Die vorliegende Arbeit hat die Frage gestellt, wie sich vor dem Hintergrund einer fortdauernden strukturellen Heterogenität das kapitalistische Innen-Außen-Verhältnis in extraktivistischen Peripherien verstehen und wie sich damit zusammenhängend gesellschaftliche Klassenverhältnisse und Konfliktdynamiken erklären lassen. Dafür wurde der Begriff des bedarfsökonomischen Sektors eingeführt und die Verflechtungsverhältnisse ins Zentrum der Analyse gerückt. Im Folgenden gehe ich auf die Spezifika des bedarfsökonomischen Sektors in der Untersuchungsregion, dessen Verflechtungen mit der Forstindustrie und auf die spezifische Rolle ein, die die Mapuche in den chilenischen Grenzkämpfen spielen. Dabei wird einerseits deutlich, dass Verflechtungsverhältnisse gleichzeitig Klassenverhältnisse darstellen, die mit einer kulturellen Dichotomie konvergieren. Andererseits lässt sich zeigen, dass Verflechtungsverhältnisse hochgradig umkämpft sind.

Wie die dargelegten empirischen Fälle deutlich vor Augen führen, benötigt die Forstindustrie enorme Flächen an Land und schränkt durch ihre großen Forstplantagen die Biodiversität sowie die Verfügbarkeit von Grund- und Fließwasser in den ländlichen Kommunen erheblich ein. Diesen massiven Eingriffen in die Ökosysteme stehen nur sehr geringe Beschäftigungseffekte gegenüber. Die lokale Bevölkerung sieht sich in der Folge mit einem starken Land- und Ressourcenmangel und verbreiteter Arbeitslosigkeit konfrontiert. Gleichzeitig bildet der bedarfsökonomische Sektor die ökonomische Basis ihrer sozialen Reproduktion. Die Folge des sozial exklusiven und ökologisch destruktiven kapitalistischen Wachstums ist ein offener Widerspruch, den ich als Reproduktionsparadox bezeichnen werde: Auf der einen Seite führt die Unterbeschäftigung im kapitalistischen Sektor zu einer umfassenden Bedeutung des bedarfsökonomischen Sektors für die soziale Reproduktion großer Bevölkerungsteile, zum anderen werden diese wirtschaftlichen Aktivitäten durch die Expansion der Forstindustrie untergraben.

Im Folgenden beantworte ich die Frage, inwiefern die Konfliktdynamik im zentralen Süden Chiles zwischen Mapuche und Forstindustrie mit diesem Reproduktionsparadox in Zusammenhang steht. Dafür konzentriere ich mich zunächst darauf, aus den dargestellten Fällen Erkenntnisse über die ökologischen und wirtschaftlichen Verflechtungen und deren jeweilige Verhältnisse zur untersuchten Konfliktdynamik zu gewinnen (5.1). Dazu arbeite ich als Erstes verallgemeinerbare Befunde über die Beziehungen zwischen bedarfsökonomischem und kapitalistischem Sektor heraus. Ich werde zeigen, dass es sich bei dem Verhältnis um eine wirtschaftlich und ökologisch verflochtene Polarisierung handelt, die in hohem Maße umkämpft ist und dass die Grenzkämpfe dabei im Modus der Territorialität geführt werden. Dabei wird deutlich, dass wirtschaftliche Verflechtungen häufig einerseits ein Ergebnis lokaler Kämpfe von unten und andererseits gezielter Politiken von oben sowie teils Resultat internationaler Regulierung sind. Des Weiteren analysiere ich, inwiefern bei diesen Konflikten zwischen lokalen Akteuren und Forstindustrie klassenmäßige Allianzen von unten entstehen (5.2). Schließlich gehe ich darauf ein, was uns diese Grenzkämpfe um Verflechtungen in den untersuchten Kommunen über die gesamtgesellschaftlichen Grenzkämpfe in Chile aussagen lassen, das heißt, inwiefern sich die untersuchten Grenzkämpfe nicht nur um einzelne Beziehungen zwischen lokalen Akteuren, sondern um grundlegende Reproduktionsbedingungen der gesamten chilenischen Gesellschaft insgesamt drehen (5.3).

5.1 Umkämpfte Verflechtungen mit der Forstindustrie

In den ländlich geprägten Kommunen von Arauco bis Galvarino springt eine soziale Polarisierung zwischen dem prekären bedarfsökonomischen Sektor und der exportorientierten kapitalistischen Forstindustrie ins Auge. Das starke Wachstum der Forstindustrie in den letzten Jahrzehnten und ihre international integrierte Wertschöpfung sowie ihre lokal expandierenden Forstplantagen stehen in offenem Kontrast zur fortdauernden Armut in den untersuchten Kommunen. Auf der einen Seite der sektoralen Grenze befindet sich die kapitalistische Forstindustrie mit ihren kilometerlangen Plantagenflächen, ihren riesigen Zellstofffabriken und ihren Firmenzentralen in Santiago, in denen das große Geld verdient wird. Auf der anderen Seite stehen kleine Betriebe, Selbständige und meist prekäre Haushalte mit geringem Landbesitz. Sie verdienen ihr Geld, indem sie im Haushalt unterschiedliche Einkommen bündeln, die aus landwirtschaftlichen Aktivitäten, Dienstleistungen, Gelegenheitsarbeiten, dem Weiterverkauf angekaufter Waren oder staatlichen Sozialprogrammen und Transfers resultieren. Diese bedarfsökonomischen Aktivitäten und Einkommen sind allesamt durch eine vergleichsweise geringe Wertschöpfung gekennzeichnet. Da diese soziale Differenzierung jedoch nicht durch einen einfachen Dualismus, sondern durch eine Reihe sektoraler Verflechtungen gekennzeichnet ist, wird sie im Folgenden als verflochtene Polarisierung analysiert.

5.1.1 Verflochtene Polarisierung

Der bedarfsökonomische und der kapitalistische Sektor stehen aus Sicht der großen Mehrheit der Bevölkerung in den untersuchten Kommunen wie zwei verschiedene Welten nebeneinander.Footnote 1 In weniger kämpferischen Kommunen wird die Anwesenheit kapitalistischer Unternehmen von der lokalen Bevölkerung häufig vollkommen ausgeblendet. So wird in Interviews in Curanilahue und Cholchol wiederholt betont, es gebe vor Ort keine größeren Unternehmen, sondern nur kleine Betriebe.Footnote 2 Diese Aussage wird in den beiden Kommunen selbst von Gemeindemitarbeiter*innen getroffen (a20; d2). Diese Wahrnehmung der Interviewten muss zunächst überraschen, da die Landnutzung und der Landbesitz in den untersuchten Gemeinden maßgeblich von den großen Forstunternehmen dominiert wird und ihre flächenmäßige Präsenz sowie ihr Einfluss auf die lokalen Ökosysteme kaum überschätzt werden kann. Dies gilt gerade für Curanilahue, wo rund 80 Prozent der gesamten Fläche der Kommune von nur zwei Forstunternehmen kontrolliert wird. Diese frappierende Gleichzeitigkeit von umfassender Präsenz großer Forstunternehmen durch ihre Kontrolle und Nutzung großer Landflächen und ihrer gleichzeitigen Abwesenheit in der Wahrnehmung der Bevölkerung lässt sich mit Blick auf die untersuchten Fälle folgendermaßen erklären: Erstens ist die lokale Wirtschaft in Bezug auf die zentralen Einkommensquellen der Bevölkerung weitgehend unabhängig von der Forstwirtschaft und die Haushalte reproduzieren sich im Wesentlichen innerhalb des bedarfsökonomischen Sektors sowie durch staatliche Unterstützung. Zweitens sind die großen Forstunternehmen selbst wirtschaftlich vor Ort kaum präsent. Sie treten nicht direkt als Arbeitgeber auf. Es kommt deshalb häufig zu einem Nebeneinander zwischen großer Forstwirtschaft und kleinbäuerlicher Ökonomie ohne direkte personale und wirtschaftliche Kontakte. Drittens ist die Forstindustrie vor Ort hauptsächlich durch Stellvertreter*innen präsent. Die wenigen Arbeitsplätze, die in der Forstwirtschaft entstehen, entfallen auf diese Subunternehmen, die die Arbeit in den Forstplantagen übernehmen und dabei Teile der lokalen Bevölkerung prekär und in der Regel temporär beschäftigen.

Meine Forschungsergebnisse legen vor diesem Hintergrund zunächst die Schlussfolgerung nahe, dass es sich beim Verhältnis zwischen bedarfsökonomischem und kapitalistischem Sektor in den untersuchten Fällen um eine Beziehung handelt, die klassischerweise als wirtschaftlicher Dualismus verstanden wird (Boeke 1953). Dies wird noch dadurch verstärkt, dass die beiden Sektoren mit gänzlich unterschiedlichen gesellschaftlichen Naturverhältnissen und kulturellen Werten einhergehen. Während der bedarfsökonomische Sektor stark von kleinbäuerlichen und klein(st)betrieblichen Rationalitäten sowie der Kosmovision der Mapuche geprägt ist, richtet sich der kapitalistische Sektor an reinen Effizienz- und Profitabilitätskriterien aus. Für die Mapuche haben – wie in Abschnitt 4.3.3 deutlich wurde – beispielsweise Land und ökologische Ressourcen keinen primär ökonomischen, sondern in hohem Maße einen kulturellen Wert. Ihr Naturverhältnis ist klassischerweise durch Reziprozitätsbeziehungen geprägt, in denen intakte Ökosysteme heilig sind (itrofill mongen). Dies gilt in ähnlicher Weise für ihre ökonomischen Aktivitäten, die in hohem Maße eine kulturelle Ökonomie darstellen, welche sich auf das »gute Leben« (kume mongen) ihrer Mitglieder richtet. Die beiden wirtschaftlichen Sektoren unterscheiden sich folglich nicht nur durch jeweils eigene ökonomische Kreisläufe und Handlungslogiken, sondern ebenfalls durch jeweils spezifische kulturelle Orientierungen und Naturverhältnisse. Darüber hinaus spielen in der Politik der Mapuche im Gegensatz zur offiziellen Politik traditionelle Autoritäten, Feste und Rituale eine besondere Rolle. Die strukturelle Heterogenität im sozioökonomischen Bereich geht folglich mit einer strukturellen Dichotomie im Politischen, Kulturellen und in den Naturverhältnissen einher.

Gleichzeitig sind der kapitalistische und der bedarfsökonomische Sektor jedoch Teil derselben lokalen Ökosysteme und hängen daher in hohem Maße von den ökologischen Interventionen des jeweils anderen Sektors ab. In Bezug auf die bedarfsökonomischen Aktivitäten macht sich dies insbesondere durch den steigenden Land- und Wassermangel sowie durch die Gefahren durch zunehmende Waldbrände bemerkbar. Die genannte sektorale Polarisierung geht folglich mit ökologischen Verflechtungen einher. Diese ergeben sich erstens aus der gemeinsamen Eingebundenheit in lokale Ökosysteme. So greift die ländliche Bedarfsökonomie im Umfeld der Forstwirtschaft alltäglich auf Ressourcen zurück, die stark von den Prozessen in den Plantagen beeinträchtigt werden. Zweitens nutzt die lokale Bevölkerung in ihren alltäglichen ökonomischen Praktiken häufig Ressourcen, die sich im Eigentum der Forstunternehmen befinden. Beispielsweise sammelt die lokale Bevölkerung in den Plantagen oder dem Umfeld Kräuter, Früchte, Pilze, Kiefernzapfen und Brennholz, lässt ihr Vieh in diesen weiden oder sucht nach großflächigen Kahlschlägen auf den Plantagenflächen nach übrigem Holz.Footnote 3 Um diese ökologischen Verflechtungen entstehen dabei – wie wir gesehen haben – in bedeutendem Maße Konflikte, die um die Verteilung von Ressourcen sowie um Nutzungspraktiken der lokalen Bevölkerung geführt werden. Dabei ist eine Dialektik der Polarisierung erkennbar: Je größer die Expansion des kapitalistischen Sektors in Form der Forstindustrie ist und je ausgeprägter dessen Untergrabung der lokalen Bedarfsökonomie, desto stärker sind die ökologischen Verflechtungen und damit auch die offenen und latenten Konflikte. Dies gilt allerdings nur in Gebieten, wo die bedarfsökonomische Landwirtschaft nach wie vor von großer Relevanz ist. Schreitet die Expansion der Forstplantagen zu weit fort – wie es in Curanilahue der Fall ist –, nimmt die Bedeutung der Bedarfsökonomie, der ökologischen Verflechtungen und der Konflikte wieder ab.

Neben den ökologischen Verflechtungen lassen sich jedoch auch eine Reihe wirtschaftlicher Verflechtungen zwischen der Bedarfsökonomie und dem kapitalistischen Sektor feststellen. Um diese zu verstehen, müssen zunächst drei verschiedene Typen von Märkten vor Ort unterschieden werden. Der bedarfsökonomische Sektor mit seiner Produktion von Lebensmitteln für den Eigenbedarf sowie für Märkte mit niedrigen Preisniveaus spielt für die soziale Reproduktion der prekären Haushalte in ihrer übergroßen Mehrheit in allen untersuchten Kommunen eine zentrale Rolle. Einen großen Teil ihrer Alltagsgüter beziehen die prekären Haushalte über die lokalen Märkte. Im bedarfsökonomischen Sektor ist dabei eine Trennung zwischen formellen und informellen Märkten festzustellen. Die informellen bedarfsökonomischen Märkte bilden den ersten Typus von Märkten. Hier werden meist Lebensmittel direkt von den kleinen Produzent*innen zu sehr billigen Preisen angeboten. Die Bauern und Bäuerinnen verkaufen ihre eigenen Produkte einfach auf der Straße, aus Körben oder von der Ladefläche ihres Pickups.Footnote 4 Friseure oder Schneider bieten Dienstleistungen in ihrem Wohnraum an, andere ziehen mit ihren Waren von Haus zu Haus. Gerade die kleinbäuerlichen Mapuche-Haushalte produzieren und verkaufen in der Regel informell. Interviewten Mapuche zufolge hielten sie sich auch aus kulturellen Gründen nicht an die staatlichen Formalitäten, wenn sie ihre Produkte herstellen oder anbieten. Mapuche verkauften ihre Produkte immer schon informell im öffentlichen Raum und meist einfach auf der Straße. Dabei laufen sie aber ständig Gefahr, in Kontrollen zu geraten und ihre Produkte zu verlieren.Footnote 5 Die empirischen Fälle zeigen, dass insbesondere die Haushalte, die auf den Verkauf auf diesen Märkten ersten Typs angewiesen sind, äußerst prekär wirtschaften.

Eines der zentralen Probleme des bedarfsökonomischen Sektors besteht dabei in prekären Marktzugängen. Die Märkte ersten Typs müssen durch die Händler*innen und Produzent*innen individuell oder mittels eigener Organisationen selbständig geschaffen werden, wodurch sie großen Unsicherheiten und Kosten ausgesetzt sind. Die fehlende staatliche Unterstützung der klein(st)betrieblichen Landwirte beim Transport und Verkauf ihrer Produkte ist eines der wesentlichen Probleme vor Ort. Die Krise der ländlichen Bedarfsökonomie hat so gesehen auch mit der politischen Regulation zu tun, was nicht nur ihre Förderung, sondern auch ihre Exklusion betrifft: Manche Tätigkeiten – wie die Produktion von traditionellem Käse in Arauco – werden aufgrund von Hygienebestimmungen in die Informalität verbannt und in vielen Städten ist der informelle bedarfsökonomische Handel – wie beispielsweise im Zentrum von Temuco – massiven Repressionen durch Sicherheitskräfte ausgesetzt. Darüber hinaus sind vor allem Faktoren wie Wasser- und Landmangel, schlechte technische Ausstattung und unsichere Marktzugänge für die Prekarität ländlicher Haushalte verantwortlich. Der informelle Status vieler Kleinproduzent*innen und Mapuche-Haushalte geht auch damit einher, dass ihnen offizielle Papiere und Besitztitel auf Ressourcen und Land fehlen, um ihre Rechte durchzusetzen, wenn Nachbar*innen oder Unternehmen ihre Wasserquellen austrocknen oder ihre angestammten Gebiete bepflanzen, aber auch, wenn sie sich auf Förderprojekte bewerben wollen. Auf der anderen Seite sind die informellen Tätigkeiten und Märkte unverzichtbarer Teil der economía mapuche und werden in Fällen wie Galvarino mitunter von den Organisationen der Mapuche oder in Einzelfällen auch von internationalen NGO gefördert.

Vor allem in den urbanen Räumen werden viele Waren allerdings auch auf den formellen bedarfsökonomischen Märkten gehandelt. Diese Geschäftstätigkeiten auf dem zweiten Typ von Märkten werden ebenfalls durch den Kleinhandel oder kleine Dienstleister*innen abgewickelt und sind gleichermaßen auf die (Re)Produktion der lokalen Bevölkerung ausgerichtet. Allerdings werden sie häufig staatlich gefördert und beziehen stärker als der erste Typ von Märkten ihre Vorprodukte und Waren oft aus kapitalistischen Märkten von außerhalb (upstream-Verflechtung). Sie verkaufen zudem in der Regel in Kiosken, Läden oder Restaurants mit festen Räumlichkeiten. Der Fleischhändler Claudio (c19) schildert darüber hinaus im Interview, dass er seine Waren nicht von lokalen Haushalten kaufen könnte, weil den ländlichen Produzenten die Papiere fehlten. Er müsse alleine schon wegen der Gesundheitsbehörden von einer offiziell eingetragenen Schlachterei kaufen. Behördliche Regelungen schließen so eine Vielzahl von Produkten der bäuerlichen Klein(st)betriebe aus den formellen bedarfsökonomischen Märkten aus, was zum Nebeneinander zwischen informellen und formellen bedarfsökonomischen Märkten beiträgt.Footnote 6 Während die Märkte des ersten Typs in Max Webers (1972: 43) Worten durch traditionale und konventionale Marktregulierungen dominiert sind, spielen auf den Märkten des zweiten Typs folglich auch rechtliche Regulierungen eine Rolle.Footnote 7

Die Bedarfsökonomie enthält somit zwei verschiedene Arten von Märkten, welche vorwiegend durch die Ebene der Regulation voneinander getrennt werden: einerseits existiert ein informeller Markt, welcher klein(st)betriebliche ländliche und städtische Produktion und Dienstleistungstätigkeiten mit den Endverbraucher*innen vor Ort verbindet und der durch die moralischen Ökonomien der ländlichen Bevölkerung reguliert wird. Dieser Markt ist in geringerem Maße mit dem kapitalistischen Sektor verflochten, liegt mit seinen Preisniveaus in der Regel deutlich unter den anderen Märkten und ist vor allem durch Mapuche-Produzent*innen geprägt. Der formelle bedarfsökonomische Handel bildet den zweiten Typ von Märkten, welcher den Privathaushalten mehrheitlich Produkte von außerhalb anbietet, die von Werkzeug und Schulmaterial bis zu Futtermitteln und Dünger reichen. Auch kapitalistisch produzierte Waren erreichen die ländlichen Räume nur mittels des kleinen Warenhandels. Dies gilt auch für Güter des täglichen Bedarfs, die nicht selten importierte Fabrikwaren darstellen. Der bedarfsökonomische Sektor ist folglich vor allem mittels des zweiten Typs von Märkten dauerhaft mit dem kapitalistischen Sektor verflochten. Resultat ist, dass es beispielsweise in ganz Galvarino und Cholchol keine großen Supermärkte gibt, sondern die lokale Versorgung mit Bedarfsgütern und Dienstleistungen komplett durch die klein(st)betrieblichen Akteure gewährleistet wird.

In den untersuchten ländlichen Kommunen finden sich darüber hinaus auch lokale kapitalistische Märkte, die von der großen Forstindustrie dominiert werden. Sie bestehen aus Dienstleistungs-, Arbeits- und Rohstoffmärkten. Auf diesem dritten Typ von Märkten kommt es in Max Webers (1972: 43) Worten neben rechtlichen auch zu »voluntaristischen Marktregulierungen«, die von monopolitischen Großunternehmen ausgehen. Wie dargelegt wurde, werden die Arbeiten in den Forstplantagen ausschließlich von Subunternehmen verrichtet. Die ökonomischen Verflechtungen zwischen lokaler Ökonomie und Forstunternehmen finden deshalb vor allem über diese kleinen und mittleren Betriebe statt. Diese finden sich einer starken Marktmacht der großen Forstunternehmen gegenüber, die die Preise und Konditionen diktieren und Sicherheitsrisiken in lokalen Konflikten an die Klein(st)betriebe externalisieren. Mittels dieser indirekten Subsumtion der Subunternehmen gestaltet die Forstindustrie auch die kapitalistischen Arbeitsmärkte vor Ort. Sie diktiert den Zulieferern beispielsweise aus welchen comunidades wie viele Arbeitskräfte für welche Tätigkeiten einzustellen sind. Zudem ist die Forstindustrie über ihre Rohstoffbeschaffung mit den lokalen Haushalten verbunden. So werden kleine Landbesitzer*innen seit Jahrzehnten mit unterschiedlichen Programmen dazu angehalten, schnell wachsende Baumarten für die Forstindustrie zu pflanzen. Über die Arbeits-, Dienstleistungs- und Rohstoffmärkte findet folglich eine downstream-Verflechtung statt, durch die die Haushalte und Klein(st)betriebe in die globale Forstindustrie integriert werden.

Abb. 5.1
figure 1

(Eigene Darstellung)

Drei Typen von Märkten und wirtschaftliche Verflechtung zwischen Forstindustrie und Bedarfsökonomie.

Damit stellt sich die Frage, wie sich die Verflechtung zwischen dem bedarfsökonomischen und dem kapitalistischen Sektor im Falle der chilenischen Forstindustrie charakterisieren lässt. Wie die Abbildung 5.1 veranschaulicht, erweisen sich die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Forstindustrie und bedarfsökonomischem Sektor für erstere als funktional und komplementär. Die Bedarfsökonomie stellt ein Arbeitskräftereservoir für sie dar und ermöglicht niedrige Löhne. Die klassische These der Subvention des kapitalistischen Sektors durch semiproletarische Haushalte ging allerdings von einer direkten Verflechtung zwischen Subsistenzwirtschaft und Kapitalismus über die Arbeitsmärkte aus, die zu einer engen Verbindung zwischen Subsistenz- und Lohnarbeit in den Haushalten führte. Dies ist in den dargelegten Fällen in weitaus geringerem Maße der Fall. Die Arbeitskräfte des kapitalistischen Sektors reproduzieren sich in relevantem Maße mittels Gütern der bedarfsökonomischen Märkte, welche von kleinen ländlichen und städtischen Betrieben sowie Selbständigen nicht nur aber vorwiegend im eigenen Haushalt geschaffen werden. Die Subsistenzwirtschaft im eigenen Haushalt bildet nur einen relativ begrenzenten Bereich einer durch lokale Märkte vermittelten sozialen Reproduktion der Privathaushalte im bedarfsökonomischen Sektor. Der kapitalistische Sektor und die bedarfsökonomische (Re)Produktionsarbeit, welche die niedrigen Löhne ermöglicht, sind mit Blick auf die Bereitstellung billiger Arbeitskräfte vielmehr mittels des Umwegs über die lokalen Märkte verflochten (siehe Abbildung 5.1). Die Folge der indirekten Verflechtung ist, dass sich Konflikte im Rahmen der strukturellen Heterogenität auch weniger stark in die Haushalte verlagern – wie es die Bielefelder*innen betonten –, sondern eher zu Differenzen zwischen Haushalten und Betrieben, die stärker in die Märkte des ersten und zweiten Typs eingebunden sind auf der einen Seite und auf der anderen Seite solchen, die in die kapitalistischen Märkte der Forstindustrie integriert sind, führen. Dies zeigt sich vor allem in der Kommune Arauco in Auseinandersetzungen zwischen prekär Beschäftigten des Forstbereichs und radikaleren Organisationen der Mapuche. Mehr als die Haushalte sind damit auch die Orte der Extraktion, öffentliche Plätze und Straßen, auf denen die Zirkulation der Güter und Dienstleistungen stattfindet, Orte der Konfliktaustragung.

Im Unterschied zur Subventionsthese der funktionalen Verflechtung zwischen kapitalistischer Produktion und außerkapitalistischer Reproduktion, ist die Forstindustrie nur in sehr geringem Maße auf einen lokalen Arbeitsmarkt angewiesen. Entgegen historischer Beispiele, in denen die Subsistenzwirtschaft teilweise gezielt gefördert wurde, um den kapitalistischen Sektor zu stützen, untergräbt die Forstindustrie in Chile vielmehr fortwährend die bedarfsökonomischen Aktivitäten.Footnote 8 Die zunehmende Mechanisierung der Erntearbeiten hat dazu geführt, dass sich die Forstwirtschaft aus einer arbeits- in eine kapitalintensive Branche verwandelt hat. Qualifizierte Arbeiter*innen, die die Maschinen bedienen, kommen häufig aus anderen Gegenden. Die prekäre und schlecht bezahlte Beschäftigung lokaler Arbeitskraft sowie das Engagement lokaler Subunternehmen dient dabei mehr der Abmilderung von lokalen Konflikten als ökonomischen Notwendigkeiten. Dies gilt auch deshalb, weil die Forstindustrie aufgrund ihrer Zertifizierung durch den FSC zu einer derartigen Zusammenarbeit mit den lokalen Akteuren gezwungen wird. Die Folge ist, dass die Forstunternehmen nicht auf eine funktionierende lokale Bedarfsökonomie angewiesen sind und vielmehr im Rahmen ihrer Expansion mit dieser um ökologische Ressourcen konkurrieren. Die ökonomische Verflechtung zwischen bedarfsökonomischem und kapitalistischem Sektor ist mit Blick auf die Forstindustrie aufgrund der abnehmenden Bedeutung lokaler Arbeitsmärkte folglich eher rückläufig. Lohnarbeit wird häufig eher im öffentlichen oder bei Klein(st)betrieben im bedarfsökonomischen als im kapitalistischen Sektor verrichtet. Die Folge ist, dass die Unterscheidung zwischen proletarischen Haushalten, deren Einkommen zu mehr als der Hälfte durch Lohneinkommen gedeckt ist und semiproletarischen Haushalten, deren Einkommen in geringerem Maße von Lohneinkommen abhängen, die Immanuel Wallerstein (2019: 41) einführte, für unseren Kontext wenig tragfähig ist. Der Anteil der Lohneinkommen ist kein Indikator für die Proletarisierung im Sinne der Verwandlung in lohnabhängige Haushalte, die in den kapitalistischen Sektor integriert sind. Große Teile der lohnabhängigen Tätigkeiten befinden sich vielmehr im bedarfsökonomischen oder im öffentlichen Sektor. Lohnabhängigkeit ist in Chile – wie wir gesehen haben – für die große Mehrheit der Bevölkerung kein dauerhaftes Verhältnis zwischen Privathaushalt und Großunternehmen, sondern meist ein niedrig entlohnter, befristeter Job in einem öffentlichen Beschäftigungsprogramm, einem Subunternehmen oder einem Klein(st)betrieb. Für eine klassenanalytische Unterscheidung wurde deshalb eine andere Kategorie gewählt: Die prekären Haushalte sind solche Haushalte, deren soziale Reproduktion im Wesentlichen vom bedarfsökonomischen Sektor abhängt, weil ihre übrigen Einkommen – sei es aus staatlichen Förderprogrammen oder befristeter Beschäftigung im kapitalistischen Sektor – nicht zum Überleben ausreichen. Dies ist kein kleiner Teil der chilenischen Bevölkerung. Zur Erinnerung: Sechs von zehn Erwerbstätigen können mit ihren Löhnen allein nicht genug verdienen, um eine vierköpfige Familie über die Armutsgrenze zu heben (Durán/Kremermann 2019a: 3). Im vollen Sinne des Wortes proletarisierte Haushalte, deren Lohneinkommen aus dem kapitalistischen Sektor dauerhaft eine soziale Reproduktion ermöglichen, bilden eine eher privilegierte Minderheit in Chile. Dies führt dazu, dass die verbreiteten Konflikte in den untersuchten Kommunen auch nicht als institutionalisierte gewerkschaftliche Auseinandersetzungen um kapitalistische Arbeitsverhältnisse geführt werden.

Die relativ dauerhaften Verflechtungen zwischen Privathaushalten und kapitalistischem Sektor fanden in den untersuchten Kommunen kaum über die Arbeitsmärkte statt, sondern – wie insbesondere der Fall Cholchol zeigte – eher über die Rohstoffmärkte. Das hat damit zu tun, dass das Expansionspotenzial der Forstwirtschaft in den letzten Jahren an eine Grenze stieß. Heute sind die zusätzlichen Flächen, die von der Forstwirtschaft mit Plantagen bepflanzt werden können, äußerst gering. Weite Teile der Küstenkordillere sind schon vollständig bepflanzt und eine zusätzliche Ausdehnung in andere Gegenden würde die bestehenden Konflikte mit der lokalen Bevölkerung zusätzlich befeuern (Pino/Carrasco 2019; Graf et al. 2019). Die Expansion der Plantagenflächen hat in den 2010er Jahren deshalb seinen flächenmäßigen peak erreicht (Infor 2020: 46). Eine Zunahme der Rohstoffausbeutung auf diesen Flächen kann nunmehr nur über schnelleres Wachstum der Baumarten generiert werden, weshalb mehr und mehr auf das Pflanzen von Eukalyptus umgestellt wird (ebd.: 44). Wie ein ehemaliger Präsident der CORMA (b35) im Interview betont, habe sich das alte Modell des großflächigen Ankaufs von Land durch die Forstunternehmen, um an neue Flächen für Forstplantagen zu gelangen, erschöpft. So liege die künftige Wachstumsstrategie der Forstindustrie darin, kleine Landbesitzer*innen dazu zu bringen, Forstplantagen zu pflanzen. Damit könnten bis 2035 zusätzlich 500.000 Hektar Forstplantagen entstehen, so der Interviewte. Schon in den 2000er Jahren schwenkte die Politik um und förderte vorwiegend kleine Landbesitzer*innen bei der Pflanzung von Forstplantagen. Wie Mapuche aus Cholchol und Galvarino berichten, subventionierte die CONAF damals kleine Landbesitzer*innen beim Aufforsten von Teilen ihres Landes mit Forstplantagen.Footnote 9 Auch in öffentlichen Strategiepapieren der CONAF heißt es, der Forstsektor könne nur wachsen, wenn für die weitere Expansion künftig vor allem aus den Plantagen der kleinen und mittleren Landbesitzer*innen zusätzliches Holz bezogen wird (CONAF 2015: 19 f, 22). Ziel sei es deshalb, dass »[…] kleine und mittlere Eigentümer*innen und Produzent*innen im Forst- und Industriebereich vollständig in die Entwicklung des Forstsektors und Modelle des gemeinsamen Managements für die Herstellung und Verwaltung der Wälder, ihre Nutzung, Industrialisierung und Vermarkung integriert werden« (CONAF 2015: 22 – eigene Übers.). In der Folge bezieht beispielsweise das Unternehmen Forestal Arauco eigenen Angaben nach 48 Prozent seiner Holzlieferungen von Dritten (Forestal Arauco 2016: 32). Kleinbäuer*innen pflanzten zwar auch schon zuvor teilweise schnell wachsende Arten, um das Holz für den Eigenbedarf zu nutzen, allerdings drängt die finanzielle Not sie zunehmend zum Verkauf ihrer Holzernten an Zwischenhändler*innen der Forstindustrie (Pino/Carrasco 2019: 219). Tatsächlich hat sich die Zahl kleiner Landeigentümer*innen, die in gewissem Umfang Forstplantagen unterhalten, seit den späten 2000er Jahren kontinuierlich erhöht (Painecura 2020: 146).Footnote 10 Dieser Prozess ist nicht nur Teil einer privaten und öffentlichen Sozialpolitik, sondern zielt auch direkt darauf ab, die Forstindustrie mit mehr Rohstoffen zu beliefern sowie mit der dabei erhofften CO2-Bindung die ökologischen Bilanzen Chiles aufzubessern (Pastén et al. 2020: 63).

Insgesamt lässt sich sagen, dass es in den untersuchten Kommunen zu einer dauerhaften Reproduktion struktureller Heterogenität kommt. Vor Ort lässt sich eine Gleichzeitigkeit zweier gegensätzlicher Tendenzen ausmachen: Einerseits findet eine zunehmende soziale Polarisierung zwischen dem bedarfsökonomischen und dem kapitalistischen Sektor statt und andererseits kommt es in zunehmendem Maße zu Verflechtungen zwischen beiden. Diese gegenläufigen Tendenzen wurden in dem Begriff der verflochtenen Polarisierung festgehalten. Die Verflechtungen lassen sich dabei – wie oben dargelegt – nicht vordergründig als funktionale Verflechtungen zwischen kapitalistischen Unternehmen und lokaler Subsistenzproduktion in den Privathaushalten verstehen. Zwar kommt den bedarfsökonomischen Märkten für die soziale Reproduktion der Privathaushalte in den untersuchten Kommunen eine umfassende Bedeutung zu. Allerdings sind weniger die Privathaushalte als die lokalen Märkte zentraler Verflechtungsort zwischen den verschiedenen Sektoren. Es kommt dabei nicht so sehr zu einer sozialen Differenzierung zwischen informellen und formellen Märkten, als vielmehr zu einer Polarisierung zwischen dem bedarfsökonomischen und dem kapitalistischen Sektor.

In dieser Hinsicht stehen sich in den untersuchten Fällen im Sinne von Milton Santos (1975: 8, 18) ein »unterer Wirtschaftskreislauf« – der bedarfsökonomische Sektor, der auf den Bedarf der lokalen Bevölkerung hin orientiert ist – und ein »oberer Wirtschaftskreislauf« – der kapitalistische Sektor, der auf den Export von Industrieprodukten ausgerichtet ist – gegenüber. Der untere Kreislauf ist dabei wie bei Santos (ebd.: 20 f, 44, 46, 103 f) durch arbeitsintensive Tätigkeiten und eigene Normen und Regelsysteme bestimmt. Außerdem ist es keine »Mittel-« oder »Arbeiterklasse« im herkömmlichen Sinne, sondern eine städtische und ländliche »marginale Klasse« (ebd.: ebd.: 19 f), die in den untersuchten Fällen die übergroße Bevölkerungsmehrheit bildet und welche für ihre soziale Reproduktion auf die bedarfsökonomischen Märkte angewiesen ist. Gleichzeitig stehen die beiden untersuchten Sektoren – wie schon Santos (ebd.: 19 f) andeutete – durch Handel miteinander in Beziehung. In der vorliegenden Arbeit wurde allerdings anstelle des »unteren« und »oberen Kreislaufs« die Gegenüberstellung aus bedarfswirtschaftlichem und kapitalistischem Sektor gewählt, weil diese gleichzeitig die sektoral verschiedenen ökonomischen Handlungslogiken betont. So sind die Märkte des ersten und zweiten Typs auf die Befriedigung des Bedarfs der lokalen Bevölkerung und der kapitalistische Sektor auf eine maximale Rendite an internationalen Exportmärkten hin ausgerichtet.

Den wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen dem kapitalistischem und dem bedarfsökonomischem Sektor kommt in den untersuchten Fällen gleichzeitig eine zunehmende Bedeutung zu: Erstens, weil die Forstindustrie ein Interesse an ihrer Rohstoffversorgung mit Holz der kleinen Landbesitzer*innen hat; zweitens, weil über die formellen Märkte zunehmend kapitalistische Waren in ländliche Gebiete gelangen und drittens, weil die lokale »Entwicklungspolitik« die Ausrichtung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft auf cash crops wie Früchte, Blumen oder Beeren fördert, die durch ihre Integration in den Großhandel des Binnenmarkts oder die Exportmärkte an höherer Wertschöpfung beteiligt werden sollen. Damit wird deutlich, dass die zentralen Verflechtungen zwischen den Sektoren weder im Haushalt noch über Lohnarbeit stattfinden. Vielmehr lassen sich Lohnarbeitsverhältnisse auch häufig in Klein(st)betrieben und damit im bedarfsökonomischen Sektor feststellen. In der Folge kann damit Lohnabhängigkeit nicht mehr das zentrale Kriterium für die Einordnung von Haushalten beispielsweise in semiproletarische und proletarische Haushalte darstellen. Vielmehr zähle ich zu den prekären Haushalten in Chile all jene, die zu ihrer Reproduktion maßgeblich von den Märkten des bedarfsökonomischen Sektors abhängen. Allerdings wurde die besondere Rolle der Produktions- und Lebensweise der Mapuche betont, deren prekäre Haushalte zu comunidades gehören. Dabei findet die economía mapuche aus kulturellen und wirtschaftlichen Gründen traditionellerweise in den informellen Märkten statt und leidet in besonderem Maße unter prekären wirtschaftlichen Verhältnissen wie der Unterdrückung ihrer Marktzugänge. Die staatlichen Regulierungen in Chile fördern diese Trennung zwischen informellen und formellen lokalen Märkten teils explizit teils implizit. Außerdem trifft die Mapuche die äußerst ungleiche Verteilung ökologischer Ressourcen besonders stark, weil sie im Rahmen ihrer kulturellen Ökonomie (economía mapuche) auf vielfache Zugänge zu lokalen Ökosystemen und im Rahmen ihrer kulturellen Identität auf ihr angestammtes Land angewiesen sind. Gerade um die ökologischen Verflechtungen entstehen daher Konfliktdynamiken.

5.1.2 Umkämpfte ökologische Verflechtungen

Die international integrierte Forstindustrie sowie die Plantagenflächen im zentralen Süden Chiles expandierten in den vergangenen Jahrzehnten stark. Die Produktion von Zellstoff vervielfachte sich seit den 1990er Jahren und die Fläche der Forstplantagen, welche in den 1970er Jahren noch nur einige hunderttausend Hektar ausmachte, liegt heute bei über zwei Millionen Hektar (Infor 2021b: 31). Die Folge ist, dass die bedarfsökonomischen Aktivitäten immer mehr an den Rand gedrängt und immer stärker ökologisch mit der Forstwirtschaft verflochten sind. Dies hat damit zu tun, dass heute im direkten Umfeld kleinbäuerlicher Haushalte vielfach große Forstplantagen liegen, wo sich früher Brachflächen, Wiesen sowie Ur- oder Mischwälder befanden. So müssen lokale Bäuer*innen, die ihr Vieh ursprünglich auf diesen Flächen weiden ließen, heutzutage häufig illegal auf die Flächen der Forstplantagen ausweichen. Um Kräuter zu sammeln, sucht darüber hinaus beispielsweise die machi entfernte Gebiete auf oder verschafft sich Zutritt zu den Grundstücken der Forstunternehmen. In Interviews wird zudem davon berichtet, dass ländliche Bewohner*innen Forstplantagen betreten, um Kiefernzapfen, Pilze oder nach dem Kahlschlag übriges Holz zu sammeln.

Ökologische Verflechtungen zwischen lokaler Ökonomie und Forstplantagenwirtschaft treten – so die im Folgenden vertretene These – allerdings nicht nur als Folge der wirtschaftlichen Expansion der Forstindustrie auf, sondern auch als Konsequenz kollektiver Kämpfe zwischen lokaler Bevölkerung und Forstunternehmen. Konflikte um ökologische Verflechtung drehen sich vorwiegend um die Kontrolle, den Besitz und die Zugänge zu Land und natürlichen Ressourcen. So erzählen Mapuche (a11; a16) aus Galvarino, dass sich Forstunternehmen nach langen Protesten immer wieder darauf einlassen, Mitgliedern der comunidades einen – wenn auch häufig beschränkten – Zutritt zu den Plantagenflächen zu erlauben. Dabei geht es in vielen Fällen um das Sammeln von Kiefernäpfeln und Raffholz. In anderen Fällen fordern comunidades aber auch, dass die Forstunternehmen ihnen eigene Flächen für den Anbau landwirtschaftlicher Produkte zur Verfügung stellen (a9). Aber nicht nur die ländlichen Bewohner*innen, sondern auch kommunale »Entwicklungspolitiker*innen« (d2; d5) setzen sich gegenüber den Forstunternehmen für derartige geteilte Nutzungspraktiken und Betretungsrechte ein.

Im Zuge der Expansion der Forstindustrie haben sich derartige Grenzkämpfe um ökologische Verflechtung radikalisiert und richten sich mehr und mehr nicht nur auf geteilte Nutzungspraktiken, sondern zunehmend auf die Wiederaneignung der Kontrolle über bestimmte Ressourcen durch die lokale Bevölkerung. In einigen Fällen äußert sich dies darin, dass sich Mapuche einfach Zutritt zu Forstplantagen verschafften und Teile von Forstplantagen fällen, um Fließwasser und Land in ihrer comunidad wieder verfügbar zu machen. Grenzkämpfe werden dabei als Konflikte um die Gestaltung lokaler Ökosysteme, aber auch um die direkte Kontrolle von Ökosystemen geführt. Gerade Auseinandersetzungen um Land finden in den meisten Fällen in der Form konfrontativer Landbesetzungen statt. In Galvarino hält eine comunidad beispielsweise große Plantagenflächen eines Forstunternehmens besetzt und betreibt dort Landwirtschaft (a15).Footnote 11 Der Interessenkonflikt zwischen Forstunternehmen und den comunidades verwandelt sich mit Blick auf die ökologischen Verflechtungen und die direkte Kontrolle über Land und Ressourcen in einen offenen und häufig gewaltsamen Konflikt.

Land ist in der Weltanschauung der Mapuche dabei nicht einfach eine wirtschaftliche Ressource und Einkommensquelle. Es ist auch nicht nur ein geografischer Raum, an dem sich bestimmte, für den Menschen ausbeutbare Ressourcen befinden und durch den politische Grenzen gezogen werden, sondern spielt für die Mapuche eine fundamentale Rolle für ihre kulturelle Identität und Lebensweise (Kaltmeier 2004: 289 ff; Marimán 2012: 37; Pareja 2021: 382 ff). Ihr Land ist für die Mapuche ein historisch angestammtes Territorium, in dem heilige Stätten und kulturell bedeutsame Orte liegen. Gleichzeitig ist es die Grundlage ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Praktiken und damit elementare Voraussetzung der economía mapuche. Deshalb betonten die Mapuche-Organisationen insbesondere in den 1990er Jahren, der Phase der Institutionalisierung indigener Politik und der Anerkennung ihrer Identitäten, stets die Relevanz des »Zugangs zu den fundamentalen Ressourcen Wasser und Land, um eine Kontinuität indigener Kultur garantieren zu können« (Levil 2017: 241). Das Erkämpfen von Land ist für sie seither aber auch eine schiere ökonomische Notwendigkeit (Pareja 2021: 387). Dabei führt größerer Landmangel allerdings nicht automatisch zu höherer Konfliktivität. Aus den untersuchten Kommunen geht hervor, dass gerade die comunidades kämpferisch sind, die schon jetzt landwirtschaftlich aktiv sind und bereits etwas Land und Zugang zu Wasser haben. Wie der Fall von Mundo Nuevo in Curanilahue zeigt, haben darüber hinaus auch Familien von Kleinbauern und -bäuerinnen, die nicht den Mapuche angehören, begonnen, Land der Forstindustrie zu besetzen, um sich dieses wieder anzueignen. Insgesamt lässt sich jedoch sagen, dass vor allem die comunidades aktiv um bedarfsökonomische Praktiken und damit auch um ökologische Verflechtung und die Wiederaneignung von Ressourcen kämpfen.

Abb. 5.2
figure 2

(Eigene Darstellung)

Ökologische Verflechtung und Konflikt.

Wie Abbildung 5.2 zeigt, werden Konflikte um ökologische Verflechtung und die Verteilung von Ressourcen nicht nur zwischen den Akteuren des bedarfsökonomischen und kapitalistischen Sektors ausgetragen, sondern sehr stark auch durch die politische Ebene bearbeitet. Seit den 1990er Jahren haben die Landbesetzungen der Mapuche vielfach dazu geführt, dass die staatliche Behörde CONADI eingegriffen, die betroffenen Flächen gekauft und an die entsprechende comunidad übertragen hat (Donoso 2017: 303 f). Auch wenn dies keinesfalls ausreichend ist, so konnten in den letzten Jahrzehnten doch deutlich mehr als die seit der Militärdiktatur verlorenen gegangenen Flächen an die comunidades zurückverteilt werden. Dies hat mit politischen Kräfteverhältnissen auf unterschiedlichen Ebenen zu tun. Von comunidades, die ein betreffendes Land besetzen, um die CONADI dazu zu bringen, das Verfahren des Landkaufs für sie zu beschleunigen, berichten Mapuche in den Interviews immer wieder.Footnote 12 Einerseits existiert damit ein – wenn auch durch eine Vielzahl von Problemen gekennzeichneter – Mechanismus der Konfliktbearbeitung. Andererseits sieht sich die CONADI in der Öffentlichkeit dazu gezwungen, solche Praktiken zu dementieren, weil ihr öffentlich vorgeworfen wird, die Landbesetzungen dadurch noch anzuheizen und sich erpressen zu lassen.Footnote 13

Gleichzeitig stützen die Mapuche ihre Ansprüche auf Land in zunehmendem Maße auf internationales Recht, die Aufmerksamkeit einer weltweiten Zivilgesellschaft und privater Zertifizierungsmechanismen wie den FSC. Die politisch aktiven Mapuche beziehen sich – wie dargelegt wurde – sehr strategisch auf internationale Regulierungen. Dabei wurden die Ansprüche der Mapuche zuletzt nicht nur durch internationale kulturelle Anerkennungspolitiken – beispielsweise im Rahmen des »Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern« der ILO –, sondern auch durch neuere Umweltregulierungen gestärkt. So legt das »Übereinkommen über die biologische Vielfalt« der Vereinten Nationen fest, dass der Schutz der Biodiversität in Zusammenarbeit mit den lokalen und indigenen Gemeinschaften gewährleistet werden muss. Gleichzeitig erweist sich auch hier der chilenische Staat grundlegend als »Staat des Kapitals«. Nicht nur führen die kulturellen Anerkennungspolitiken lediglich in geringem Maße zur Umverteilung von Land, auch die Umweltpolitik wird immer noch vorwiegend als Sache des Staates und privater Geschäftsmänner betrachtet, während die lokale Bevölkerung und ihre Nutzungspraktiken aktiv aus den zu schützenden Natur- und Urwäldern ausgeschlossen wird, was immer wieder zu Konflikten führt.Footnote 14

Seit den späten 1990er Jahren verstärken sich die Verbindungen zwischen der Bewegung der Mapuche und den internationalen Institutionen und Öffentlichkeiten. Dies hat auch damit zu tun, dass die Mapuche zunehmend von Kontakten zu internationalen NGO und der Berufung auf internationales Recht Gebrauch machen. Diese Entwicklung beunruhigt die regionale und nationale besitzende Klasse Chiles. So beschwert sich ein ehemaliger Präsident der CORMA (b35) im Interview darüber, dass das internationale Recht und die »Angst vor einem internationalen Skandal« die chilenischen Behörden daran hindere, resolut gegen militante Mapuche vorzugehen. Internationale NGO würden zudem militante Mapuche-Gruppen finanziell und ideologisch unterstützen, was den Konflikt mit der Forstindustrie weiter schüren würde, so der Unternehmensvertreter. Auch Vertreter*innen der regionalen Unternehmerverbände und der Forstunternehmen (a8; b35; b38) beklagen im Interview, dass es in der chilenischen Politik mittlerweile zu viele Politiker*innen gebe, die die Sache der »subversiven« Mapuche unterstützten. Linke Regierungen hätten schon teilweise mit den »Terroristen« sympathisiert, so Unternehmensvertreter*innen (b35; b38). Die einzige Chance der Forstunternehmen zur Gegenwehr in den konfliktreichen Gebieten bestünde darin, eine eigene Armee aus Söldnern anzuheuern, aber das wäre gesetzlich nicht möglich, so ein ehemaliger Präsident der CORMA (b35). Damit wird deutlich, dass sich Grenzkämpfe um ökologische Verflechtungen in einer offenkundigen Heterogenität der politischen Regulierungen und eklatanten Widersprüchen innerhalb der Staatsapparate ausdrücken.

Insgesamt lässt sich sagen, dass die zunehmende ökologische Verflechtung zu einer Steigerung der lokalen Konflikte zwischen den comunidades und der Forstindustrie führt, welche sich um die konkreten Verflechtungen sowie um die Wiederaneignung bestimmter Ökosysteme und Landflächen drehen. Zwischen der lokalen Bevölkerung und der Forstindustrie kommt es auf dieser Ebene zu einem tiefen Antagonismus. Dieser resultiert aus einem klaren Interessengegensatz bezüglich der Kontrolle über beziehungsweise der Zugänge zu und vor allem der Verteilung von ökologischen Ressourcen – allen voran von Land. Diesbezüglich haben sich die Kämpfe der comunidades nicht nur auf der lokalen, sondern auch auf der nationalen und internationalen politischen Ebene artikuliert. Während dies in Chile unter anderem zur staatlichen Institutionalisierung in Form der CONADI führte, hat sich auch das internationale Recht in den vergangenen Jahrzehnten zu einer wichtigen Berufungsinstanz für Ansprüche der Mapuche entwickelt. Insgesamt kennzeichnen die letzten Jahrzehnte eine zunehmende Differenzierung der Herrschaftsverhältnisse gegenüber den Mapuche, bei der eine sozioökonomische strukturelle Heterogenität mit einer Heterogenität in den Staatsapparaten und auf rechtlicher Ebene einhergeht (Kaltmeier 2004; Parraguez/Barton 2015). Dadurch werden die Konflikte zwar staatlich und rechtlich bearbeitet, was Kämpfe um Wiederaneignung von unten teilweise begünstigt und zu relevanten Umverteilung von Land an die Mapuche geführt hat. Gleichzeitig ist die Regulation äußerst widersprüchlich, was zu gegenseitigen Blockaden führt, weshalb die maßgeblichen Kämpfe nach wie vor vorwiegend in Form außerinstitutioneller Konflikte und mittels direkter Aktionen vor Ort stattfinden (Millaman 2016: 15). Diese direkten Aktionen bestehen meist in Landbesetzungen, die in Form der territorialen Kontrolle legale Verfahren beschleunigen und konkrete Gebietsansprüche durchsetzen sollen.Footnote 15 Die Verteilung der Ressourcen zwischen dem kapitalistischen und dem bedarfsökonomischen Sektor stellt sich folglich jeweils als Ergebnis stets umkämpfter Kräfteverhältnisse heraus, die unterschiedliche politische Ebenen durchziehen. Während der chilenische Nationalstaat traditionellerweise das Wachstum des kapitalistischen Sektors stark privilegiert und die besitzende Klasse Chiles Kämpfen um ökologische Verflechtung häufig mit unmittelbarer Repression begegnen will, fördert die kommunale »Entwicklungspolitik«, einzelne nationale Staatsapparate und das internationale Recht vielfach die Wiederaneignung produktiver Ressourcen durch die Mapuche. Hierbei wird äußerst klar, dass der Grund für die politische Förderung bedarfsökonomischer Aktivitäten nicht darin liegt, dass diese für den kapitalistischen Sektor vor Ort – in diesem Fall die Forstindustrie – funktional sind, sondern dass diese aus kulturellen, ökologischen oder sozialpolitischen Motiven gefördert werden. Allerdings bleiben die Grenzkämpfe vor Ort, das heißt, die direkten Aktionen der comunidades in den ländlichen Gegenden, der treibende Faktor der politischen Kräfteverhältnisse, die sich auch in den ökologischen Verflechtungsverhältnissen verdichten. Dies wird auch mit Blick auf die ökonomischen Verflechtungen deutlich.

5.1.3 Umkämpfte ökonomische Verflechtungen

Die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen bedarfsökonomischem und kapitalistischem Sektor finden – wie dargelegt wurde – über kapitalistisch dominierte Märkte statt. Mit Blick auf die Forstindustrie bestehen diese vor Ort vor allem in Form von Rohstoffmärkten, in denen Forstunternehmen Holz kleiner Landbesitzer*innen kaufen und Dienstleistungsmärkten, über die Aufträge an kleine Subunternehmen vor Ort vergeben werden. Die Vergabe von Aufträgen für Fällarbeiten an lokale Subunternehmen sowie die Beschäftigung lokaler Arbeitskraft ist allerdings in der Regel weniger wirtschaftlich motiviert als vielmehr dadurch, dass sich die großen Forstunternehmen dazu aufgrund lokaler Konflikte sowie durch die Regulierungen des FSC gezwungen sehen. Während die Forstunternehmen angeben, es sei Teil ihrer »Programme der guten Nachbarschaft«, Bewohner*innen ländlicher Gebiete im Umfeld der Forstplantagen zu beschäftigen, betonen Mitglieder der comunidades, dass ihnen nur dann Arbeit angeboten würde, wenn sie aktiv darum kämpften oder die Forstunternehmen Konflikten vorbeugen wollten. Von selbst würden die Forstunternehmen nur selten Kontakt zu ihnen aufnehmen.Footnote 16 Die Beschäftigung von Mapuche dient in vielen Fällen vor allem der Konfliktprävention oder -bearbeitung (Millaman et al. 2016: 10) – so eine Vielzahl Interviewter.Footnote 17 Einige beteuern, dass die Verflechtung mit den Unternehmen für diese in der Regel dazu diene, die lokale Bevölkerung »zu kaufen« (a10). So sei es für die Mapuche-Organisationen sehr viel schwerer, Widerstand in comunidades zu mobilisieren, die im kapitalistischen Sektor Beschäftigung fänden (a10). Wirtschaftliche Verflechtungen werden folglich seitens der Unternehmen dazu genutzt, Konflikte zu verhindern, abzumildern oder zu bearbeiten (Abbildung 5.3).

Abb. 5.3
figure 3

(Eigene Darstellung)

Ökonomische und ökologische Verflechtung und Konflikt.

Nicht immer fordern die comunidades allerdings Arbeit. Eduardo (a37), der für ein Subunternehmen der Forstindustrie tätig ist, berichtet, dass die comunidades häufig auch fordern, dass die Forstunternehmen ihnen Wege und Straßen reparieren oder Schulen finanzieren. Die Möglichkeiten für diese Form der Konfliktprävention und -bearbeitung durch wirtschaftliche Verflechtungen mit der Forstindustrie ergeben sich für die Großunternehmen daraus, dass ihnen in den ländlichen Gebieten eine erhebliche »territoriale Macht« zukommt.

Die territoriale Macht der großen Forstunternehmen besteht in den untersuchten Kommunen zunächst darin, dass sie bedeutende Teile der Fläche der Kommune besitzen und mit Forstplantagen bewirtschaften. Gleichzeitig kontrollieren sie dadurch die Wasserströme, die Biodiversität und den Zugang zu wichtigen Ökosystemen. Sie bestimmen zudem den Zutritt der lokalen Bevölkerung zu den großen Plantagen für das Sammeln von Heilkräutern, Pilzen, Kiefernzapfen und Holz oder regulieren in einigen Fällen den Zugang zu Weideflächen und Wasserquellen. Die Folge ist, dass die Forstunternehmen über ihre Kontrolle der lokalen Ökosysteme auch die (Re)Produktions- und Lebensbedingungen der lokalen Bevölkerung in der Hand haben. Diese Dominanz über die lokale Bevölkerung mittels der Kontrolle der lokalen Ökosysteme wird noch dadurch verstärkt, dass die Forstunternehmen in den untersuchten ländlichen Gebieten die einzigen größeren wirtschaftlichen Akteure darstellen. Ihre Macht über die lokalen Zuliefermärkte der Forstwirtschaft sowie die ländlichen Arbeits- und Rohstoffmärkte ist deshalb kaum zu überschätzen.Footnote 18 Sie bestimmen nicht nur die Preise für die Dienstleistungen der Subunternehmen der Forstbranche, sondern auch die Preise für den Rohstoff Holz insgesamt. Außerdem werden alternative ökonomische Aktivitäten in ländlichen Regionen durch die Forstindustrie erheblich eingeschränkt und klassische kleinbäuerliche Landwirtschaft verdrängt (Pino/Carrasco 2019: 221 f). In der Folge werden die Ökosysteme sowie die sozioökonomischen Verhältnisse in extremem Maße von der Forstindustrie dominiert.

Darüber hinaus wird ihre territoriale Macht in den Kommunen noch dadurch gestärkt, dass der chilenische Nationalstaat in den ländlichen Gebieten weitgehend abwesend ist. Dadurch nehmen die Forstunternehmen vielerorts quasi-staatliche Funktionen ein. Dazu haben auch die Programme der CSR beigetragen, zu denen die Forstunternehmen unter anderem aufgrund ihrer FSC-Zertifizierung gezwungen sind. Dies hat auch dazu geführt, dass die Forstunternehmen teilweise die kommunale Politik kofinanzieren. Wie Mapuche (a15; a20) erzählen, legen Forstunternehmen im Rahmen ihrer Politiken der »guten Nachbarschaft« Wege an, reparieren Brücken, renovieren Schulgebäude, errichten Wassertürme und ähnliche Infrastrukturprojekte für comunidades oder die Gemeinden. In Arauco hält das Unternehmen Forestal Arauco – wie oben ausgeführt wurde – regelmäßig große Events ab, zu denen die kleinen Betriebe der Forstbranche geladen werden und errichtete zudem das städtische Kulturzentrum. In Curanilahue finanziert Forestal Arauco kommunale »Entwicklungsprogramme« und baute das dortige Sportstadium. In der Folge geraten öffentliche Infrastrukturen, politische Institutionen und Sozialprogramme in den Kommunen in Abhängigkeit zur Forstindustrie.

Diese quasi-staatliche Rolle, die Forstunternehmen in ländlichen Kommunen einnehmen, kann am Unternehmen Forestal Arauco kurz exemplarisch dargelegt werden. So unterhält das Forstunternehmen mit seiner Stiftung AceraRedes beispielsweise eine Institution, mit der das Unternehmen eigene Sozialprogramme gestaltet. Die private Stiftung baut mit Geldern des Forstunternehmens kleine Bildungszentren im ländlichen Raum der Araucanía auf, in denen Treffen, Workshops und Weiterbildungsangebote stattfinden, die sich an die lokale Bevölkerung richten.Footnote 19 Dabei geht es um die Förderung wirtschaftlicher Aktivitäten vor Ort im Rahmen der Unterstützung oder Gründung kleiner Betriebe. Die geförderten Aktivitäten bestehen allerdings weniger in Bereichen, die den Unternehmen als Zulieferer für ihr Hauptgeschäft der Zellstoffproduktion dienen, als vielmehr in bedarfsökonomischen Tätigkeiten, die sich an die lokale Bevölkerung oder Tourist*innen als Zielgruppe richten. Forestal Arauco unterstützt beispielsweise recolectores, die Nichtholzprodukte in und um die Forstplantagen sammeln, in 20 verschiedenen Kommunen mit Werkzeug, Öffentlichkeitsarbeit sowie darin, sich zu professionalisieren (Forestal Arauco 2019: 83). Derzeit plant die Stiftung zudem, ein red de comercialización (Vermarktungsnetz) aufzubauen und so Märkte für kleine Produzent*innen zu schaffen. Nach eigenen Angaben arbeitet Forestal Arauco zudem in Form kultureller und ökonomischer Projekte mit 404 comunidades zusammen und war im Jahr 2019 außerdem in 131 Projekten aktiv, die Trinkwasser für die lokale Bevölkerung und Schulen bereitstellen, wodurch es die Wasserversorgung von 27.000 Personen unterstützte (ebd.: 83 f).Footnote 20

Die territoriale Macht der großen Forstunternehmen in den ländlichen Kommunen umfasst folglich nicht nur große Teile der lokalen Ökosysteme, sondern auch die Dominanz sozialer Verhältnisse in den von den Forstplantagen dominierten Gebieten. Dies nutzen die Forstunternehmen auch, um vor allem in Gebieten, in denen viele Mapuche leben, Konflikten vorzubeugen und Abhängigkeiten zu schaffen. Ein Gemeindemitarbeiter aus Cholchol (a20) erklärt beispielsweise, dass sie in mesas de trabajo (runde Tische) der Gemeinde nahezu alle relevanten kommunalen Themen – sei es Wohnungsbau, Bildung, Kultur oder Soziales – mit Beteiligung der Forstunternehmen diskutieren. Dabei leisteten die großen Forstunternehmen häufig einen finanziellen Beitrag bei Programmen und Initiativen der Gemeinde. Nicht nur in Bezug auf soziale und wirtschaftliche Programme spielen die Forstunternehmen damit eine quasi-staatliche Rolle. Bei großen Waldbränden in den Forstplantagen, die häufig auch die Häuser der ländlichen Bevölkerung bedrohen, seien es – laut Interviewten (a15; d5; d7) – die Unternehmen mit ihren Flugzeugen und Helikoptern die versuchten, die Brände zu löschen.

Vor allem konkrete wirtschaftliche Verflechtungen sind für die Forstunternehmen ein Mittel, Konflikte mit der ländlichen Bevölkerung zu bearbeiten. Der untersuchte Fall Cholchol zeigt, wie die Forstunternehmen langfristige Verflechtungen mit comunidades der Mapuche eingehen, um auf diese Weise Konflikten vorzubeugen und ihre Rohstoffversorgung zu sichern. In unterschiedlichen Arrangements arbeiten Forstunternehmen mit kleinen Landbesitzer*innen und motivieren und unterstützen diese dabei, Forstplantagen zu pflanzen. Häufig werden dadurch prekäre Mapuche-Haushalte zwar in die Forstbranche integriert, verlieren dadurch aber ihre landwirtschaftlichen Produktionsgrundlagen und Einkommen und geraten in Abhängigkeit und Streit mit anderen Mapuche-Haushalten und comunidades, die die Zusammenarbeit mit der Forstindustrie ablehnen. Während für die meisten chilenischen ländlichen Haushalte der Verkauf von Holz an und die Beschäftigung bei den Forstunternehmen keine Frage des Gewissens darstellt, führt diese in den comunidades der Mapuche zu internen Problemen. Ob in Form kleiner Forstplantagen und Pachtverträgen mit Mapuche-Haushalten, in Gestalt der Beschäftigung als guarda bosque oder bei Erntearbeiten oder gar durch ein eigenes Mapuche-Subunternehmen der Forstwirtschaft tragen die Verflechtungen zwischen der Forstindustrie und comunidades in letzteren zu erheblichen internen Auseinandersetzungen bei.Footnote 21 Dabei stellen ökonomische Verflechtungen keine Seltenheit dar. Mehr als 26 Prozent der comunidades haben direkte Beziehungen zu Forstunternehmen (Rodríguez 2021). Allerdings lassen sich hinsichtlich der Verflechtungen bedeutende Unterschiede zwischen comunidades verschiedener Kommunen feststellen.

Während die angeführten ökonomischen Verflechtungen ein Zeichen der wirtschaftlichen Alternativlosigkeit, ein Ausdruck der Unternehmensstrategien und der politischen Passivierung ländlicher Mapuche darstellen, sind andere ökonomische Verflechtungen Resultat militant ausgetragener Kämpfe von unten. Genauso wie die ökologischen Verflechtungen sind auch die wirtschaftlichen Verflechtungen in der Regel immer wieder neu ausgehandelte Bearbeitungsformen lokaler Konflikte, denen in der Araucanía eine große Verbreitung zukommt und die von den Mapuche politisch auch gänzlich anders bewertet werden (Millaman et al. 2016: 10). Juan, der in der Gemeinde Galvarinos arbeitet, erklärt diese erzwungene Verflechtung im Interview anschaulich:

»eine Zusammenarbeit kommt dann zustande, wenn es einen Konflikt gibt, […], wenn ihnen nichts anderes mehr übrig bleibt […].Wenn zum Beispiel die comunidad die Arbeiten in den Forstplantagen blockiert, dann müssen sie verhandeln, dann sind sie gezwungen, zu verhandeln, weil sie wissen, dass wenn es keine Verhandlungen gibt, dann können sie ihre Ernte nicht rausholen.« (a12)

Die oben beschriebene Kooperative aus Galvarino ist ein anschauliches Beispiel für von unten erkämpfte Verflechtungen. Die Kooperative setzte gegen Masisa beispielsweise das Zugeständnis durch, die Fällarbeiten gänzlich zu übernehmen. Dafür besetzten sie das Gelände, auf dem Masisa Fällarbeiten mittels eines Subunternehmens durchführte und stoppten die Aktivitäten. Das Forstunternehmen musste sich darauf einlassen, dass die Kooperative heute die Fällarbeiten durchführt und dem Unternehmen sogar den Preis diktiert, zu dem sie ihm das Holz verkaufen. Gegenüber einem anderen Forstunternehmen setzte sich die grupo territorial mit der Forderung durch, die gesamte Ernte nach den Fällarbeiten durch ihre Kooperative zu gleichen Teilen unter sich aufzuteilen, obwohl es sich in beiden Fällen um Land und Plantagen der Forstunternehmen handelt. Die Mapuche sind sich sehr bewusst darüber, dass es nur zu einer von ihnen geregelten Zusammenarbeit zwischen Forstunternehmen und ihren comunidades kommt, wenn sie den Unternehmen diese Zusammenarbeit aufzwingen (a30; a38; a39). Gegen die Forstunternehmen setzen sich die comunidades mittels direkter Aktionen ihrer grupos territoriales durch. Dafür nutzen sie direkte Aktionen, durch die sie die Zirkulation in der extraktiven Güterkette des kapitalistischen Sektors stoppen.

Seit 1997 und insbesondere den 2000er Jahren haben sich die außerinstitutionellen Formen der Konfliktaustragung im zentralen Süden Chiles stark verbreitet. Häufig wird dabei auf absichtlich gelegte Brände in den Forstplantagen verwiesen. Diese als Druckmittel verwendete Aktionsform wird allerdings vermutlich längst nicht so häufig angewandt, wie von den Interessenverbänden der Forstunternehmen moniert.Footnote 22 Dementgegen agiert der bewaffnete Arm der Mapuche-Bewegung seit gewisser Zeit vor allem mittels des Inbrandsetzens von Forstmaschinen. Allerdings finden die direkten Aktionen der meisten comunidades unbewaffnet und in Form von Landbesetzungen und Blockaden von Straßen und Erntearbeiten statt. Dabei handelt es sich ebenfalls um außerinstitutionelle und häufig illegale Protestformen: »Wir sind vor allem deshalb stark, weil wir auf der dunklen Seite der Legalität agieren«, erklärt Lautaro (a10), der in der oben genannten Kooperative arbeitet. Es sei sehr schwer auf institutionellem Weg oder ohne direkten Druck etwas zu erreichen, so Lautaro. Die erfolgreicheren Durchsetzungskanäle der Macht von unten bestünden in direkten, militanten Aktionsformen:

»es ist einfacher, dass wir uns mit ein paar Steinen und einer boleadoraFootnote 23 gegen die Forstunternehmen durchsetzen. Also für uns ist es so einfacher als uns nach ihren formellen Abläufen zu richten. Diese Abläufe sind schlecht für uns, da verlieren wir immer.« (a10)

Ein Mitarbeiter in einer wichtigen chilenischen Umwelt-NGO (a33) pflichtet dieser Aussage bei, wenn er erklärt, dass die effektivsten Formen, Druck auszuüben darin beständen, die Straßen und Wege zu blockieren, weil die Forstindustrie dann ihr Holz nicht transportieren könne und wirtschaftliche Schäden erleide. Am besten funktioniere bei den Kämpfen um die Wiederaneignung von Land darüber hinaus eine Kombination aus direkten Aktionen und diskursiven sowie institutionellen Machtressourcen, erklärt ein Mapuche-Aktivist (a23). Besonders erfolgreich seien comunidades, die beispielsweise mittels títulos de merced belegen könnten, dass ein bestimmtes Gebiet historisch ihnen gehörte, die dann das betreffende Land besetzten und dies mit einer internationalen und nationalen Öffentlichkeitskampagne orchestrierten, die auf die staatlichen Behörden Druck ausübten (a23). All dies zeigt, dass die Konflikte, die die Mapuche eingehen, keinesfalls einfach spontane riots darstellen, sondern sehr strategisch geführt werden. Sie ähneln damit dem, was Eric Hobsbawm (1952: 59) als bargaining by riot bezeichnete. Im Gegensatz zu Hobsbawms bargaining by riot zielen sie allerdings nicht auf die Regulierung von Arbeitsverhältnissen in der großen Fabrik, sondern richten sich vielmehr darauf, spezifische Verflechtungen zu erkämpfen, die es ihnen häufig ermöglichen, kurz- oder mittelfristig ein Stück weit am kapitalistischen Reichtum zu partizipieren.

Politisch radikalere comunidades versuchen gleichzeitig nicht nur bestimmte Verflechtungen zu erzwingen, sondern dauerhaft die Bedingungen der ökologischen und wirtschaftlichen Verflechtungen zu kontrollieren. Comunidades wie die von Aukan (a15) und Lautaro (a10) in Galvarino wählen – wie oben dargestellt wurde – radikale und langfristige Vorgehensweisen, um mittels ihrer grupos territoriales rund um und in den Forstplantagen die territoriale Kontrolle zu erlangen, durch die sie die Bedingungen der ökologischen und ökonomischen Verflechtungen mit der Forstindustrie dauerhaft diktieren können. Dafür besetzen sie Landflächen der Forstunternehmen oder blockieren deren Erntearbeiten und Transportwege. In der Folge ist es ihnen möglich, mittels einer eigenen Kooperative mittelfristig die Fällarbeiten für die Forstindustrie durchzuführen und danach zu entscheiden, ob sie es zulassen, dass das Gebiet wieder mit Forstplantagen bepflanzt oder anderweitig genutzt wird. In diesem Sinne setzt die Strategie der reivindicación territorial darauf, sich das Land und die Kontrolle über bestimmte Gebiete dauerhaft anzueignen und die Bedingungen der ökologischen und ökonomischen Verflechtung mit der Forstwirtschaft nachhaltig zu diktieren. In einigen Fällen zielt die Strategie langfristig auf eine Entflechtung mit der Forstindustrie. Allerdings streben auch radikale Mapuche keine vollkommene Abkopplung vom kapitalistischen Sektor an, sondern eine Verflechtung auf Augenhöhe mit bestimmten Branchen, von denen die comunidades wirtschaftlich profitieren können, ohne dass ihre Ökosysteme geschädigt würden (a10). Das sind in ihren Augen vor allem Bereiche wie Tourismus und Landwirtschaft. Während ein großer Teil der lokalen Bevölkerung folglich Verflechtungskonflikte führt, die sich auf die wirtschaftliche Teilhabe an den großen Einnahmen der Forstindustrie richten, streben radikalere Mapuche eine dauerhafte territoriale Kontrolle an, durch die sie eine Verflechtung auf Zeit und langfristig eine Entflechtung mit der Forstindustrie sowie eine strategische Verflechtung mit gewissen kapitalistischen und äußeren Märkten mittels ihrer Kooperativen durchsetzen wollen.

Die Kämpfe um Wiederaneignung produktiver Ressourcen und der territorialen Kontrolle der Verflechtungen mit dem kapitalistischen Sektor gehen bei radikaleren Mapuche-Organisationen zudem in die Forderung nach einer eigenen politischen Regulierung über. Die comunidades fordern beispielsweise die Anerkennung traditioneller politischer Autoritäten in den Gebieten, die sie kontrollieren. Hierbei spitzt sich das Spannungsfeld zu, das dann nicht mehr nur mit Blick auf die ökologischen und ökonomischen sektoralen Verflechtungen besteht, sondern in den Gebieten der Mapuche auch zwischen deren traditionellen politischen Autoritäten und dem bürgerlichen Recht auf Privateigentum sowie offiziellen staatlichen Autoritäten. Gerade vor dem Hintergrund zunehmender Forderungen der Mapuche nach politischer Autonomie in ihren Gebieten lässt sich damit seit geraumer Zeit nicht nur ein Übergang zu einer breiten Strategie der territorialen Kontrolle der Mapuche feststellen, sondern auch eine Zunahme politischer Spannungen und staatlicher Repression (Marimán 2012; Millaman et al. 2016: 9 f, 16).

Unternehmerverbände klagen in diesem Zusammenhang, dass den militanten Mapuche-Organisationen in einigen Gebieten vom Staat freie Hand gelassen würde, wo sie »ohne staatliches Gegengewicht, agieren könnten« (b35). Die politische Rechte lässt kaum eine Gelegenheit aus, ein repressives Vorgehen der Sicherheitskräfte und die Ausrufung des Ausnahmezustands in der Region zu fordern(b38).Footnote 24 Seitdem Sebastián Piñera schließlich im Oktober 2021 wegen »schwerer Störungen der öffentlichen Ordnung« den Ausnahmezustand in Teilen von Biobío und der Araucanía ausrief, werden Soldaten in der Region eingesetzt, wobei es immer wieder zu Toten kommt.Footnote 25 Die staatliche Repression gegenüber der Bewegung der Mapuche nimmt seit den frühen 2000er Jahren sukzessive zu und beinhaltet nicht nur eine Militarisierung der ländlichen Gebiete des Wallmapu, sondern auch die Kriminalisierung der Bewegung und die Anwendung der Anti-Terrorgesetzgebung aus der Militärdiktatur gegenüber Mapuche-Aktivist*innen. Dass die Zeiten der Repression in den vergangenen Jahren nicht abreißen, zeigt sich unter anderem in den kontinuierlich steigenden Ausgaben für die Sicherheitskräfte in den Provinzen Arauco, Malleco y Cautín (Environmental Paper Network 2022: 8), aber auch an immer wiederkehrenden Tötungen von Mapuche im Rahmen von Protesten und Landbesetzungen.Footnote 26 Diese punktuelle repressive Anwesenheit des Staates steht in Kontrast zu seiner weitgehenden Abwesenheit mit Blick auf das Soziale.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Expansion der Forstindustrie rein wirtschaftlich gesehen zu abnehmenden ökonomischen Verflechtungen zwischen kapitalistischem und bedarfsökonomischem Sektor vor Ort tendieren würde, weil sie auf immer weniger Arbeitskräfte angewiesen ist. Gleichzeitig nehmen im Forstbereich ökonomische Verflechtungen in Folge sektoraler Grenzkämpfe vor Ort zu. Die Auseinandersetzungen um ökonomische Verflechtungen bewegen sich dabei in einem Spannungsfeld zwischen Unternehmensstrategien von oben, durch die Konflikten vorgebeugt, diese bearbeitet und comunidades »gekauft« sowie Rohstoffe angeeignet werden sollen einerseits und aktiven Kämpfen der comunidades um ökonomische Verflechtung unter ihrer Kontrolle. Ökonomische Verflechtungen von oben tragen dabei eher zu einer Passivierung von comunidades und Kämpfe um Verflechtung von unten zu deren gesteigerter Aktivität sowie zu Übergängen der Konflikte in Auseinandersetzungen um die Wiederaneignung von Land und Ressourcen bei.

Die zentrale Konfliktdynamik in den untersuchten Kommunen besteht folglich in Gestalt von Grenzkämpfen um Ver-/Entflechtung, die als nicht-institutionalisierte Konflikte im öffentlichen Raum stattfinden und im Modus der Territorialität geführt werden: Beispielsweise werden Erntearbeiten gestoppt, Maschinen zerstört und die extraktivistische Infrastruktur blockiert. Die territoriale Macht der Forstunternehmen steht dabei den Kämpfen um territoriale Kontrolle seitens der comunidades gegenüber. Beide versuchen auf diese Weise, Verflechtungsverhältnisse zu kontrollieren und zu gestalten. In einigen Fällen gelingt es den Mapuche dabei, Verflechtungsbedingungen dauerhaft und teils strategisch zu kontrollieren. In anderen Fällen findet in Folge der Auseinandersetzungen eine Wiederaneignung produktiver Ressourcen durch die comunidades statt. Ökologische und wirtschaftliche Verflechtungen zwischen den Sektoren sind mit Blick auf die Forstindustrie damit weniger ein Ergebnis ökonomischer Handlungsrationalitäten als vielmehr Resultate von Kräfteverhältnissen.

Die Kämpfe um territoriale Kontrolle, die Bedingungen wirtschaftlicher Verflechtungen sowie die Wiederaneignung ökologischer Ressourcen stellen gleichzeitig weit mehr als nur einen lokalen Konflikt zwischen comunidades der Mapuche und Forstunternehmen dar. Es handelt sich um einen offenen Konflikt, der immer wieder großen Einfluss auf die politischen Entwicklungen in Chile insgesamt ausübt. Einerseits, weil die territorialen Verflechtungskonflikte vor Ort durch nationale Behörden wie die CONADI und internationale Institutionen wie den FSC oder die ILO mitreguliert werden, andererseits, weil die Mapuche auch mit anderen sozialen und ökologischen Bewegungen in Chile in Verbindung stehen. Grund dafür ist nicht zuletzt, dass die Mapuche einen ungebrochenen und radikalen Widerstand gegen den kapitalistischen Sektor und seine kolonialen Kontinuitäten in Chile insgesamt repräsentieren. Mit der in ihrer Kosmovision verankerten economía mapuche und ihren spezifischen Naturverhältnissen verkörpern sie nicht nur einen spezifischen kulturell-historischen Anspruch auf ein bestimmtes Gebiet, sondern auch einen kompromisslosen Kampf für bedarfsökonomische wirtschaftliche Aktivitäten und den Schutz der Ökosysteme vor extraktivistischen Interventionen. Damit fordern sie nicht nur das wirtschaftliche Modell und die historisch verankerten Klassenverhältnisse im zentralen Süden Chiles heraus, sondern entfalten mit ihren politischen Auseinandersetzungen eine Strahlkraft, die weit über ihre spezifischen kulturellen Ansprüche und lokale Kämpfe hinaus reicht. Im Folgenden stellt sich daher die Frage, wie sich ihre Kämpfe mit denjenigen anderer bedarfsökonomischer Akteure verbinden oder von diesen unterscheiden.

5.2 Mögliche Allianzen: Die Kämpfe der Mapuche als sozialökologischer Klassenkonflikt?

In der Logik des kapitalistischen Sektors ist die große Mehrheit der Privathaushalte in den untersuchten Kommunen »überflüssig«. Der kapitalistische Sektor benötigt sie nicht in relevantem Maße als Arbeitskräfte. Im Gegensatz dazu spielen bedarfsökonomische Praktiken – wie wir gesehen haben – für die »Überflüssigen« eine zentrale Rolle. Die »Bedarfsökonomie« bildet allerdings keine eigenständige Ökonomie, sondern einen Sektor der gesamten chilenischen Wirtschaft und Gesellschaft, der mit dem kapitalistischen Sektor ökologisch und ökonomisch verflochten ist. Daher sind die Akteure innerhalb des bedarfsökonomischen Sektors auch Teil der gesamtgesellschaftlichen Klassenverhältnisse. Dies gilt für die ärmeren chilenischen Privathaushalte genauso wie für die Mapuche-Haushalte der Araucanía. Sie gehören damit – wie ich im Weiteren verdeutlichen werde – gleichermaßen der heterogenen sozialen Klasse des pueblos an. Die Frage nach den gesamtgesellschaftlichen Klassen-, Herrschafts- und Verteilungsverhältnissen, in denen sich die Mapuche als Teil der chilenischen Gesellschaft und im Verhältnis zur Forstindustrie bewegen, ist von Bedeutung, um die Verhältnisse zwischen Mapuche-Haushalten und chilenischen Haushalten sowie die Verortung der Kämpfe der Mapuche in den gesamtgesellschaftlichen chilenischen Konfliktdynamik zu verstehen.

Wie wir gesehen haben, sind arme Chilen*innen wie Mapuche – wenn auch nicht in gleichem Maße – beiderseits vom ökologisch destruktiven und sozial exklusiven Wachstum der chilenischen Forstindustrie betroffen. Auf Grundlage dieser geteilten Betroffenheit kam es in der Geschichte der indigenen und ländlichen Bewegungen Chiles immer wieder zu Allianzen zwischen Chilen*innen und Mapuche-Organisationen sowie comunidades.Footnote 27 Im Folgenden soll in diesem Sinne die Frage beantwortet werden, inwiefern es sich bei den Kämpfen der Mapuche nicht nur um einen kulturellen und historischen Konflikt, sondern auch um einen sozialökologischen Konflikt entlang einer gesamtgesellschaftlichen Klassenachse handelt und inwiefern dies Allianzen von unten ermöglicht. Dafür ist es zunächst nötig, gemeinsame Verflechtungen und klassenbildende Antagonismen herauszuarbeiten, die alle ärmeren Haushalte betreffen. Anschließend werde ich – basierend auf der ausgeführten Empirie und bereits erörterter Befunde – Spaltungslinien und vereinende Faktoren ausloten.Footnote 28

5.2.1 Geteilte Klassenverhältnisse

Die chilenischen Klassenverhältnisse sind – wie in Unterkapitel 4.1.1 deutlich wurde – durch einen sozial exklusiven und ökologisch zerstörerischen hierarchischen Kapitalismus gekennzeichnet. Eine kleine besitzende Klasse hat sich in Folge der Kolonisierung und insbesondere in der Militärdiktatur die ökologischen Ressourcen des Landes gesichert und die privatisierte öffentliche Infrastruktur angeeignet. Akkumulation durch Kommodifizierung ökologischer Ressourcen und sozialer Infrastrukturen ist ihre zentrale Aneignungsstrategie. Ihre engen Verbindungen zu transnationalen Unternehmen sowie in den chilenischen Nationalstaat sichern ihre Dominanz über die kapitalistischen Binnen-, Abnehmer-, Zuliefer- und Arbeitsmärkte. Auf der anderen Seite hängt das Überleben der Mehrheit der chilenischen Bevölkerung zu relevanten Teilen vom bedarfsökonomischen Sektor ab, der durch eine eigene moralische Ökonomie geprägt ist. Dies gilt auch und insbesondere für die Mapuche. Die Besonderheit der Klassenverhältnisse der in Abschnitt 4.4 untersuchten Kommunen besteht darin, dass es sich bei ihnen erstens historisch um Gebiete der Mapuche handelte, in denen zweitens traditionellerweise die Landwirtschaft eine große Rolle spielt und die drittens in den vergangenen Jahrzehnten einem erheblichen Wandel durch die Expansion der Forstindustrie unterlagen. Die großflächige monokulturelle Forstwirtschaft führt dabei – wie oben dargestellt – in extremem Maße zu Land- und Wasserknappheit, Arbeitslosigkeit, Armut und einer Konkurrenz um Zugänge zu ökologischen Ressourcen im Umfeld der Forstplantagen. Dauerhafte Lohnarbeit in kapitalistischen Unternehmen spielt in den untersuchten Kommunen kaum eine Rolle. Die lokale Bevölkerung reproduziert sich stattdessen durch eine breite Spanne von Einkommensquellen. Diese bestehen vor allem aus Aktivitäten im bedarfsökonomischen Sektor, die von der Subsistenz- und kleinbäuerlichen Landwirtschaft und handwerklichen Tätigkeiten, bis zu Dienstleistungen und dem Kleinhandel auf lokalen Märkten reichen, aber auch aus Gelegenheitsarbeiten bei großen Ernten der industriellen Land- und Forstwirtschaft oder im kommunalen Dienst und Jobs bei öffentlichen Beschäftigungsprogrammen.

Klassenverhältnisse sind in den untersuchten Kommunen in der Folge von anderer Art als die klassischen Beziehungen zwischen doppelt freien Lohnarbeiter*innen und dem Kapital in industriellen Großunternehmen, wie sie unter anderem Karl Marx (1983: 181 ff; 247 ff, 765) im Kapital beschrieb. Der oder die Arbeiter*in – so der Gedanke von Marx – könne sich mittels seines Lohnes auf den kapitalistischen Märkten reproduzieren (ebd.: 184 f).Footnote 29 Der bedarfsökonomische Sektor, wie wir ihn in dieser Arbeit betrachtet haben, wäre vor dem Hintergrund dieser Prämisse für diese Lohnarbeiter*innen nicht mehr nötig. Im Gegensatz dazu durchziehen die vertikalen Ungleichheitsbeziehungen zwischen den sozialen Klassen in den Untersuchungsfällen jedoch auch den bedarfsökonomischen Sektor. In dem hierarchischen Verhältnis der beiden Sektoren umfasst der kapitalistische Sektor wesentlich die ökonomischen Aktivitäten der Großunternehmen und Großgrundbesitzer*innen, während der bedarfsökonomische Sektor durch die wirtschaftlichen Aktivitäten des pueblo bestimmt ist, die sich auf die soziale Reproduktion der einfachen chilenischen Haushalte richten und mit eigenen Produktions- und Zirkulationsmitteln arbeiten. Die Klassenverhältnisse entlang dieser vertikalen Ungleichheitsachse zwischen kapitalistischen Unternehmen und dem pueblo sind dabei als ökologische oder ökonomische sektorale Verflechtungen auf Dauer gestellt. Es handelt sich bei der verflochtenen Polarisierung in der Folge nicht nur – wie in Abschnitt 5.1 dargelegt – um Resultate von Konflikten, sondern auch um relativ dauerhafte soziale, ökonomische und ökologische Grundstrukturen, die Beziehungen zwischen sozialen Gruppen bilden, die sich in hohem Maße durch ihren wirtschaftlichen Reichtum und politischen Einfluss unterscheiden. Verflechtungsverhältnisse sind dahingehend Klassenverhältnisse. Diese gehen mit einem antagonistischen Kausalverhältnis einher, in dem der Reichtum der Forstunternehmen auf der Armut der lokalen Bevölkerung basiert und mit Grenzkämpfen einhergeht. Pablo – ein Mapuche aus Cholchol – drückt diesen Antagonismus im Interview deutlich aus:

»Wie schon Marx sagte, […] dieser Widerspruch, dass sich einige zu Millionären machen und viel Macht haben, während es die anderen schlecht haben, weil sie keine Chancen haben und ihnen dann auch noch ihre Lebensräume zerstört werden. Die Industrie, die kann dich ja nicht nur als Arbeiter ausbeuten, sondern die zerstört ja auch die Orte, sie zerstört deine Umwelt, dein Leben.« (a19)

Diese soziale Polarisierung entlang der vertikalen Klassenachse, die Pablo beschreibt, ist in den untersuchten Kommunen deutlich ausgeprägt. Großgrundbesitzer*innen und Forstunternehmen sind dabei durch eine Interessenkonvergenz sowie durch personale Überschneidungen und teils enge Kontakte verbunden. Lokale Großgrundbesitzer*innen sichern sich nicht nur seit der internen Kolonisierung im 19. Jahrhundert vor Ort ihre politische Autorität, sondern haben auch enge Verbindungen zur regionalen und überregionalen politisch herrschenden Klasse. Auf der anderen Seite steht das pueblo, das unabhängig von der Zugehörigkeit zu den Mapuche eine gemeinsame Lebensrealität teilt und angesichts der sozialökologischen Probleme vor Ort eine Leidensgemeinschaft bildet. Damit wird klar, dass die Verflechtungen zwischen bedarfsökonomischem und kapitalistischem Sektor keineswegs »auf Augenhöhe« stattfinden, sondern vermachtete Beziehungen entlang einer vertikalen Ungleichheitsachse darstellen, hinter der sich ökonomische Aneignungs- und ökologische Enteignungsbeziehungen verbergen. Diese klassenspezifischen Kausalmechanismen stehen hinter der verflochtenen Polarisierung zwischen besitzender Klasse und dem pueblo in den untersuchten Kommunen und betreffen dort sowohl Haushalte der Mapuche wie diejenigen der Nicht-Mapuche.

Die gemeinsame Betroffenheit, die geteilten Kausalmechanismen sowie der vereinende Antagonismus, in dem das pueblo zur besitzenden Klasse steht, soll allerdings nicht bedeuten, dass die Mapuche einfach unter Klassenkategorien subsumiert werden können. Wissenschaftlich wurde dieser Fehler immer wieder begangen (Martínez 2012) und politisch führte er im schlimmsten Fall zu Versuchen der erzwungenen Assimilierung der Mapuche (Bengoa 1999: 171–181). Zwar machte die sogenannte pacificación der Araucanía und die Zerstörung des gemeinsamen Landbesitzes in den reducciones im 20. Jahrhundert die ländlichen Mapuche in den Worten José Bengoas durchaus zu einer »Gesellschaft der armen Bauern«, die eine weitgehend autarke Subsistenzwirtschaft mit einer Kultur des Widerstands kombinierte (Bengoa 2008: 366). Gleichzeitig wahrten sich die Mapuche aber über die Jahrzehnte bis heute eine eigene kämpferische Identität, die auf ihrer Kultur sowie auf spezifischen ökonomischen Praktiken, Naturverhältnissen und politischen Organisationen beruht (Martínez 2012: 41–55). Die sozialstrukturanalytische Einordnung der Mapuche in eine soziale Klasse der verarmten Bauern und Bäuerinnen wurde in der Wissenschaft über die Mapuche sowie durch Autor*innen der Mapuche deshalb vehement kritisiert (Caniuqueo 2017: 172 f; Marimán et al. 2017: 13). Die Geschichte der Mapuche seit der Kolonisierung durch den chilenischen Staat zeigte, dass ihre Klassenidentität dauerhaft durch die Identität des Mapuche-Seins überlagert wird (Marimán 2012: 23, 87 f). Aber die Mapuche unterscheiden sich von ihren chilenischen Nachbar*innen nicht nur durch eine kulturelle Identität und eine spezifische Geschichte. Sie sind darüber hinaus nach wie vor von alltäglicher Diskriminierung betroffen, was sich nicht zuletzt darin äußerst, dass sie durchschnittlich deutlich weniger verdienen als Chilen*innen (Durán/Kremerman 2015: 3). Im Folgenden gehe ich auf derartige horizontale Spaltungslinien zwischen Mapuche und Nicht-Mapuche ein und blicke dabei auch auf die Spezifika ihrer jeweiligen Verflechtungen mit dem kapitalistischen Sektor.

5.2.2 Spaltungslinien zwischen Mapuche und Nicht-Mapuche

Zwar sind die alten Haciendas heute schon lange nicht mehr die Grundlage der chilenischen Politik und Wirtschaft, dennoch werfen sie einen langen Schatten: Einerseits, weil viele der alten Großgrundbesitzerfamilien nach wie vor sehr einflussreich sind (Bengoa 2016: 35 f) und andererseits, weil der weiterhin verbreitete Klassismus und Rassismus sowie die autoritäre Politik gegen die unteren Klassen seitens einer selbstbewussten chilenischen Elite in diesen vergangenen feudalen Verhältnissen wurzelt (Pareja 2021: 379; Matamala 2021). Noch heute bestehen zudem auch im Bewusstsein der ärmeren ländlichen Bevölkerung sehr konservative Gesinnungen, die nicht zuletzt mit alten Loyalitäten ehemaliger Landarbeiterfamilien gegenüber ihren einstigen Herren zu tun haben (Durston et al. 2005: 27 ff; Chonchol 2017: 5 f).Footnote 30 Diese kolonialen Kontinuitäten tragen auch zu einer Fortdauer des Rassismus gegenüber den Mapuche bei. Laut Jorge Larraín sei deren soziale Abwertung nach wie vor ein Teil des historischen Fundaments der »chilenischen Identität« (Larraín 2014: 240 f). So zirkulierten beispielsweise nach wie vor Fremdzuschreibungen der Mapuche als faul und dem Alkohol zugeneigt (Correa 2021: 22). Wellen der Diskriminierung gegenüber Mapuche kochen zudem immer wieder bei größeren Waldbränden auf. Dann werden Mapuche für die Brände verantwortlich gemacht und als »Terroristen« abgestempelt. Die Folge ist auf der Seite der Mapuche ein tiefes und fortdauerndes Misstrauen gegenüber den Nicht-Mapuche.

Diese Spaltungen zwischen der einfachen chilenischen Bevölkerung und den Mapuche hat aber auch mit der Schwäche gemeinsamer klassenmäßiger Organisierung von unten in ländlichen Gebieten seit der Militärdiktatur zu tun. Die revuelta campesina, die Mitte des 20. Jahrhunderts die feudalen Verhältnisse zerbrach, hatte die Verhältnisse auf dem Land zwar aufgewirbelt und einen Samen des revolutionären Bewusstseins in den Massen auf dem Land gepflanzt, ihre Organisationen wurden allerdings wenig später zerschlagen (Bengoa 2016: 11 ff). So stellte die Zerstörung der reformistischen und revolutionären Bauernorganisationen unter der Militärdiktatur die Weichen für die heutigen politischen Verhältnisse auf dem Land im zentralen und südlichen Chile. Triebkräfte der klassenmäßigen und gewerkschaftlichen Organisierung der sozialen Probleme in den ländlichen Gebieten gingen verloren (Gómez 2002). Auch die Bewohner*innen aus Galvarino berichten beispielsweise, dass in der Kommune früher alle kleinen Bauernhaushalte in Kooperativen organisiert gewesen seien. In der Militärdiktatur seien diese aber zerstört worden und spielten heute in der Gegend keine Rolle mehr (c7; d3).Footnote 31 Nicht nur die organisatorischen Formen, sondern auch die alltäglichen Praktiken der Solidarität und kollektiven Arbeit seien verloren gegangen. Zwar sprechen noch einige interviewte Mapuche von einer Fortdauer der Bedeutung gegenseitiger Hilfe auf dem Land, doch die Mehrheit der Bewohner*innen der untersuchten Kommunen betont, dass heute jede Familie für sich arbeite und die meisten Familien sehr vereinzelt lebten. Es gebe keine gewerkschaftliche Organisierung oder gemeinsame wirtschaftliche Aktivitäten in größerem Umfang mehr (c15; c17; c18; d2) und in der Folge laut Salvador (c17) – einem Kleinbauern aus Galvarino – auch kaum noch relevanten gemeinsamen Widerstand der »Kleinen gegen die Großen«.

Der geschilderte Rückgang klassenmäßiger Organisierungen und Konflikte fällt in dieselbe Zeit, in der sich die Mapuche auf ihre eigenen kulturellen Praktiken zurückbesannen und einen stärker ethnopolitischen Weg einschlugen (Bengoa 1999: 163, 173). Die Mapuche-Organisationen richteten ihre Kämpfe in der Diktatur zunehmend nicht mehr auf kleinbäuerliche Umverteilung aus, sondern auf das Recht auf kulturelle Differenz (Kaltmeier 2004: 155). Die ethnisch-kulturelle Stoßrichtung, die die Mapuche-Bewegung seit der Militärdiktatur eingenommen hat, führte seitdem dazu, dass die Identität »Mapuche« bei der Mehrheit der Mapuche weitaus höher steht, als die Identität »Kleinbauer« (Pareja 2021: 387). Dies erklärt, warum politische Organisierungsprozesse in den untersuchten Kommunen weitgehend auf die Organisationen der Mapuche beschränkt bleiben. Die sozialen und ökologischen Probleme der ländlichen Gebiete artikulieren sich im zentralen Süden Chiles im Allgemeinen in der kulturell-ethnischen Matrix des Konflikts zwischen Mapuche auf der einen und dem chilenischem Staat sowie der Forstindustrie und den Großgrundbesitzer*innen auf der anderen Seite.

Seit den 1990er Jahren finden die Bewegungen der Mapuche, ihre Kultur und Lebensweise mehr und mehr im Sinne multikultureller Diskurse institutionell Anerkennung (Parraguez/Barton 2015). In der Folge wurden in zunehmendem Maße Förderpolitiken implementiert, die sich explizit auf Mapuche richten und von der Landumverteilung durch die CONADI bis zu Stipendienprogrammen für Mapuche reichen. Dies führt dazu, dass arme chilenische Kleinbäuer*innen im Interview beklagen, dass es für sie ein Nachteil sei, dass sie – weil sie keine Mapuche seien – kein Land über die CONADI beantragen können und auf einem Land in ihrer Nachbarschaft, das sie so dringend benötigt hätten, nun eine comunidad der Mapuche angesiedelt würde. Auch auf Förderprogramme und Stipendien könnten sie sich häufig nicht bewerben, da diese auf die Mapuche ausgerichtet seien, weshalb sie sich als Nicht-Mapuche »diskriminiert« fühlen (a13). Dieses Gefühl übervorteilt zu werden, durchzieht eine Reihe von Interviews und wird nicht nur von der einfachen Landbevölkerung geteilt.Footnote 32

Die Differenzen zwischen chilenischen und Mapuche-Haushalten betreffen nicht nur die politische Ebene der sozialen Organisationen, der kulturellen Identität, des fortdauernden Rassismus oder des politischen Bewusstseins, sondern auch besonders die ökologischen und ökonomischen Verflechtungen mit dem kapitalistischen Sektor: Erstens wurde in den untersuchten Kommunen deutlich, dass die Mapuche häufig stärker informell produzieren und handeln und deshalb in höherem Maße auf die Märkte ersten Typs (informelle bedarfsökonomische Märkte) angewiesen sind, weshalb sie auch eher von staatlicher Repression an öffentlichen Orten betroffen sind. Eine besondere Form dieses kulturell spezifischen Handelns ist das schon in Abschnitt 4.3.3 beschriebene trafkintu. Zweitens unterscheiden sich die comunidades der Mapuche dadurch von chilenischen Haushalten, dass sie stärker auf das Sammeln von Heilkräutern, Früchten oder Pilzen in den Gebieten der Forstplantagen angewiesen sind. Dies hat mit kulturellen Gründen – wie dem Bedarf an Heilkräutern – und der traditionell verbreiteten Subsistenzwirtschaft der Mapuche zu tun. Drittens steht die economía mapuche in einem deutlich stärkeren Widerspruch zur industriellen Forstwirtschaft, die die lokalen Ökosysteme untergräbt. Dies hängt mit den auf Reziprozität bedachten und in der gemeinsamen Kosmovision der Mapuche angelegten spezifischen Naturverhältnisse zusammen. In der Folge kämpfen die Mapuche häufig nicht nur um ökologische Verflechtung, um beispielsweise Zugänge zu Ressourcen zu erhalten, sondern auch um spezifische Praktiken ihrer economía mapuche sowie ihrer Kultur zu ermöglichen.

Eine besondere Spaltungslinie des pueblos bildet jedoch die Frage der ökonomischen Verflechtungen der lokalen Bevölkerung mit den Forstunternehmen. Während sich viele Chilen*innen durch diese Verflechtungen einen Anteil an den Erlösen der Forstindustrie erhoffen, lehnt ein bedeutender Teil der Mapuche jede Kooperation ab und möchte, dass sich die monokulturelle Forstwirtschaft aus der Region zurückzieht. Es seien vor allem die Chilen*innen, die für die Forstunternehmen arbeiteten, behauptet beispielsweise ein Mapuche im Interview (a9).Footnote 33 Dies führt zu Spaltungen in der einfachen Bevölkerung entlang der kulturellen Zugehörigkeit. So berichten diejenigen, die auf den Plantagen der Forstindustrie und im Transport arbeiten, immer wieder davon, Angriffen durch Gruppen der Mapuche ausgesetzt zu sein. Die Spaltungen betreffen aber auch die sozialen Organisationen. So streben die Gewerkschaften des Forstbereichs nach sicheren Beschäftigungsverhältnissen sowie nach einer Erhöhung der Produktionsvolumina ihrer Branche.Footnote 34 Wie daraus Interessengegensätze und Konflikte zwischen lokaler Bevölkerung – und häufig auch Mapuche-comunidades – auf der einen Seite und den Gewerkschaften der Beschäftigten und der Subunternehmen der Forstindustrie entstehen, zeigte insbesondere der Fall der Kommune Arauco. Ein Vertreter der Vereinigung der Zulieferbetriebe des Forstbereichs (b38) drückt es im Interview mit Blick auf den Konflikt zwischen Forstindustrie und Mapuche so aus: »wir sind die erste Reihe in der Schlacht«, die Subunternehmen seien am stärksten von den »Attentaten« der militanten Mapuche-Gruppen betroffen. Dabei sehen die lokalen Bewegungen der Mapuche die Gewerkschaften und Zulieferbetriebe der Forstbranche in der Regel nicht als Verbündete, sondern als Gegner. Lohnarbeit und bedarfsökonomische Aktivitäten geraten damit im Kontext der Forstindustrie in einen politischen Widerspruch zueinander.Footnote 35 Etwas verallgemeinernd gesprochen stehen sich auf der lokalen Ebene in Form politisch organisierter Interessen chilenische und Mapuche-Organisationen gegenüber, die einen konträren Umgang mit den wirtschaftlichen Verflechtungen mit der Forstindustrie haben.

Kämpfe um wirtschaftliche und ökologische Verflechtungen – so wird deutlich – finden in der Araucanía mit Blick auf die Forstindustrie im Rahmen einer kulturellen Matrix statt. Dies hat mit Anerkennungspolitiken und spezifischen historischen Ansprüchen der Mapuche zu tun, die sich von klassenmäßigen Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit zunächst unterscheiden (Martínez 2012: 52 ff). So begründen Mapuche die Forderung nach ökonomischer Beteiligung an den Umsätzen der Forstindustrie – sei es durch Arbeitsplätze, Anteile an der Ernte oder am Erlös – häufig mit dem kulturellen Argument, dass die Forstunternehmen auf »tierras ancestrales« (übers. angestammtes Land) wirtschafteten, die historisch den Mapuche-comunidades gehören und die in illegitimer Weise durch die Forstunternehmen angeeignet würden. In ähnlicher Weise werden Akte der Wiederaneignung von Land untermauert. Langfristig geht es radikaleren Mapuche um die Kontrolle des gesamten Territoriums des Wallmapu. An diesem Punkt unterscheiden sich die Mapuche von den Chilen*innen. Die Mapuche kämpften im Sinne der reivindicación für Wiederaneignung und geraten deshalb in einen viel stärkeren Konflikt mit den Forstunternehmen. Diese Ansprüche können sie historisch legitimieren und sich dabei auf nationale und internationale Regulierungen berufen, die von Institutionen wie der ILO bis hin zur FSC-Zertifizierung reichen. Die kulturelle Identität und Geschichte, auf die die Mapuche in ihren Kämpfen um Verflechtung und die Wiederaneignung zurückgreifen können, nutzt ihnen vor diesem Hintergrund nicht nur, weil sie ihnen eine starke kollektive Identität, Organisationsmacht und Widerständigkeit von unten ermöglicht, sondern auch, weil sie an internationale Diskurse und Anerkennungspolitiken anknüpfen können. Dabei gehen die Kämpfe der Mapuche zwar deutlich über reine Anerkennungspolitiken hinaus und tragen immer wieder zu einer Umverteilung produktiver Ressourcen bei, allerdings reproduzieren diese partikularen Ansprüche gleichzeitig Differenzen innerhalb des pueblo. Insgesamt können wir folglich sagen, dass insbesondere mit Blick auf die ökonomischen Verflechtungsverhältnisse mit der Forstindustrie sowie der politischen Organisationen und Strategien und der politische Regulierung der Konflikte zu Differenzen zwischen bedarfsökonomischen Aktivitäten der Chilen*innen und der »politischen Ökonomie der Enteigneten« kommt.Footnote 36

5.2.3 Vereinende Faktoren: Potenziale gemeinsamer Kämpfe von unten

Aus dem Vorangegangenen wird deutlich, dass die ethnisch-kulturelle Matrix, in der die Konflikte um Verflechtung und Wiederaneignung wirtschaftlicher Ressourcen durch bedarfsökonomische Akteure stattfinden, nicht nur aus langen Kontinuitäten rassistischer Abgrenzung und einer Schwäche klassenmäßiger Organisationen von unten resultiert, sondern auch aus den Spezifika der economía mapuche sowie der politischen Strategie der Mapuche bezüglich der Forstindustrie. Gleichzeitig stehen aber nicht nur die Mapuche, sondern der gesamte bedarfsökonomische Sektor in einem antagonistischen Verhältnis zur Forstindustrie und zudem wirkt die soziale Polarisierung entlang dieses Antagonismus in hohem Maße klassenbildend und führt zu Sympathien vieler Chilen*innen mit den Mapuche. Damit stellt sich die Frage, was ländliche Haushalte der Mapuche und der Chilen*innen miteinander verbindet und inwiefern sich dies politisch ausdrückt. Dafür unterscheide ich im Folgenden idealtypisch vier Arten ländlicher Haushalte entlang ihrer Zugehörigkeit zu den Mapuche und ihrer Einstellung zur Forstindustrie (Tabelle 5.1). Nachfolgend gehe ich auf mögliche Allianzen zwischen diesen Haushalten ein.

Tabelle 5.1 Typologisierung ländlicher Privathaushalte. (Eigene Darstellung)

Die vier Typen ländlicher Haushalte unterscheiden sich nicht nur durch ihre kulturelle Identität sowie ihre Einstellung zur Forstindustrie, sondern jeweils auch durch ihre Verflechtungen mit dieser. Die Gruppen 1 und 2 – die konservativen kleinen Landbesitzer*innen und die Defätisten – unterhalten keine oder wenn dann solche Beziehungen zur Forstindustrie, die als »Verflechtungen von oben« bezeichnet wurden (bspw. a13, a14, a43, a44, c15, c19). Sie verpachten ihr Land an Forstunternehmen oder pflanzen für sie Forstplantagen, wie wir es vor allem in Cholchol feststellen konnten.Footnote 37 Konservative kleine Landbesitzer*innen und defätistische Mapuche äußern in Interviews häufig ein indifferentes Verhältnis zur Forstindustrie. Viele dieser Haushalte leben zusätzlich von staatlichen Sozialtransfers oder sind schon teilweise in nahe gelegene Städte abgewandert (bspw. a43, c19). Gleichzeitig sind die Haushaltstypen 1 und 2 auch sehr verschieden. Während kleine Landbesitzer*innen auf dem eigenem Land häufig eine aktive Landwirtschaft betreiben und sich ökonomische Stabilität und Sicherheit wünschen, sind die Defätisten meist vollkommen verarmt. Die Defätisten sind Mapuche-Haushalte, die Arón (c8) aus Galvarino mit folgenden Worten schildert: »Die atmen gerade mal so … wenn man zu ihren Häusern fährt, haben sie dort nichts, gar nichts, nicht einen Obstbaum, nicht ein Tier … es gibt viel häusliche Gewalt, sie leben in einer sehr negativen und depressiven Welt«. Ihre soziale Perspektive besteht in der Hoffnung, dass sie sich irgendwie in den kapitalistischen Sektor integrieren können. Häufig würden diese Haushalte ihr Land am liebsten verkaufen.

Im Gegensatz dazu stehen die Haushalte von Typ 3 und 4 in einem bewussten sozialen und ökologischen Antagonismus zur Forstindustrie (bspw. a9, a10, a15, c5, c9, c17, c18). Haushalte von Typ 3 können sich eine friedliche Koexistenz mit den Forstunternehmen kaum vorstellen und beklagen vordergründig den Wassermangel und die Waldbrandgefahr, die sich aus der Forstplantagenwirtschaft ergeben. Viele progressive Kleinbäuer*innen können die Wut der Mapuche gegenüber der Forstindustrie sehr gut nachvollziehen. Eine Reihe chilenischer Kleinbäuer*innen und Stadtbewohner*innen stellen sich im Interview daher ebenfalls offen gegen die Forstunternehmen (bspw. a13, c7, c8, c12, c15, c17; c18). In manchen Fällen pflanzen sie zwar auch in kleinerem Umfang Forstplantagen, allerdings sind sie für ihre landwirtschaftlichen Hauptaktivitäten auf fruchtbares Land und Wasser angewiesen. Gerade entlang der kompetitiven ökologischen Verflechtungen kommt es deshalb zu einer Interessenkonvergenz zwischen Mapuche und chilenischen Haushalten auf dem Land. Dies drückt die Mapuche Javiera im Interview deutlich aus:

»In den fundos pflanzen sie nur noch Kiefern- und Eukalyptusplantagen. Aber das ist schlecht, bei so vielen Leuten... Der Weizen wird teuer, die Lebensmittel werden schlechter. Das darf so nicht sein. Man müsste was anderes pflanzen, damit das Volk etwas zu essen hat […]. Das machen eben die Bauern, die kommen hier mit den Lebensmitteln an.« (c15)

Die Mapuche stellen sowohl hinsichtlich des Umfangs als auch der Konfliktform die radikalsten Akteure im Kampf für die Belange es bedarfsökonomischen Sektors in Chile dar. In vielen Fällen geht es bei den Auseinandersetzungen, die von Mapuche geführt werden, um weit mehr als nur partikulare, indigene Belange. Viele Fälle bezeugen, dass die Mapuche vehemente Verteidiger*innen der ökologischen Bedingungen der Bedarfsökonomie im Allgemeinen darstellen (ebd.: 168, 172; Pineda 2012).Footnote 38 Am klarsten wird diese Rolle der Mapuche als Avantgarde des bedarfsökonomischen Sektors insbesondere daran, dass die Mapuche den Antagonismus zum sozial exklusiven und ökologisch destruktiven Wachstum der kapitalistischen Forstindustrie vor Ort sowie in der Öffentlichkeit repräsentieren. Die Kämpfe der Mapuche sind dabei trotz ihres klar kulturell-ethnischen Charakters vor Ort teilweise inklusiv. Einige Chilen*innen integrieren sich in ihre Kämpfe (a13, c7, c8). Tahiel aus Cholchol betont, dass es zwar kein konfliktloses Zusammenleben der Mapuche mit den Forstunternehmen, sehr wohl aber eines mit der einfachen chilenischen Bevölkerung geben könne (a22):

»Wir leben ja jetzt schon praktisch zusammen und viele winkas [Chilen*innen –J.G.] haben gelernt, mit den Mapuche zusammenzuleben. Es gibt Fälle, wo das nicht geklappt hat, aber in der Regel … ich hab das Gefühl, dass sie mehrheitlich unsere Lebensweise respektieren. Es gibt einige wenige, die immer noch eine andere Sicht auf die Dinge haben, vor allem die Großgrundbesitzer […] aber die kleinen Landbesitzer, da gibt es keine Probleme.« (a22)

Nicht nur Tahiels Einschätzung zeigt klar, dass es innerhalb des bedarfsökonomischen Sektors auf der sozioökonomischen und ökologischen Ebene zu keinen grundlegenden Konfliktlinien zwischen Chilen*innen und Mapuche kommt (a9; a10; a14; a16; a22). Immer wieder sind chilenische Bauernhaushalte auch vollständig in die comunidades der Mapuche integriert (a10; a15). Dies hat auch damit zu tun, dass häufig Mapuche mit Nicht-Mapuche verheiratet sind. Diese Phänomene zeigen, dass die Trennung entlang der indigenen Zugehörigkeit keinesfalls vollkommen starr ist (Höhl 2022: 82 ff). Vielmehr gibt es »multiple« und »hybride Identitäten«, die sich überlagern (ebd.: 85 f; Kaltmeier 2004: 392 f). Die soziale und teilweise auch die politische Nähe zwischen Mapuche und Chilen*innen auf dem Land wird in den untersuchten Kommunen wiederholt deutlich. Auch in der Literatur wird über Fälle berichtet, in denen sich chilenische Bauernfamilien den Kämpfen der Mapuche gegen die Forstunternehmen anschließen (Latorre/Rojas 2016: 85 f). Dabei lässt sich auch entlang der Unterscheidung zwischen fatalistischen und konfliktiven Haushalten keine eindeutige Trennlinie ziehen, sie ist idealtypisch und in der Realität kommt es je nach politischer Konjunktur zu Übergängen.

Damit wird deutlich, dass die Nicht-Mapuche häufig in die comunidades und ihre Kämpfe integriert werden, der Konflikt der Mapuche die sozialökologischen Interessen vor Ort artikuliert und zwischen den verschiedenen Gruppen auch politische Solidarität entstehen kann. Dies hat vor allem damit zu tun, dass die gemeinsamen bedarfsökonomischen Interessen sowie der geteilte Traum von ausreichend Land, der alle ländlichen Haushalte verbindet, die nicht in die Städte ziehen wollen (Bengoa 2016: 25 f; Foerster 2018: 438) und der geteilte Antagonismus gegenüber der Forstindustrie die Mitglieder des bedarfsökonomischen Sektors insgesamt als soziale Klasse eint (Kaltmeier 2004: 135 ff, 394). Zudem orientieren sich auch chilenische Organisationen immer mehr an den Kämpfen der Mapuche. In Galvarino entsteht beispielsweise eine Organisation, die sowohl Mapuche als auch Nicht-Mapuche organisiert und deren Ziel es ist, die lokale Bevölkerung vor Ort zu vereinen, um dazu beizutragen, dass sich Mapuche und Nicht-Mapuche auf Augenhöhe begegnen, Galvarino nicht verlassen und vor Ort gemeinsam die lokale »Entwicklung« stärken – erklären Interviewte (c7). Andernorts spielen auch gemeinsame kleinbäuerliche Organisationen eine Rolle.Footnote 39 Außerdem nehmen sich beispielsweise die Landbesetzer*innen aus Curanilahue, die allesamt Nicht-Mapuche sind, Traditionen und Naturverhältnisse der Mapuche zum Vorbild.

In größeren Umfragen äußern zudem breite Teile der chilenischen Bevölkerung immer wieder Sympathien für die Forderungen der Mapuche nach Land (Correa 2021: 20 f). Zu Allianzen und Solidarität von Chilen*innen mit den Kämpfen der Mapuche kommt es in den letzten Jahrzehnten auch im Rahmen breiter gesellschaftlicher Protestbewegungen. So seien während der großen Studierendenproteste Anfang der 2010er Jahre Studierende der Universitäten und deren gewerkschaftliche Vertreter*innen zu den comunidades aufs Land gefahren, um sich mit ihnen auszutauschen, berichtet ein Mapuche aus Galvarino (a15). Diese zumindest zeitweise andauernde Solidarität von Teilen des chilenischen pueblo mit der Mapuche-Bewegung nahm infolge des estallido social von 2019 noch weitaus stärkere Formen an. Plötzlich fand in ganz Chile keine Demonstration mehr ohne die Fahne der Mapuche statt und die Kämpfe der Mapuche wurden zum allgemeinen Repräsentanten sozialökologischer Bewegungen mit klar anti-kolonialem, anti-staatlichem und anti-kapitalistischem Profil. Bei den Protesten wurden Schilder gezeigt, auf denen »Entschuldigung Volk der Mapuche dafür, dass wir euch nicht geglaubt haben. Jetzt wissen wir, wer die wirklichen Terroristen sind« oder »Die Mapuche haben die Wahrheit gesagt« zu lesen stand (Huenchumil 2019). Die wachsende Solidarität unter Teilen der chilenischen sozialen und ökologischen Bewegungen nehmen die Mapuche aktiv auf. So finden sich immer wieder Aufrufe der Solidarität an das chilenische pueblo. In einer Erklärung der Mapuche aus Ercilla nach einem massiven Polizeieinsatz heißt es beispielsweise:

»Wir rufen das chilenische pueblo und insbesondere diejenigen, die die Mapuche-Fahne schwenken, dazu auf, einen ‚Politischen Sozialpakt mit dem Volk der Mapuche‘ zu schließen, um der staatlichen Gewalt ein Ende zu setzen, die territoriale Souveränität und Selbstbestimmung der Mapuche anzuerkennen und die Wahrheit, Gerechtigkeit sowie die Reparationen all der Schäden, die uns angetan wurden, zu ermöglichen«.Footnote 40

Darüber hinaus kommt es immer wieder zu engen Kooperation von indigenen und nicht-indigenen Akteuren bei der Vertretung der Interessen des bedarfsökonomischen Sektors in Form von Aktionen, Organisationen oder Allianzen.Footnote 41 So veröffentlichte ein Bündnis aus indigenen und bäuerlichen Organisationen Ende 2019 eine gemeinsame Erklärung, in der sie betonten, dass sie es seien, die die chilenische Bevölkerung ernährten, ihnen gleichzeitig aber die landwirtschaftliche Tätigkeit unmöglich gemacht würde:

»Die Ernährungssouveränität und unsere nationale Unabhängigkeit stehen auf dem Spiel, weil es in den Territorien aufgrund der Expansion des Extraktivismus und der Aneignung unseres Wassers zu einem Verlust von Land, Saatgut und der traditionellen Landwirtschaft, die in Harmonie mit der Erde und der Biodiversität funktioniert, kommt.«Footnote 42

Insgesamt lassen sich entlang der bedarfsökonomischen Interessen Tendenzen und Gegentendenzen zu horizontalen Allianzen zwischen Mapuche und Nicht-Mapuche feststellen. Seit geraumer Zeit entstehen immer wieder auch Annäherungen zwischen verschiedenen Akteuren, die im Konflikt mit den großen Forstunternehmen stehen und lange Zeit kaum relevante Verbindungen zueinander unterhielten (Barton/Román 2012). Zudem bringt die klassenmäßige soziale Polarisierung auf dem Land, die zwischen der Forstindustrie und den bedarfsökonomischen Akteuren entstand, letztere in ihrem Alltag tendenziell näher zusammen. Gerade entlang ökologischer Verflechtungen kommt es zu einem verbindenden Antagonismus des pueblo gegenüber der Forstindustrie. Das gilt insbesondere für die Haushaltstypen 3 (progressive Kleinbäuer*innen) und 4 (die kämpferischen Mapuche), die auf funktionierende ökologische Kreisläufe angewiesen sind. Während die ökologischen Verflechtungen einen gemeinsamen Antagonismus zwischen pueblo und Forstindustrie konstituieren, kommt es entlang der ökonomischen Verflechtungen zu Spaltungen. Dabei stehen die kämpferischen Haushalte, die sich gegen die Forstindustrie zur Wehr setzen, auf der einen Seite und Haushalte, die sich auf Arrangements mit den Forstunternehmen einlassen, die ihnen begrenzten Anteil am Reichtum der Forstindustrie versprechen, auf der anderen Seite. So bleibt die lokale Bevölkerung gespalten in einerseits Landflüchtige, Defätisten und konservative Kleinbäuer*innen, die auf eine komplementäre Nachbarschaft mit der Forstwirtschaft bauen und andererseits eine Gruppe aus progressiven Kleinbäuer*innen und kämpferischen Mapuche, die immer wieder Konflikte mit der Forstindustrie eingehen. Die Mapuche nehmen dabei eine Sonderrolle ein. Und dies nicht nur, weil sie mit ihrer economía mapuche teilweise eine besondere kulturelle Ökonomie praktizieren, die der Forstindustrie entgegen steht und meist informell praktiziert wird, sondern auch, weil sie mit ihrer kämpferischen Tradition in besonderem Maße Verflechtungen und Entflechtungen erstreiten und dabei häufig eine Avantgarde bedarfsökonomischer Interessen darstellen. Auch wenn ihre Kämpfe dabei durch einen kulturellen Charakter, historische Ansprüche und eine ethnische Identität geprägt sind, stellen sie vor Ort Konflikte dar, die klar entlang einer Klassenachse verlaufen und insofern auch als sozialökologische Klassenkonflikte verstanden werden müssen. Ihr Konflikt mit der Forstindustrie, der zweifelsfrei in einer kulturell-ethnischen Matrix stattfindet, stellt sich damit zugleich als ein Klassenkonflikt mit dem kapitalistischen Sektor dar, der teilweise auch Nicht-Mapuche und chilenische Organisationen und Bewegungen politisieren oder gar integrieren kann. Das soll nicht bedeuten, dass der sogenannte Mapuche-Konflikt auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zuvorderst einen Klassenkonflikt darstellt, wohl aber, dass er in den ländlichen Kommunen vor Ort als solcher geführt wird.

5.3 Die Grenzkämpfe der »Überflüssigen« und »Enteigneten«: Von der Araucanía bis zur chilenischen Gesamtgesellschaft

Der Kampf der comunidades der Mapuche sowie ihrer politischen Organisationen und Bewegungen gegen die Forstindustrie und die Latifundien lässt sich als Konflikt entlang der Grenze zwischen dem bedarfsökonomischem und kapitalistischem Sektor verstehen. Dieses sektorale Verhältnis ist in den vergangenen Jahrzehnten durch eine enorme soziale Polarisierung gekennzeichnet. Deshalb verlaufen die Grenzkämpfe auch entlang einer deutlichen Klassenachse. Gleichzeitig handelt es sich bei dem Konflikt um mehr als einen Klassenkonflikt. Er hat zutiefst kulturelle, koloniale und ökologische Dimensionen, die der sozioökonomischen Polarisierung allerdings nicht entgegenstehen, sondern diese verstärken (Schmalz et al. 2023). Die in dieser Arbeit gewählte sektorale Verflechtungsperspektive ermöglicht es uns, die Konvergenz dieser Ungleichheitsachsen entlang der kapitalistischen Innen-Außen-Verhältnisse zu erfassen. Im Folgenden werde ich den sogenannten Mapuche-Konflikt auf diese Weise innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Innen-Außen-Verhältnisse verorten.

5.3.1 Das Reproduktionsparadox in der chilenischen Klassengesellschaft

Nicht nur die Forstindustrie, sondern auch der chilenische Kapitalismus insgesamt lassen sich als sozial exklusiv und ökologisch destruktiv beschreiben. Dies hat einerseits damit zu tun, dass die extraktivistischen Industrien der Erde allesamt große Mengen an Material und Wasser entziehen sowie in der Regel sehr große Flächen benötigen. Dabei zerstören sie massiv lokale ökologische Kreisläufe und verschmutzen Gewässer, Land und Luft in ihrem Umfeld (Landherr/Graf/Puk 2019; Landherr 2022). Während die extraktiven Industrien dabei 86 Prozent der chilenischen Exporte auf sich vereinen (CEPAL 2021: 44), benötigen sie dafür – wie in Abschnitt 4.1 deutlich wurde – kaum Arbeitskräfte. So sind neben den tendenziell sinkenden Beschäftigtenzahlen im verarbeitenden Gewerbe in Chile auch die Zahlen der in den extraktiven Branchen dauerhaft Beschäftigten rückläufig. Nur weniger als zwei Prozent der Erwerbstätigen arbeiten heute beispielsweise im Bergbau (MDS 2018a: 54) und nur etwa 1,2 Prozent in der Forstindustrie (Infor 2021a: 2). Und selbst in der arbeitsintensiven Landwirtschaft sind nur etwa sechs bis sieben Prozent der chilenischen Erwerbstätigen aktiv, von denen darüber hinaus ein bedeutender Teil der kleinbäuerlichen Landwirtschaft zuzurechnen ist (Contreras 2022: 4, 8). Der chilenische kapitalistische Sektor ist folglich durch einen jobless growth und die chilenische Erwerbsstruktur durch eine deutliche Tertiarisierung gekennzeichnet, welche mit niedrig bezahlten und äußerst prekären Beschäftigungsverhältnissen einhergeht.Footnote 43 Während die extraktiven Branchen die Bereiche bilden, in denen die hohe »Wertschöpfung« stattfindet, nimmt die chilenische Gesellschaft mittels Lohnarbeit kaum an deren Erlösen teil. Für das extraktivistische Exportkapital ist die Mehrheit der chilenischen Bevölkerung folglich »überflüssig«.

Diese Entwicklung hat auch mit einer spezifischen Regulationsweise zu tun, die sich in Folge des chilenischen Neoliberalismus als stark ausgeprägtes Dominanzverhältnis des kapitalistischen über den bedarfsökonomischen Sektor beschreiben lässt. Die zeitweisen Industrialisierungsbemühungen wurden unter der Diktatur von Augusto Pinochet (1973–1990) abgebrochen, öffentliche Einrichtungen und Betriebe sowie ökologische Ressourcen privatisiert und Rohstoffabbau gefördert. Während zuvor nicht nur das verarbeitende Gewerbe, sondern auch der bedarfsökonomische Sektor vom Außenhandel geschützt und staatlich gefördert wurde, kommt es seit der Militärdiktatur zu einer massiven Privilegierung der Interessen des kapitalistischen Sektors über diejenigen bedarfsökonomischer Akteure. In den Worten Johannes Agnolis (1995) könnte man sagen, dass sich der chilenische Staat damit weitgehend in einen »Staat des Kapitals« verwandelte. Etwas differenzierter ausgedrückt handelt es sich um einen »Estado subsidiario« (Bauer 1998: 12, 17; Pizarro 2020), der nahezu alle sozialen Bereiche dem Markt überlässt und kapitalistische Landnahmen massiv begünstigt. Zudem lässt er sich als »Estado ausente« (Gudynas 2009: 201) charakterisieren, der sich aus der Förderung des bedarfsökonomischen Sektors und der Umverteilung von Ressourcen in diesen weitgehend zurückzog. Der chilenische Staat ist in peripheren urbanen und ländlichen Gebieten vielmehr vorwiegend als repressiver Staat präsent. Auch diese Eigenheit des chilenischen Staates reicht in die Militärdiktatur zurück, die im ländlichen Raum eine breite Welle der »passiven Proletarisierung« (Lenhardt/Offe 1977: 102) initiierte, in der vor allem kleinbäuerliche Haushalte und Mapuche ihr Land verloren (Bengoa 1983; ebd.: 2016). Seitdem hat sich die Unterbeschäftigung auf dem Land noch verstärkt: Auf der einen Seite werden immer mehr natürliche Ressourcen in die Kapitalkreisläufe der extraktivistischen Industrien eingesogen, auf der anderen Seite ersetzen technische Innovationen in der Branche immer stärker die lokalen Arbeitskräfte. Der chilenische Kapitalismus scheint folglich nur in geringem Maße auf eine funktionierende soziale Reproduktion des chilenischen pueblos angewiesen zu sein.

Gleichzeitig lassen sich diesbezüglich auch Differenzen innerhalb des kapitalistischen Sektors ausmachen. Im Unterschied zum extraktivistischen Exportkapital ist das binnenmarktorientierte Kapital in Gestalt der Dienstleistungsbranche, die in den vergangenen Jahrzehnten stark expandierte, auf billige Arbeitskräfte angewiesen. Die innere Landnahme des chilenischen Binnenmarkts, welche vor allem durch eine massenhafte Verschuldung der chilenischen Privathaushalte profitabel wurde, umfasst große Kaufhausketten, Banken und Shoppingmalls, fast food-Ketten und chinesische Supermärkte mit billigen Fabrikwaren. Erwerbstätige in kleinen Läden und großen Kaufhäusern bilden heute die größte Beschäftigtengruppe in Chile. Im Unterschied zu den Industrien kann hier in den nächsten Jahren von einer technologisch getriebenen Produktivitätsentwicklung, die Arbeitskräfte ersetzt, kaum ausgegangen werden. Dies macht den Bereich auch künftig dauerhaft von billigen Arbeitskräften abhängig, die heute im Durchschnitt nur etwa 375 Euro monatlich verdienen (Durán/Kremerman 2019a: 7).

Die niedrigen Löhne im Dienstleistungsbereich sowie in den zahllosen Subunternehmen großer privater Unternehmen und öffentlicher Behörden basieren allesamt auf der Möglichkeit, dass sich diese lohnabhängigen Haushalte billig im bedarfsökonomischen Sektor reproduzieren und mehrere unterschiedliche Einkommensquellen im Haushalt bündeln können. Die preisgünstigeren bedarfsökonomischen Märkte bilden dabei eine zentrale Grundlage der chilenischen Ökonomie. Sie bestehen nicht zuletzt aus den dargelegten informellem Märkten ersten Typs, deren Lebensmittel aus der kleinbäuerlichen Landwirtschaft stammen und die auf diese Weise weit bis in die Zentren der chilenischen Großstädte hin verkauft werden. Zudem prägen formelle Klein(st)betriebe und der Kleinhandel das Stadtbild aller chilenischen Städte und Dörfer. Dabei werden auf den bedarfsökonomischen Märkten auch zunehmend Fabrikwaren gehandelt, die häufig aus kostengünstiger, asiatischer Fertigung stammen. All dies ermöglicht eine billige Reproduktion der chilenischen Arbeitskräfte und schafft so einen großen chilenischen Arbeitsmarkt mit niedrigen Löhnen, auf den die großen Dienstleistungsunternehmen nach Belieben zurückgreifen können. Während die extraktiven Industrien des Exportbereichs in immer geringerem Maße direkt billige Arbeitskraft benötigen, sind die Profite der auf den chilenischen Binnenmarkt ausgerichteten Dienstleistungsunternehmen von niedrigen Löhnen und damit von einem funktionierenden bedarfsökonomischen Sektor abhängig.

Billig sollen allerdings nicht nur die Löhne der prekären Dienstleistungsarbeiter*innen sein, sondern auch die Güter, die die Großunternehmen von ihren kleinen Zulieferbetrieben erhalten. Formen der indirekten Subsumtion kleiner Betriebe unter Kapitalkreisläufe in Form von outsourcing-Arrangements nehmen in Chile in den letzten Jahrzehnten zu. Dies hat neben dem neoliberalen Management des schlanken Unternehmens auch mit einer staatlichen Politik zu tun, in der – wie wir in den untersuchten Fällen gesehen haben – beispielsweise die kommunale »Entwicklungspolitik« nicht nur bedarfsökonomische Aktivitäten in lokalen Märkten, sondern vor allem deren Ausrichtung auf den Verkauf an kapitalistische Großabnehmer fördert. Dadurch sollen Selbständige und Klein(st)betriebe stärker an nationalen und globalen Wertschöpfungsketten teilhaben. Indirekte Subsumtion breitet sich folglich nicht nur als downstream-Verflechtung aus, bei der kleine Läden kapitalistische Importwaren in den Peripherien verkaufen, sondern auch als upstream-Verflechtung, bei der Klein(st)betriebe als Zulieferer fungieren. Diese besteht – wie wir gesehen haben – in der Forstindustrie einerseits darin, dass nahezu alle Tätigkeiten in den Forstplantagen an kleine und mittlere Betriebe aus der Region outgesourct werden sowie darin, dass kleine Landbesitzer*innen und vielfach auch Mapuche-Haushalte dazu motiviert werden, auf ihrem Land schnell wachsende Baumarten zu pflanzen, die sie dann an die Forstindustrie verkaufen.

In der Folge lässt sich in der chilenischen Nationalökonomie ein gesamtgesellschaftlicher Widerspruch ausmachen. Einerseits untergräbt das dominante chilenische Wirtschaftsmodell fortwährend bedarfsökonomische Aktivitäten, andererseits ist zumindest das binnenmarktorientierte Kapital auf deren Funktionieren angewiesen. Darüber hinaus benötigen auch extraktivistische Unternehmen wie die Forstindustrie teilweise klein(st)betriebliche Aktivitäten, die ihnen billige Vorprodukte, Dienstleistungen und Rohstoffe zuliefern. Weit mehr als der kapitalistische Sektor hängt jedoch die chilenische Bevölkerung selbst in ihrer Breite von einem funktionierenden bedarfsökonomischen Sektor ab. Erstens gilt dies, weil hier der Großteil der einfachen Bevölkerung ihre Einkommen generiert. Die Mehrheit der Chilen*innen ist in Selbständigkeit oder in Klein(st)betrieben tätig (MDS 2018a: 56) und die Zahl der Selbständigen hat sich zuletzt durchschnittlich um fast vier Prozent jährlich erhöht (Villanueva/Espinoza 2021). Zweitens greifen die Haushalte der pueblos im Rahmen ihrer reproduktiven Tätigkeiten täglich auf die Märkte des bedarfsökonomischen Sektors zurück, um sich billig mit Lebensmitteln und Verbrauchsgütern zu versorgen. Die deutlich höheren Preise der Supermärkte könnten sich viele Chilen*innen überhaupt nicht leisten. Die Gleichzeitigkeit aus sozialer und ökologischer Untergrabung bedarfsökonomischer Aktivitäten und der unbedingten Angewiesenheit eines großen Anteils der Bevölkerung auf diese in ihrer alltäglichen sozialen Reproduktion bezeichne ich als das chilenische Reproduktionsparadox. Es ist von besonderer Bedeutung für die Fragestellung dieser Arbeit, weil es in hohem Maße das Aufkommen von Grenzkämpfen in Chile erklärt.

Der bedarfsökonomische Sektor ist in den vergangenen Jahrzehnten jedoch auch Gegenstand politischer Kampagnen und Programme geworden. Sinkende Armuts- und Arbeitslosigkeitszahlen sind in Chile seit jeher eine bedeutende Quelle politischer Legitimation. Das Heben von Haushaltseinkommen über die Armutsgrenze ist daher eine wesentliche Strategie chilenischer Armutsbekämpfungs- und »Entwicklungspolitik«. Die Programme des INDAP, des MDS oder der CONADI wurden in den vergangenen Jahrzehnten stark ausgedehnt und untergliedern sich in eine unüberschaubare Zahl kommunaler Förderpolitiken vor Ort. Diese richten sich teilweise auf eine Veränderung der ökologischen Verflechtungen zwischen den Sektoren, durch die lokale Klein(st)betriebe und Haushalte an mehr Land oder natürliche Ressourcen kommen sollen oder sie drehen sich um ökonomische Verflechtungen, durch die bedarfsökonomische Akteure – wie oben angesprochen – bessere Marktzugänge zum kapitalistischen Sektor erhalten. Insbesondere mit Blick auf die CONADI, die die economía mapuche fördert und Land an diese umverteilt, wurde aber auch deutlich, welch starke innere Interessenkonflikte die politische Artikulation der strukturellen Heterogenität auf der Ebene des Staates erzeugt.

Die Abhängigkeit der politischen Legitimität staatlicher Politik, des binnenmarktorientierten Kapitals sowie großer Teile der Bevölkerung von wirtschaftlich und ökologisch relativ stabilen Bedingungen des bedarfsökonomischen Sektors spiegelt sich jedoch nicht in der chilenischen Regulationsweise wider. Diese basiert weiterhin auf einem neoliberalen Modell, das mittels umfassender Privatisierungen der sozialen Infrastrukturen und der natürlichen Rohstoffe die Ressourcen zugunsten des kapitalistischen Sektors umverteilt und damit zu einer massiven Ungleichheit in der Verteilung von politischer Macht und wirtschaftlichen Ressourcen beiträgt. Dabei haben die inneren Landnahmen die Ungleichheiten noch verschärft: Während die Löhne niedrig bleiben, treiben die großen Dienstleistungsunternehmen die Preise für Alltagsprodukte, Gas, Wasser, Mieten, Mautgebühren, den Personennahverkehr, die privatisierte Bildung sowie die privaten Leistungen im Gesundheitsbereich immer weiter in die Höhe (Matamala 2015; ebd. 2022). Die hohe Konzentration auf den chilenischen Binnenmärkten führt dabei zu Monopolpreisen und stetig wiederkehrenden Skandalen rund um Preisabsprachen, sei es beim gefrorenen Hühnchen, bei Medikamenten oder bei Toilettenpapier (Garín 2017). Zudem hat die »asymmetrische Kommodifizierung« (Landherr/Graf 2017: 575; Graf 2021a: 706 f) in Form der Privatisierung des Gesundheits-, Bildungs- und Rentenbereichs ebenfalls dazu beigetragen, dass die großen Privatunternehmen fortwährend ihre Profite mit den steigenden Lebenshaltungskosten der einfachen Bevölkerung machen. Die Kombination aus allgemeiner Unterbeschäftigung, niedrigen Löhnen und hohen Preisen auf kapitalistischen Märkten führte in den vergangenen Jahrzehnten zu einer massiven Verschuldung der chilenischen Privathaushalte (Durán/Narbona 2021: 217 f). Neben den Monopolpreisen stellt die Verschuldung damit eine weitere Form dar, mittels der der kapitalistische Sektor in Form von »sekundärer Ausbeutung« (Marx 1969: 623) Profite generiert. Das Exportkapital monopolisiert folglich die natürlichen Rohstoffe und das binnenmarktorientierte Kapital die Märkte für Güter des alltäglichen Bedarfs und treibt so deren Preise in die Höhe (Garín 2017; Matamala 2022).

Zusammenfassend gesagt, schlagen die kapitalistischen Unternehmen damit ihre Profite nicht nur aus einer äußerst ungleichen Verteilung der ökologischen Ressourcen, sondern machen ihre Gewinne – im ländlichen wie im urbanen Bereich – auch mit billigen Zulieferprodukten im Rahmen von outsourcing-Arrangements sowie hohen Monopolpreisen wichtiger Alltagsgüter, der privatisierten sozialen Infrastrukturen des Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystems sowie Kreditschulden der Privathaushalte. Die kapitalistische Aneignung findet in diesem Rahmen in hohem Maße über die hohe Marktmacht großer Unternehmen, indirekte Subsumtion und Formen »sekundärer Ausbeutung« (Marx 1969: 623) statt. Damit lassen sich diese klassenspezifischen Kausalmechanismen, die die Profite der kapitalistischen Unternehmen und die Prekarität chilenischer Privathaushalte in einen notwendigen Zusammenhang bringen, als Akkumulation durch Kommodifizierung bezeichnen, bei der die Aneignung von Wert weniger in Form der Ausbeutung der Lohnarbeit in der Produktion als vielmehr maßgeblich über asymmetrische Zirkulationsverhältnisse verläuft. Der kapitalistische Sektor macht seine Gewinne mittels der Kommodifizierung sozialer Infrastrukturen und ökologischer Ressourcen, auf die die bedarfsökonomischen Akteure – prekärer Haushalte und Klein(st)betriebe – in ihrer alltäglichen sozialen Reproduktion angewiesen sind.

Insbesondere in den 2010er Jahren kam es in Chile in der Folge zu einer Vielzahl von breiten gesellschaftlichen Grenzkämpfen. Diese wurden um die Dekommodifizierung sozialer Infrastrukturen wie beispielsweise des Renten- und Bildungssystems, aber auch um Umweltschutz sowie um die Rückführung der Wasserressourcen in die öffentliche Hand geführt. Gleichzeitig finden in den Städten Konflikte im Rahmen der Unterdrückung informeller Märkte durch die staatlichen Behörden oder auf dem Land aufgrund der Ausdehnung extraktivistischer Aktivitäten statt. Letzteres trägt vor allem im Zuge des Klimawandels zu einer strukturellen Krise der chilenischen Bedarfsökonomie auf dem Lande bei. Gleichzeitig bleibt die soziale Reproduktion chilenischer Haushalte, die in die Städte abwandern, trotz der zunehmenden Abhängigkeit von kapitalistischen Güter- und Arbeitsmärkten weiterhin auf bedarfsökonomischen Aktivitäten angewiesen. Die Folge sind sowohl im städtischen wie im ländlichen Raum breite Grenzkämpfe um Verflechtung und Wiederaneignung.

5.3.2 Grenzkämpfe um Verflechtung und Wiederaneignung

Im Vorangegangenen wurde mit den ökologischen und ökonomischen Verflechtungen der zentralen Konfliktgegenstand sowie mit dem pueblo, den Mapuche und den Forstunternehmen die zentralen Akteure der Grenzkämpfe im zentralen Süden Chiles herausgearbeitet. Anschließend wurde in Abschnitt 5.3.1 deutlich, warum diese Konfliktdynamik nicht nur den zentralen Süden Chiles betrifft, sondern Grenzkämpfe Ergebnis des Reproduktionsparadoxes darstellen, das die gesamtgesellschaftlichen chilenischen Klassenverhältnisse durchzieht. Im Folgenden lege ich dar, welche Schlussfolgerungen meine Forschungen mit Blick auf die spezifische Form dieser Grenzkämpfe zulassen.

In den untersuchten Kommunen ließ sich insbesondere dort eine hohe Konfliktivität feststellen, wo wir es mit der Gleichzeitigkeit einer starken ökologischen Verflechtung und einer geringen ökonomischen Verflechtung zu tun haben. Die Folge ist eine extreme sektorale soziale Polarisierung und intensive sozialökologische Verteilungskonflikte, die um ökonomische und ökologische Verflechtungen geführt werden. In diesem Sinne wurde in den untersuchten Kommunen deutlich, dass Verflechtungsverhältnisse zwischen dem bedarfsökonomischen und dem kapitalistischen Sektor Klassenverhältnisse darstellen. Während die besitzende Klasse den kapitalistischen Sektor dominiert, ist das pueblo zu großen Teilen im bedarfsökonomischen Sektor aktiv. Die Klasse der Lohnabhängigen innerhalb des kapitalistischen Sektors in Gestalt der Forstindustrie ist im Vergleich zur großen Mehrheit, die im Umfeld der Forstplantagen vor allem innerhalb des bedarfsökonomischen Sektors ihre Einkommen erzielt, sehr klein. Das pueblo bildet damit eine in sich kulturell heterogene Klasse, die sich aus prekären Haushalten zusammensetzt, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie sich in großem Maße im bedarfsökonomischen Sektor reproduzieren und durch antagonistische Verflechtungsverhältnisse mit der besitzenden Klasse in Beziehung steht. Die enge Verbindung der Reproduktionsbedingungen der chilenischen Haushalte und eines funktionierenden bedarfsökonomischen Sektors erklärt auch die besondere Rolle, die der Thematik der Reproduktion und mithin feministischer Bewegungen in Chile bei den Kämpfen für den bedarfsökonomischen Sektor spielen.Footnote 44

Die Rolle der Selbstbezeichnung »pueblo« als antagonistische und verbindende Identität ist dabei in ganz Lateinamerika tief im Alltagsverstand der einfachen Bevölkerungen verankert und erhielt in Chile im Rahmen der sozialistischen Regierung Salvador Allendes und danach insbesondere in den sozialökologischen Protesten der 2010er Jahre erneut eine starke Aufwertung (Graf/Landherr 2020: 478 ff). Insgesamt kann daher geschlussfolgert werden, dass die dominante Dynamik der Klassenkonflikte in der chilenischen Gesellschaft zwischen dem pueblo und der besitzenden Klasse ausgetragen wird. In diesem Zusammenhang hat sich der sogenannte Mapuche-Konflikt als kulturell exklusiver, aber vor Ort durchaus integrativer lokaler Klassenkonflikt erwiesen, der in hohem Maße für die Belange des bedarfsökonomischen Sektors geführt wird. In radikaler Weise wird hier um die sozialen Reproduktionsbedingungen prekärer chilenischer Haushalte und die Zirkulation- und Produktionsbedingungen des bedarfsökonomischen Sektors gekämpft. Der Kampf der Mapuche bildet insofern keinen Sonderfall in den chilenischen sozialökologischen Konflikten, sondern einen besonders stark ausgeprägten klassenspezifischen Grenzkampf um die Verflechtungen zwischen dem bedarfsökonomischen und dem kapitalistischen Sektor.

Verflechtungen stellen in diesem Sinne nicht nur Klassenverhältnisse dar, sondern sind – wie in Abschnitt 4.1 deutlich wurde – auch dauerhaft umkämpft. Die »Überflüssigen« versuchen auf diese Weise meist eine Teilhabe am kapitalistischen Reichtum zu erstreiten. Die in dieser Arbeit gewählte Perspektive der strukturellen Heterogenität und der sektoralen Verflechtung lässt uns verstehen, warum die untersuchten Grenzkämpfe in Chile die spezifische Form der Kämpfe um territoriale Macht und Kontrolle annehmen: Klassenkonflikte werden im peripher-extraktivistischen Kapitalismus weniger in Form institutionalisierter gewerkschaftlicher Auseinandersetzungen um Arbeitsbedingungen innerhalb kapitalistischer Großunternehmen geführt, als vielmehr in Form von direkten Aktionen und außerinstitutionellen Auseinandersetzungen um Verflechtungen. Die untersuchte Konfliktdynamik im zentralen Süden Chiles dreht sich zudem in hohem Maße um Zirkulationsverhältnisse, das heißt um Marktzugänge, Preishöhen und Transportwege. Gerade im extraktivistischen Kontext sind Märkte, Straßen und öffentliche Räume, die von den bedarfsökonomischen Akteuren genutzt und über die auch die kapitalistischen Waren zirkulieren, zentrale Austragungsorte der Konflikte. Nicht nur die comunidades der Mapuche blockieren Straßen und Wege der extraktivistischen Infrastruktur der Forstindustrie, sondern auch die Proteste des estallido social nahmen nach der Preiserhöhung im öffentlichen Personennahverkehr Plätze und Straßen in nahezu allen größeren Städten ein, legten vielerorts den Verkehr lahm oder plünderten große Supermärkte. Die Blockaden der öffentlichen und ökonomischen Infrastruktur durch das pueblo setzen daher auf ihre »disruptive Macht« (Piven 2008: 20 ff). Weil aber darüber hinaus auch die Verteilung von ökonomischen und ökologischen Ressourcen sowie ökologische und ökonomische Verflechtungen im Zentrum dieser Auseinandersetzungen stehen, handelt es sich nicht nur um Klassenkonflikte um Zirkulationsverhältnisse, sondern gleichzeitig um Grenzkämpfe. Die sozialökologische Konfliktdynamik in Chile dreht sich wesentlich um ökologische und ökonomische Verflechtungen und die damit verbundene Verteilung von Ressourcen zwischen der auf den bedarfsökonomischen Sektor angewiesenen Klasse des pueblos und der besitzenden Klasse des Landes. Diese Konfliktdynamik der Grenzkämpfe wird von der Bewegung der Mapuche in besonderem Maße repräsentiert. Sie bildet eine Avantgarde der bedarfsökonomischen Kämpfe.

Dabei stehen sich in den untersuchten Kommunen zwei »Territorialitäten« (Martínez 2012) gegenüber: Auf der einen Seite befindet sich diejenige der großen Forstunternehmen, die den geografischen Raum, in dem sich die Forstplantagen befinden, als Ressourcenkorb sehen, der wirtschaftlich nutzbare Rohstoffe bereitstellt, die effizient ausgebeutet werden sollen (Svampa 2017: 94 f; ebd.: 2020: 39 ff). Dafür wird von der genmanipulierten Saat bis zur Transportinfrastruktur zu den Zellstofffabriken alles möglichst effizient durchgeplant (Julián/Alister 2018: 178). Dem steht die Territorialität der Mapuche diametral gegenüber. Diese sieht den geografischen Raum, in dem sie leben, als ihr angestammtes Gebiet, das ihnen seit Generationen gehört, das beseelte Ökosysteme und heilige Hügel und Quellen sowie Friedhöfe enthält, in denen Vorfahren begraben liegen. Die Ökosysteme sind für die Mapuche schützenswert, befinden sich prinzipiell in kollektivem Besitz und wirtschaftliche Praktiken müssen im Einklang mit den natürlichen Kreisläufen stattfinden. Während die Forstunternehmen den geografischen Raum mittels ihrer territorialen Macht, das heißt unter anderem mit ihren staatlich anerkannten privaten Eigentumstiteln auf Land und Wasser sowie mittels ihrer Dominanz in lokalen Arbeits-, Zuliefer- und Rohstoffmärkten zu dominieren versuchen, nutzen die Mapuche durch direkte Aktionen Formen der territorialen Kontrolle, um sich den Forstunternehmen gegenüberzustellen. Die Folge sind radikale territoriale Grenzkämpfe, bei denen Straßen, Wege und Forstarbeiten blockiert sowie Land besetzt und in einigen Fällen gewisse Gebiete sogar bewaffnet kontrolliert werden. Die Forstunternehmen reagieren darauf entweder mit Versuchen, die lokale Bevölkerung wirtschaftlich einzubinden oder ihnen gewisse Ressourcen zur Verfügung zu stellen oder aber damit, die staatlichen Sicherheitskräfte anzufordern.Footnote 45

Die Analyse der sozialökologischen Konflikte in Chile als Grenzkämpfe zwischen dem bedarfsökonomischen und dem kapitalistischen Sektor hat es uns ermöglicht, diese Konflikte als Klassenkonflikte um Verflechtungsverhältnisse zu verstehen und gleichzeitig den sogenannten Mapuche-Konflikt als eine besonders ausgeprägte Form dieser klassenspezifischen Grenzkämpfe einzuordnen. Der spezifische Konfliktmodus der kämpferischen Mapuche unterscheidet sich allerdings dadurch von den Konflikten der Chilen*innen, dass die radikaleren Mapuche um die Wiederaneignung ihres spezifischen Territoriums kämpfen und dabei weniger um wirtschaftliche Verflechtung als um die Umverteilung von Land. Die Grenzkämpfe lassen sich damit einerseits in Kämpfe um Verflechtung mit dem kapitalistischen Sektor, durch die die einfachen Haushalte weniger an den kapitalistischen Sektor zahlen und mehr an den großen Erlösen der kapitalistischen Unternehmen teilhaben wollen und andererseits in Kämpfe um Wiederaneignung ökonomischer und ökologischer Ressourcen durch Akteure des bedarfsökonomischen Sektors unterteilen. Während sich die Kämpfe chilenischer Haushalte – wie in Abschnitt 5.2 deutlich wurde – in der Regel um Verflechtungen mit dem kapitalistischen Sektor drehen, ist die politische Ökonomie der Enteigneten stärker durch Kämpfe um Wiederaneignung ihrer einst verlorenen (Re)Produktionsmittel gekennzeichnet. Teilweise geht es dabei um eine Entflechtung mit der Forstindustrie, die einen weitgehenden Rückzug der Forstplantagenwirtschaft aus ihren Gebieten beinhalten soll. Ver- und Entflechtungen – so können wir schlussfolgern – sind ein sozial und politisch höchst umkämpftes Feld. Der kulturelle Charakter des Konflikts, den die »Enteigneten« gegen den kapitalistischen Sektor führen, ist dabei kein Zufall. Ihre kulturelle Identität stellt für die Mapuche die Grundlage ihrer international und teilweise auch national anerkannten historischen Ansprüche auf Wiedergutmachung und Land sowie die Basis ihrer Organisationsweise und territorialen Kämpfe vor Ort dar. Kulturelle Identität erweist sich damit auch an dieser Stelle als eine wichtige Machtressource in Zeiten der »demobilisierten Klassengesellschaft« (Dörre 2018), in denen traditionell eher gewerkschaftlich organisierte Konflikte, die um das Kapital-Arbeits-Verhältnis ausgetragen werden, in den Hintergrund rücken. Wie schon José Carlos Mariátegui zu Beginn des 20. Jahrhunderts feststellte, bilden im postkolonialen Kontext gleichzeitig häufig gerade indigene Gruppen die aktivsten Protagonist*innen in Konflikten entlang der Klassenachse (Mariátegui 2012). Dies gilt auch für die untersuchten Kämpfe der Mapuche.

Insgesamt zeigt die empirische Untersuchung zu den sozialökologischen Konflikten in Chile, dass die »Enteigneten« und »Überflüssigen« des pueblos die zentrale kämpfende Klasse von unten bilden. Es sind ehemalige Bauern- und Bergwerkarbeiterfamilien, die vor Generationen in die Städte zogen oder auf dem Land verarmten. Ihre Integration in den kapitalistischen Sektor als lohnabhängige Bevölkerung war immer schon unzureichend und äußerst prekär. Die Reproduktion der Mehrheit der Chilen*innen findet maßgeblich im Rahmen einer bedarfsökonomischer Logik, moralischen und kulturellen Ökonomien sowie eigenen Regulierungen und Naturverhältnissen statt. Immer wieder kam es in der chilenischen Geschichte nicht nur zu kapitalistischen Landnahmen, sondern auch zu Gegenbewegungen der Wiederaneignung. Seit den 1990er Jahren bekamen insbesondere die comunidades der Mapuche Land zurück. In diesem Sinne lässt sich historisch eine umkämpfte Pendelbewegung der Enteignung und Wiederaneignung produktiver Ressourcen entlang einer sektoralen Grenze feststellen, die zugleich eine Klassenspaltung darstellt. Klassenkonflikte in Chile – so lässt sich zusammenfassend sagen – drehen sich heute vielfach in Form von Grenzkämpfen um diese Enteignungen und Wiederaneignungen sowie um ökologische und ökonomische Verflechtung zwischen dem bedarfsökonomischen und dem kapitalistischen Sektor. Es handelt sich um Kämpfe, die insgesamt in einem gesellschaftlichen Reproduktionsparadox stattfinden, welches sich in der Gleichzeitigkeit aus großer sozialer Relevanz und zunehmend tiefer Krise des bedarfsökonomischen Sektors ausdrückt. Dies befeuerte in den 2010er Jahren in nahezu allen Bereichen soziale und ökologische Bewegungen und einen immer deutlicher hervortretenden sozialen Antagonismus zwischen pueblo und besitzender Klasse. Die Mapuche repräsentieren dabei nicht nur eine besondere kulturelle Ökonomie und eine radikale Form der Kämpfe um territoriale Kontrolle und spezifische Naturverhältnisse, sondern in ihren Kämpfen um Wiederaneignung ökonomischer und ökologischer Ressourcen auch einen radikalen Vertreter der Grenzkämpfe im Sinne der Interessen des bedarfsökonomischen Sektors.