Die Umsetzung und Gestaltung der mit dem Tod eines Angehörigen verbundenen Aufgaben (von der Pflege des Leichnams bis zur Trauerfeier und Beisetzung) ist in der Schweiz längst nicht mehr nur in der Hand von Bestattungsunternehmer*innen und Vertreter*innen der institutionalisierten Kirche(n). Vielmehr sind die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Angeboten der rituellen Begleitung des Todes wählen zu können, und die mit der Wahl verbundene Entscheidung zwischen verschiedenen Angeboten und Ritualen in den letzten Jahrzehnten für viele Menschen immer selbstverständlicher geworden. In der Schweiz wächst das Interesse am Thema der Gestaltung von Trauerfeiern insbesondere bei Menschen, die nicht (mehr) in der Kirche sind, stetig. Der Anteil der Konfessionslosen, die sich keiner Religionsgemeinschaft zugehörig fühlen, hat (auch) in der Schweiz kontinuierlich zugenommen (vgl. Stolz/Ballif 2010: 49, vgl. Stolz et al. 2014: 176 f.). Lag die Zahl der Konfessionslosen im Jahr 2000 bei 11 %, war sie 2014 schon bei 22 % (vgl. BFS 2016: 6), hat sich also innerhalb von rund 15 Jahren bereits verdoppelt. In der Stadt Zürich waren in 2017 36 % der Bevölkerung konfessionslos (vgl. Statistik Zürich 2020).Footnote 1 Entsprechend gross ist das Interesse an Alternativen bei der Gestaltung von Trauerfeiern, was sich in der medialen Öffentlichkeit spiegelt und auch auf die Kirche(n) zurückwirkt. Ein Beispiel dafür ist ein am 20.10.20 in der Zürcher Tageszeitung Der Tagesanzeiger veröffentlichter Artikel über eine Aargauer Pfarrerin, die nicht nur im Rahmen ihrer Pfarrstelle, sondern auch privat Trauerfeiern anbietet und damit selbstständig erwerbend ist (vgl. Anderegg 2020). Wie in diesem Artikel nachzulesen ist, steigt die Nachfrage nach nichtkirchlichen Bestattungsfeiern immer weiter an. Entsprechend hat sich ein Markt mit verschiedenen Anbieter*innen etabliert, der offenbar hart umkämpft ist und u. a. durch ein Spannungsverhältnis zwischen kirchlichen und nichtkirchlichen Angeboten bestimmt ist.Footnote 2

Im Zentrum dieser Arbeit stehen nichtkirchliche konfessionsfreie Todesrituale. Der Begriff Todesritual schliesst dabei neben Bestattungsritualen auch Ritualisierungen der Totenpflege und Erinnerungs- und Gedenkrituale mit ein und umfasst damit alle ritualisierten Handlungen, die anlässlich des Todes eines Menschen erfolgen. Todesrituale ausserhalb religiöser Gemeinschaften, wie ich sie in dieser Arbeit empirisch untersuche, werden oft auch als «alternative» oder «neue», «freie» und auch als «nicht-kirchliche» oder «nicht-religiöse» Rituale bezeichnet.Footnote 3 Ich werde im Folgenden die Bezeichnungen freie Rituale und gemeinschaftsungebundene Rituale verwenden, weil es um Rituale geht, die den Selbstanspruch haben, frei von jeglicher institutioneller Anbindung zu sein und bei denen eine Gemeinschaft in der Regel nur über einen kurzen Zeitraum von ein paar Wochen besteht.Footnote 4 Ich beschäftige mich mit diesen Ritualen vornehmlich aus der Perspektive der Ritualleiter*innen, die als Anbieter*innen gemeinschaftsungebundener Rituale am Markt auftreten. Dabei stehen folgende Fragen im Mittelpunkt meines Interesses:

  • Welches Selbstbild vertreten die Ritualleiter*innen?

  • Was sind ihre Beweggründe für die Ausübung ihrer Tätigkeit? Wo verorten sie sich selbst?

  • Welche Aufgaben verbinden sie mit ihrer Tätigkeit?

  • Wem sprechen sie Handlungs- und Wirkmächtigkeit («agency», s. u.) zu?

  • Welche Themen und Konzepte sind für ihr Handeln und Erleben zentral? An welche kollektiven Sinngehalte (Deutungsmuster) schliessen sie dabei an?

Ausgehend von diesen Fragen sollen die Semantiken beschrieben werden, die die Ritualleitenden in nichtkonfessionellen, gemeinschaftsungebundenen Todesritualen in der Deutschschweiz verwenden. Dabei wird sich zeigen, dass sich gegenwärtige Todesrituale sehr stark durch rituelle Flexibilität auszeichnen. Damit ist gemeint, dass Ritualleitende zwischen verschiedenen rituellen Formen hin- und herwechseln können (vgl. Bell 1992: 116, vgl. auch Lüddeckens 2015a zu «ritueller Selbstermächtigung» und «struktureller Flexibilität»). Darin manifestieren sich gesamtgesellschaftliche Prozesse über den Umgang mit dem Tod hinaus, die im Forschungsstand dieser Arbeit unter Stichworten wie Psychologisierung, Therapeutisierung und Emotionalisierung beschrieben und diskutiert werden (s. u. 2.4; 2.4.3).

Die steigende Nachfrage nach nichtkonfessionellen gemeinschaftsungebundenen Todesritualen ist Ausdruck tiefgreifender Veränderungen im Umgang mit dem Tod. Trotz fortschreitender Säkularisierung kann der Tod als der letzte Anlass gelten, dessen rituelle Begleitung über lange Zeit noch fest in den Händen traditionell-religiöser Anbieter*innen war. Dies hat sich erst mit der vertieften Auseinandersetzung mit dem Thema Tod und Sterben geändert, die mit gesellschaftlichen Prozessen verbunden ist, wie sie insbesondere in vielen westeuropäischen Ländern aufgetreten sind und die als Medikalisierung und Technisierung diskutiert werden. Die Steigerung der durchschnittlichen Lebenserwartung, die Verlängerung des Sterbeprozesses und der Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit haben insgesamt zu einem anderen Verständnis des Todes geführt. Auch der technisch-medizinische Fortschritt und die parallel dazu laufenden Prozesse der Säkularisierung des Todes haben inzwischen eine Reihe von Gegenbewegungen zur gesellschaftlichen Distanzierung dem Tod gegenüber entstehen lassen und neue Antworten auf das Problem des Lebensendes hervorgebracht. Dazu gehören z. B. die Beschäftigung mit dem Lebensende unter dem Aspekt des «gesunden Alterns» und dem Aspekt charakteristischer Alterserkrankungen (wie «Alzheimer» und anderer «Demenzerkrankungen») sowie die Sterbebegleitung und «Hospizbewegung» mit der Forderung «guten Sterbens» und «alternativer Trauerkulturen». In diesen grösseren gesellschaftlichen Kontext gehört auch das Aufkommen von Todes-, Bestattungs- und Abschiedsritualen ausserhalb konfessionell gebundener religiöser Gemeinschaften in der Schweiz, das seit etwa 20 Jahren vermehrt zu beobachten ist.

Die skizzierten gesellschaftlichen Veränderung im Umgang mit dem Tod spiegeln sich auch in der Forschung. Neben der Beschäftigung mit dem Thema Tod in verschiedenen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, in denen der Tod seit jeher ein wichtiges Thema ist, lässt sich seit etwa 20 Jahren ein verstärktes Interesse am Gegenstandsbereich in interdisziplinär ausgerichteten Forschungsbereichen wie der Thanatologie (vgl. Feldmann 2010 und die seit 2010 von Groβ et al. herausgegebene Reihe «Todesbilder: Studien zum gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod», z. B. Groβ/Tag/Schweikardt 2011) und der sog. death studies ausmachen (vgl. dazu z. B. die Zeitschriften mortality und death studies), das die oben genannten Bewegungen und Veränderungen unmittelbar betrifft.

Veränderungen im Umgang mit dem Tod sind auch und gerade für die Religionswissenschaft von besonderem Interesse, da der Tod traditionell über die Religion erklärbar gemacht wird (vgl. z. B. Luhmann 2002 [2000]: 48; s. u. 2.1). So wird in einem 2018 ebenfalls im Tagesanzeiger erschienenen Artikel auf ein Paradox im gegenwärtigen gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod aufmerksam gemacht: Einerseits gibt es in der Schweizer Bevölkerung offenkundig ein gesteigertes Interesse am Thema Tod und Sterben, aber gleichzeitig bestimmt immer noch eine gewisse Fremdheit den Umgang mit dem Thema. Das Sprechen über Tod und Sterben findet zwar statt, aber Tod und Sterben werden kaum erfahren. Weiter heisst es in dem Artikel: «Dass der Tod so stark interessiert, liegt auch daran, dass die Religion als Orientierungsrahmen wegbricht, spirituelle Fragen aber bleiben»Footnote 5.

Interessant ist, dass hier zwischen Religion und Spiritualität unterschieden wird und damit offenbar eine in der Religionssoziologie viel diskutierte These aufgenommen wird, derzufolge institutionelle Religion und die Verbindlichkeit von Religion immer weiter abnehmen (s. o.), religiöse Fragen aber nach wie vor die Menschen beschäftigen (vgl. z. B. Luckmann 1991). Wenn ich mich in dieser Arbeit mit gemeinschaftsungebundenen Todesritualen beschäftige, werden dabei also in empirischer Hinsicht auch Fragen nach dem Verhältnis von Religion und Spiritualität aufgeworfen. Auch der Zusammenhang zwischen Tod und Transzendenz spielt, wie noch zu zeigen ist (s. u. 2.1, 2.4.2, 7.4.5, 10), eine Rolle. Ein religionswissenschaftliches Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit besteht deshalb auch darin, am Beispiel von gemeinschaftsungebundenen Todesritualen Veränderungen (im Verständnis) von Religion aufzuzeigen und vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen von Psychologisierung, Emotionalisierung und Therapeutisierung zu diskutieren (s. u. 2.4.12.4.3).

Vorrangig jedoch lässt sich mein Vorhaben zu freien Todesritualen in der Deutschschweiz in einem religionswissenschaftlichen Kontext verorten, in dem es um die Bestimmung und Unterscheidung von Ritualen geht (Ritualtheorie) und um (religions)soziologische Fragen der Zuschreibung von Agency (Handlungsmacht und Wirkmächtigkeit) und des Zusammenhangs von Transzendenz, Emotion und Religion. Dieser religionswissenschaftliche Kontext ergibt sich, wie ich zu zeigen versuchen werde, unmittelbar aus meinem empirischen Gegenstandsbereich. Der grössere kulturwissenschaftliche Diskurs über Tod und Sterben und das schon erwähnte interdisziplinäre Forschungsfeld der death studies, die eine Fülle von Forschungsliteratur hervorgebracht haben, werden in dieser Arbeit dagegen nur selektiv an den Stellen behandelt, an denen sie unmittelbar an meine eigenen empirischen Ergebnisse anschliessen.

Als besonders relevant für die Ergebnisse meiner empirischen Untersuchungen hat sich das Konzept der ritualisierenden Agency erwiesen. Damit ist die Inanspruchnahme und Zuschreibung von Handlungsmacht und Wirksamkeit im Vollzug von Ritualen gemeint. Es geht also, anders gesagt, um ritualbezogene Agency, wie sie für die von mir untersuchten Selbstbilder der Ritualleitenden von besonderer Bedeutung ist (s. u. 69).

Dabei interessieren mich Rituale nicht als feste und fertige Gebilde. Vielmehr beschäftigt mich beschäftigt der Prozess, wie etwas zu einem Ritual wird. Dafür wird in der Literatur der Begriff der «Ritualisierung» verwendet. Damit verbinde ich in Anlehnung an C. Bell (vgl. Bell 1992: 72) die Entstehung einer Ritualzuschreibung durch die bewusste und gezielte Anwendung einer Handlung zur Unterscheidung von nicht-rituellen Handlungen. Solche Unterscheidungen sind für mein Forschungsfeld charakteristisch: Die Ritualleitenden unterscheiden ihre ritualbezogenen Handlungen bewusst und systematisch von gängigen religiösen, wirtschaftlichen und staatlichen Formen des Umgangs mit dem Tod.

Ritualisierung stellt in diesem Zusammenhang auch eine wesentliche Antwort auf den Umgang mit eigener Handlungsmacht und zugeschriebener Handlungs- und Wirksamkeit dar: Mit Hilfe bewusst vollzogener Ritualisierungen machen die Ritualleitenden ihre Handlungsmacht im Sinne konkreter Agencyformen sichtbar, indem sie auf strukturelle Gegebenheiten reagieren. Deshalb bieten sozialtheoretische Konzepte von Agency, die seit einigen Jahren verstärkt diskutiert werden, einen passenden theoretischen Rahmen sowohl für die Grundannahmen meiner Untersuchung («agency I» genann, s. u. 3.2) als auch für die Interpretation meiner Ergebnisse («agency II» genannt, s. u. 5.4.4).

Damit versucht die Arbeit nicht nur einen ritualthereoretischen, sondern auch einen soziologisch fundierten Beitrag, sowohl in theoretischer als auch vor allem empirischer Hinsicht zu liefern (vgl. Helferrich 2012: 30).

Methodisch soll die Frage nach dem Spielraum von zugeschriebener ritualisierender Handlungsmacht und -wirksamkeit und strukturellen Gegebenheiten innerhalb des gesellschaftlichen Feldes (s. u. 3.2.2) auf der Grundlage von Interviews mit Ritualleitenden sowie von Teilnehmenden Beobachtungen ritueller Praktiken beantwortet werden. Dazu kann ich in der vorliegenden Arbeit auf ein von mir erhobenes Korpus von insgesamt 16 Interviews mit insgesamt 18 Ritualleitenden aus der Deutschschweiz und ausgewählten Beobachtungen verschiedener Rituale zurückgreifen (s. u. 4.). Im Mittelpunkt steht die in den Interviews zum Ausdruck kommende Perspektive der Ritualleitenden, die ich an einigen Stellen mit Beobachtungen des Vollzugs der Ritualhandlungen ergänzt habe. Dafür wird auch ein Abschiedsritual ausführlicher dargestellt (s. u. 4.1).

Es hat sich als sinnvoll erwiesen, drei Ebenen von Agency für die Bearbeitung der Frage nach den Handlungsspielräumen der gemeinschaftsungebundenen Ritualleiter*innen festzulegen. Hier knüpfe ich an Helfferich (2012) und Löwenstein (2022) an, die deutlich gemacht haben, dass emprische sich und theoretische Perspektiven von Agency nicht widersprechen und die ebenfalls von verschiedenen Agencyebenen sprechen, die sie relational aufeinander beziehen.

  1. 1.

    Auf der ersten Ebene geht es um Konzepte von Agency, die die strukturellen Gegebenheiten und die Handlungsoptionen der Akteur*innen auf einer allgemeinen gesellschaftstheoretischen Ebene beschreiben («agency I»). Auch die Praxis der «freien» Rituale vollzieht sich nicht im luftleeren Raum, sondern ist von strukturellen Gegebenheiten bestimmt. Darunter fallen z. B. ökonomische Rahmenbedingungen und institutionelle Vorgaben der Bestattungsämter und Kommunen (s. dazu u. 4.2). Zu den strukturellen Gegebenheiten gehören aber auch die rituellen Ordnungen des sozio-kulturellen Kontextes, wie z. B. die Form des «Segens», mit denen sowohl die Ritualleitenden als auch die Teilnehmenden aufgrund ihrer Sozialisation vertraut sind. Ausserdem gehören zu den strukturellen Gegebenheiten gesamtgesellschaftliche Entwicklungen (wie z. B. Prozesse der Individualisierung) und damit einhergehende normativ besetzte Konzepte (wie z. B. der Wert der Autonomie des Individuums und die Betonung von Emotion und Erfahrung). Zugleich gehe ich in meinem Forschungsprojekt aber davon aus, dass die Ritualleitenden und die Ritualteilnehmenden nicht umfassend durch die strukturellen Gegebenheiten determiniert werden. An dieser Stelle werden sozialwissenschaftliche Konzept von Agency für meine Arbeit relevant.

  2. 2.

    Die zweite Ebene betrifft die methodologische und methodische Umsetzung der Rekonstruktion von Agency. Für den empirischen Zugriff über die Analyse von Interviews mit Ritualleitenden bietet sich das Konzept der sozialen Positionierung an (vgl. Harré/Langenhove 1991, Lucius-Hoene/Deppermann 2002: 62, De Fina/Georgakopoulou 2008, Deppermann 2015; s. u. 5.4.4).

    Damit soll herausgearbeitet werden, wie die Ritualleitenden selbst ihre eigene Handlungs- und Wirkungsmacht in den von ihnen geleiteten Ritualen darstellen und wie sich dabei im Feld positionieren («agency II»). Diese Aspekte von Agency stehen im Mittelpunkt des Methodologie-Teils (s. u. 5): Über die Positionierungen können die Agency-Konzepte der Akteur*innen rekonstruiert werden: Wie und als was für eine/r sich jemand selbst und andere in der Interaktion darstellt, impliziert in der Regel auch Hinweise auf die Wahrnehmung eigener und fremder Verantwortlichkeit, Handlungs- und Wirkungsmacht in einem konkreten Handlungsfeld und den damit einhergehenden Beziehungs- und Sozialstrukturen (Lucius-Hoene/Deppermann 2002: 59).

    Der allgemeine Zusammenhang von strukturellen Gegebenheiten und individuellem Handlungsspielräumen wird empirisch im Feld der gemeinschaftsungebundenen Todesrituale anhand von Selbstbildern, Aufgaben, der vorherrschenden Agencyformen («agency II») und der Deutungsmuster der Ritualleitenden rekonstruiert. Diese analytische Differenzierung entspricht dem Vorgehen der Positionierungsanalyse und den dafür leitenden Fragen, die als Konkretisierung der o. bereits g. Forschungsfragen gelten können:

    Welche Handlungsmacht/Wirkmächtigkeit (Agency) schreiben sich die Akteur*innen in den Ritualen selbst zu? Welche Handlungsmacht/Wirkmächtigkeit (Agency) schreiben sie Anderen (anderen Ritualteilnehmenden, Verstorbenen, (externen) Autoritäten, transzendenten Kräften etc.) zu?

    In den Analysen konnten drei hervorstechende Agencyformen herausgearbeitet werden, die jeweils den ebenfalls herausgearbeiteten Positionierungsfeldern Natur, Ritual und Differenz zugeordnet werden können. Diese sind externe Agency (Natur), kollektive Agency (Ritual) und individuelle Agency (Differenz). Eine Vielzahl von empirischen Ausdrucksformen zugeschriebener Handlungsmacht und –wirksamkeit lassen sich im Hinblick auf diese drei Agencyformen zusammenfassen.

  3. 3.

    Auf der dritten Ebene geht es um das Konzept der ritualisierenden Agency, mit dem eine weitere theoretische Verallgemeinerung angestrebt wird, die sich aus der empirischen Analyse ergeben hat. Hinter diesem Konzept steht, wie schon erwähnt, der Gedanke, dass durch Ritualisierungen Handlungsmacht und -wirksamkeit realisiert, entwickelt und gestaltet werden kann, was die Bedeutung von Ritualisierungen im Gegenstandsbereich erklärt. Die empirischen Ergebnisse der Arbeit werden deshalb hinsichtlich der Frage dargestellt, was sie über ritualisierende Agency im Feld der gemeinschaftsungebundenen Todesrituale aussagen können. An dieser Stelle wird die Bedeutung von Handlungsmacht und Wirksamkeit in den jeweiligen Positionierungen von Natur, Ritual und Differenz diskutiert.

    Ein wichtiges Ergebnis der Arbeit ist in diesem Zusammenhang, dass die Ritualleitenden ihre rituellen Handlungen flexibel an die jeweilige Situation anpassen und somit über eine ausgeprägte rituelle Flexibilität verfügen. Als zweites wichtiges Ergebnis ist zu nennen, dass insbesondere die Zuschreibung von Wirksamkeit bei den gemeinschaftsungebundenen Todesritualen eine entscheidende Rolle spielt. Für die Diskussion werden dann die theoretischen Ritualisierungskonzepte von C. Bell und C. Humphrey & J. Laidlaw herangezogen. Die Ritualleitenden müssen sich im Feld der rituellen Begleitung des Todes aufgrund von Konkurrenz legitimieren, und die Frage der Wirksamkeit der Ritualisierungen erweist sich als entscheidender als die richtige Ausführung (zu der hier anklingenden Unterscheidung zwischen performanz-orientierten Ritualen und liturgisch-orientierten Ritualen vgl. Humphrey/Laidlaw 1994: 8–11).

Der Aufbau der Arbeit folgt dem skizzierten Gedankengang. Zunächst erfolgt die Einbettung meiner Arbeit in die theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema der Todesrituale (s. u. 2). Dabei wird zunächst der gesellschaftliche Umgang mit dem Tod in Geschichte und Gegenwart kurz diskutiert, worauf dann Studien zu Todesritualen skizziert werden, die für gemeinschaftsungebunde Todesrituale unmittelbar relevant sind. Dazu gehören sowohl klassische Arbeiten zu Todesritualen als auch neuere Arbeiten zu Veränderungen von Todesritualen. Zur Erklärung von Veränderungen von Todesritualen werden oftmals auch Veränderungen von Religion und gesamtgesellschaftliche Entwicklungen in Bezug auf einen veränderten Umgang mit Emotionen herangezogen. Daher werde ich hier auch die Diskussionen um Therapeutisierung und Psychologisierung von Religion, sich verändernde Religionskonzepte und die soziologische These einer zunehmenden Bedeutung von Coping und Emotionalisierung in der Gegenwartsgesellschaft aufgreifen.

Im daran anschliessenden Kapitel beschäftige ich mich mit theoretischen Konzepten von Ritual und von Agency (s. u. 3), aus denen dann später das Konzept der ritualisierenden Agency entwickelt wird (s. u. 10). Dabei geht es um die Klärung des Ritualbegriffs und um verschiedene Ritualisierungskonzepte (vor allem von C. Bell, C. Humphrey & J. Laidlaw und J. Skorupski). Im Anschluss daran werden ausgewählte Agencykonzepte vorgestellt und diskutiert. Das sind A. Giddens Theorie der Strukturierung, P. Bourdieus Habituskonzept und Praxistheorie und der relationale Ansatz von Agency von M. Emirbayer und A. Mische.

Nachdem der thematische und konzeptionelle Kontext der Arbeit theoretisch entwickelt wurde, beschreibe ich das den empirischen Analysen zugrundeliegende Korpus (s. u. 4). Dann widme ich mich der Methodologie und Methode der Arbeit und beschreibe den Forschungsprozess mit der Datenerhebung und -aufbereitung und der Auswertung der Daten. Die Beschreibung der Textanalyse der Interviews mit Hilfe ausgewählter Methoden der Interpretativen Sozialforschung (Narrationsanalyse, Textanalyse und thematische Feldanalyse, Kodierparadigma der Grounded Theory) mündet in das Gesamtbild einer qualitativen Agency-Analyse (s. u. 5). Dabei hat sich ein Raster von Schematisierungen ergeben, mit dem die Handlungsspielräume der Ritualleitenden empirisch greifbar gemacht werden können. So folgt dann auch im Anschlussder empirische Hauptteil der Arbeit, in dem die typischen Positionierungen der Ritualleitenden herausgearbeitet werden, die sich auf mehrere thematische Felder erstrecken. Dabei erfolgt zunächst eine Zusammenschau der Felder (s. u. 6). Dann wird die empirische Rekonstruktion in den jeweiligen thematischen Feldern anhand ausgewählter Interviewbelege von Natur (s. u. 7), Ritual (s. u. 8) und Differenz (s. u. 9) dargestellt. Damit einher gehen auch ein Vergleich der Fälle von Ritualleitung, eine Zuordnung der Fälle von Ritualleitung in einzelne thematische Felder und Positionierungen und die Darstellung der Unterschiede zwischen den einzelnen Feldern.

Im Anschluss werden die Ergebnisse unter dem Bezugspunkt von ritualisierender Agency und ritueller Flexibilität zusammenfassend dargestellt (s. u. 10). Die Arbeit schliesst mit Fazit und Ausblick (s. u. 11).

Die vorliegende Studie versteht sich als empirischer Beitrag zum Gegenstand gemeinschaftsungebundener Todesrituale in der Deutschschweiz. Sie konzentriert sich gemäss ihrer Verortung in der rekonstruktiven Sozialforschung auf die Vorstellungen der Anbieter*innen der Rituale und auf die Art und Weise, in der sich diese Anbieter*innen als «freie» und «alternative» Ritualleitende im Feld der Begleitung des Todes positionieren. Bei der Rekonstruktion der Vorstellungen der Ritualleitenden arbeitet sie die emischen Konzepte der Ritualleitenden heraus und macht auch deutlich, wo diese an etische Konzepte anknüpfen. Ritualisierende Agency und rituelle Flexibilität werden als die zentralen Strategien der Akteur*innen herausgearbeitet. Die Arbeit leistet damit auch einen exemplarischen Beitrag zur Analyse von Ritualisierungskonzepten und zur neueren Ritual-Diskussion. In religionswissenschaftlicher Hinsicht bettet die Arbeit ihre Befunde in den grösseren Rahmen der Diskussion gegenwärtiger Veränderungen von Religion und Religiosität ein. Im Wachsen des Feldes gemeinschaftsungebundener Todesrituale spiegeln sich zentrale gesellschaftliche und religionsbezogene Tendenzen. Die vorliegende Arbeit versucht, diese Tendenzen in den Selbst- und Fremdbildern und den Positionierungen der Ritualleitenden sichtbar zu machen.