Im Folgenden geht es darum, die Ergebnisse meiner Positionierungsanalysen in den thematischen Feldern Natur, Ritual und Differenz vergleichend zusammenzufassen (10.210.4). Zuvor sollen die vorgelegten Analysen aber vor dem theoretischen Hintergrund der eingangs dargestellten Konzepte von Ritualisierung und Agency reflektiert werden (10.1).

10.1 Ritualisierende Agency

Die von mir untersuchten Ritualleiter*innen stehen unter dem Druck, sich zu legitimieren, da sie ihre Angebote ausserhalb eines institutionell vorgegeben Rahmens anbieten, bei dem sich durch Tradition bereits Wirksamkeit bewährt hat. Den Ritualleiter*innen geht es weniger um die genaue Ausführung eines Rituals und vielmehr um die Wirksamkeit der Rituale. Deshalb spielt Agency in ihren Positionierungen eine herausragende Rolle. Diese Beobachtung teilt auch Bell: Neue Rituale werden durch ihre Wirksamkeit und weniger durch ihre Tradition legitimiert (vgl. Bell 1997: 241). Die Ritualleitenden fragen eher im Sinne eines performanz-orientierten Rituals «Hat es funktioniert?» anstelle eines liturgiezentrierten Rituals «Haben wir es richtig gemacht?» (Humphrey/Laidlaw 1994: 8–11). Das heisst nicht, dass primär wirksamkeitsorientierte Rituale ohne den Rückgriff auf Traditionen auskommen würden. Der Bezug zu einer spezifischen Tradition wird aber vor allem aufgrund seiner unterstellten Wirksamkeit gewählt.

In Bezug auf Todesrituale ist also eine Veränderung der Zuschreibung von Agency zu konstatieren. In traditionell-kirchlichen Todesritualen wird die Frage nach der eigenen Handlungs- und Wirkungsmächtigkeit durch klare Zuständigkeitsbereiche, liturgische Ordnungen und institutionelle Rahmenbedingungen weitgehend vorbeantwortet, so dass sie in der Regel als solche gar nicht auftaucht. Sie ist grundsätzlich weniger relevant, da Agency einer höheren religiösen Instanz zugeschrieben wird. Es obliegt daher nicht dem Individuum selbst, den Tod des Verstorbenen sinngebend zu begleiten. In dem Masse, in dem sich gegenwärtige Bestattungsrituale weitgehend ausserhalb kirchlicher Gemeinschaften situieren und als «frei», «alternativ» und «ungebunden» präsentieren, sind sie im Vergleich und in der Konkurrenz viel stärker gefordert, die Wirksamkeit ihrer Rituale zu definieren und zu legitimieren. Das betrifft nicht nur den Umgang mit der Transzendenz des Todes (also Sinnstiftung durch Sinnangebote und Deutungsmuster), sondern auch den Umgang mit der individuellen Trauer der Betroffenen. Es ist nicht zu übersehen, dass das inzwischen auch für die traditionellen, gemeinschaftsgebundene Rituale gilt, weil sich auch in ihnen ein gesamtgesellschaftlicher Wandel im Umgang mit dem Tod niedergeschlagen hat (s. o. 2). In diesen Zusammenhang gehören insbesondere auch Tendenzen einer Emotionalisierung von Religion und die Entwicklung einer zunehmend erfahrungsbasierten Form von Religiosität, auf die ich abschliessend noch eingehe (s. u. 11).

Die Relevanz von Agency für die Positionierung der von mir untersuchten Ritualleitenden zeigt sich übergreifend über die thematischen Felder. Ob Wirksamkeit und –mächtigkeit individuell, also dem selbstbestimmten Handeln und der eigenen Selbstermächtigung (wie im Feld Differenz), kollektiv, also dem kollektiv gemeinschaftlichen Handeln (wie im Feld Ritual) oder extern, also einer höheren Instanz zugeschrieben wird (wie im Feld Natur), ist zweitrangig gegenüber der Beobachtung, dass in allen Fällen ein enger Zusammenhang von Agency und Ritualisierung hergestellt wird. Es kommt hinzu, dass sich die Wirksamkeit der Rituale oftmals aus einem Zusammenspiel verschiedener Agency-Formen zu unterschiedlichen Zeitpunkten des rituellen Ablaufs ergibt. So kann z. B. die Vorbereitung des Rituals vor allem durch die individuelle Agency der Ritualleiter*in geprägt sein, die Performanz des Ritualgeschehens kollektiv verstanden und die Auslösung von Resonanz im Erleben extern auf das Eingreifen einer Wirkungsmacht bezogen werden. Wirksamkeit zeigt sich für die Ritualleiter*innen dann darin, dass der Ablauf und die Komponenten des Rituals so angeordnet werden, dass sie von den Angehörigen als «stimmig» erlebt werden, so dass die Teilnehmenden «berührt» sind und die Teilnehmer*innen und/oder die Ritualleiter*innen ein Gefühl von «Gemeinschaft» erleben. Wirksamkeit umfasst schliesslich auch die Möglichkeit, dass die Teilnehmer*innen und die Ritualleiter*innen im Ritual selbst Transzendenz erfahren, anstatt darauf auf vorab geteilte Glaubenssysteme angewiesen zu sein. Transzendenz manifestiert sich in diesen Fällen also weniger im Glauben als vielmehr in der unmittelbaren Erfahrung.

Vor diesem Hintergrund der gestiegenen Relevanz der Darstellung von Wirksamkeit stellt sich die Frage, wie die Ritualleitenden dieser Herausforderung begegnen. Vereinfachend gefragt: Wie kommen die Ritualleitenden zu ihrer Agency? Die Ergebnisse meiner Analysen lassen sich diesbezüglich so resümieren, dass die Akteur*innen in ihren Positionierungen ihre eigene Handlungs- und Wirkungsmacht über die Ritualisierung von Handlungen darstellen («agency I»): Ritualisierung ist so gesehen der Dreh- und Angelpunkt ihrer Agency-Darstellungen. Das gilt über die drei thematischen Felder hinweg, auch wenn es nicht zufällig im Feld Ritual besonders ausgeprägt ist. Ritualisierung ist darüber hinaus auch der Schlüssel dafür, wie der Handlungsspielraum der Ritualleitenden vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eingeschätzt werden kann: In einer Situation der Konkurrenz unterschiedlicher Angebote für die Begleitung der Angehörigen und Hinterbliebenen von Verstorbenen eröffnet die Möglichkeit zur Ritualisierung von Handlungen offenbar einen Spielraum, den die Ritualleitenden gezielt nutzen. Ihre Agency (im Sinne von «agency II») erwächst deshalb direkt aus Prozessen der Ritualisierung. Ich fasse diese beiden Beobachtungen unter dem Stichwort der «ritualisierenden Agency» zusammen und sehe darin den in meinen Daten manifesten Ausdruck von ritueller Flexibilität.

Das Konzept ritualisierender Agency geht aus der Zusammenführung von Agency und Ritualisierung hervor. Es soll zum Ausdruck bringen, dass durch Ritualisierungen Agency realisiert, entwickelt und gestaltet wird. Diese Entfaltung der Agency der Ritualleitenden (im Sinne von «agency I») vollzieht sich nicht im luftleeren Raum, sondern vor dem Hintergrund der sozio-historischen Bedingungen einer konkreten historischen Situation, die durch das konkrete Ritual und die es konstituierenden Ritualisierungen angezeigt und modifiziert werden. Darunter fallen z. B. ökonomische Rahmenbedingungen und institutionelle Vorgaben der Bestattungsämter und der Kommunen in der Deutschschweiz (s. dazu o. 2). Zu diesen Rahmenbedingungen gehören aber auch die bereits verfügbaren rituellen und liturgischen Ordnungen der religiösen Traditionen, in die sowohl die Ritualleitenden als auch die Teilnehmenden sozialisiert wurden. Konkret zeigt sich das z. B. in der Form des «Segens», der in verschiedenen Ausprägungen in allen der von mir beobachteten Ritualen auftaucht. Schliesslich gehören in diesen Zusammenhang auch grössere gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, die mit Veränderungen von Religion und Religiosität und weiterreichenden Prozessen der Individualisierung, Therapeutisierung und Emotionalisierung zu tun haben (s. u. 11) und sich in meinen Daten z. B. als normativ besetzte Konzepte vom Wert der Autonomie des Individuums und in der wie selbstverständlichen Wertschätzung von Gefühl und Erfahrung zeigen (Abbildung 8.1).

Ritualisierende Agency betont, dass die Ritualleitenden im Angebot von Todesritualen ausserhalb einer religiösen Gemeinschaft durch Ritualisierung eine eigenständige Handlungsmächtigkeit und Verantwortlichkeit erlangen. Auf der Ebene der Positionierungsanalyse spiegelt sich die ritualisierende Agency darin, wie die Akteur*innen selbst ihre Handlungsspielräume und ihre eigene Teilhabe an einem sozialen Geschehen in den Interviews und in den Bestattungsritualen kommunizieren («agency II»). Beispielsweise können Akteur*innen strukturell wenig Handlungsspielräume haben, sich selbst aber als aktiv Handelnde verstehen.

10.2 Rituelle Flexibilität

Meine empirischen Untersuchungen lassen dazu unterschiedliche Ausprägungen von Agency in den drei gefundenen thematischen Feldern hervortreten (Abbildung 6.1), was die Anpassungsfähigkeit der Selbstpositionierungen wie der Ritualisierungen an unterschiedliche gesellschaftliche Diskurse und konkrete Erfordernisse der Angebotssituation belegt. Sowohl die Ritualbeobachtungen wie die Interviews mit den Ritualleitenden belegen, dass wir es nicht mit starren Abläufen mit immer gleichen oder nur leicht variierten Elementen zu tun haben, sondern mit flexibel auf die Besonderheiten der Situation angepassten Ritualisierungsangeboten. Darin zeigt sich eine spezifische rituelle Flexibilität, die ich als Ergebnis ritualisierender Agency betrachte. Ich sehe darin einen wichtigen Bestandteil von «ritual mastery» im Sinne von C. Bell (s. o. 3.1.2), der für die von mir untersuchten Todesrituale über alle thematischen Felder hinweg zentral ist. Diese Beobachtung kann an ähnliche Beobachtungen von ritueller Flexibilität anschliessen, wie sie in der Literatur berichtet werden. Dazu zählt etwa die Metapher von «rituellen Pendelbewegungen», die sich in einem Spannungsverhältnis zwischen säkularer Praxis und religiöser Handlung, privatem Brauch und öffentlicher Manifestierung vollziehen (vgl. Quartier 2009: 188). Weiter kann unmittelbar an die Untersuchungen von D. Lüddeckens angeschlossen werden, die mit Bezug auf neue Bestattungsrituale in Deutschland und der Schweiz von «ritueller Selbstermächtigung und struktureller Flexibilität» spricht (2015a). Sie fasst darunter insbesondere den flexiblen Umgang mit rituellen Skripten (ebd.: 158), wie er sich im selbstbestimmten Umgang mit rituellen Sequenzen und ihrer Neuanordnung, Veränderung oder im Weglassen einzelner und Beibehalten anderer Elemente manifestiert. Eine Folge von ritueller Flexibilität kann darin gesehen werden, dass diese Rituale von den Rezipient*innen als neue angesehen werden, da sie nicht nur Wiederholungen von Bekanntem bieten, wie es in traditionellen Ritualen der Fall ist, und auch nicht direkt an einen religiösen Kontext anschliessen müssen (ebd.). Die Vorstellung der «Selbstermächtigung» knüpft sehr stark an Individualisierung an und betont die bewusste Entscheidung und eigene Aneignung ritueller Inhalte und Formen. Ich komme darauf noch zurück, wenn ich meine Beobachtungen in den grösseren gesellschaftlichen Kontext stelle (s. u. 11).

10.3 Natur

Innerhalb des thematischen Feldes Natur zeigt sich ritualisierende Agency im Umgang mit Todesbildern, die den Tod akzeptieren und ihn ins Leben einbetten. Die Ritualisierung erstreckt sich hier auf Praktiken, die dabei helfen sollen, sich dem Tod zu nähern. Z.B. integriert die Praxis der Jahreskreisfeste den Tod in den Jahreslauf, was von den Akteur*innen durch gezielt eingesetzte Ritualisierungen betont wird. Im Rhythmus des Jahreskreises zeigen sich das Werden und Vergehen, die metaphorisch als Gebären, Wachsen, Blühen, Verwelken und Sterben gedeutet werden. Genau das wird durch Ritualisierungen hervorgehoben, wie es z. B. in den Jahreskreisfesten geschieht (etwa im «Lichterfest» Anfang November, das für den Beginn der dunklen Jahreszeit steht s. o. 7.4.4.).

Die Rhythmen der Natur werden dabei als gegeben präsentiert und zugleich als wirkmächtige Instanz etabliert. Insofern habe ich von «externer» Agency gesprochen (s. o. 7). Die externe Agency drückt sich häufig in einem passiv-aktiven Handlungsschema aus, bei dem sich die eigene Aufgabe der Ritualleitung zwischen Zurückhaltung und Begleitung bewegt und dabei auf das Wirken eines nicht auf eigene Steuerung angewiesenen Prozesses vertraut. So kann z. B. darauf vertraut werden, dass in der Gegenwart des/r Verstorbenen eine Resonanz entsteht, wenn die Ritualleiterin schon durch ihre Mitanwesenheit einen passenden Rahmen dafür bereitstellt. Beate Wegener-Merkle, die Interviews mit werdenden Müttern geführt hat, weist ebenfalls auf ein solches Handlungsschema hin. Die Akteurinnen «fühlen sich nicht im negativen Sinne passiv einem unbeeinflussbaren Schicksal ausgeliefert, sondern fügen sich bewusst in natürliche Prozesse ein, die als mächtiger als sie selbst wahrgenommen werden» (Wegener-Merkle 1995: 126).

Terhi Utriainen hat in Beobachtungen von weiblichem Pflegepersonal auf eine ähnliche Agency-Form bei der Begleitung von Sterbenden hingewiesen (Utriainen 2010). Sie beschreibt das «Da-sein» als eine empfangende und reagierende Haltung, bei der es eher um Da(bei)sein als um ein konkretes Tun geht (ebd.: 442 f). Sie beschreibt diese Agency-Form als eine aktiv-passive und typischerweise weibliche Agency, bei der die empfangende Qualität des weiblichen Körpers und eine entsprechende Resonanzfähigkeit betont wird («holistische Rezeptivität», 448). Es geht dabei um eine mystische Agency und um mystische Erfahrung, die sich vor allem durch Passivität auszeichnet, die im Eingehen auf das Gegenüber und die Natur besteht.

Natur fungiert hier als der grössere Bezugsrahmen, der als Weltbild oder Teil eines Weltbildes den Tod einschliesst und einbettet und von dem eine eigene Wirkmächtigkeit ausgeht. Deshalb können sich die Akteur*innen über Deutungen der Natur Agency verschaffen und auf diese Weise zumindest teilweise den Tod ‚entschlüsseln‘ und auch mit den Verstorbenen in Kontakt bleiben. Zur Natur gehört auch Geschlecht, das als Weiblichkeit und Männlichkeit definiert wird, und a priori mit einer externen Wirkmächtigkeit versehen werden, die dann auch auf die Prozesse des Sterbens einwirkt. Die Konstruktion einer mythologischen Vergangenheit der Natur zeigt sich bei MSchäublin und UMeier sehr deutlich (z. B. am Beispiel der Verehrung des Holunder und der Verehrung von Mutter Erde bei UMeier). Die Ritualleitenden lehnen sich dabei – wie im Empirieteil gezeigt – auch an feministische Spiritualität an und verhandeln Gender-Beziehungen und Hierarchien teilweise neu (Pesonen/Utriainen: 2014, Gross 1996).

10.4 Ritual

Für das thematische Feld Ritual ist es kennzeichnend, dass dem Ritual selbst eine affirmative Kraft zugeschrieben wird, die aus dem Vollzug des Rituals entsteht. Im Mittelpunkt steht also die Performanz des Ritualvollzugs, die von den am Ritual Teilnehmenden nicht nur individuell erlebt, sondern auch gemeinschaftlich mit- und nachvollzogen werden kann. Das Herstellen von gemeinschaftlich stark erlebten Gefühlen konnte deshalb als wichtiges Ziel der Ritualleiter*innen herausgearbeitet werden. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen wird als die Ritualisierungen verstärkend beschrieben: D. h., dass der kollektive Prozess nur erlebt und mitvollzogen wird, wenn die Einzelnen nicht «blockiert» sind. Die damit einhergehende Emotionalisierung (s. o. 2.4.3) wird als Effekt von ritualisierender Agency systematisch herbeigeführt. Für die Ritualleiter*innen schaffen Emotionen einen rituellen Rahmen, und die rituelle Rahmung setzt dann wiederum Emotionen frei. In diesem Sinn können Emotionen durch das Ritual evoziert und gesteuert werden. Einige Ritualtheorien gehen auch davon aus, dass im Ritual spirituell-emotionale Ressourcen freigesetzt werden (vgl. Bell 1997: 240). Auch ist der Effekt von gemeinschaftlich verstärkten Emotionen schon bei Durkheim (1912) beschrieben worden, der in diesem Zusammenhang von «kollektiver Efferverszenz» gesprochen hat. Dieser Ansatz ist von Randall Collins für Interaktionsrituale weiterentwickelt worden (2004, 2014):

The successful ritual, by bringing about mutual focus of attention and rhyhmic entrainment, transmutes any shared emotions into a new emotion: the collective effervescence of solidarity (Collins 2014: 300).

Die Emotionen, die in einem Ritual aufkommen und geteilt werden, werden über die gemeinsame Fokussierung und Konzentration in eine neue Emotion der Solidarität gewandelt. In Interaktionsritualen entsteht eine emotionale Energie, durch die sich grundlegende Emotionen von Freude, Trauer oder Wut in sog. higher-order emotions (wie z. B. Zuversicht, Enthusiasmus oder Entschlussbereitschaft) transformieren können (Collins 2004, Collins 2014: 300).

Für das thematische Feld Ritual ist es deshalb wichtig, dass Transformation(en) sichtbar und erlebbar gemacht werden. Das betrifft individuelle wie kollektive Transformation. Entsprechend gibt es Ritualisierungen, die bei den Teilnehmenden innere Prozesse auslösen (sollen). Ritualleiter*innen suchen dann nach äusseren Zeichen für diese inneren Transformationen, damit die inneren Transformationen, die im Ritual vollzogen werden, auf den äusseren Kontext des Rituals bezogen werden können. Das kann das Wetter im Moment des Rituals sein, aber auch ein Aspekt der räumlichen Umgebung, in der das Ritual stattfindet. Der äussere Kontext wird somit als Anknüpfungsmöglichkeit genutzt, um mit konkreten Wahrnehmungen während des Rituals innere Transformationen der Teilnehmenden zu veranschaulichen. So markiert beispielsweise UMeier durch die stehende «gebetsartige» Haltung während der Stille im Ablauf der Abschiedsfeier (s. o. 8.4.1) eine besondere Präsenz, mit der sich die Handlung von einer alltäglichen Handlung unterscheidet. Auf diese Weise ritualisiert sie ihre Handlung (Bell 1997: 70, s. o. 3.1.2).

Im Feld Ritual ist die Fähigkeit, ein Ritual zu gestalten, fester Bestandteil ritualisierender Agency. Sie zeigt sich darin, flexibel Elemente aus einem traditionellen religiösen Kontext und anderen Kontexten einzusetzen (z. B. aus dem Bereich der Literatur, Psychologie). Besonders oft werden in den Ritualen auch sog. natural symbols eingesetzt (vgl. Quartier 2011: 639–645). Dazu gehören Symbole wie die «vier Elemente» und symbolische Gegenstände aus der Natur. Im o. detailliert beschriebenen Fallbeispiel eines Rituals (s. o. 4.1) war der Baum ein solches Symbol, das mehrfach eingesetzt wurde. Andere Beispiele wären Sonnenblumenkerne, Sand, Zweige mit Knospen, Holunder, aber auch Licht durch Kerzen. Mit diesen Elementen kann in besonderer Weise Verbundenheit und Kreativität ausgedrückt werden (vgl. Bowman 2017).

Oftmals werden religiöse Symbole und Texte (ohne genaue Quellenangabe: ich lese einen text eines wissenden Menschen aus alter zeit, UMeier; P 28) sowie Handlungen (wie das Läuten einer Glocke oder das Anzünden einer Kerze) als universal gedeutet oder neu interpretiert, um sie in die eigenen Ritualgestaltungen zu integrieren. Symbole und Texte können flexibel eingesetzt oder auch weggelassen werden, wenn sie den Wünschen der Kund*innen entsprechen und in den rituellen Rahmen der Ritualleiter*innen passen. Stattdessen kann auch Stille eingesetzt werden. Die Ritualgestaltung wird von den Ritualleiter*innen als eine gemeinschaftliche Aufgabe dargestellt, die auch die Kund*innen miteinbezieht. Dennoch geben die Ritualleiter*innen den dramaturgischen Ablauf des Rituals vor und bieten den Kund*innen ein Repertoire an Inhalten an. Einige Ritualleiter*innen reagieren auch spontan während des Abschiedsrituals auf die Bedürfnisse der Angehörigen und die Gegebenheiten der Situation und vertrauen auf spontane Eingebungen und Hinweise, die aus der jeweiligen Situation entstehen. Auch hier zeigt sich wieder, wie dem Ritual eine eigene Wirkungsmächtigkeit zugeschrieben wird, auf die sich die Ritualleitenden verlassen können.

Eine Bezugnahme der empirischen Ergebnisse auf Bells ritual-ähnliche Merkmale zeigt weitere Aspekte der Strategien ritualisierender Agency, die insbesondere innerhalb der Positionierung im Feld Ritual von den Beteiligten genutzt werden. Dazu gehört der Aspekt der Traditionalisierung, der sich durch die präzise Wiederholung, durch die Verlagerung vergangener Aktivitäten in einen neuen Kontext oder einfach nur über den Verweis auf die Vergangenheit ergibt (vgl. Bell 1997: 145). Er zeigt sich in meinen Daten z. B. in dem Verweis, dass etwas «seit Menschengedenken» so gemacht werde, in der Verwendung der «Ur»-Silbe wie z. B. in «Ur-ton». Er zeigt sich aber auch dort, wo liturgische Elemente (z. B. ein Segen) oder Bruchstücke aus anderen Traditionen (wie «das letzte Geleit») übernommen werden, so dass es zu einer Ritualisierung des Geschehens kommt, durch die den Ritualleitenden wie den Angehörigen der jeweilige Rahmen besonders deutlich vor Augen geführt wird. Hierbei erfahren die gemeinschaftsungebundenen Rituale auch Unterschiede Grade von Formalisierung, die innerhalb eines Ablaufs variieren können (s. o. 4.1, 8.4.2).

Die Beherrschung von ritual mastery ist im Feld Ritual sehr ausgeprägt (s. o. 3.1.2). Ritual mastery wird dann deutlich, wenn Ritualleiter*innen an traditionelle rituelle Ordnungen und religiöse Semantiken anknüpfen. Das geschieht beispielweise, wenn sie das Unser Vater sprechen, aber auch wenn sie in kreativer Weise neue Formen einsetzen, in denen Erfahrungen von Transzendenz anklingen (s. o. 7.4.3, 7.4.4, 8.4.2, 9.4.3).

Darüber hinaus zeigt sich ritual mastery z. B. sehr deutlich an den Weiterbildungsangeboten der Ritualleiter*innen, deren Bausteine von Selbsterfahrung über die Kenntnis über Übergangsrituale bis hin zu Auftrittskompetenz reichen. Wie aus den Interviews hervorgeht, musste sich die «erste» Generation der Ritualleiter*innen diese ritual mastery noch viel stärker aneignen als die Generation ihrer Schüler*innen. Wir haben es in diesem Sinne mit rituellen Unternehmer*innen (ritual entrepreneurs) zu tun, die sich der Erfindung und Optimierung von Ritualen sehr bewusst sind (self- conscious ritual entrepreneurship) (Bell 1997: 224).

Die Abfolge der rituellen Sequenzen wird von den Ritualleiter*innen überwiegend so gestaltet, dass sie in der Aufführung als vorgeschrieben erlebt wird. Dazu tragen liturgische Elemente wie ein Segen und Lieder bei und weitere Rahmungen, die – wie das Glockengeläut – an den religiösen kulturellen Kontext anknüpfen. Das entspricht dem liturgie-orientierten Typus von Ritualen nach Humphrey und Laidlaw. Performanz-orientierte rituelle Sequenzen sind demgegenüber viel schwieriger zu erklären, da der Aspekt der Vorgeschriebenheit hier weniger offensichtlich ist. Einige Handlungen knüpfen an Traditionen aus dem populären kulturellen Kontext an. Die Identität dieser Handlung ist somit ebenfalls vorgeschrieben, wenn sie von den Teilnehmer*innen als solche erkannt wird. Als Variation eines vorgeschriebenen Elements kann z. B. auch das Glockenläuten mit der Klangschale auf dem Friedhof gedeutet werden. Die Ritualleitende deutet das Glockenläuten als eine universale rituelle Handlung und passt es an ihre Bedürfnisse an. Ähnlich kann das Tragen der Urne durch die Angehörigen eingesetzt werden. Handlungen mit Pflanzen, denen eine kulturgeschichtliche Bedeutung zugeschrieben wird, werden ebenfalls von einem Teil der Gruppe als vorgeschrieben erlebt, wie z. B. der Holunder und das Holunder Verbrennen des Holunders. Materialisierungen dieser Art (zu denen auch die Nutzung eines Baumstamms gehören kann: s. o. 4.1) tragen in den beobachteten Fällen zur Personalisierung und Emotionalisierung des Ritualablaufs bei und können Vorstellung von Transzendenz auslösen (vgl. Engelke 2015: 25). Sie belegen, wie im thematischen Feld Ritual die Agency im Ritualgeschehen selbst verortet wird.

10.5 Differenz

Entscheidend für das thematische Feld Differenz sind Personalisierung und Individualisierung des Ritual-Angebots. Die eigene Handlungs- und Wirkungsmächtigkeit erwächst aus der Autonomie der Ritualleitenden, die aus der Abgrenzung zu bestehenden traditionellen Angeboten gewonnen wird, denen ein Mangel an Personalisierung und Individualisierung der angebotenen Formen zugeschrieben wird. Die Angehörigen können deshalb zwischen verschiedenen Bestattungsformen auswählen und diese auch persönlich gestalten. Durch gezielte Ritualisierungen im Bereich des Bestattungshandwerks können sich einige Ritualleiter*innen auch im Bereich der Bestattung behaupten.

Argumentationsmuster des Erkämpfens und narrative Darstellungen des Erleidens unterstreichen die Notwendigkeit der eigenen Selbstermächtigung und der Ermächtigung der Ritual-Teilnehmenden. Bedürfnisorientierung verhilft den Teilnehmenden und den Ritualleiter*innen zu ihrer Handlungs- und Wirkungsmächtigkeit. Ritualisierungen sind dabei ein wichtiges Mittel, um das eigene Handeln zu legitimieren. Der Austausch in der Vorbereitung und im Ablauf des rituellen Geschehens bietet den Ritualleiter*innen immer wieder Möglichkeiten, sich rückzuversichern, wie ihre Angebote bei ihren Kund*innen ankommen und ihre Angebote spontan anzupassen, wenn das erforderlich ist. Die Ritualleiter*innen sind also auf die Bestätigungen ihrer Kund*innen und der Teilnehmenden angewiesen. Die Ritualteilnehmenden werden entsprechend angeleitet, selbst Ideen für Ritualisierungen einzubringen. In einigen Fällen werden sie auch angeregt und aufgefordert, selbst Rituale durchzuführen. Die Ausführung von Ritualen ist also nicht nur den rituellen Spezialist*innen vorbehalten. Dabei liessen sich Unterschiede in der rituellen Leitung herausarbeiten. Auch wurde von einigen Ritualleiter*innen eine rituelle Autorität beansprucht, in das Geschehen ordnend und strukturierend einzugreifen.

Im Feld Differenz kann immer wieder beobachtet werden, dass die Angebote als einzigartig dargestellt werden. Die Akteur*innen stellen sich als die Urheber*innen bestimmter Handlungen dar (z. B. gemeinschaftliche Sargschliessung mit den Angehörigen).

Das wichtige Deutungsmuster von Frei-sein und Unabhängigkeit lässt sich in Übereinstimmung mit dem Code «frei sein» bringen, der bei Lüddeckens 2018 diskutiert wird («being free»: 111.).

In Bezug auf die Personalisierung der Angebote finden sich Überschneidungen zu den Konzepten von Ritualdesign und Ritualkreativität (s. o. 3.1.1). Neben der Zusammenstellung von Elementen aus verschiedenen religiösen und kulturellen Traditionen konnten im Kontext der Kunden- und Bedürfnisorientierung auch Strategien der Ästhetisierung in den Abschiedsfeiern und in den Äusserungen der Ritualleiter*innen beobachtet werden (vgl. Radde-Antweiler 2006: 66, Karolewski 2012: 19). Anhand der Ästhetisierung natürlicher Elemente werden metaphysische Deutungsangebote gemacht, die traditionell-religiöse Deutungsmuster ersetzen oder ergänzen (vgl. auch Butters 2016). Hier lassen sich wieder Bells ritualähnliche Aspekte des Traditionalismus, Formalismus und Performanz erkennen.

Zu den Besonderheiten im Feld Differenz gehört auch die Betonung der Bedeutung von Weiblichkeit und Tod. Dabei steht die Betonung einer spezifisch weiblichen Verbindung zur Natur und anderen Frauen im Sinne einer Gemeinschaft, zu Vorbildern und zu Ahn*innen im Zentrum. Bei MSchäublin und AWyrsch zeigt sich auch das Phänomen, dass sie eine vermeintlich männlich dominierte Praxis durch weiblich konnotierte Sprache und Symbole ersetzen.