Arbeiten verstärkt ein. Für den britischen Kontext diskutiert Walter unterschiedliche Teilnehmerrollen zwischen Ritualleitung, Trauernden und Verstorbenen (vgl. Walter 2004). Er beschreibt die modernen professionellen AkteurInnen in diesem Feld (death work) als Mediator*innen zwischen den Toten und den Hinterbliebenen (ebd.: 384). Macdonald (2011) hat mit Bezug auf die Situation in Neuseeland eine Studie über Ritualleitende vorgelegt, die sie «ritual-makers» nennt und denen sie eine besondere Expertise für die vorherrschenden Rituale ihres gesellschaftlichen Kontextes zuschreibt. Sie konstatiert ein verstärktes Interesse an «ritual-making» seit den 70er Jahren; die Ritualleitenden bemühen sich um eine Orientierung an den Glaubensvorstellungen der Teilnehmenden. Dabei geht es aber nicht primär um Individualisierung (s. schon o.) im Sinne einer Orientierung an einzelnen Personen, sondern darum, vorhandene spirituelle und religiöse Perspektiven und Elemente im rituellen Rahmen zu reflektieren, die von den Kund*innen mitgebracht werden, aus verschiedenen kulturellen und religiösen Traditionen stammen und explizit eingefordert werden. Gewünscht werden, so das Ergebnis, gemeinschaftsungebundene, unabhängige, durch eine*n Ritualleiter*in geführte Rituale. Christliche Glaubenssysteme können dabei offenbar bewusst inkorporiert werden, aber auch unbewusst einfliessen (vgl. Macdonald 2011: 26 f). Christliche Elemente werden im Ritual als Teil des kulturellen Erbes verwendet und weniger als unmittelbarer Ausdruck religiöser Überzeugungen der Teilnehmenden. Die Intention der Ritualleiter*innen sei zwar, die Glaubensvorstellungen der Klient*innen auszudrücken, tatsächlich würden die Rituale aber typischerweise eine Kombination von Glaubensvorstellungen der Ritualleiter*in und der Klient*innen darstellen (ebd.). Diese Studie ist ein weiterer anschaulicher Beleg dafür, dass die in dieser Studie beobachteten Veränderungen in Todesritualen bei allen Unterschieden und Variationen regional und national übergreifende, ‘globale’ gesellschaftliche Prozesse spiegeln.

Die systematische religionswissenschaftliche Untersuchung freier Bestattungsrituale in der Deutschschweiz steht allerdings noch in ihren Anfängen. Neben den Arbeiten von D. Lüddeckens (2015a und b, 2018), an die meine Studie unmittelbar anschliesst (s. u.), finden sich weitere vereinzelte Beiträge, die aber über eine beschreibende Bestandsaufnahme kaum hinausgehen, jedoch das Feld schon seit seinen Anfängen beschrieben haben (vgl. Caduff 1999, Fincke 2000, Kramer Abebe 2000, Halter 2007). Die Angebote von freien Ritualleitenden werden in diesen Studien im Kontext von individualisierten Bestattungswünschen betrachtet. Mit Bezug auf die Anbieter*innen der freien Ritualleitung in der Deutschschweiz wird bei Halter das (inzwischen nicht mehr bestehende, aber für die Entwicklung des Felds sehr wichtige) «Ritualnetz» aufgeführt, zudem der Verband Freischaffender Theolog*innen sowie ganzheitlich orientierte Bestattungsunternehmen (vgl. Halter 2007: 232–234). Inzwischen hat sich das Feld der Ritualleitenden noch weiter ausdifferenziert (s. dazu u. ausführlicher 4).

Mein eigenes Forschungsinteresse an Todesritualen ist aus einem von Dorothea Lüddeckens initiierten und geleiteten Forschungsprojekt hervorgegangen, in dem Interviews mit Ritualleiter*innen geführt wurden und in dem ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin mitgearbeitet habe (vgl. zum Projekt Lüddeckens 2015a und 2015b, 2018). Aus diesem Forschungsprojekt ergab sich meine eigene Untersuchung, in der weitere Daten erhoben wurden und die bereits erhobenen Interviews vertieft analysiert wurden.

Mein Forschungsvorhaben zu den gemeinschaftsungebundenen freien Ritualen knüpft vor allem an die Arbeiten von Lüddeckens zu den Wirkungszusammenhängen von ritueller Praxis und ihren Konzeptionen im Kontext von Bestattungsritualen ausserhalb einer religiösen Gemeinschaft an (vgl. Lüddeckens 2015a, 2015b, 2018). In diesen Arbeiten werden Fragen von „ritueller Selbstermächtigung und struktureller Flexibilität“ in freien Bestattungsritualen im deutschen und deutsch-schweizerischen Kontext diskutiert. Dabei werden im Hinblick auf die Selbstpräsentationen der Ritualleitenden folgende Konzepte herausgearbeitet: Freiheit von Institutionen und Konzepten, Anleitung zur Selbstermächtigung der Ritualteilnehmenden, Individualität sowie Kreativität, Sinnlichkeit und Natur sowie Vorstellungen von Verbundenheit der Toten mit den Hinterbliebenen über den Tod hinaus und Emotionalität (ebd.: 110–117). Allerdings konzentriert sich Lüddeckens empirisch auf die Analyse von Ratgeberliteratur und Selbstpräsentationen. Die Grundlage meines Vorhabens stellen dagegen die Rituale selbst sowie Interviews mit den Beteiligten (Ritualleitenden und Kund*innen) dar, wobei der Schwerpunkt auf den Positionierungen der Ritualleitenden liegen wird (s. ausführlicher dazu u. 4 und 5). Die vorliegende Untersuchung kann die bereits publizierten Befunde auf einer breiten empirischen Basis weiter vertiefen, unter Einbeziehung der Positionierungen der Ritualleitenden methodologisch erweitern und damit Grenzen und Freiräume von freien Ritualen noch weiter ausleuchten.

2.4 Psychologisierung und Therapeutisierung

In den gemeinschaftsungebundenen Ritualen spielen auch Psychologisierung und Therapeutisierung eine grosse Rolle, wie auch die empirischen Ergebnisse zeigen werden. Diese Konzepte werden hier herangezogen, da sich damit auch die Frage erörtern lässt, inwiefern Religiosität und Religion in den gemeinschaftsungebundenen Todesritualen vorkommen.

Mit diesen Konzepten einher geht die Annahme eines Wandels von Religion, in dem die menschliche Psyche im Zentrum steht. Daher werde ich zunächst in Anlehnung vor allem an die religionswissenschaftlichen Arbeiten von Markus Hero relevante sozialstrukturelle Entwicklungen von Psychologisierung und Therapeutisierung von Religion skizzieren (2.4.1) und danach auf Religionskonzepte eingehen, die in einem engen Zusammenhang zu Psychologisierung und Therapeutisierung von Religion stehen bzw. wo durch die Hervorhebung des Aspektes der Erfahrbarkeit von Religion leicht ein Zusammenhang hergestellt werden kann (2.4.2). Die Entwicklungen von Psychologisierung und Therapeutisierung von Religion sowie die zunehmenden Fokussierung auf den Aspekt der Erfahrbarkeit von Religion in emischen und etischen Religionskonzepten verweisen auf gesellschaftliche Entwicklungen, die über Religion hinausgehen. Diese können mit der These einer «Emotionalisierung der modernen Gegenwartsgesellschaft» zusammengebracht werden (Neckel/Pritz 2016), auf die ich schliesslich eingehe (2.4.3).

2.4.1 Psychologisierung und Therapeutisierung von Religion

Aus religionswissenschaftlicher Perspektive lassen sich die Ergebnisse dieser Studie vor dem Hintergrund der These eines Wandels von Religion diskutieren. Dieser Wandel verläuft, stark vereinfachend zusammengefasst, von traditionell-institutionell vermittelter Religiosität zu Konzepten von Religiosität, die anstelle der Institution(en) stärker auf das Individuum und sein «Selbst» und seine Erfahrungen fokussieren. Dazu gibt es eine Reihe von Konzepten, die in der gegenwärtigen Religionssoziologie vermehrt diskutiert werden. So hat etwa Markus Hero einen einschlägigen Überblicksartikel mit dem Titel Psychologisierung und Therapeutisierung von Religion (2016) überschrieben und darin die sozialstrukturellen Bedingungen und die semantischen Besonderheiten des behaupteten Wandels zusammengefasst. Die Thesen von Hero sollen im Folgenden nachgezeichnet und mit verwandten religionswissenschaftlichen Ansätzen und meinen eigenen Beobachtungen aus dem Feld ergänzt werden. Hero nennt drei sozialstrukturelle Entwicklungen als relevante Bedingungen einer Psychologisierung und Therapeutisierung von Religion:

  1. (1)

    Religiöse Individualisierung und Subjektivierung,

  2. (2)

    veränderte Angebots- und Vermittlungsstrukturen im religiösen Feld und

  3. (3)

    die Medialisierung und Popularisierung von religiösen Inhalten (2016: 606–611).

Diese Entwicklungslinien sollen im Folgenden einzeln nachgezeichnet und ergänzt werden. Dabei sollen auch die unmittelbaren Zusammenhänge zu dem von mir empirisch untersuchten Feld der Ritualleitenden dargelegt werden.

Religiöse Individualisierung und Subjektivierung weisen auf einen Bedeutungswandel von Religion hin, bei dem vermehrte Auswahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen religiösen Inhalten und eine vermehrte Bezugnahme auf das Individuum in Religionen im Zentrum stehen. Religiöse Individualisierung und Subjektivierung gehen auf Prozesse der Industrialisierung und Urbanisierung im 20. Jahrhundert zurück, die zu einer Vielfalt von Lebensformen und einer zunehmenden sozialen und geografischen Mobilität geführt haben (vgl. Hero 206: 606). Durch diese Veränderungen verlor die institutionalisierte gemeinschaftsgebundene Religion den Stellenwert einer Instanz, die kollektiv geteilte Werte vermittelte. Die religiösen Bedürfnisse der Individuen veränderten sich hin zu einer Orientierung an subjektiven Erlebnissen, die Antworten auf individuelle Lebensfragen lieferten (ebd.). Schlamelcher hat skizziert, wie die Kirchen auf diesen Prozess der Individualisierung ihrer Mitglieder mit einer Verstärkung des Aspektes der Lebenshilfe in ihren Deutungen und Angeboten reagiert haben. Seit Ende der 60er Jahre nimmt die Rolle der Dogmatik immer mehr ab, während die Bedeutung der Seelsorge immer mehr zunimmt und diese sich immer mehr zu einer «Selbstsorge» entwickelt habe (vgl. Schlamelcher 2008: 170). Diese Beobachtung lässt sich wohl auch auf die gegenwärtigen kirchlichen Todesrituale übertragen. Dazu passt auch, dass die von mir untersuchten Ritualleiter*innen gerade die Dogmatik der Kirchen weiterhin sehr stark kritisieren (insbesondere im thematischen Feld Differenz, s. o. 9).

In den Zusammenhang von religiöser Individualisierung und Subjektivierung wären auch die in den letzten Jahren in der religionswissenschaftlichen Forschung vielfach diskutierten Konzepte religiöser Selbstermächtigung einzuordnen (Luckmann 1969, Gebhardt et al 2005, Lüddeckens 2015a). Dieses Konzept betont besonders den Aspekt der Selbstaneignung von Religion durch die Akteur*innen. Die Akteur*innen entscheiden anhand ihrer Bedürfnisse selbst, welche religiösen Inhalte und Praktiken sie sich aneignen (wollen). Das kann auch bedeuten, dass die Akteur*innen wie selbstverständlich zwischen verschiedenen Formen und Inhalten institutioneller und nicht-institutioneller Art hin- und herwechseln, da Religion nicht mehr eine externe feststehende Rolle spielt, sondern nach den eigenen Wünschen und Erfahrungen ausgewählt werden kann (Heelas/Woodhead 2005, s. u. 10.2).

Wie schon angedeutet, haben die Individualisierung und Subjektivierung auch dazu geführt, dass sich im religiösen Feld die Angebots-und Vermittlungsstrukturen verändert haben. Indem sich die/der Einzelne Religion selbstbestimmt aneignet, erlebt sie/er Religion nicht mehr als fest vorgegeben, sondern als wählbar und als form- und gestaltbar (vgl. Hero 2016: 607). Dadurch geraten die religiösen Angebote und Vermittlungsstrukturen unter Druck. Religiöse Inhalte werden zunehmend in neuen Formen vermittelt. Neben die traditionellen religiösen Anbieter treten neue «religiöse Experten» (Hero 2011), die sich durch Pluralität und offene und flexible Organisationsstrukturen auszeichnen (vgl. Hero 2016: 609). Ein Ausdruck dieser Entwicklung sind auch die als Einzelunternehmen geführten Zentren, die Religion in Form von Dienstleistungen anbieten und über die Dienstleistungsangebote weniger auf Verbindlichkeit angewiesen sind als traditionell religiöse Angebote (ebd.: 608). Die veränderten Vermittlungsstrukturen werden massgeblich durch den Aspekt der Ökonomisierung gesteuert, wie schon die oben verwendeten Begrifflichkeiten im Kontext der Rituale als Dienstleistung mit «Angeboten» und «Nachfrage», «Anbieter*innen» und «Kund*innen» zeigen (vgl. auch den Begriff des «religiösen Entrepreneur»: Hero 2011). Die Entwicklung veränderter Formen und Vermittlungsstrukturen von Religion überschneidet sich mit den von mir untersuchten Entwicklungen neuer Formen von Todesritualen durch gemeinschaftsungebundene, ‘freie’ Anbieter*innen als Ritualleitende. Die Todesrituale werden ausserhalb einer religiösen Gemeinschaft angeboten und können sich im Gegensatz zu kirchlich-traditionellen Gemeinschaften nicht auf verbindliche Sozialbeziehungen verlassen. Sie müssen sich vielmehr als Angebote auf einem Markt ökonomisch bewähren. In dem Moment, in dem «die Teilnahme an kirchlichen Praktiken zu einem Akt individueller Entscheidung wird», hat sich auch in der Kirche selbst, so die Darstellung bei Schlamelcher 2008 (168), eine entsprechende Kundenorientierung entwickelt. Der Status der Gemeinschaft ist entsprechend nicht länger durch Starre und Festigkeit ausgezeichnet, sondern durch Fluidität. Religiöse Gemeinschaften sind deshalb auch als fluide Gemeinschaften bezeichnet worden (Lüddeckens/Walthert 2010).

Auch wenn diese Veränderungen immer mehr auch für die Kirchen selbst zu gelten scheinen, sind das Dienstleister*innen-Verständnis und das religiöse Unternehmertum bei den Ritualleiter*innen stärker ausgeprägt als bei den kirchlichen Akteur*innen. Die in meinem Untersuchungsfeld relevanten Dienstleister*innen treten seit den 2000er Jahren auf und sind mehrheitlich als Selbstständige organisiert. Der Kontakt zwischen ihnen und den Kund*innen besteht in der Regel nur über wenige Wochen (s. o. 4.3 zum Feld der gemeinschaftsungebundenen Ritualleiter*innen in der Deutschschweiz). Die Angehörigen können bei der Gestaltung der Angebote mitbestimmen, und die Angebote werden nach Ablauf der Dienstleistung den Kund*innen in Rechnung gestellt. Der marktwirtschaftliche Charakter des Rituals als Dienstleistung wird nicht verschleiert, sondern ist sowohl für die Ritualleitenden als auch für ihre Kund*innen sehr präsent, steht gleichwohl aber in einem Spannungsfeld zu der Beziehung zwischen Ritualleitenden und Kund*innen.

Psychologisierung und Therapeutisierung schlagen sich nicht nur in einer Veränderung der religiösen Angebotsstruktur nieder, sondern auch in einer Medialisierung und Popularisierung religiöser Inhalte. Damit ist die Verbreitung religiöser Inhalte über und durch Medien gemeint, mit der zugleich auch eine strukturelle Veränderung der religiösen Ideen und Inhalte verbunden ist. Die Entwicklung vollzieht sich seit den 80er Jahren. Sie ist auch am religiösen Buchmarkt ablesbar, der sich sehr stark popularisiert hat (Hero 2012, Bochinger 1994). Prozesse der Medialisierung und Popularisierung stehen in einem engen Zusammenhang mit der Ökonomisierung von Religion (s. o. Hero 2016: 610 f). Über die traditionellen Medien hinaus trägt inzwischen das Internet erheblich zur Medialisierung und Popularisierung religiöser Inhalte bei (ebd.).

Eine Medialisierung und Popularisierung religiöser Inhalte zeigt sich auch im von mir untersuchten Feld. Die Ritualleiter*innen verbreiten ihre religiösen und nicht-religiösen Inhalte in Broschüren, Webauftritten und in eigenen Publikationen auf dem populären Buchmarkt.Footnote 8 Dabei gehen therapeutische und religiöse Inhalte eine Verbindung ein und werden popularisiert. Für die Verbreitung und das Marketing der Angebote spielt auch das Internet eine wichtige Rolle. Einige Ritualleitende bieten auch eigene Newsletter an, die sie Interessierten regelmässig zukommen lassen und die an tagesaktuelle Ereignisse anschliessen. Die Inhalte dieser Publikationen sind leicht verständlich und betont lebensnah.

Psychologisierung und Therapeutisierung von Religion zeigen sich nach Hero vor allem in einer Betonung der Bedürfnisse der Subjekte. Zu den wichtigsten Semantiken, die im Kontext dieser zunehmenden Bedürfnisorientierung entstanden sind, zählen Diesseitsorientierung, Anthropozentrismus, Erlebnisorientierung und die religiöse Wiederentdeckung des Körpers (vgl. Hero 2016: 611–616). Diesseitsorientierung bedeutet, dass Religion sich auf das konkrete Leben der Einzelnen im Hier und Jetzt und nicht auf Heilsversprechen im Jenseits bezieht, wie dies in traditionellen Religionen der Fall ist. Diesseitige religiöse Ideen zeichnen sich typischerweise durch einen Anthroprozentrismus aus. Das bedeutet, dass das Göttliche als dem Menschen ähnlich gedeutet wird. Zwischen Göttlichem und Menschlichem wird eine Wesensähnlichkeit und gleiche Ontologie gesehen (ebd.: 613). Somit findet sich das Göttliche bereits im Diesseits und ist für jeden prinzipiell erfahrbar. Die Erlebnisorientierung von Religion zeigt sich darin, dass Religiosität persönlich erfahren und erlebt werden soll, also über die eigene Wahrnehmung und das eigene Erleben spezifisch religiöser Gefühle. Gleichzeitig tritt die gemeinschaftsbildende Kraft kollektiv geteilter Ideen und Normen einer Gruppe (im Sinne von Durkheim s. o. 2.2 oder Collins: s. o. 10.3) stark zurück (ebd.: 614). Der Soziologe Ulrich Oevermann hat die zunehmende Erlebnisorientierung der Religion in einem religiösen Sinnstiftungsmuster der «permanenten Evidenzsicherung» beschrieben (vgl. Oevermann 2004: 262). Religiöse Gefühle müssen stetig zum Ausdruck kommen, damit ihr Vorhandensein belegt, sichtbar und erfahrbar werden kann, da die «kollektiv-religiösen Bedingungen die Evidenz religiöser Ideen durch die Gemeinschaft» fehlen (Hero 2016: 614). Indem die Ritualleiter*innen den Teilnehmer*innen in den von mir untersuchten Ritualen immer wieder Deutungsangebote für die Wahrnehmung der äusseren Umgebung (also des Wetters oder der Natur) machen oder gezielt Stille einsetzen, um Gemeinschaft zu erzeugen, stellen sie einen Erlebnischarakter des Ritualgeschehens her: Es ist etwas «passiert», das von den Teilnehmenden erfahren und mit religiösen Gefühlen verknüpft werden kann. Alltägliche Erfahrungen werden im Ritual als potentiell transzendente Erlebnisse aufgeladen. Eine verstärkte Orientierung am eigenen Erleben lässt sich auch im Umgang mit «heiligen Objekten» nachzeichnen, wie das bei Riis/Woodhead beschrieben wurde (2010: 188). Persönliche Gefühle werden sogar zum Massstab für die Beurteilung von «heiligen Objekten» (ebd.). Symbole entfalten ihre Kraft durch die Emotionen, die sie auslösen. Die Evidenz eines Gefühls ersetzt dabei die Konformität mit der Tradition und Lehrmeinung einer Gemeinschaft als relevante Instanz (ebd.). Ein ähnlicher Umgang mit Gegenständen und Symbolen lässt sich auch bei den von mir untersuchten Ritualen beobachten.

Auch die popularisierende Wiederaufnahme einzelner Elemente aus (religions-)geschichtlichen und weltanschaulichen Traditionen und Lehrmeinungen, die auf das innere Erleben abzielen, ist eine weit verbreitete Strategie der Ritualleiter*innen, die sie nutzen und womit sie Evidenz und Kontinuität herstellen. Wie gezeigt wurde, setzen die Ritualleiter*innen das innere psychische Erleben der Einzelnen in Bezug zur Aussenwelt (Natur, Jahreszeiten, andere äussere Erscheinungen). Sie berufen sich dabei auf das Konzept der Synchronizität, das sie mit Verweisen auf Traditionen der Astrologie und Psychoanalyse belegen.Footnote 9

Schliesslich hat Hero neben Diesseitsorientierung, Anthropozentrismus und Erlebnisorientierung auf eine religiöse Wiederentdeckung des Körpers hingewiesen. Der Körper wird in diesem Zusammenhang vor allem zum Integrationssymbol von religiöser Erfahrung zwischen Innen- und Aussenwelt. Der körperliche Ausdruck bzw. seine Merkmale und Symptome werden ins Zentrum religiöser Interpretation gerückt:

«Gefragt sind dabei Deutungsmuster, welche (wie z. B. die Semantik der »Ganzheitlichkeit«) die körperlichen Erscheinungen in psychische und soziale Bezüge einbetten und die Behandlung dementsprechend ausrichten» (Hero 2016: 614).

Spuren einer solchen religiös motivierten Körperlichkeit finden sich auch bei den Ritualleiter*innen. Dazu gehören nicht nur Berührungen und körperorientierte Metaphern, sondern auch die Annäherung an den Tod über die konkrete körperliche Annäherung an den Körper des/der Verstorbenen. Dadurch wird eine Interaktion mit der/m Verstorbenen über den Tod hinaus möglich.

Die dargestellten Entwicklungslinien, die Hero als Psychologisierung und Therapeutisierung von Religion beschreibt, weisen nicht übersehbare Parallelen zu dem von mir untersuchten Prozess der Gestaltung von Todesritualen ausserhalb religiöser Gemeinschaften auf. Ich versthe diesen Prozess deshalb als Ausdruck eines übergreifenden Wandels von Religion. In diese Richtung weist auch die Profilierung neuer Konzepte von Religion, wie sie unter dem Schlagwort «Spiritualität» beobachtet werden kann.

2.4.2 Religionskonzepte: Erfahrbarkeit von Religion und punktuelle Religiosität

Es gibt viele Versuche, den Aspekt der Erfahrungsdimension von Religion begrifflich zu fassen. Sehr prominent ist in diesem Kontext der Begriff der Spiritualität. Er wird in der Religionswissenschaft zwar nicht eindeutig von Religiosität abgegrenzt, aber oftmals als Gegenbegriff zu Religiosität bestimmt, der die weniger dogmatische und stattdessen stärker erfahrungsbasierte Seite von Religion betont (vgl. Heelas/Woodhead 2005, Knoblauch 2009). Ohne an dieser Stelle die Diskussionen um den Spiritualitäts-Begriff systematisch aufgreifen zu können, stellen sich folgende Fragen: Kann man mit dem Begriff Spiritualität beobachtbare Formen und Praktiken und Diskurse gegenwärtiger Religiosität angemessen beschreiben? Sind Religion und Spiritualität eindeutig voneinander abzugrenzen? Schliesst Spiritualität Religiosität aus oder ein? (vgl. dazu Woodhead 2010: 38) Obwohl es eine grosse Diversität und z. T. auch Uneinigkeit im Bereich der Spiritualitätsforschung gibt, hält es Woodhead für sinnvoll, von Spiritualität zu sprechen. Sie versteht darunter den Verweis auf die Autorität (und «Agency») einer in der gesamten Welt wirksamen Lebenskraft, die sich überall, jederzeit und an jedem Ort manifestiert, vor allem subjektiv wahrgenommen wird und sich auf eine holistische Welterfahrung beruft: «[…] most forms of spirituality maintain that there is a form of ‘energy’ or ‘chi’ which animates the whole universe and is manifest in every individual form» (Woodhead 2010: 39).

Heelas/Woodhead unterscheiden zwischen «subjective-life sprituality» and «life as religion» (2005: 6). Subjective-life spirituality sakralisiert die Erfahrungen des Lebens der Einzelnen, life as religion wird external validiert und findet sich ausserhalb des eigenen Selbst als eine höhere Wahrheit (5–69). In einem ähnlichen Sinne wie subjective life spirituality ist auch self spirituality (s. u.) zu verstehen.

Für das Verhältnis von Religion und Spiritualität ergibt sich daraus, dass entweder zwischen Religion und Spiritualität im Sinne von institutionalisierter Religion vs. erfahrungsbasierter Spiritualität unterschieden wird. Oder aber Religion wird als ein Oberbegriff für verschiedene Formen von Religiosität verstanden, zu denen traditionell institutionalisierte Religion und (erfahrungsbasierte) Spiritualität gleichermassen und ohne Wertung gezählt werden können. In den emischen Konzepten wird oftmals zwischen Religion und Spiritualität im Sinne der Abgrenzung zwischen kirchlicher Religiosität und nichtkirchlicher Religiosität unterschieden. Etisch ist diese Unterscheidung problematisch, da Spiritualität auch in kirchlichen Ritualen vorkommen kann und mit der Unterscheidung oftmals auch eine Wertung einhergeht.

Aupers/Houtman (2010) weisen aber darauf hin, dass Spiritualität nicht so individuell und privatisiert sei, wie das vielfach angenommen werde; self spirituality setze voraus, dass der/die Einzelne bereits in einen spirituellen Diskurs über das Selbst sozialisiert sei, dass also das Selbst als gesellschaftlich hergestellt zu betrachten sei (vgl. 206–208). In diesen Zusammenhang gehört auch, dass eine genderspezifische Affinität für Spiritualität postuliert worden ist und also zu einem Element des Spiritualitäts-Diskurses gehört (vgl. zu genderspezifischer Spiritualität Sointu/Woodhead 2008). Dabei wird auch oft von holistischer Spiritualität gesprochen, die als eine Praxis beschrieben wird, die den Körper betont und dabei die Frauen aufgrund der Besonderheiten des weiblichen Körpers in einer privilegierten Rolle sieht, die ihnen zu einem anderen Selbstverständnis jenseits klassischer Rollenmodelle verhelfen kann (Sointu/Woodhead 2008: 259 f). Hier ist auch die Rede von weiblicher und feministischer Spiritualität, wie sie auch in meinen Daten gelegentlich anklingt (s. noch u. in diesem Kapitel und o. 6.5 die Hinweise auf ein thematisches Feld Gender).

Mehr Belege finden sich in meinen Daten zu einem Verständnis von Naturspiritualität, welches stärker den Umgang mit der Natur betont und nicht wie bei feministischer Spiritualität von einer eindeutig feministischen Positionierung ausgeht. Empirische Studien zu weiblicher Spiritualität und zu «Naturspiritualität» geben Aufschluss über die Mechanismen der Selbstermächtigung innerhalb dieser Strömungen, und es finden sich deutliche Parallelen zu meinen eigenen Untersuchungen (insbesondere zum thematischen Feld Natur). Hier sind vor allem die Arbeiten von Pesonen/Utriainen (2014), Albanese (1991) und Gross (1996) zu nennen.

In den von mir untersuchten Fällen wird insbesondere in zwei Fällen (UMeier, MSchäublin) eine mythologische Vergangenheit konstruiert, in der Frauen eine zentrale Rolle zugesprochen wird, die ihnen als Quelle für ein neues Verständnis von Natur dient. Ähnliche Konstruktionen wurden auch für den finnischen Kontext beschrieben (Pesonen/Utriainen 2014: 200), was wohl damit zu tun hat, dass die Verbindung zwischen Mensch und Natur bei finnischen Frauen z. T. im Zentrum neuerer Vorstellungen von Naturreligion steht (ebd.) Pesonen und Utriainen beschreiben das Suchen von Elementen einer finnischen vor-christlichen Religion, mit Hilfe derer sich moderne Frauen selbst ermächtigen können. Gleichzeitig streben sie die Konstruktion einer neuen religiösen Tradition und Mythologie an (ebd.: 202). Darunter fallen auch Konzeptionen, die eine Verbindung oder Versöhnung mit dem Christentum als allumfassende Verbindung zur uralten Beziehung zur Natur zulassen (ebd.). Weiter wird in einigen dieser Konzeptionen auch ein Zusammenhang zwischen der Verehrung der Natur und weiblicher Körpererfahrung hergestellt (ebd.). Dabei geht es um Konzepte des Göttlichen, die das Göttliche ganz in der Immanenz verorten oder neben der Transzendenz des Göttlichen auch eine aktive immanente Präsenz des Göttlichen (ebd.: 203) sehen. So kann z. B. die Natur oder die Erde als Körper der Göttin gedeutet werden (ebd.).

Ähnliche Konzeptionen finden sich auch in den Konzeptionen der von mir untersuchten Ritualleiter*innen. Neben der Konstruktion einer weiblichen Spiritualität ist das Anknüpfen an eine Konstruktion einer vorchristlichen Religion oder Spiritualität ein weiteres wichtiges Deutungsmuster der Ritualleiter*innen, das in Verbindung mit weiblicher Spiritualität, aber auch losgelöst davon vorkommt. Eine ähnliche Konzeption des Göttlichen, wie sie Pesonen und Utriainen beschreiben, findet sich in der Naturspiritulität von UMeier. Sie stellt in ihrer Konzeption von Spiritualität das Wirken der Natur als immanentes Wirken des Göttlich-Weiblichen und die Erde als Personifizierung dieses Göttlichen heraus.

Im wissenschaftlichen Diskurs lassen sich diese Traditionen oftmals auch unter dem Stichwort «Alternative Religiosität» zusammenfassen, womit Formen von Religiosität bezeichnet werden, die bewusst ausserhalb von institutioneller Religion stehen und sich von christlich-kirchlichen Traditionen bewusst abgrenzen (vgl. Sutcliffe/Bowman 2000, Sutcliffe 2003).

Neben Konzepten, die die Erfahrungsdimension von Religion betonen und dabei den Begriff von Spiritualität aufnehmen, gibt es auch Konzepte von Religion, die die Bedeutung der Bewältigung von schwierigen und einzelnen Situationen in den Vordergrund stellen. Religion ist in diesen Konzepten nur punktuell präsent. In diesem Kontext sind die Konzepte des situational belief (Stringer 2008) und der momentary religion (Utriainen 2016) zu nennen. Utriainen bestimmt mit dem Begriff der momentary religion den Wechsel zwischen und die Koexistenz von rituellen und nicht-rituellen Rahmungen in relativ säkularen gegenwärtigen Gesellschaften (vgl. Utriainen 2016: 53). Rituelle und nicht-rituelle Rahmungen werden in Bezug zur Glaubwürdigkeit des eigenen sozialen Lebens gesetzt. Mit dem Konzept des situational belief wird Religion als Coping-Strategie und transformative Kraft eingesetzt, um mit schwierigen Situationen im Leben umzugehen (vgl. Stringer 2008: 80 f). Es geht dabei nicht unbedingt um ein kohärentes und systematisches Weltbild, sondern eher um Statements des Glaubens, die angewendet werden, um spezifischen Situationen zu begegnen, wenn sie auftauchen (vgl. Stringer 2008: 82).Footnote 10

Auch ohne dies genauer zu erläutern, deuten die Ausführungen an, dass sich die o.g. Prozesse der Psychologisierung und Therapeutisierung von Religion auch in neuen Konzepten des Religiösen niederschlagen und dass Religion dabei auf neue Weise kontextualisiert und je nach Bedarf spezifiziert werden kann. Elemente von Konzeptionen von Religion finden sich also auch in den von mir untersuchten Todesritualen ausserhalb religiös gebundener Gemeinschaften. Dabei erscheint es mir wichtig, dass die religiöse Akzentuierung in diesen Ritualen eine Option unter anderen Optionen ist, um diese Rituale als attraktive Angebote auf dem Markt etablieren zu können und dass sich Religion unter dem Einfluss dieser Optionen wandelt, ohne vollständig ersetzt zu werden. Es handelt sich bei den Ritualen nicht von vornherein um atheistische oder nicht-religiöse Rituale. Vielmehr bleibt die Möglichkeit zur religiösen Deutung mit Hilfe von Transzendenz (s. o. 2.1) und Sakralitätskonzepten (z. B. der Natur oder des Selbst, s. o.) bestehen. Je nach Bedarf kann ein Ritual mehr oder weniger religiös gestaltet werden (s. o. 3.1.2 und s. u. 10.4).

2.4.3 Coping und Emotionalisierung in der Gegenwartsgesellschaft

Wie der Ausdruck «Therapeutisierung» schon andeutet, bieten sich auch Alternativen zu einer religiösen Konzeptionalisierung der gemeinschaftsungebundenen Todesrituale an, die stärker auf die Bewältigung einer psychisch belastenden Erfahrung (Coping) abzielen. Dabei spielt die Emotionalisierung des Umgangs mit dem Tod eine besondere Rolle. Darauf gehe ich abschliessend noch ein.

Unabhängig davon, ob man Therapeutisierung und Psychologisierung auf Religion bezieht oder nicht, ist festgehalten worden, dass religiöse (transzendente) Inhalte situativ und punktuell eingesetzt werden, um die Bewältigung einer belastenden Erfahrung zu verarbeiten, also als Coping-Strategie (vgl. dazu Pargament 1997). Religiosität ist also weniger in ein übergeordnetes und systematisches Bezugssystem mit kollektiv geteilten Inhalten eingebettet, sondern viel stärker situativ präsent. Das gilt grundsätzlich auch für meine Daten, wobei meine Untersuchungen aber vor allem darauf hinweisen, dass es in den Todesritualen ausserhalb einer religiösen Gemeinschaft weniger um religiöse Inhalte geht und dafür stärker um subjektbezogene diesseitige Inhalte, die etwas mit dem Umgang mit den eigenen Gefühlen zu tun haben. In diesem Sinn kann man von einer Emotionalisierung des Rituals sprechen. Religion ist dagegen als mögliches thematisches Feld in den Positionierungen der Ritualleitenden kaum präsent (s. o. 6.1). Wenn religiöse Inhalte auftauchen, sind sie sehr stark diesseitsorientiert (s. u. 10). Das gilt z. B. für das Motiv der zyklischen Wiederkehr der Natur, die Trost spendet und dann in ein Deutungsangebot eines religiösen Kontextes von Mutter Natur, Auferstehung und Wiedergeburt eingebettet werden kann.

In den von mir untersuchten Ritualen zeigt sich Emotionalisierung konkret z. B. darin, dass Gefühle vor dem Hintergrund des Verlusts des Verstorbenen, angesichts schwieriger Lebensereignisse des Verstorbenen oder auch mit Blick auf problematische Beziehungen zum Verstorbenen zum Thema gemacht und über Ritualisierungen «bearbeitet» werden. Exemplarisch liess sich dies an dem o. beschriebenen Abschiedsritual beobachten. Es ist insgesamt ein prototypisches Beispiel dafür, wie durch Ritualisierungen eine Emotionalisierung, Psychologisierung und Therapeutisierung des Geschehens herbeigeführt werden kann. Die Art und Weise einer systemischen Bearbeitung des Verlustes in der Familie weist starke Ähnlichkeit mit einem therapeutischen Kontext auf (s. o. 4.1).

Ein anderer Beleg für die Emotionalisierung des Rituals besteht im Nachweis von neuartigen Gefühlsnormen (s. u.). Gefühlsnormen besagen (im Gegensatz zu Verhaltensnormen), dass Gefühle tatsächlich wahrgenommen und erlebt werden müssen, also nicht nur ausgedrückt, sondern auch authentisch erlebt werden sollen. Die Wirksamkeit von Ritualen wird deshalb massgeblich am Erleben von Gefühlen festgemacht. Ritualisierungen werden dazu genutzt, die Gefühle der Trauernden zu «bearbeiten». Dabei wird dann auch dem Zeigen von Emotionen Raum zugesprochen, ohne dass dabei standardisierte Formen des Ausdrucks und Verhaltens eingehalten werden müssen. Im Gegenteil sollen Emotionen möglichst direkt und unzensiert eingebracht werden (s. o. 4.1 im Abschiedsritual die Aufforderung, so dabei zu sein, wie es gerade ist, alles darf Platz haben, auch Anekdoten über den Verstorbenen dürfen erzählt werden). Es geht um die Beteiligung und die emotionale Involviertheit der Teilnehmenden. Beteiligtsein wird also über Emotionalität hergestellt, sie ist ein wichtiges Ziel der Ritualisierungen.

Diese empirischen Beobachtungen überschneiden sich mit Beschreibungen, denen zufolge die Gegenwartsgesellschaft insgesamt durch Emotionalisierung gekennzeichnet ist. Entsprechend wird ein besonderer Stellenwert von Emotionen in der Gesellschaft konstatiert, der die «explizite Thematisierung, Förderung, Steuerung und In-Wert-Setzung von Emotionen» in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen umfasst und Ausdruck einer vor allem ökonomischen Orientierung ist (Neckel/Pritz 2016: 8). Die ökonomische Orientierung zeigt sich darin, dass die «Optimierung des emotionalen Erlebens, Handelns und Darstellens» im Vordergrund steht (ebd.: Eitler/Elberfeld 2015). Emotionalisierung steht also in einer paradoxen Spannung zwischen Selbstverwirklichung und der Umsetzung von ökonomischen Interessen (Neckel 2014).

Therapeutisierung und Psychologisierung können als Facetten von Emotionalisierung betrachtet werden, da sie die Ausdeutbarkeit von Emotionen betonen und ein Verständnis der Veränderbarkeit von Emotionen beinhalten. Dabei steht ein zielgerichteter Umgang mit Gefühlen mit dem Ziel der Heilung im Vordergrund. Es geht um die Bearbeitung von Gefühlen, die als problematisch und auffällig dargestellt und deshalb als «behandelbar» erscheinen (zur Genealogie der Therapeutisierung vgl. Maasen 2011, Eitler/Elberfeld 2015). Psychologisierung ist eng verwandt mit dem Konzept der Therapeutisierung, aber allgemeiner zu verstehen. Z. B. ist die Zielgerichtetheit der Bearbeitung weniger ausgerichtet. Bei Psychologisierung geht es (wie auch bei der Therapeutisierung) um die Popularisierung von psychologischem Wissen und seine Verbreitung in andere gesellschaftliche Bereiche. Das Wissen um die menschliche Psyche und um psychische Prozesse rückt ins Zentrum des Interesses und taucht in gesellschaftlichen Bereichen auf, in denen es zuvor keine Rolle spielte. Insofern ergreift die Psychologisierung immer neue Kontexte. Die Soziologin Eva Illouz hat die Entwicklungsgeschichte der Psychologisierung und Therapeutisierung nachgezeichnet. Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, dass seit den 1970er Jahren in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ein zunehmender gesellschaftlicher Einfluss der Psychologie beobachtet wurde (vgl. Illouz 2008: 264) Seitdem würden Gefühle in der Öffentlichkeit «ausgestellt, erörtert, strittig behandelt und vor allem inszeniert», d. h. für ein Publikum kommuniziert und auf Authentizität hin geprüft (vgl. Illouz 2008: 303). Den Individuen werden durch den öffentlichen psychologischen Diskurs Lösungen zur Veränderung und Verbesserung der eigenen Situation angeboten. Der psychologische Diskurs wird, indem er sich in alle gesellschaftlichen Bereiche ausbreitet, immer mehr zu einem marktförmigen Geschehen (ebd.: 315).Footnote 11 Dafür führt sie z. B. das Modell kostenpflichtiger standardisierter Workshops an, die zu verschiedenen Lebensbereichen psychologische Hilfe anbieten (ebd.).

Vor diesem Hintergrund sind auch die kostenpflichtigen Angebote der Ritualleiter*innen interessant, auch wenn die ökonomische Orientierung der Thematisierung von Emotionen im Ritualgeschehen nicht im Vordergrund steht. Die Ritualleitenden sind zwar auch ökonomische Akteur*innen, die in Konkurrenz stehen und sich auf dem Markt behaupten müssen (als «religiöse Experten» (s. u. 10.1). Ihnen geht es aber gerade nicht um die Optimierung und Standardisierung von Emotionen, sondern um Emotionalisierung als Ritualisierungsstrategie (s. o.). Die Emotionalisierung der Todesrituale erfolgt nicht nach ökonomischen Gesichtspunkten der Optimierung des Emotionsmanagements, und die Trauerbewältigung und die Konzepte von Trauer sollen nicht standardisiert werden. Gleichzeitig profitieren die Ritualleitenden aber von der Medialisierung und Popularisierung psychologischer Theorien, wenn es ihnen z. B. darum geht, mit dem Ritual zur Bewältigung einer emotional belastenden Situation und einer schwierigen Familiensituation beizutragen. Dies lässt sich am vorgestellten Todesritual (s. o. 4.1) sehr gut zeigen. Dabei geht es im Ritual um die Darstellung des Familiensystems, ähnlich einer systemischen Familienaufstellung (vgl. Ludewig 1997).

Insofern sind die Ritualleitenden mit ihrem Angebot Bestandteil des beschriebenen Trends zur Psychologisierung, Therapeutisierung und Emotionalisierung, den sie auch bestätigen. Am Beispiel der Trauer in den Todesritualen lässt sich das konkret belegen: Die Emotionalisierung der Trauer zeigt sich z. B. deutlich daran, dass öffentliche Trauerregeln wie schwarze Kleidung und formalisierte Trauerrituale stark an Bedeutung verlieren und sich die Trauer stattdessen ins Private verlagert. Walter spricht entsprechend von privaten Trauernormen, die losgelöst von Ritualen und institutionellen Regeln stattfinden, deswegen aber nicht weniger reguliert sind. Es gibt z. B. die Norm, dass die Trauer eine gewisse Expressivität erhalten, aber nur über einen beschränkten Zeitraum erfolgen solle (vgl. Walter 1999: 148–152). Jakoby et al. stellen gegenwärtig und passend zu dieser These die Entwicklung einer Emotionalisierung der Trauer fest, der für sie in einem Wandel von Verhaltensnormen zu Gefühlsnormen besteht (2013: 254, s. auch schon o.). Der Begriff der Gefühlsnormen wurde von der amerikanischen Soziologin Arlie Hochschild geprägt. Arlie Hochschilds Emotionstheorie (1979) geht davon aus, dass Menschen in sozialen Situationen ihre Gefühle anpassen können, so dass sie zu der jeweiligen Norm der Gruppe passen (emotion work). Sie identifiziert Gefühlsnormen (feeling rules) als Regeln, die vorgeben, wie die Einzelnen sich in einer konkreten Situation zu verhalten haben. Feeling rules geben zugleich Aufschluss über die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen. So gibt es Normen einer sozialen Gruppe, die vorgeben, wie sich die Einzelnen in einer Trauersituation zu verhalten haben. Framing rules sind dagegen Regeln, mit Hilfe derer sozialen Situationen eine Bedeutung zugeschrieben werden kann. Die Ritualleiter*innen wenden sich gegen die vorherrschenden feeling rules im Umgang mit Tod und Trauer, in dem sie Trauer wieder stärker sichtbar machen und weniger normieren. Es geht nicht um einen normierten Ausdruck von Trauer, sondern um das Zulassen von Trauer und den sie begleitenden Emotionen in einer gerade passenden Art und Weise (s. o.). Dies konnte z. B. sehr eindrücklich am Beispiel der Ritualarbeit von RTanner gezeigt werden (s. o. 4.1, 8.2.5, 9.4.4).

Emotionalisierung, Therapeutisierung und Psychologisierung spiegeln sich in meinen Daten, da in den Angeboten der Ritualleiter*innen die Erörterung und das Ausstellen von Gefühlen umfassend zum Ausdruck kommt. Dafür wird auch auf popularisierte Ansätze der Psychoanalyse und der Familientherapie (in Form des Psychodramas oder der Themenzentrierten Interaktion) sowie auf Trauertherapien (z. B. in Form des Phasenmodells der Trauer von Elisabeth Kübler Ross) zurückgegriffen. Das sind anschauliche Belege insbesondere für die Therapeutisierung von Religion (Hervieu-Léger/Champion 1990, Hero 2016). Im Einklang damit steht die Beobachtung, dass die Todesrituale vor allem der Bearbeitung und des Loslassens der Beziehung zu der/dem Verstorbenen dienen und damit das Ziel der Rituale vor allem auf einer psychologischen Ebene der Bewältigung der Trauer liegt. Die religiöse Einbettung wird dem Fokus auf das Wohlbefinden der Ritualteilnehmer*innen untergeordnet. Darin zeigen sich konkrete Ausprägungen des Zusammenhangs von Religion und Emotion (z. B. Hervieu-Léger/Champion 1990, Riis/Woodhead 2010), wie sie für die hier untersuchten Todesrituale charakteristisch sind.

2.5 Organisation des Todes in der Deutschschweiz

Zum gesellschaftichen Kontext des Todes gehört letztendlich auch die Organisation des Todes. Dabei geht es um die Frage der Zuständigkeit und Verantwortung der Versorgung und Bestattung der Toten.

In der Schweiz hat sich die Säkularisierung der Bestattung im Vergleich zu anderen Ländern schon sehr früh durchgesetzt. Im Vergleich zu Deutschland zeigt sich vor allem in Bezug auf den Ort der Bestattung ein liberales Bestattungswesen. In den Bestattunsgreglementen der Kantone ist kein Friedhofszwang festgelegt, so dass sich freie Bestattungen in der Natur schon früher durchsetzen konnten. So ist es auch kein Zufall, dass der erste «Friedwald» 1998 in der Schweiz eröffnet wurde (vgl. Hugger 2002: 270 f).

In der Schweiz sind Bestatter*innen, Friedhofsgärtner*innen und religiöse Spezialist*innen für den Tod zuständig. Der Tod wird heute ähnlich wie in anderen europäischen Ländern von wirtschaftlichen und staatlichen Akteur*innen organisiert (vgl. Walter 2005). Die wichtigsten historischen Entwicklungen sind auch in der Schweiz in der Verstaatlichung und Technisierung des Todes zu sehen, nachdem sich zuvor vorrangig Familie und Nachbar*innen um Totenfürsorge und Bestattung gekümmert hatten (vgl. Cox 2003). Das 19. Jahrhundert ist entsprechend durch die Entwicklung von funktionaler Differenzierung in der Organisation der Bestattung geprägt. Aufgaben und Verantwortlichkeiten wurden in einzelnen Teilsystemen organisiert. Nicht mehr nur Kirche und Familie waren verantwortlich für die Bestattung, sondern weitere Akteur*innen beanspruchten Mitsprache.

Für die gegenwärtige Diskussion um Gender und Tod (s. u. 7.4.4) ist miteinzubeziehen, dass historisch vor allem Frauen für die Totenfürsorge verantwortlich waren und sich im Umgang mit dem Tod geschlechtsspezifische Berufe bildeten (z. B. «Totenfrauen», «Seelnonnen» «Leichenbitterinnen»: vgl. dazu Noth 2014, Ecker 1999, 9–25, 11, 20; Hasenfratz 2003: 30, Cox 2003: 43, 50–53, Gernig 2003: 189–192). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen die ersten privatwirtschaftlichen Bestattungsunternehmen auf. Für die Schweiz hält Roost Vischer fest, dass der Bestatter*innen-Beruf aus den Berufen Schreiner und Leichenbitter(in) hervorgegangen ist. Den Beruf des Leichenbitters übten meist Frauen aus (vgl. Roost Vischer 1999: 11). Einen Sonderfall bildet die Stadt Wil im Kanton St.Gallen. Dort war bis in die 1990er Jahre eine Frau, die sogenannte Leichenfrau, für die Totenpflege zuständig (vgl. Hugger 2000: 206–207).

Die kirchlichen Friedhöfe wurden nach und nach in staatliche Friedhöfe überführt. Zudem entstanden neuere moderne und hygienische Friedhöfe an den Rändern der Städte (vgl. Hugger 2000, Fischer 2001). So öffnete z. B. 1877 der Friedhof Sihlfeld in Zürich als zentraler Friedhof ausserhalb der Stadt (vgl. Hugger 2002: 46).

Im Zuge der Modernisierung übernahm die staatliche Bürokratie Aufgaben, die vorher Kirchen, Familien und Nachbarschaft erledigt hatten (vgl. Herzog/Fischer 2003:13). Ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte der Organisation des Todes in der Schweiz war die Festlegung der Verstaatlichung des Bestattungswesens in der Bundesverfassung von 1874. Darin wurde die Zuständigkeit explizit den politischen Gemeinden übertragen (vgl. Hugger 2002: 200).

In der Verfassung heisst es: «Die Verfügung über die Begräbnisplätze steht den bürgerlichen Behörden zu. Sie haben dafür zu sorgen, dass jeder Verstorbene schicklich beerdigt werden kann» (Art. 53, §2, zitiert nach Hugger 2002: 200).

Kantonal und selbst auf Gemeindeebene gibt es gleichwohl grosse Unterschiede. An vielen Orten entwickelte sich das Prinzip einer unentgeltlichen Bestattung (vgl. Hugger 2002: 200)Footnote 12. In einigen vor allem katholisch geprägten Kantonen wird das Bestattungswesen jedoch von wirtschaftlichen Unternehmen organisiert.

Im Zuge der Verstaatlichung und Technisierung des Todes veränderten sich auch die Orte des Umgangs mit den Toten: «Nicht mehr die eigene Wohnung oder die Kirche, sondern die […] kommunale Leichenhalle oder das Krematorium wurden zentrale Orte von Aufbahrung und Trauerfeier» (ebd.). Das erste Krematorium in der Schweiz wurde 1898 im Friedhof Sihlfeld in Zürich als das dritte Krematorium Europas nach Mailand und Gotha eröffnet (vgl. Zemp 2013: 96).

Die Ausübenden der neu entstandenen Berufe, die staatlich und privatwirtschaftlich organisiert waren, verstanden ihre Tätigkeit professionsspezifisch als pragmatisch definierte Aufgabe im Kontext einer sach- und normgerechten («schicklichen») Ver- und Entsorgung des Leichnams.

In der Gegenwart sind Kanton Zürich und Stadt Zürich gute Beispiele für die Umsetzung eines weitgehend staatlich organisierten Bestattungswesens.Footnote 13 Im gesamten Kanton Zürich sind die Überführung des Leichnams und das Einsargen gratis.Footnote 14

Aus eigenen Befragungen des Personals in den Krematorien Nordheim (Zürich) und Friedhof Rosenberg (Winterthur)Footnote 15 geht hervor, dass etwa 10 % der Verstorbenen ausserhalb des Friedhofs beigesetzt werden. 25 % der verstorbenen Einwohner*innen von Winterthur wurden 2018 ausserhalb der Stadt Winterthur beigesetzt. Etwa 10 % aller Bestattungen in der Deutschschweiz finden heute ausserhalb einer religiösen Gemeinschaft statt.Footnote 16 Bei der Stadt Zürich waren zum Zeitpunkt der Erhebung 13 Bestatter*innen angestellt.Footnote 17

In der Schweiz wird in den jeweiligen kantonalen Reglementen kein Friedhofszwang ausgewiesen. Die Urnen können nach der Kremation von den Angehörigen abgeholt werden. Ein Vergleich des Bestattungsreglements des Kantons Zürichs über die Feuerbestattung (§29) von 1963 mit der revidierten Fassung aus dem Jahr 2015 gibt Aufschluss über den Wandel der Nachfrage nach Beisetzungen ausserhalb des Friedhofes:

«Die Leichenasche ist in einer Urne zu sammeln. Die Verfügungen darüber steht innert der Grenzen der Schicklichkeit den Angehörigen zu»Footnote 18

vs. Revision 2015: §2:

«Urnen und Kremationsasche dürfen ausserhalb von Friedhöfen nur beigesetzt oder ausgebracht werden, wenn

  1. a.

    die Bestimmungen des Forst-, Gewässerschutz-, Luftfahrt, Bau- und Umweltrechts eingehalten werden

  2. b.

    Urnen und Kremationsasche nicht als solche erkennbar sind und nach kurzer Zeit nicht mehr wahrgenommen werden können.»Footnote 19

Offenbar spiegelt sich in dieser Revision ein erhöhter Bedarf an Regulierung im Bereich des «schicklichen» Umgangs mit der «Leichen»- bzw. «Kremationsasche», der auf das vermehrte Aufkommen von Bestattungen ausserhalb des Friedhofs zurückgehen dürfte.

Veränderungen dieser Entwicklungen schlagen sich auch in Kirchenordnungen der einzelnen Kantone nieder. Seit 2019 ermöglicht die Kirchenordnung Zürichs offiziell, dass Hochzeiten, Taufen und Bestattungen auch an Orten ausserhalb der Kirche (z. B. in der Natur) stattfinden dürfen und zu anderen Zeiten als in den traditionellen Gottesdiensten stattfinden dürfen (vgl. Kirchenordnung der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kanton Zürichs, Art. 62, S. 14, https://www.zh.ch/de/politik-staat/gesetze-beschluesse/gesetzessammlung/zhlex-ls/erlass-181_10-2009_03_17-2010_01_01-107.html, letzter Zugriff: 27.09.21).

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die unmittelbar Betroffenen (Angehörige und Sterbende) und die Dienstleister*innen sowohl in der Bestattung als auch in der Totenfürsorge und der Gestaltung der Abschiedszeremonie in den letzten Jahren mehr und mehr Autonomie in Anspruch nehmen. Die Gestaltung der Bestattung ist nicht mehr länger nur im Verantwortungsbereich staatlicher und traditionell religiöser Autoritäten. Daneben gibt es auch klare Anzeichen dafür, dass staatliche und religiöse Institutionen auf diese veränderte Nachfrage antworten und innerhalb der Institutionen Akteur*innen Veränderungen anstreben (s. o. 1). Über den Vorgang der Bestattung hinaus zeigt sich dieser Trend in einer Reihe von Entwicklungen, die für das von mir untersuchte Feld unmittelbar relevant sind. Diese Veränderungen des rituellen Umgangs mit dem Tod sind in der Schweiz und in einigen anderen westeuropäischen Ländern zu beobachten.

Dazu gehören:

  • die rituelle Deutung der Totenfürsorge. Totenfürsorge wird nicht primär als rein pflegerisch-hygienisch-praktische Handlung verstanden, sondern als Abschiedsprozess für die Verstorbenen und die Hinterbliebenen ritualisiert (vgl. dazu Utriainen 2010),

  • Bestattungsrituale, die als „individualisiert“ und lebenszentriert (life-centered) interpretiert werden können (vgl. z. B. Davies 1997, Bailey/Walter 2015); in der Bestattung zeigt sich das an der steigenden Nachfrage von Urnenbeisetzungen ausserhalb des Friedhofs;

  • ein zunehmendes Interesse an der Beschäftigung mit dem Tod und dem Trauerprozess, was z. B. in den Angeboten und Umdeutungen von Erinnerungs- und Gedenkfesten lokaler Initiativen zum Ausdruck kommt (z. B. Jahreszeitenfeste, Allerheiligen, vgl. Venbrux 2010) wie auch in Informations- und Kulturzentren wie dem FriedhofsForum ZürichFootnote 20 und in der Organisation von Gesprächstreffen zum Thema «Tod», z. B. das Trauercafé im Alterszentrum «sumia» Sumiswald im Kanton Bern.Footnote 21

Auch das Berufsbild Bestatter*in wird zunehmend von diesen Entwicklungen beeinflusst. Viele Bestatter*innen bemühen sich entsprechend um Professionalisierung, Öffentlichkeitsarbeit und Ästhetisierung, um den Tod zu enttabuisieren. Bestatter*innen seien heute zugleich Verkäufer*innen, Dienstleister*innen, Therapeut*innen und Ästhet*innen, heisst es z. B. bei Hänel (2003, 2015: 429).

Die Organisation des Todes wird in der Schweiz kantonal geregelt und darüber hinaus von den einzelnen Gemeinden umgesetzt. Der Kanton Zürich nimmt in seiner staatlichen Organisation der Bestattung eine Sonderstellung ein (s. o.). Katholisch und reformiert geprägte Kantone unterscheiden sich sehr stark in der Organisation des Bestattungswesens. Die katholischen Kantone sind viel stärker privatwirtschaftlich organisiert.Footnote 22 Für die Organisation des Todes in einem engeren Sinne ist es relevant, wer die Zuständigkeiten in der Bestattung übernimmt. Auch für den Schweizer Fall sind generell die Analysen von Tony Walter interessant. Walter hat sich mit Organisationsformen von Bestattungen in verschiedenen Ländern auseinandergesetzt (vgl. Walter 2005, 2012, 2015, 2017). Er unterscheidet zwischen drei Organisationformen der Bestattung auf kommerzieller, staatlicher und religiöser Ebene (Walter 2005). In der Schweiz haben wir es mit einem Mischtypus zu tun, der überwiegend von staatlichen und kommerziellen Akteur*innen organisiert wird. In einigen ländlichen Gemeinden befindet sich der Friedhof vereinzelt um die Kirche herum, so dass hier religiöse Akteur*innen eine stärkere Rolle in der Organisation der Bestattung spielen. Hilfreich für die Analyse des Einzelfalls ist auch die Unterscheidung von Walter zwischen hardware und software merchants (Walter 2017). Er unterscheidet zwischen der Gruppe der hardware merchants, die sich um den Körper und seinem Verbleib kümmern (Bestatter*innen, Friedhofsverwaltung und Krematorien) und der Gruppe der software merchants, die für die Seele des Verstorbenen und für den Umgang mit dem Verlust des Verstorbenen aus der sozialen Gemeinschaft zuständig sind (Kirche, Redner*innen, Ritualleiter*innen; ebd.: 196). Er unterscheidet zudem zwischen contractor und subcontractor, so dass es möglich wird, dass der/diejenige, der/die den Auftrag von den Angehörigen erhält, einzelne Aufgaben an andere (wie Subunternehmer) weiter delegieren kann (ebd.).

In der Gruppe der Ritualleitenden haben wir es überwiegend mit software merchants zu tun. Es gibt jedoch auch Anbieter*innen, die sowohl software- als auch hardware-Dienstleistungen anbieten (s. u. 4.6, 7.4.2, 8.2.2, 9.1).