4.1 Neoliberaler Extraktivismus als Modell

Im Folgenden lege ich dar, dass der chilenische Kapitalismus einerseits durch hohe Wachstumsraten und andererseits durch soziale Ungleichheit und zunehmende ökologische Krisen gekennzeichnet ist. Prekäre Arbeitsverhältnisse, niedrige Löhne und eine hohe Arbeitslosigkeit führen darüber hinaus dazu, dass ein bedeutender Teil der chilenischen Haushalte für deren alltägliche soziale Reproduktion auf den bedarfsökonomischen Sektor angewiesen ist (4.1.1). In einem zweiten Schritt gehe ich auf die Entstehung des heutigen chilenischen Kapitalismus ein und lege dabei einen Schwerpunkt auf die Rolle, die der bedarfsökonomische Sektor seit der Kolonisierung des Landes spielte (4.1.2). Wie ich im Anschluss an den historischen Überblick verdeutliche, dauert die Ausrichtung der chilenischen Wirtschaft auf die Rohstoffausbeutung, der ökologischen Zerstörungen sowie auf die soziale Marginalisierung großer Teile der Bevölkerung bis heute fort (4.1.3 und 4.1.4). Dies hat wie ich daraufhin zeigen werde, auch mit einer spezifischen politischen Regulierung in Chile zu tun (4.1.5). In den 2000er Jahren und insbesondere in den 2010er Jahren – so zeige ich in diesem Überblicksteil abschließend – kam es zu wachsenden Protesten, die für die (Re)Produktionsbedingungen prekärer Haushalte und des bedarfsökonomischen Sektors kämpften (4.1.6).

4.1.1 Chiles Kapitalismus: Sozial exklusiv und ökologisch destruktiv

Javier Gómez ist 48 Jahre alt und Lehrer mit Universitätsabschluss. An den Schulen im Süden Chiles bekommt er nur unregelmäßig befristete Verträge, falls andere Lehrer ausfallen. Deshalb verdient er sich durch das Musizieren im öffentlichen Nahverkehrs Temucos ein Nebeneinkommen, ohne das er nicht über die Runden käme: »14 Jahre seines Lebens hat er einer höheren Bildung gewidmet und dennoch muss er für seinen Lebensunterhalt heute in Bussen singen«, schreibt ein chilenisches Regionalblatt.Footnote 1 Die Geschichte von Gómez ist keine Ausnahme, sondern Symptom einer allgemeinen Entwicklung, die den ganzen chilenischen Arbeitsmarkt und mittlerweile auch die Gruppe der Hochqualifizierten betrifft.

Die unzähligen persönlich-biografischen Berichte, die demjenigen von Gómez gleichen, stehen in einem scharfen Kontrast zur offiziellen Erfolgsgeschichte, die vom Staat, internationalen Organisationen und Unternehmen verbreitet wird. Chiles heutige Modell besteht aus der Kombination politischer Demokratisierung nach der Militärdiktatur mit einer Kontinuität der extraktivistischen und neoliberalen Ausrichtung der Wirtschaft (Fischer 2011: 177 ff.; Gárate 2016: 347 ff.; Pizarro 2020). Mit seinen fast 30 Freihandelsabkommen gehört Chiles Wirtschaft zudem heute zu einer der offensten Ökonomien der Welt (Barriga et al. 2022; Habersang 2016: 139 ff.).Footnote 2 Dabei wird insbesondere auf das lateinamerikaweit vergleichbar hohe und stabile Wirtschaftswachstum seit den 1990er Jahren, große ausländliche Direktinvestitionen und sinkende Armutszahlen verwiesen,Footnote 3 die für den großen Erfolg des chilenischen Modells stünden. Diese positiven Zahlen scheinen wirtschaftsliberale Leitlinien zu bestätigen, die auf Freihandel, Exportorientierung und die Ausbeutung billiger Natur setzen.

Allerdings zeigen die genannten Kennzahlen nur ein einseitiges Bild der »wirtschaftlichen Entwicklung« des Landes. Sie spiegeln vorwiegend die Entwicklung des kapitalistischen Sektors und nicht die ökologische Zerstörung, die prekären Arbeitsverhältnisse und die Bedingungen der bedarfsökonomischen Reproduktion der Mehrheit der weitgehend prekären Privathaushalte wider. Das zum Erfolg verzerrte Bild ist Ergebnis einer Reihe von teilweise trügerischen sozialen und wirtschaftlichen Indikatoren. So entfallen auf die extraktivistischen Wirtschaftsbereiche zwar große finanzielle Erlöse, sie schaffen allerdings kaum Beschäftigung und soziale Wohlfahrt. Der Bergbau umfasst beispielsweise zwar mehr als die Hälfte aller chilenischen Exporte und zeitweise mehr als 20 Prozent des BIPs, allerdings ist der Bereich direkt nicht einmal für zwei Prozent der offiziellen Beschäftigung des Landes verantwortlich (Landherr 2018: 128; MDS 2018a: 54). Manche sprechen diesbezüglich gar nur von 1,4 Prozent der Erwerbsbevölkerung (Durán/Narbona 2021: 215). Wieder andere veranschlagen die »Arbeiterklasse des Bergbaus« auf nur 0,5 Prozent der Beschäftigten des Landes (Ruiz/Boccardo 2014: 45). Der Bergbau zeigt folglich exemplarisch das geringe ökonomische Integrationspotenzial des extraktivistischen Kapitalismus.

Die Mehrheit der chilenischen Bevölkerung – so die hier vertretene These – ist im Gegensatz zu dem, was die offizielle Erzählung suggeriert, nur in geringem Maße Teil des Wachstums des kapitalistischen Sektors. Um die andere Seite der Ökonomie, die Relevanz des bedarfsökonomischen Sektors sowie die Fortdauer der strukturellen Heterogenität in der chilenischen Gesellschaft zu ermessen, müssen wir uns zunächst auf einige indirekte Kennzahlen stützen. So ist die Arbeitslosigkeit ein Indikator für das Potenzial der chilenischen Wirtschaft, unter anderem über formelle Lohnarbeitsverhältnisse, die Bevölkerung sozioökonomisch zu integrieren. Die vergleichsweise hohe Arbeitslosigkeit in Chile weist darauf hin, dass dieses Potenzial begrenzt ist. Die Arbeitslosigkeit lag in dem Land in den 2000er Jahren dauerhaft zwischen 8 und 11 Prozent, erreichte in der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007ff einen Höhepunkt von über 11 Prozent und fiel in den folgenden Boomjahren bis 2013 auf etwas über 6 Prozent. Seitdem steigt sie wieder kontinuierlich an und erreichte im ersten Jahr der Corona-Pandemie (2020) mit 11,2 Prozent einen neuen Höhepunkt.Footnote 4 Gerade in den untersten Einkommensgruppen belief sich die Arbeitslosigkeit konjunkturabhängig immer wieder auf Werte von bis zu 40 Prozent (MDP 2010a: 10; MDS 2018a: 31).

Aber nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern auch die Ungleichheit kann anschließend an Armando Córdova (1971) als ein weiterer Indikator für strukturelle Heterogenität einer Wirtschaft genutzt werden. Dabei ist gerade die chilenische Gesellschaft dauerhaft durch eine extreme soziale Ungleichheit gekennzeichnet. »Die Reichen in Chile sind so reich wie die Reichen in Deutschland, während die Armen so wenig haben wie die Armen in der Mongolei«, wurde der Ungleichheitsforscher und einstige Chefökonom der Weltbank Branco Milanović zitiert.Footnote 5 Es verwundert daher nicht, dass Chile bezüglich der Einkommensverteilung hinter Südafrika und Costa Rica das ungleichste Land der OECD darstellt.Footnote 6 Im Vergleich der Einkommen der unteren und den oberen Einkommensgruppen hat die wirtschaftliche Entwicklung seit den 1990er Jahren die extreme Ungleichheit in Chile kaum verändert (PNUD 2017: 21 f.; MDS 2018b: 15 f.). Die Zunahme des Mindestlohns und des durchschnittlichen Reallohns blieb deutlich hinter den Zahlen des Wirtschaftswachstums zurück (Figueroa/Fuentes 2015: 170). Gemessen am Anteil, den die reichsten 10 Prozent am wirtschaftlichen Gesamteinkommen haben, ist Chile mit 60 Prozent (2019) das ungleichste Land Lateinamerikas (PNUD 2021: 35). Das reichste eine Prozent der chilenischen Bevölkerung konzentrierte in den letzten Jahren 33 Prozent, das reichste 0,1 Prozent über 18 Prozent und das reichste 0,01 Prozent vereint immer noch fast 11 Prozent der gesamten chilenischen Einkommen auf sich (López et al. 2013: 27 f.; PNUD 2017: 22).Footnote 7 Wie in ganz Lateinamerika wird auch in Chile im Unterschied zu europäischen Staaten die hohe Ungleichheit nur geringfügig durch staatliche Transfers und Steuern abgefedert (PNUD 2021: 12).Footnote 8 Eine hohe Verschuldung der Privathaushalte und unterschiedliche Strategien monetäre Einkommen durch informelle oder subsistenzwirtschaftliche Tätigkeiten aufzubessern, spielen deshalb eine bedeutende Rolle. Insgesamt scheint Chile durch ein exklusives Wachstum und – zumindest in Bezug auf die unteren sozialen Klassen – einen jobless growth gekennzeichnet zu sein. Dies führt zu einem Phänomen, das als strukturelle Überbevölkerung bezeichnet wurde.

Das geringe Absorptionsvermögen der chilenischen Arbeitsmärkte hat mit deren struktureller Begrenztheit zu tun, die sich aus einem spezifischen Entwicklungsweg der chilenischen Wirtschaft ergibt. Chile ist seit dem Kolonialismus als Rohstoffexporteur in den Weltmarkt integriert. Nach wie vor stellen Primärgüter knapp 86 Prozent aller Exporte des Landes dar (CEPAL 2021: 44). Dieser extraktivistische und zugleich neoliberale Zuschnitt der chilenischen Wirtschaft führt zu einer weitgehenden Privatisierung aller ökologischen Ressourcen und sozialen Infrastrukturen. Wie der Verlauf dieser Arbeit zeigen wird, geht dies zwar mit einem in der Region vergleichsweise hohen und stabilen Wirtschaftswachstum einher, schafft aber nur in begrenztem Umfang Arbeitsplätze im kapitalistischen Sektor. Dessen Absorptionsfähigkeit in Bezug auf die arbeitssuchende Bevölkerung ist in vielerlei Hinsicht sogar rückläufig und schafft in der Regel in größerer Zahl nur äußerst prekäre Arbeitsplätze. Dieses sozial exklusive Wachstum spiegelt sich in der Folge in der großen Bedeutung des bedarfsökonomischen Sektors und der Informalität für die soziale Reproduktion großer Teile der chilenischen Privathaushalte wider. Etwa ein Drittel aller chilenischen Erwerbstätigen arbeitet auf die ein oder andere Weise informell (Villanueva/Espinoza 2021).

Das Wachstum der extraktivistischen Wirtschaft ist darüber hinaus ökologisch destruktiv. Wassermangel, Luftverschmutzung, Wüstenbildung, Waldbrände und Trockenheit greifen in den letzten Jahren um sich, was durch den Klimawandel noch verstärkt wird (Landherr/Graf/Puk 2019). Im Norden des Landes werden die geringen Wasservorkommen für den Bergbau genutzt und die Umgebung durch Bergbaurückstände verseucht (Landherr 2018: 131 ff.; ebd. 2022). In regenreicheren Regionen verbraucht die industrielle Landwirtschaft das knappe Grundwasser und im zentralen Süden saugen die schnell wachsenden Forstplantagen, die große Teile des zentralen Südens bedecken, die Niederschläge auf. Vor allem die exportorientierte Land- und Forstwirtschaft benötigt in regenreicheren Gebieten des Landes folglich große Teile des Wassers und der Landflächen, die sie der lokalen Bevölkerung und den ländlichen Produktions- und Lebensweisen streitig machen (Landherr/Graf/Puk 2019). Die privatisierten Wasserrechte liegen zu weiten Teilen bei großen Unternehmen der Energieproduktion, der Landwirtschaft und des Bergbaus (ebd.: 83). Darüber hinaus gehören fast 75 Prozent des produktiv genutzten Bodens einem Prozent der Grundbesitzer*innen (Oxfam 2016: 25). Immer wieder verschmutzen zudem große Industriebetriebe Gewässer und Ländereien (Zibechi 2008; Winterstein 2018; Landherr 2022). Die Folge besteht einerseits darin, dass die chilenischen Ökosysteme erheblich überlastet, vielfach nachhaltig zerstört und ökologische Krisen immer umfassender werden und andererseits darin, dass den bedarfsökonomischen Aktivitäten – insbesondere auf dem Land – damit gleichzeitig die Produktionsgrundlagen entzogen werden.

Die dargelegten Kennziffern und die Anmerkungen zur wirtschaftlichen Grundausrichtung Chiles charakterisieren den kapitalistischen Sektor Chiles als sozial exklusiv und ökologisch destruktiv. Sie lassen zudem erahnen, dass dem bedarfsökonomischen Sektor, struktureller Heterogenität sowie einem stark differenzierten Arbeitsmarkt eine bleibende Bedeutung zukommen. In den folgenden Unterkapiteln zeige ich die konkrete Bedeutung der Bedarfsökonomie und ihre geschichtliche Entwicklung genauer auf. Dabei gehe ich einerseits der Frage nach, warum die kapitalistische »Entwicklung« die chilenische Erwerbsbevölkerung nur äußerst selektiv integrieren konnte und wie dieses Problem mit der gesamten ökonomischen Verfassung, den Sozialstrukturen und den gesellschaftlichen Konfliktdynamiken zusammenhängt. Dabei wird deutlich, dass die Entwicklung der chilenischen Wirtschaft und Gesellschaft nicht nur auf der Fortdauer des bedarfsökonomischen Sektors beruht, sondern auch dessen Krise vorantreibt, die durch Extraktivismus, Neoliberalismus und die Verknappung von Ressourcen im Zuge des Klimawandels an immer größerer Schärfe gewinnt. Dies betrifft vor allem diejenigen Teile der Bevölkerung, deren wirtschaftliche Aktivitäten auf funktionierende ökologische Kreisläufe angewiesen ist. In Chile sind dies vor allem die kleinbäuerliche Bevölkerung sowie die indigenen Mapuche im zentralen Süden des Landes, auf die in der vorliegenden Arbeit ein Schwerpunkt gelegt wird. Gerade letztere stellen auch einen zunehmend wichtigen politischen Akteur in Chile dar. Dies hat mit dem Charakter der politischen, sozialen und ökologischen Krisen- sowie Protestdynamik in Chile zu tun.

Um derartige gesellschaftliche Konflikte zu verstehen, die mit der Situation des bedarfsökonomischen Sektors, von dem ein großer Teil der Chilen*innen für seine alltägliche soziale Reproduktion angewiesen ist, zusammenhängen, werde ich im Folgenden einen makrosoziologischen Blick auf quantitative Zahlen und qualitative Forschungen werfen, die uns die Geschichte, die Bedeutung und die Funktionsweise der chilenischen Bedarfsökonomie und ihr grundlegendes Verhältnis zum kapitalistischen Sektor in Chile verstehen lassen. Zunächst stelle ich mir dabei die grundlegende Frage, wie es sich erklären lässt, dass es die »kapitalistische Entwicklung« des chilenischen Vorzeigemodells nicht vermag, die Mehrheit der chilenischen Bevölkerung in den kapitalistischen Sektor zu integrieren und es vielmehr zu einer bleibenden Bedeutung des bedarfsökonomischen Sektors kommt. Dabei lege ich nicht nur auf den Charakter des kapitalistischen Sektors einen Schwerpunkt, sondern richte den Blick explizit auf die besonders konfliktiven Verhältnisse auf dem Land im zentralen Süden des Landes, die Enteignung der dortigen indigenen Bevölkerung sowie die in dieser Region entstehende Forstwirtschaft und die zunehmenden Konflikte um diese.

4.1.2 Autoritäre Durchsetzung des neoliberalen Modells

Die Besitzer Chiles sind wir,

die Eigentümer von Kapital und Boden.

Alles außer uns ist beeinflussbare und verkäufliche Masse;

sie wiegt nicht, weder ihre Meinung noch ihr Einfluss.

– Eduardo Matte PérezFootnote 9

Im Folgenden zeichne ich überblicksartig die chilenische Geschichte seit der Kolonisierung nach. Dabei wird deutlich, dass diese vor allem durch den spanischen Kolonialismus und die Integration Chiles als Rohstoffexporteur in die Weltmärkte geprägt ist. Auf der anderen Seite war Chile kein no man’s land, als die Spanier es eroberten. Die Geschichte der indigenen Bewohner*innen, ihrer eigenen Produktions- und Lebensweisen dauert – insbesondere mit Blick auf die Mapuche – bis heute fort. Es wird im Folgenden daher darum gehen, nicht nur die Geschichte des kapitalistischen Sektors und – wie es Eduardo Matte sagt – der »Besitzer Chiles« zu erzählen, sondern vor allem die meist unsichtbarere Geschichte der Arbeiter*innen, Bäuer*innen, Tagelöhner*innen, Vagabunden, der Kleinbäuer*innen und der indigenen Bevölkerung. Da sich diese im Wesentlichen damals wie heute im bedarfsökonomischen Sektor reproduziert, handelt sich es auch um eine Geschichte dieses Sektors.

Vom Land der vielen Völker zum kolonialen Chile

Schon lange bevor Fernando de Magallanes Anfang des 16. Jahrhunderts als erster Europäer heutiges chilenisches Staatsgebiet betrat, lebten hier eine Vielzahl von Völkern mit unterschiedlichen Kulturen und ökonomischen Praktiken (Villalobos 2003: 14 ff.). An einem Ort, der im zentralen Süden Chiles liegt und heute als Monte Verde bekannt ist, belegen archäologische Funde die Besiedlung Amerikas durch Menschen schon vor rund 12 bis 14.000 Jahren. Bei der Ankunft der Spanier lebten nach Schätzungen über eine Millionen Menschen im heutigen Chile, die Mehrheit von ihnen gehörte den Mapuche an (Silva 1995: 76; Collier Sater 1999: 18). Im Norden dominierten die Völker der Aymara, die Likan Antai, die Diaguita und die Chango, die sich im fortwährenden Austausch oder Krieg mit dem Reich der Inkas, das teilweise die Hälfte des heutigen chilenischen Territoriums kontrollierte, befanden. Den zentralen Süden vom Fluss Aconcagua auf der Höhe des heutigen Santiagos bis weit in den Süden nach Chiloé bewohnten die unterschiedlichen Stämme der nomadischen und relativ dispersen Mapuche, die die Inkas wiederholt zurückschlugen. Weiter im Süden lebten die Chonos, Kawesqar, Yámana, Tehuelche und die Selk’nam, die vielfach nomadisch in der zerklüfteten Küstenlandschaft und vom Fischfang lebten (Silva 1995: 24 ff.).

Große Teile der indigenen Bevölkerung und insbesondere der Mapuche fielen den spanischen Eroberern zum Opfer. Am Ende der Conquista lebten in Chile nur noch rund 550.000 Personen, wovon noch etwa 300.000 der indigenen Bevölkerung zugerechnet werden konnte (Silva 1995: 76). Verantwortlich für diese dramatische Zerstörung der vorkolumbianischen Gemeinschaften waren neben den kriegerischen Auseinandersetzungen von den Spanier*innen importierte Krankheiten, die Ausbeutung der heimischen Arbeitskraft und Unterernährung (ebd.). Allerdings konnten sie sich bis zuletzt nicht vollständig gegen die Mapuche im zentralen Süden durchsetzen. In der Folge konzentrierten sich die spanischen Aktivitäten lange Zeit auf das restliche chilenische Territorium, wo sie hunderte Städte gründeten und die fruchtbarsten Böden bebauten. Die Landwirtschaft wurde im Rahmen der kolonialen Besiedelung in Haciendas organisiert, welche eine hierarchische Arbeitsteilung zwischen ehemals europäischen und indigenen Familien bildete, die sich weitgehend selbst versorgten und Getreide, Früchte, Wein, Holz und anderes für den Export produzierten (ebd.: 69, 92 f.). Die Latifundien der Haciendas, die von einer Großgrundbesitzerfamilie besessen und in der Regel bewohnt wurde, umfassten häufig Flächen von hunderten und manchmal tausenden Hektar Größe. Der patrón (Patriarch der Großgrundbesitzerfamilie) der Hacienda herrschte allerdings nicht nur über das Land, sondern auch über die an den Latifundismus-Komplex gebundenen ländlichen und häufig indigenen Bevölkerung (Kaltmeier 2004: 95 f.). Letzteren wurde erlaubt, auf einem kleinen Teil des Bodens der Großgrundbesitzerfamilie Subsistenzwirtschaft zu betreiben, wenn im Gegenzug Arbeitsdienste geleistet wurden (Tinsman 2002: 21 f.). Dies konstituierte ein Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnis, das als inquilinaje bekannt ist, bis in die Mitte des 20. Jahrhundert die chilenische Landwirtschaft dominierte und immer wieder als »semi-feudal« oder »vormodern« beschrieben wurde (Bengoa 2016: 36 ff.; Correa 2017: 205 f.).Footnote 10 Lange Zeit waren um die Beziehung der inquilinaje herum sozioökonomische Ausbeutung und politische Loyalität zwischen Reich und Arm organisiert (Bengoa 2016: 36 f.). Im Laufe der Zeit wurde aufgrund von Bevölkerungswachstum und wachsenden Exportmöglichkeiten die Ausbeutung der gebundenen indigenen Arbeitskraft kombiniert mit derjenigen von freien, lohnabhängigen Mestizo-Arbeitskräften (Silva 1995: 110 f.). Die mit der Hacienda-Wirtschaft einhergehenden Klassenverhältnisse waren geprägt von der Herrschaft der Dynastien der Großgrundbesitzer auf ihren fundosFootnote 11 und bestimmten bis lange nach der Unabhängigkeit Chiles vom spanischen Königreich die Herrschaftsverhältnisse in ganz Chile (Bengoa 2016: 35 f.).Footnote 12 Die Wirtschaft war in ihrem Außenhandel stark durch die Vergabe von Handelsmonopolen durch die spanische Krone beschränkt (Silva 1995: 70), verwandelte sich allerdings Ende des 17. Jahrhunderts in die Kornkammer des spanischen Vizekönigreichs auf dem lateinamerikanischen Kontinent (ebd.: 93). Zudem nahm der Export von Bergbauprodukten stetig zu (ebd.: 111 f.).

Anfang des 19. Jahrhunderts bestimmte die Frage der Unabhängigkeit Chiles von der spanischen Krone die Öffentlichkeit des Landes. Eine Reihe von bewaffneten Kampfhandlungen zwischen Royalisten und Patrioten folgten ab 1813 (Silva 1995: 129 ff.). Nach langen Jahren der bewaffneten Auseinandersetzungen entstand 1818 Chile als eine vom spanischen Imperium unabhängige Nation. Politisch hatte dies allmählich Veränderungen zur Folge, sozial blieb aber noch viele Jahrzehnte alles beim Alten. Die Basis der chilenischen Gesellschaft bildete nun die Allianz aus chilenischem Nationalstaat, der katholischen Kirche und der Hacienda-Wirtschaft auf dem Land (Bengoa 2016: 38; Pareja 2021: 378 f.). Allerdings nahm die Integration der chilenischen Wirtschaft in die Weltmärkte zu. Chilenisches Getreide wurde in wachsendem Umfang nachgefragt und das Silber und Kupfer, das tief im Gestein der chilenischen Wüstengebirge schlummerte, wurde nun in sprunghaft steigenden Mengen extrahiert. Zwar wurde auch zuvor schon Bergbau betrieben, doch der internationale Handel und der damit verbundene Zustrom europäischer Händler, die europäische Produkte gegen Primärgüter tauschten, lebte im 19. Jahrhundert stark auf (Silva 1995: 189–192; Collier/Sater 1999: 49 f., 78 ff.). Am Ende des Jahrhunderts war zudem vor allem die britisch dominierte Extraktion von Nitrat aus großen Salpeterfeldern von enormer wirtschaftlicher Bedeutung (Fischer 2011: 39 f.). Dies führte zur Gründung von Banken, Versicherungen sowie Handelsbörsen und öffnete ein ganzes neues Kreditsystem (ebd.: 29 ff.). Gleichzeitig befeuerten die hohen Einkommen des Bergbaus die Konzentration großer Reichtümer bei einer neuen ökonomisch herrschenden Gruppe, die teilweise aus neureichen Chilen*innen, aus Handelsfamilien aus Europa oder aus den Großgrundbesitzerfamilien des Südens entstammten (Collier/Sater 1999: 88 f.; Fischer 2011: 31 f.). Für die Handwerker*innen und Bauernfamilien hatte die zunehmende Weltmarktintegration weniger vorteilhafte Folgen. Die Zunahme von Fabrikprodukten aus den industriellen Zentren und unvorteilhafte staatlich Regulierungen machte ihnen in den Jahren nach der Unabhängigkeit zu schaffen (Collier/Sater 1999: 91).

Für das Volk der Mapuche hatte die Unabhängigkeit von Spanien die tiefgreifendsten Folgen. Hatten sie sich im 17. und 18. Jahrhundert aus einer Jäger- und Sammler-Gesellschaft in eine Viehhaltergesellschaft transformiert, die regen Austausch mit den Spaniern betrieb, ihre Gebiete teilweise auch ausdehnen konnte und ihre gemeinsame Identität stärkte, so wurde dieser Zustand wenige Jahrzehnte nach der chilenischen Unabhängigkeit durch die chilenischen Eliten aufgekündigt (Bengoa 2008: 205 ff.; Kaltmeier 2004: 75, 81 ff.). Der fruchtbare zentrale Süden Chiles sollte für die Weizenproduktion erschlossen und eine »reine Gemeinschaft« auf chilenischem Boden hergestellt werden (Kaltmeier 2004.: 79 f., 81 ff.). Nach langjährigen kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem chilenischen Militär, die von 1861 bis in die 1880er Jahre andauerten, verloren die Mapuche ihr gesamtes Territorium, wurden um ihre Ländereien enteignet, massenhaft verfolgt und ermordet und in den untersten Status der chilenischen Gesellschaft gedrängt (ebd.: 89 ff.; Correa 2021: 152 ff.). Das bis dato verbliebene Territorium der Mapuche wurde nun unter Chilen*innen und angeworbenen Familien aus Europa aufgeteilt und eine Hacienda-Landwirtschaft mit großen Latifundien wie im übrigen Chile etabliert (Kaltmeier 2004: 45, 95 f.). Tausende Familien aus Italien, Spanien, Belgien, Frankreich, der Schweiz und vor allem aus Deutschland kamen unter dem Versprechen, in Chile große unbewohnte Landflächen zu erhalten (Collier/Sater 1999: 93 f.; Villalobos 2003: 147 ff.; Otero 2006: 79 ff.). Sie stießen dort allerdings nicht nur auf die Mapuche, deren Land sie besiedeln sollten, sondern auch auf große, dichte Wälder, die kaum mit dem Pferd zu durchqueren oder unmittelbar landwirtschaftlich nutzbar waren. Die Kolonisierung des ehemaligen Landes der Mapuche beinhaltete in staatlichem Auftrag deshalb auch die großflächige Brandrodung der Urwälder im Süden Chiles (Villalobos 2003: 148; Otero 2006: 25, 83 f., 86 f.).

Chiles Integration in das »moderne Weltsystem« und die »ursprüngliche Akkumulation« im Sinne der weitgehenden Enteignung der großen Mehrheit der einfachen Bevölkerung von ihrem Land schien damit komplett. Die Mapuche-Gemeinschaften wurden in Reservaten angesiedelt. Sie betrieben dort eine zunehmend autarke Landwirtschaft oder fügten sich in den folgenden Jahrzehnten in die chilenische Sozialstruktur ein, die am unteren Ende aus gebundenen oder freien Arbeiter*innen, Bauernfamilien mit wenig Land und umherwandernden Arbeitslosen bestand (Bengoa 2008: 366). Mit Blick auf die chilenische Sozialstruktur dieser Zeit listet Luis Galdames nach dem Zensus von 1907 von den rund 1,25 Millionen erwerbstätigen Menschen des Landes unter anderem 300.000 Arbeiter*innen, 240.000 Gelegenheitsarbeiter*innen und Selbständige, 130.000 Handwerker*innen, 90.000 Hausangestellte und 220.000 in der Landwirtschaft Tätige auf (Galdames zitiert in Yáñez 2011: 164). Diese Zahlen spiegeln die steigende Proletarisierung und Urbanisierung der chilenischen Bevölkerung wider, von der 1907 schon 43 Prozent in Städten lebten (ebd.). Eine neue Klasse aus Staatsbediensteten, besser qualifizierten Beschäftigten und erfolgreichen Händler*innen sowie ein städtisches Proletariat und dicht besiedelte städtische Armenviertel entstanden, die sich von den Arbeiter*innen auf dem Land und im Bergbau zunehmend unterschieden (Silva 1995: 251 f.; Collier/Sater 1999: 160 ff.). Im 20. Jahrhundert verstärkte sich damit allerdings auch der soziale Gegensatz zwischen einerseits den quasi-feudalen Abhängigkeitsverhältnissen und der großer Armut auf dem Land und andererseits den sich modernisierenden Städten mit steigendem Lebensstandard (Bengoa 2016: 33; Chonchol 2017: 5). Die alte Hacienda-Landwirtschaft war nicht im Stande, die wachsenden Städte zu ernähren (Tinsman 2002: 23 f.). Zudem setzten auch auf dem Land Tendenzen der zunehmenden Proletarisierung ein (ebd.). Damit unterlag die alte ländlich geprägte chilenische Sozialstruktur im 20. Jahrhundert einem zunehmenden Wandel.

Von der Hacienda-Gesellschaft über importsubstituierende Industrialisierung und Landreformen zum chilenischen Sozialismus

Ein Hektar Land pro Kopf für jede Familie

würde die wirtschaftlichen Probleme der Bauern von Elqui lösen,

wenn das furchtbare, unehrliche Latifundium nicht wäre,

das uns verschlingt und hungrig macht,

hier wie im ganzen Land.

– Gabriela MistralFootnote 13

Gabriela Mistral beschreibt im angeführten Zitat aus dem Jahre 1933 eines der größten, bis heute andauernden Probleme Lateinamerikas: Die Wirtschaft der Region basierte auch im 20. Jahrhundert nach außen auf dem Export von Bergbauprodukten und Weizen und nach innen auf einer enklavenartigen Organisation der ländlichen Produktionsverhältnisse. Olaf Kaltmeier bezeichnet die chilenische Hacienda als »eines der stabilsten Machtdispositive in Lateinamerika« (Kaltmeier 2004: 45). Die Landoligarchie herrschte im ländlichen Raum Chiles bis weit in das 20. Jahrhundert hinein uneingeschränkt (ebd.: 96). Noch in den 1950er und 1960er Jahre drückte sich dort die massive soziale Polarisierung in einer extrem ungleichen Landverteilung aus. Die Großgrundbesitzer, die unter 7 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe ausmachten, besaßen Mitte der 1950er Jahre über 81 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzflächen (Bengoa 1983: 30). Während in den 1960er Jahren 730 Großgrundbesitzer*innen rund 16,8 Millionen Hektar Land kontrollierten, nannten die ärmsten 120.000 chilenischen Kleinbauern und Kleinbäuerinnen nur etwa 200.000 Hektar ihr Eigen (Bustos 1987: 80). Der alten wirtschaftlichen Ordnung und den Klassenverhältnissen auf dem Land wurde erst durch die politischen Ereignisse Mitte des 20. Jahrhunderts der Boden entzogen (Bengoa 2016: 39 ff.).

Die Gründungen von Gewerkschaften, Bauernorganisationen und linken Parteien brachten die chilenische Politik in Bewegung. Schon in den 1950er Jahren stieg in Chile allmählich die Bedeutung der ländlichen Bevölkerung als Wahlvolk. Grund dafür waren die zunehmenden Versuche linker Parteien, diese Gruppen zu mobilisieren. Dies hing auch damit zusammen, dass im Jahr 1949 die Frauen in Chile ihr Wahlrecht erkämpften und sich damit die potenzielle Wählerbasis der Parteien auf dem Lande verdoppelte. In der Folge musste die herrschende Politik den brennenden Fragen des ruralen Raums zunehmend Beachtung schenken (Chonchol 2017: 6). Ein weiterer Grund für die zunehmende Unruhe auf dem Land war die sozialistische Revolution der Guerilla unter Fidel Castro in Kuba, die 1959 über den Diktator Fulgencio Batista siegte und in ganz Amerika auf der einen Seite Hoffnungen auf und auf der anderen Seite Angst vor sozialen Veränderungen schürte.

In diesem Licht sind auch die ersten Initiativen für eine Landreform zu Beginn der 1960er Jahre unter der Regierung von Jorge Alessandri zu sehen (Chonchol 2017: 7 f.; Pareja 2021: 379).Footnote 14 Zuvor hatte die ländliche Armut, die Landlosigkeit, das Bildungsgefälle und die sozialen Unterschiede zwischen kleinbäuerlichen Familien und den Latifundisten sowie zwischen Land und Stadt im Chile der 1950er Jahre erneut zugenommen (Chonchol 2017: 6 f.). Die rechtlichen Veränderungen von 1862 unter Alessandri sollten ein Kompromiss darstellen und Enteignungen von Land zugunsten der armen ländlichen Familien ermöglichen sowie die kleinbäuerliche Produktion durch neue staatliche Institutionen fördern (Chonchol 2017: 8). Auch kam es zu Streiks auf dem Land im zentralen Süden, weil ehemalige Bauern, die in den Norden zogen, um dort in den Bergwerken zu arbeiten und sich dort den Gewerkschaften anschlossen, in großen Zahlen zurück in den Süden migrierten und dort als Tagelöhner anheuerten, aber nach einem eigenen Stück Land dürsteten (Bengoa 2016: 73 ff.). Erst unter Eduardo Frei Montalvas Regierung und der zweiten Landreform von 1967 kam es allerdings zu ersten Veränderungen im größeren Maßstab, die unter dem linken Flügel mit dem Ziel umgesetzt wurden, dass das Land denjenigen gehören solle, die es bearbeiten sowie die Lebensbedingungen auf dem Lande zu verbessern, die kleinbäuerlichen Gewerkschaften zu stärken und die Produktivität landwirtschaftlicher Produktion zu erhöhen (Pareja 2021: 379). Andere, eher ökonomisch orientierte Akteure verfolgten allerdings auch das Interesse, mit der Schaffung einer neuen Klasse der Kleinbäuer*innen einen inneren Markt für Industrieprodukte hervorzubringen sowie die ländlichen Haushalte aus ihrer Subsistenzwirtschaft zu lösen (Bengoa 2016: 62, 64 f.).

Unter Frei wurden eine Reihe von Regelungen eingeführt, die es erlaubten, größere Ländereien zu enteignen und sie an Kooperativen und Familienlandwirte zu übergeben (Chonchol 2017: 9). Darüber hinaus wurde explizit geregelt, dass Wasser zur Bewässerung von landwirtschaftlichen Nutzflächen ein öffentliches Gut darstelle, über das kein Privateigentum, sondern nur Nutzungsrecht bestünde (ebd.). Zudem wurde die gewerkschaftliche Organisierung auf dem Lande unterstützt (ebd.). Einen Höhepunkt erreichten die Landreformen allerdings erst unter der sozialistischen Präsidentschaft von Salvador Allende (1970–1973). Die staatlichen Behörden enteigneten zwischen 1965 und 1970 Flächen im Umfang von 3.564.533 Hektar, was 13 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche Chiles entsprach und von denen 30.000 Familien profitierten (Bengoa 1983: 40; Chonchol 2017: 10). Die Zeit war zudem durch eine große Zunahme an Zusammenschlüssen von Landarbeiter*innen und Kleinbäuer*innen in Gewerkschaften und Kooperativen gekennzeichnet (Chonchol 2017: 10). Diese Prozesse wurden in den drei Jahren der darauffolgenden Präsidentschaft Allendes deutlich gesteigert. Unter Allende wurden weitere 6.401.315 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche umverteilt (Bengoa 1983: 40). Diese staatliche Umverteilung geschah nicht allein durch den Willen einer sozialistischen Regierung, sondern aufgrund breiter Bewegungen der ärmeren ländlichen Bevölkerung, die auch die Mapuche miteinschloss. Dabei kam es zu den in der chilenischen Geschichte wiederholt auftretenden corridas del cerco (übers. Versetzen der Zäune), durch die sich kleinbäuerliche Haushalte angrenzendes Land von Großgrundbesitzer*innen einverleibten sowie zu Landbesetzungen auf Latifundien (Bengoa 1983: 38 f.; Bastías 2016: 85 ff.). Allendes Regierung wurde nicht nur von Gewerkschaften und Arbeiterorganisationen gestützt, sondern gleichzeitig in erheblichem Maße von Bewegungen und Streiks auf dem Land unter Druck gesetzt, welche nicht zuletzt auch durch Mapuche-Organisationen unterstützt wurden (Chonchol 2017: 11). Schon vor Allende kam es zwischen 1967 und 1970 zu mehr als 2.500 Streiks der Bauernorganisationen (Bengoa 2016: 82). Auch die Mapuche steigerten ihre Landbesetzungen von 89 im Jahr 1969 auf 1.286 im Jahr 1971 (ebd.: 83). José Bengoa spricht mit Blick auf diese Zeit von der größten Bauernrevolte der modernen Geschichte Chiles (ebd.: 82). Die Zeit der Treue der chilenischen Landbevölkerung gegenüber ihren patrones war nun zu Ende (ebd.: 82 f.).

Zum ersten Mal in der chilenischen Geschichte kam es Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre zu einer breiten und weitgehend vom Staat unterstützen Verbesserung der Bedingungen der kleinbäuerlichen Lebensverhältnisse. Im gleichen Prozess wurden die großen Latifundien, die die ländlichen Verhältnisse bisher so stark prägten, weitgehend aufgelöst (Chonchol 2017: 10 f.). Damit wurde in Chile die Jahrhunderte alte Herrschaftsstruktur der Hacienda zerstört und zugleich das Potenzial für eine Vielzahl individueller und kollektiver wirtschaftlicher Initiativen, Organisationsformen sowie kultureller Praktiken und ein neues Selbstbewusstsein der einfachen ländlichen Bevölkerung auf dem Land freigesetzt (ebd.: 12 f.; Kaltmeier 2004: 135; Bengoa 2016: 70). Aber nicht nur auf dem Land und im landwirtschaftlichen Bereich kam es im 20. Jahrhundert zu erheblichen Veränderungen. Im Norden Chiles kam es zu einem Boom des Bergbaus und allmählich begann Chile sich zu industrialisieren.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stieg der Anteil von Nitrat aus den Salpeterfeldern auf 70 Prozent der Exporte (Fischer 2011: 40). Während britisches Kapital den Handel mit Nitrat dominierte, waren es US-amerikanische Unternehmen, die den Kupferbergbau bestimmten (ebd.). Dabei nährten hohe Exportsteuern die Staatseinnahmen. So machten Steuern auf die Nitratexporte um die Jahrhundertwende die Hälfte aller Staatseinnahmen aus (ebd.). Mit den übrigen Geldern aus dem Bergbau, die nicht in die Taschen ausländischer Unternehmen flossen, finanzierte die herrschende Klasse des Landes üppige Importe europäischer Luxusartikel (ebd.: 48). Zunehmend wurden aber auch industrielle Textilwaren importiert, welche die Wollkleidung aus den chilenischen Familienwerkstätten immer stärker ersetzte (ebd.: 55). Der chilenische Staat, die herrschende Klasse und die gesamte Wirtschaft des Landes waren auf diese Weise extrem abhängig von den Weltmärkten. Wenig überraschend implodierte das außenhandelsorientierte Modell dann auch in der Folge der Weltwirtschaftskrise von 1929 sowie der Erfindung von künstlichem Nitrat (ebd.: 53). Die Exporte brachen um 70 Prozent ein (ebd.: 60).

Auch die verarbeitenden Industrien gewannen in dieser Zeit in Chile an neuer Dynamik. Schon Ende des 19. Jahrhunderts stiegen einige der großen chilenischen Unternehmerfamilien in Geschäfte im verarbeitenden Sektor ein (Fischer 2011: 49). Ziel war es, eine Konsumgüterindustrie, eine leichte Metallverarbeitung sowie eine industrielle Landwirtschaft aufzubauen (ebd.). Das einflussreichste chilenische Konglomerat, das dabei entstand, war dasjenige der Familie Matte, das sich der Holz-, Papier- und Forstwirtschaft zugewandt hatte (ebd.: 51 f.). Allerdings kam es vor den 1930er Jahren zu keiner fortschreitenden industriellen »Entwicklung« (ebd.: 54). Erst im Rahmen der Politik der Importsubstitution setzte ein Industrialisierungsschub der chilenischen Wirtschaft ein (ebd.: 60 ff.). Importzölle wurden angehoben und Außenhandelskontrollen durchgeführt. Ein Wachstum des Binnenmarktes sollte den Aufbau der Produktion von Konsumgütern, Zwischenprodukten und Kapitalgütern ermöglichen. Die Strategie ging zunächst auf. Die Zahl der Unternehmen und Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe nahm zu (ebd.: 61). Parallel dazu wurde der Wohlfahrtsstaat ausgebaut sowie Arbeitsschutzrichtlinien und Mindestlöhne eingeführt, die sich jedoch vorwiegend auf die städtische und organisierte Arbeiterschaft der strategisch wichtigen Sektoren begrenzte (ebd.: 65). Gleichzeitig entstanden neue Institutionen der Wirtschaftsentwicklung. Eine der wichtigsten Behörden der Förderung der chilenischen Wirtschaft stellte lange Zeit die 1939 gegründete staatliche CORFO – Corporación de Fomento de la Producción (übersetzt: Verband zur Produktionsförderung) – dar. Ursprünglich im Rahmen der Wiederaufbaubemühungen nach dem schweren Erdbeben von 1939 gegründet, bestand ihre Aufgabe bald darin, die Industrie und Infrastruktur des Landes aufzubauen. Dazu wurden in den 1940er bis 1960er Jahren zahlreiche öffentliche Unternehmen gegründet, die vom Stahl- und Ölgeschäft bis hin zu Telekomunikation und Zuckerindustrie reichten.Footnote 15

Mit der Industrialisierung kamen auch neue soziale und politische Bewegungen auf. So entstand die chilenische Arbeiterbewegung um die Jahrhundertwende allmählich in den Bergwerken, Fabriken und den Häfen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gründeten sich die ersten Arbeiterparteien (Fischer 2011: 45 f.). Es kam zu großen Streiks und zu Massakern an Arbeiter*innen wie demjenigen an Bergarbeiter*innen in Iquique 1907, bei dem Hunderte ihren Tod fanden (ebd.: 46). Die lokale Macht und der nationale Einfluss der Gewerkschaften und Arbeiterparteien stieg allerdings in den darauffolgenden Jahrzehnten, was auch mit der Bedeutungszunahme des verarbeitenden Gewerbes in dieser Zeit zusammenhing. In der Folge der neuen Arbeitsgesetzgebung von 1931 und den folgenden »Sozialgesetzen« der 1930er Jahre kann zudem von einer gewissen Institutionalisierung der Organisationen der Lohnarbeiter*innen und von Arbeitskonflikten gesprochen werden (Salazar 2017: 169). Im Rahmen der staatlichen Industrialisierungsbemühungen sollten sie gar in tripartistische Entscheidungsstrukturen mit Staat und Unternehmern eingebunden werden (Fischer 2011: 67). Gleichzeitig war ihre Macht lange Zeit jedoch zu schwach, um der enormen sozialen Ungleichheit in Chile etwas entgegenzusetzen und mit der Durchsetzung deutlicherer Lohnerhöhungen den Binnenmarkt entscheidend zu vergrößern (ebd.: 66). Außerdem war eine breite Masse der städtischen Armen aus dieser organisierten und eingebundenen Klasse der Lohnabhängigen ausgeschlossen (Salazar 2017: 169 f.). Schätzungsweise strömten allein zwischen 1940 und 1952 rund 270.000 Menschen der verarmten Landbevölkerung in die Hauptstadt, was etwa ein Drittel ihrer vorherigen Gesamtbevölkerung ausmachte (ebd.: 170, 176).

Chileweit lässt sich in dieser Zeit ein erheblicher Wandel in der Sozialstruktur feststellen. So unterteilte sich die Erwerbsbevölkerung 1970 in 500.000 Selbständige, 730.000 Angestellte und 920.000 Arbeiter*innen (Salazar 2017: 282). Die Mehrheit dieser Menschen war nun nicht mehr in der Landwirtschaft tätig, sondern auf dem Bau, im Kleinhandel, in der Textilindustrie oder als Bäcker*in, Chauffeur*in und als Dienstleistungspersonal (ebd.: 176). Es waren in der Regel äußerst prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Dennoch bildeten die zahlenmäßig rasch anwachsenden urbanen marginalen Massen allmählich eigene Organisationen, die mit den linken Parteien verbunden waren, die teilweise mit deren Aktionen, Besetzungen und illegalen Besiedlungen sympathisierten (ebd.: 180 f.). Die tomas der pobladores – das heißt Landlose, die Flächen rings um Städte, Straßen oder Flüsse besetzen, um neue Siedlungen zu errichten – waren allerdings kein Akt gegen die Gesellschaft, sondern eine Form, sich ökonomisch und politisch in sie zu integrieren (ebd.: 177).Footnote 16

Auf der anderen Seite steigerte sich im 20. Jahrhundert aber auch der Einfluss der großen Unternehmen im Rahmen einer stark zunehmenden Marktkonzentration und der Entstehung von Monopolen (Fischer 2011: 69 f.). Gleichzeitig verschmolzen chilenische Wirtschaftsaktivitäten eng mit ausländischem Kapital (ebd.: 70 ff.). Die sozialen Widersprüche der Industrialisierungsphase, die nicht nur in der Ungleichzeitigkeit der Entwicklung zwischen Stadt und Land bestand, welche zu den Landreformen führte, sondern auch zu der sozialen Polarisierung in den Städten und einer wachsenden Arbeiterbewegung, entluden sich im Rahmen der sozialistischen Regierung, welche mit dem Wahlsieg Salvador Allendes und seinem Parteienbündnis der Unidad Popular 1970 an die Macht kam. Nun wurden die großen Unternehmen des Bergbaus, des Finanz- und Exportbereichs sowie strategisch wichtige Industriebetriebe verstaatlicht (Fischer 2011: 72). Die wirtschaftliche Konzentration von Kapital und Macht sollte gebrochen werden. Die Gestaltungsmacht über wirtschaftliche Grundfragen ging zumindest teilweise von der besitzenden Klasse auf die Arbeiter-, Bauern- und Basisbewegungen über (ebd.: 72 f.). Im Jahr 1973 war der Staat mittels der CORFO an 500 Unternehmen beteiligt und unterhielt selbst 22 Staatsbetriebe und 18 Banken (ebd.). Das Ergebnis war ein mit unterschiedlichen Mitteln ausgetragener offener Klassenkampf zwischen dem Parteienbündnis der Unidad Popular, den Gewerkschaften sowie sozialen Bewegungen auf der einen und der besitzenden Klasse sowie ausländischen Akteuren auf der anderen Seite. Dieser endete schließlich im Putsch des Militärs gegen die sozialistische Regierung im September 1973.

Die Diktatur und das neoliberale Experiment

Die Kontra-Agrarreform und die Gewalt auf dem Land

Noch Mitte 1973 schien es, als hätten die Armen auf dem Land ihre Zukunft und ihr Schicksal allmählich in der eigenen Hand. Die Landreformen, die Verstaatlichungen und die Beteiligung sozialer Bewegungen an politischen Entscheidungsprozessen vollzogen sich im Rahmen von breiten Mobilisierungen, die als eine breite Bauernrevolte bezeichnet wurden (Bengoa 2016: 82 ff.).Footnote 17 Die alten patrones auf dem Lande warteten allerdings nur darauf, auf die tausenden Landbesetzungen, die Politisierung und Organisierung der ländlichen Bevölkerung zwischen 1967 und 1973 mit Waffengewalt, Terror und Vertreibungen zu reagieren (ebd.: 85 ff.). Der Startschuss dafür fiel, als eine Militärjunta unter General Pinochet am 11. September 1973 gegen Salvador Allende putschte: »Die Pickups der alten patrones fuhren voll besetzt über das Land und durch die Fenster konnte man die Läufe ihrer Gewehre sehen«, schrieb Bengoa über diese Zeit (Bengoa 2016: 86 – eigene Übers.). Es dauerte nicht lange, bis die große Rache der alten Gutsherren, die allgemeine Repression der bäuerlichen Bewegung und das politische Ermorden ihrer Anführer*innen einsetzte (ebd.: 86 ff.).

Linke Intellektuelle, Kulturschaffende und Parteimitglieder sowie die Organisationen der Arbeiter-, Bauern- und Mapuche-Bewegung bekamen in der Folge des Putsches die ganze Härte der Militärgewalt zu spüren. Victor Jara – Sinnbild der Nueva Canción Chilena – wurde genauso inhaftiert, gefoltert und ermordet wie hunderte Mitglieder der Gewerkschaften, sozialistischer und kommunistischer Parteien sowie die Anführer*innen der Bauernbewegung, deren Organisationen verboten wurden (Chonchol 2017: 15). In den ersten drei Monaten der Diktatur verschwanden mehr als 500 Bauern und Bäuerinnen oder wurden direkt ermordet (Bengoa 2016: 99). Im zentralen Süden flogen die Militärhubschrauber über das Land, an deren Kufen teilweise tote Anführer*innen der Bäuer*innen und der Mapuche gebunden wurden (ebd.: 90).

Während der Diktatur wurde mit brachialer Gewalt nicht nur die politische Landkarte bereinigt, sondern auch eine Reproletarisierung der zuvor neu entstandenen kleinbäuerlichen Klasse durchgesetzt (Bengoa 2016: 87). In Zentralchile wurden die Bauernfamilien um ihre Ländereien gebracht und in Zeitarbeiter*innen auf den neu entstehenden Obstplantagen verwandelt, die nun vollkommen von monetären Einkommen und den saisonalen Nachfrageschwankungen nach ihrer Arbeitskraft abhängig waren und ihre Lebensmittel von anderen erwerben mussten (Tinsman 2002: 290). Viele siedelten sich am Rande der Latifundien, an Straßen, Flüssen und an der Küste an und suchten auch nach eigenständigen Tätigkeiten. Einige sammelten und trockneten beispielsweise Algen aus dem Meer, welche dann von japanischen Unternehmen für Kosmetik und Feinkost verarbeitet wurden (Bengoa 2015: 87 f.). Ähnlich erging es den ländlichen Haushalten weiter im Süden. Sie mussten der sich ausbreitenden Forstwirtschaft Platz machen, verloren ihre Grundstücke und versuchten bei den überall entstehenden Subunternehmen des Forstsektors trotz ihren äußerst schlechten Arbeitsbedingungen unter zu kommen (Klubock 2014: 248). Auf dem Land entstanden die prekärsten und schlechtesten Arbeitsplätze Chiles, welche zumeist mit Löhnen unterhalb des offiziellen Mindestlohns entgolten wurden. Jede gewerkschaftliche Organisierung wurde unterbunden (Tinsman 2002: 290 f.). Allerdings wurde die alte Hacienda-Ordnung von vor den Agrarreformen nicht reinstalliert, sondern wich einer neuen, kapitalistisch organisierten Land- und Forstwirtschaft (Bengoa 2016: 89 ff.).

Insgesamt stellte diese Zeit ab 1973 laut José Bengoa – nach der spanischen Kolonisierung des Landes und der Eroberung des zentralen Südens durch das chilenische Militär – eine dritte Phase der grundlegenden ursprünglichen Akkumulation im Sinne von Marx in Chile dar (ebd.: 92 ff.). Die sogenannte contrareforma agraria (übers.: Gegenagrarreform) war umfassend. Ein Drittel der unter Frei und Allende im Rahmen der Landreformen enteigneten Flächen wurden direkt an ihre alten Eigentümer*innen zurückgegeben (Chonchol 2017: 15). Ein weiteres Drittel wurde an politische Günstlinge verteilt (ebd.). Der Rest sowie die Landmaschinen der großen Kooperativen wurden auf den Märkten versteigert. Davon profitierte eine neue Klasse mittlerer und großer kapitalistischer Landwirte, die Forstunternehmen sowie große kapitalistische Konsortien. Der größte Landeigentümer Chiles war im Jahr 1976 die Privatbank Banco de Chile (Bengoa 2016: 90 ff.). Die Grundstücksmärkte wurden weitgehend von Polizeikräften organisiert, die die Militärjunta mit der Kontrolle bestimmter Gebiete betraute und die das Land neben großen Unternehmen und politisch Wohlgesonnenen einer neuen Klasse aus städtischen Unternehmer*innen zusprach (ebd.: 91). Mit einer klaren Vision und großem finanziellen Spielraum strömte allerdings vor allem das Kapital der zuvor privatisierten Forstindustrie auf die Grundstücksmärkte. Sie eigneten sich die größten Flächen an, die häufig in hügeligen Regionen Biobíos und der Araucanía lagen (ebd.: 92). Es war eine umfassende kapitalistische Landnahme, die Arbeitsmärkte, Gebrauchsgütermärkte, Märkte für Ausrüstungsgüter, Dünger und genmanipuliertes Saatgut bis hin zu Grundstücksmärkten hervorbrachte (ebd.: 95).

Abertausende Bauernfamilien verloren in dieser Zeit ihr Land. Schätzungen zufolge betraf dieser Prozess rund 400.000 Menschen, die in kürzester Zeit aus ihrer bisherigen ländlichen Produktions- und Lebensweise gerissen wurden (Bengoa 2016: 93 f.).Footnote 18 45 Prozent der Bauern und Bäuerinnen, die unter Frei und Allende Land erhielten, verloren es in den ersten Jahren der Diktatur (Taylor 2002: 52). Die Bauernfamilien, die nicht vertrieben wurden, verarmten. Die Städte quollen in dieser Zeit über von Arbeitslosen. Überall entstanden ländliche Elendsviertel, deren Bewohner*innen nach Überlebensmöglichkeiten suchten (Bengoa 2016: 94). Die ehemaligen Bauernfamilien verwandelten sich in ländliche Arme, die von Gelegenheitsarbeiten und staatlichen Almosen lebten (ebd.: 94 f.). Die Mapuche traf es wie immer am härtesten. 84 Prozent der Flächen, die sie im Rahmen der Landreformen bekommen hatten, wurden direkt an die alten Großgrundbesitzerfamilien übertragen. In vielen Fällen verloren sie zudem ihre Tiere sowie ihr Werkzeug und ihre Maschinen (Chonchol 2017: 16).

Von der Bauernrevolte, ihrer auflebenden Kultur und Organisierung von unten blieb nichts zurück. Die Bewegung wurde vollkommen ausgelöscht und ist bis heute unter der darauffolgenden Geschichte des Landes verschüttet (Bengoa 2016: 73). Bengoa spricht vom gewaltsamen Tod der chilenischen Bauernschaft in der Diktatur (ebd.: 25). Die Organisationen und Traditionen wurden in der Diktatur weitgehend ausgelöscht. Eine Sache aber sei geblieben: Die ländliche Bevölkerung, die sich einmal aus ihrer Dienerschaft auf den Haciendas befreite und – wenn auch nur kurz – ihr eigenes Land bearbeiten konnte, hätte – so Bengoa – etwas gewonnen, dem immer wieder und vor allem Jahrzehnte später große Bedeutung für ländliche Protestbewegungen zukommen wird: »ihre Würde« (ebd.: 95).

Die Neuausrichtung des kapitalistischen Sektors

Die Militärdiktatur setzte aber nicht nur eine groß angelegte Unterdrückung der Arbeiter-, Bauern- und Mapuche-Bewegung um, sondern wandte sich nach einiger Zeit der wirtschaftspolitischen Orientierungslosigkeit einer neuen Gruppe aus Wirtschaftsexperten zu, die versprachen, die chilenische Ökonomie aus der Krise zu führen (Gárate 2016: 181 ff.). Sie bestand aus Chilen*innen und US-Amerikaner*innen, die in Chicago die »Schule des Neoliberalismus« absolvierten, weshalb sie auch die Chicago Boys genannt wurden.Footnote 19 Sie nahmen schon vor dem Putsch wichtige Posten an den Universitäten, aber auch in internationalen Organisationen ein und stellten enge Kontakte zu den Unternehmensverbänden her (Fuentes 2021: 63 ff.). Im Jahre 1972 zeichnete sich für die politische Rechten allmählich ab, dass bisherige Versuche zur Absetzung Allendes scheiterten. Ein Militärputsch stand immer deutlicher im Raum (ebd.: 76 f.). Im Jahre 1972 begannen die Chicago Boys an dem Grundsatzpapier El ladrillo (übersetzt: der Ziegelstein) zu schreiben, das die Leitlinien der künftigen Wirtschaftspolitik unter einer rechten Regierung entwarf (ebd.). Es enthielt die Absenkung der Zölle, die Deregulierung der Preise, die Anregung von ausländischen Investitionen, die Privatisierung staatlicher Unternehmen sowie die Einführung eines privaten Rentensystems (ebd.: 78). Kurz vor dem Putsch hatte die Gruppe El ladrillo schon 20 Mitglieder, allesamt wichtige Intellektuelle und Verantwortungsträger (ebd.: 78 f.). Ihre eigentliche Führungsrolle fiel ihnen allerdings erst nach dem Militärputsch gegen die sozialistische Regierung zu.

Der chilenische Staat war zu Beginn der Diktatur ein mächtiges Schiff, mit hunderten Unternehmen mit Staatsbeteiligung, über drei Tausend festgelegten Preisen, einem zunehmenden Haushaltsdefizit und der Verwaltung von Programmen für einen Großteil der landwirtschaftlichen Nutzflächen, die bis dahin an ärmere Haushalte übertragen wurden oder werden sollten (Fuentes 2021: 86 f.). Die Gegenmaßnahmen, zu denen die neoliberalen Expert*innen die Militärregierung drängten, waren drastisch. Dies betraf nicht nur die beschriebene Gegenagrarreform auf dem Land, sondern auch alle von Arbeiter*innen oder in Gestalt von Kooperativen verwalteten Betriebe. Bisher festgelegte Preise wurden freigegeben, Restriktionen der Finanzbranche beseitigt und der Außenhandel geöffnet. Die Löhne wurden im Vergleich zu 1970 um die Hälfte gesenkt (Fischer 2011: 98 f.). Zwischen 1975 und 1980 privatisierte die Militärregierung rund 200 staatliche Unternehmen, welche in überwiegender Zahl an chilenische Konglomerate gingen. Die fünf wichtigsten Unternehmensgruppen Chiles kontrollierten 1978 53 Prozent der Aktien der größten 250 Unternehmen des Landes (ebd.: 104). Einerseits setzte damit das radikale wirtschaftspolitische Umsteuern ein, auf das sich die Wirtschaftsexpert*innen so lange vorbereitet hatten, andererseits befeuerte die Militärdikatur hierdurch die Konzentrationsprozesse in der chilenischen Wirtschaft. Gleichzeitig wurden ausländischen Krediten und Direktinvestitionen möglichst günstige Bedingungen versprochen (ebd.: 99, 107 f.).

Laut Marcus Taylor war die Konterrevolution unter Pinochet im Bündnis mit den Chicago Boys durch drei zentrale Merkmale gekennzeichnet: Erstens die radikale Unterdrückung der politischen Kräfte, die zuvor Allendes Regierung unterstützt hatten;Footnote 20 zweitens die Ausrichtung der Wirtschaft auf den Weltmarkt basierend auf dem Export von Rohstoffen und industriellen Agrargütern und drittens ein massiver Rückzug des Staates aus der Wirtschaft im Rahmen eines breiten Privatisierungsprogramms (Taylor 2002: 51). Dadurch wurden die kapitalistischen Aktivitäten von der industriellen Produktion auf die finanziellen und extraktivistischen Sektoren umgelenkt. Die Militärdiktatur beendete damit eine lange Phase der Versuche des Aufbaus eigener industrieller Kapazitäten, der Bodenreformen und sozialer Umverteilungspolitik, die in der Präsidentschaft Allendes ihren Höhepunkt erreichte. Die in der Diktatur dominant gewordenen Kapitalfraktionen schienen kein Interesse an der langjährig praktizierten Politik der Importsubstitution zu haben (Taylor 2002: 54 f.; Pizarro 2020: 340 ff.). Sie richteten ihr Augenmerk nun auf ein extraktivistisches Wachstumsmodell.

Die in der Diktatur initiierten Gegenreformen wurden durch die Privatisierung ökologischer Ressourcen sowie des Renten-, Bildungs- und Gesundheitssystems und anderer sozialer Bereiche, durch die Subvention extraktiver Unternehmen und durch Investitionsanreize für ausländisches Kapital befeuert (Bauer 1998; Landherr/Graf 2017: 575 ff.; Pizarro 2020: 347). Die Zentralisation des chilenischen Kapitals nahm in der Folge deutlich zu. Nach einem Jahrzehnt befanden sich 68 Prozent aller an der chilenischen Börse gelisteten Unternehmensaktien in den Händen von wenigen, großen Konglomeraten. Insbesondere die Sektoren des Bergbaus sowie der industriellen Land- und Forstwirtschaft wurden in der Folge zu etwa 78 bis 98 Prozent von fünf bis acht Unternehmen kontrolliert (Taylor 2002: 53 f.). Mit Blick auf die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse lässt sich die Phase der Militärdiktatur damit nicht nur als Klassenkampf von oben, sondern auch als Deindustrialisierungsdiktatur verstehen.

Die zunehmende Ausrichtung des Landes auf den Extraktivismus, die in der Militärdikatur ihren Ausgang nahm, ist auch an den seit den 1970er Jahren bis heute rückläufigen Zahlen der Industriearbeiterschaft abzulesen. Während deren Anteil – die Beschäftigten im Bausektor mit eingerechnet – 1971 noch bei fast 26 Prozent lag, fiel dieser kontinuierlich bis auf etwas über 10 Prozent in den 2000er Jahren (Ruiz/Boccardo 2014: 45). Die Diktatur hatte allerdings nicht nur Auswirkungen auf den industriellen Bereich. So wurde die chilenische Landwirtschaft von der Produktion für den Binnenmarkt auf den Export von landwirtschaftlichen Gütern ausgerichtet, was insbesondere für den Anbau von Obst gilt (Saldaña 2019: 155 ff.). Dies ging einher mit dem Abbau von Rechten der Beschäftigten, der Zerschlagung kollektiver Organisationen und der Einführung von Strategien des Outsourcings, was die Prekarität der Landarbeit enorm steigerte (ebd.). All diese Dynamiken dauern bis heute fort (ebd.: 166). Die Arbeitslosigkeit stagnierte dauerhaft bei etwa 15 Prozent (Gárate 2016: 224, 227) und die Beschäftigtenstruktur spiegelte eine Deindustrialisierung, Proletarisierung und Prekarisierung sowie eine Tertiarisierung der Wirtschaft wider. Der Anteil der in der Landwirtschaft Tätigen fiel seit den 1970er Jahren stetig von rund 19 Prozent auf etwa 10 Prozent in den 2000er Jahren ab (Ruiz/Boccardo 2014: 45). Währenddessen stieg die Beschäftigung im Dienstleistungsgewerbe stetig an (ebd.). Zudem ließen sich laut Ruiz/Boccardo etwa von 10 bis 12 Prozent der Erwerbstätigen als dauerhafte »grupos marginales« (marginale Gruppen) sprechen, die nicht in formelle Arbeitsmärkte integriert sind (ebd.: 45, 68). All dies sind Zeichen einer seit der Diktatur kontinuierlich andauernden Produktion einer »strukturellen Überbevölkerung«. Die damit einhergehende Urbanisierung der chilenischen Gesellschaft führte zu keiner breiten, abgesicherten und dauerhaften Integration der in die Städte gewanderten Familien in Lohnarbeitsverhältnisse, sondern zum Aufkommen neuer bedarfsökonomischer Aktivitäten und einem gesteigerten sozialen Sprengstoff in den Städten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Diktatur zu einer breiten Proletarisierung und Prekarisierung auf dem Land und zur Zerstörung der neu erwachsenden ländlichen Bedarfsökonomie mit ihren politischen Organisationen führte. Die gleichzeitige Deindustrialisierung, Privatisierung und der Abbau öffentlicher Beschäftigung sowie die Zerschlagung der Arbeiterbewegung führten insgesamt zu geringen Möglichkeiten auf dem formellen Arbeitsmarkt und so entstand eine breite Masse an marginalisierten Arbeitslosen sowie der prekären Landarbeiter*innen und Dienstleister*innen. Schließlich muss die chilenische Diktatur als Projekt verstanden werden, das die Profitabilität des Kapitals in ungeahntem Maße steigerte, die Aktivitäten auf die extraktiven Branchen ausrichtete sowie eine dauerhafte strukturelle Überbevölkerung schuf (Taylor 2002: 53).Footnote 21

Die Transition zur Demokratie – Das chilenische Pulverfass

Die Transition zur Demokratie in Chile, die mit einem großen Referendum im Jahre 1988 begann, bei dem eine weitere Amtszeit von Augusto Pinochet bis 1997 von einer Mehrheit der Chilen*innen abgelehnt wurde, entpuppte sich bald als ein Projekt der Eliten (Ruiz/Boccardo 2014). Diese wollten einen möglichst stabilen Übergangsprozess garantieren, der durch ein hohes Maß an politischer, kultureller und vor allem wirtschaftlicher Kontinuität sowie den Ausschluss von wichtigen oppositionellen Akteuren und sozialen Bewegungen beinhalten sollte (ebd.). Patricio Aylwin der Concertación de Partidos por la Democracia wurde zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten nach der Diktatur und leitete die Transition zur Demokratie nach dem Prinzip der »Demokratie der Übereinkommen« ein.Footnote 22 Eine Konfrontation mit den alten Eliten wurde vermieden (Fischer 2011: 174). Die Wirtschaft wuchs in den 1990er Jahren um jährlich durchschnittlich 6 Prozent, ihre Gesamtleistung sowie die Exporte verdoppelten sich, die ausländischen Direktinvestitionen stiegen von 660 Millionen US-Dollar im Jahr 1990 auf fast 8,8 Milliarden im Jahr 1999 und die Staatsverschuldung ging von 43 auf 13,7 Prozent zurück (Gárate 2016: 382 f.).Footnote 23 Die Armut war konstant rückläufig und sank von 45 Prozent Ende der 1980er Jahre auf 21,7 Prozent Ende der 1990er (ebd.: 385). Gleichzeitig blieb die soziale Ungleichheit auf gleichem Niveau und die Arbeitslosigkeit schwankte dauerhaft zwischen 6 und 9 Prozent (ebd.: 383).

Mit den folgenden Mitte-Linksregierungen, die zumindest Veränderungen hin zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen und der Bekämpfung der Armut anstrebten und einige Sozialprogramme einführten, änderte sich weder die soziale Ungleichheit noch die Ausrichtung der Wirtschaft in relevantem Maße, weshalb auch von einem »rosa Neoliberalismus« gesprochen wurde (Fischer 2011: 177). Die Arbeitsgesetzgebung mitsamt des Streikrechts der Diktatur wurde unter den demokratischen Regierungen weiterhin restriktiv gestaltet, weshalb die Möglichkeiten der Gewerkschaften zur sozialen Mobilisierung dauerhaft eingeschränkt waren (Salazar 2017: 309–315). Die 1990er Jahre lassen sich als eine Zeit der aus der Diktatur übernommenen politischen Lähmung, der Despolitisierung und der politischen Inaktivität des einfachen Volkes beschreiben (Moulian 2002). Die Wahlbeteiligung – gerade unter den jungen Menschen – war deutlich rückläufig (Gárate 2016: 414). Die Kultur der Diktatur, die Skepsis gegenüber den Parteien, der politische Klientelismus und die eingeschränkte Öffentlichkeit, in der über Politik nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde, wirkten noch fort (Larraín 2014: 205–209; Matamala 2015: 339 f.).

Mit dem Boom der Wirtschaft ab den 1990er Jahren kam lediglich ein Teil der bessergestellten Lohnabhängigen der Städte wirklich zu einem angenehmeren Leben (Arboleda 2020: 75 ff.).Footnote 24 Auf der anderen Seite standen nach wie vor die großen prekären Massen (Larraín 2014: 215). Für die meisten bedeuteten die 1990er Jahre auch weiterhin Prekarität und Verschuldung. Dennoch strebte die Mehrheit danach, an einer sich durchsetzenden »peripheren imperialen Lebensweise« und am expandierenden kapitalistischen Sektor teilzuhaben (Moulian 2002; Landherr/Graf 2019). Das Wachstum der 1990er war in Bezug auf formelle und dauerhafte Beschäftigung allerdings eine Form des jobless growth. Die meisten neuen Tätigkeiten waren prekäre und zeitlich befristete Beschäftigungen, informelle Arbeit und Jobs im Dienstleistungssektor. 71 Prozent der neu entstandenen Arbeitsplätze entfiel auf selbständige Beschäftigung (Salazar 2017: 268 f.). Ein konstanter Anteil von 10 Prozent der Erwerbsbevölkerung, der sich in absoluten Zahlen seit den 1980er Jahren auf fast 750.000 Menschen verdoppelt hat und welcher sich aus Teilen des Kleinhandels, Dienstleistungstätigkeiten und Teilen der Hausangestellten zusammensetzt, wird als dauerhaft marginalisierter Teil der chilenischen Bevölkerung betrachtet (Ruiz/Boccardo 2014: 69).

Wollten die ärmeren Bevölkerungsteile an der Versprechung des kommodifizierten Massenkonsums teilhaben, die vom kapitalistischen Sektor ausging, mussten sie sich verschulden. Die späten 1980er und 1990er Jahre waren durch eine Zunahme des Imports von Konsumprodukten aus den USA und Europa sowie der Entstehung großer Kaufhäuser und Shoppingmalls gekennzeichnet, zu denen mittels der Verschuldung auf Basis von Kreditkarten auch diejenigen Zugang bekommen sollten, die sich diese Konsumprodukte längst nicht leisten konnten (Moulian 2002: 100–114). Die Privatverschuldung der chilenischen Haushalte wurde seit der Militärdiktatur in zunehmendem Maße zu einem Geschäft. So machte der spätere chilenische Präsident Sebastián Piñera – kaum von seinem Studium aus den USA zurückgekehrt – ein Millionenvermögen mit der Vergabe von Kreditkarten durch sein Unternehmen Bancard, das er 1976 gründete und das ihn zu einem der reichsten Personen Chiles machte. Sein während der Militärdiktatur erworbener Reichtum, seine enge Verbindung zur besitzenden Klasse Chiles, seine Präsidentschaft und seine vielfach dubiosen Geschäftstätigkeiten brachten ihm international den Ruf des »Berlusconi Chiles« ein.Footnote 25 Gleichzeitig stürzte das Kreditkartengeschäft einen großen Teil der chilenischen Bevölkerung in eine unentrinnbare Schuldenfalle.Footnote 26 So beliefen sich die Schulden ärmerer Familien schon bald auf das doppelte und dreifache ihrer Monatseinkommen (Moulian 2002: 101 f.). Diese Median-Verschuldungsraten wuchsen Ende der 2000er Jahre – je nach sozialer Gruppe – auf das sieben- bis neunfache des Monatseinkommens (Salazar 2017: 370 f.).

Das Versprechen der Concertación-Regierungen auf soziale Integration der einfachen Bevölkerung in das neoliberale Modell sollte allerdings nicht nur durch Verschuldung, sondern auch durch Bildung bewerkstelligt werden. Die Bildungsexpansion der 1990er und 2000er Jahre untermauerte die Hoffnung auf individuellen Aufstieg vieler Chilen*innen in Stadt und Land. Die Regierungen der 1990er und 2000er Jahre versuchten ein wirtschaftliches upgrading durch eine quantitative und qualitative Verbesserung der Bildung zu erreichen. Zwar begünstigte dies in den 2000er Jahren die Ausbreitung von Dienstleistungen höherer Wertschöpfung, allerdings dauerte diese Dynamik nur eine gewisse Zeit an (Schneider 2013: 176). Spätestens in den 2010er Jahren wurde deutlich, dass ein großer Teil auch der hochqualifizierten Arbeitskräfte auf keine ausreichende Nachfrage auf den Arbeitsmärkten stieß (ebd.). Die chilenische Wirtschaft benötigt diese Menge an qualifizierten Arbeitskräften schlichtweg nicht (PNUD 2017: 21). Die starke Verengung des chilenischen Arbeitsmarktes nach oben – bei qualifizierteren und besser bezahlten Tätigkeiten – wurde hier ein weiteres Mal deutlich. Die Folge war akademische Arbeitslosigkeit und eine Prekarisierung der qualifizierten Tätigkeiten.

Die chilenische Geschichte ist durch ein ständiges Pendeln zwischen der Ausweitung der wirtschaftlichen Ressourcen des kapitalistischen und des bedarfsökonomischen Sektors gekennzeichnet: Immer wieder kommt es zu breiten Prozessen der Enteignung bedarfsökonomischer Akteure. Vor allem die sozialistische Regierung Allendes bildete jedoch eine Gegenbewegung und führte zu größeren Wiederaneignungen produktiver Ressourcen durch die zuvor Enteigneten. Darauf folgt schließlich die massive und umfassende Welle der Enteignungen und Privatisierungen im Rahmen der Militärdiktatur. Die 1990er Jahre sind durch das soziale Versprechen der individuellen Integration in die periphere imperiale Lebensweise des westlichen Konsumismus und in den kapitalistischen Sektor durch Lohnarbeit, Privatverschuldung, Konsum und Bildung gekennzeichnet (Moulian 2002: 104). Doch die soziale Wirklichkeit der Mehrheit der Chilen*innen ist prekäre Arbeit, Arbeitslosigkeit und extreme Privatverschuldung. Die in der chilenischen Geschichte wiederholt Enteigneten konnten abermals nicht dauerhaft in den kapitalistischen Sektor integriert werden. Die Kluft zwischen Versprechen und Realität ist ein Treiber sozialen Unmuts. Dies transformierte die chilenische Gesellschaft allmählich in ein soziales Pulverfass, das in den 2000er Jahren an unterschiedlichen Stellen erste soziale Proteste zeitigte und Ende der 2010er Jahre endgültig explodierte (siehe Abschnitt 4.1.6). Die Tiefenstrukturen, die dem chilenischen Pulverfass zugrundeliegen, bestehen in der neoliberalen und extraktivistischen Ausrichtung der Wirtschaft. Auf deren heutige Verfassung werde ich im Folgenden kurz eingehen.

4.1.3 Der chilenische Extraktivismus heute: besitzende Klasse, Überbevölkerung und ökologische Krise

Durchquert man das langgestreckte Chile von Norden her, fährt man zunächst durch weite Wüsten. In den kargen Hügellandschaften und Bergen des Nordens lagern die Schätze der chilenischen Wirtschaft: Gold, Silber, Lithium und Kupfer. Heute ist Chile der größte Kupferexporteur der Welt.Footnote 27 In großen Minen wie Chuquicamata, Escondida oder Los Bronces bauen Bergbauunternehmen wie das staatliche Codelco, aber auch internationale Konzerne wie der australische BHP, das britische Anglo-American oder das japanische Nippon Mining und viele andere Kupfer für die internationalen Märkte ab. Zwar dominieren die ausländischen Unternehmen die Branche, sie sind allerdings eng mit den chilenischen Bergbauunternehmen verbunden. Besonders bedeutend ist hier die Gruppe Luksic, die alleine 8 Prozent der chilenischen Kupferproduktion kontrolliert (Correa 2016: 27 ff.). Kleinere und mittlere Unternehmen spielen in dem Sektor kaum eine Rolle (Landherr 2022). Einerseits macht der Bergbau mit rund 53 Prozent einen Großteil der chilenischen Exporte ausFootnote 28 und aufgrund dieses Gewichts der Branche bestimmt er auch die Dynamik der heimischen Wirtschaft, andererseits kommt es zu einer großen Konzentration der natürlichen Ressourcen in wenigen Händen. So verfügen die Bergbauunternehmen über einen großen Teil der Wasserrechte im Norden des Landes und haben Flächen von insgesamt knapp 40 Prozent des gesamten chilenischen Territoriums konzessioniert.Footnote 29 Damit kommt den Bergbauunternehmen in Chile eine erhebliche territoriale Macht zu (Landherr/Graf 2022). Ein Großteil der sozialökologischen Konflikte um Wasser und Verschmutzung durch Industriemüll sind diesem Sektor geschuldet (Landherr 2022).

Erreicht man von Norden aus Zentralchile, so fallen die grünen Plantagen der Avocadoproduktion und der Weintrauben an den ansonsten kaum mehr bewachsenden steinigen Hängen der Hügel sowie die grünen, gut bewässerten Plantagen in den Tälern auf, wo Obst angebaut wird. Hier sticht die enorme Konzentration von Wasserrechten und der landwirtschaftlichen Nutzflächen direkt ins Auge, die in der Militärdiktatur geschaffen wurde (Oxfam 2016: 25; Landherr/Graf/Puk 2019). Tierische Produkte und Lebensmittel machen 2019 rund 27 Prozent der chilenischen Exporte aus.Footnote 30 Während im zentralen Chile die fruchtbaren Böden liegen, die für den Export von Lebensmitteln genutzt werden, umgeben weiter im Süden kilometerlange Forstplantagen die Fernstraßen. Hier werden Kiefern und Eukalyptusbäume für die Zellstoffindustrie gepflanzt (Klubock 2014: 2). Es sind schnell wachsende Arten, die vor Ort große Mengen an Wasser benötigen und Chile international zu einem wichtigen Exporteur von Zellstoff und Forstprodukten machen. Holz- und Forstprodukte machen 2019 über 8 Prozent der chilenischen Exporte aus.Footnote 31 Die Branche der Forstindustrie – auf die ich in Abschnitt 4.2 noch genauer eingehen werde – ist ebenfalls hoch konzentriert und wird wesentlich von den Familien Matte und Angelini dominiert (Graf 2019c).

Einige hundert Kilometer weiter im Süden liegen in den Meeresbuchten große Käfige der Lachsindustrie. Der Fisch wird frisch für die internationalen Märkte – vor allem in den USA, in Japan und in der EU – verpackt und macht rund 5 Prozent der chilenischen Exporte aus (Fischer 2010: 102 f.). In der Militärdiktatur wurde die industrielle Fischzucht gefördert und insbesondere ab den 1990er Jahren strömten große Mengen ausländischen Kapitals in die Branche, was sie seither stark wachsen ließ (ebd.: 105). Chile ist heute der zweitgrößte Lachsproduzent weltweit.Footnote 32 Zehn große Unternehmen konzentrieren heute fast den gesamten Sektor auf sich (ebd.: 105 f.). Vor Ort ist die Industrie jedoch fortwährender Kritik ausgesetzt. Die Fischzucht verunreinige Flüsse, verschmutze die Küstengewässer mit Medikamenten und Exkrementen aus den Zuchtkäfigen, verringere die lokalen Fischbestände und treibe Fischplagen voran (ebd.: 103 f.). Im Zuge eines massenhaften Fischsterbens, das der Lachsindustrie zur Last gelegt wurde, kam es im Jahr 2016 zu wochenlangen Protesten und zur Abriegelung des Inselarchipels Chiloé durch die lokale Bevölkerung (Mondaca 2021; Moreno/Ponce 2021).

Von Nord nach Süd ist Chiles Landschaft, seine Hügel, Täler, Berge, Flüsse, Seen und Meeresbuchten durch die extraktiven Aktivitäten des kapitalistischen Sektors geprägt. Laut der CEPAL stellten Primärgüter im Jahr 2019 knapp 86 Prozent aller chilenischen Exporte dar (CEPAL 2021: 44). Andere Quellen gehen von einem Anteil der rohstoffbasierten Exportprodukte von 87 Prozent der gesamten Ausfuhren aus (Barriga et al. 2022: 5).Footnote 33 Während geringfügig verarbeiteten und unverarbeiteten chilenischen Exportprodukten basierend auf natürlichen Ressourcen ein stetig wachsender Weltmarktanteil zukommt, stagnieren die Exporte industrieller Fertigung mit hohem oder höherem Technologieeinsatz seit vielen Jahren (Fischer 2011: 144). Die abhängige Position Chiles im Weltmarkt wird darüber hinaus daran deutlich, dass Chile deutlich mehr Kapitalgüter importiert als exportiert.Footnote 34

Von dem auf Ausbeutung der Natur basierenden »extensiven und außenorientierten Akkumulationsregime« (Becker/Jäger/Musacchio 2002: 40 f.) in Chile profitieren vorwiegend eine kleine »besitzende Klasse« und transnationale Unternehmen.Footnote 35 Die Vermögen und Einkommen aus der Finanzbranche, dem Handel, den produktiven Sektoren sowie der Landwirtschaft genauso wie das Eigentum an Grund und Boden, Wasser und Energie sind in wenigen Händen konzentriert (Pizarro 2020: 340). Die heutige besitzende Klasse Chiles hat zwar eine lange Geschichte, gleichzeitig lebte sie unter der Militärdiktatur, die sie subventionierte, mit günstigen Krediten versorgte und von Steuern befreite, neu auf (Fischer 2011: 117). Die besitzende Klasse war in hohem Maße Gewinner der Privatisierungswellen. 1987 waren schon 75 Prozent der chilenischen Aktiengesellschaften unter der Kontrolle von nur sieben Unternehmerfamilien (Fischer 2011: 119). Heute wird die besitzende Klasse Chiles auf etwa 500 Haushalte geschätzt, die mittels ihrer Familienkonglomerate große Teile der einheimischen Wirtschaft sowie des Exports kontrolliert (Fischer 2011: 150 ff.; Matamala 2015; Landherr/Graf 2017). Sie bilden das 0,01 Prozent der Bevölkerung, auf das etwa zehn Prozent des Nationaleinkommens entfallen (Matamala 2015: 27; López et al. 2013: 28 f.). Die wirtschaftlich herrschende Klasse überschneidet sich stark mit der politisch herrschenden Klasse des Landes (Matamala 2015: 136–146, 277 ff.; Landherr/Graf 2017: 578 ff.).

Die enorme Bedeutung der besitzende Klasse in Chile resultiert aus einer stark konzentrierten und zentralisierten Ökonomie. Mitte der 2000er Jahre machten die Umsätze der größten 63 Unternehmen in Chile schon fast 90 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus (Schneider 2009: 561). Skaleneffekte, Risikostreuung, Unternehmensverflechtungen und politischer Einfluss ermöglichen die Beständigkeit und den ökonomischen Erfolg der chilenischen Unternehmenskonglomerate (Fischer 2011: 157 ff.). Laut Karin Fischer sorgen die Unternehmenskonglomerate für etwa zwei Drittel aller Umsätze auf dem Binnenmarkt und für 95 Prozent aller chilenischen Exporte (ebd.: 150). Darüber hinaus kontrollieren sie 85 Prozent der an der Börse gehandelten Werte sowie 70 Prozent der an der Börse notierten Unternehmen. Dabei besitzen die Großaktionär*innen relevante Anteile an den chilenischen Unternehmen, sodass Eigentum mit Kontrolle und Leitung einhergeht (ebd.). Die Folge sind in einer pyramidalen Struktur hierarchisch integrierte Unternehmensnetzwerke, deren Aktivitäten sich über unterschiedliche Branchen und Geschäftsbereiche entspannen und die sich meist im Eigentum einer bestimmter Familie befinden (Ossandon 2013: 42, 44 f.). Die von der chilenischen besitzenden Klasse kontrollierten Unternehmenskonglomerate halten zudem häufig Quasimonopolstellungen auf den Binnenmärkten, die sie durch Preisabsprachen und Marktmacht absichern (Matamala 2015: 30; Garín 2017). Die besondere Macht großer Unternehmen über Rohstoff-, Zulieferer-, Abnehmer- und Arbeitsmärkte kann im Anschluss an Ben Ross Schneider (2013) als »hierarchischer Kapitalismus« begriffen werden. Er sei gekennzeichnet durch einen großen Einfluss der Familienkonglomerate auf die Politik, schwache Institutionen, vermachtete Märkte und prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Der komparative Kostenvorteil dieses Typus von Kapitalismus auf den internationalen Märkten liege im Export von gering verarbeiteten Rohstoffen (Schneider 2013: 7 f., 16).

Aber nicht nur die Bereiche der Extraktion von und des Handels mit Rohstoffen sind stark konzentriert. Dies trifft auch auf sämtliche Bereiche des Binnenmarktes zu und reicht von Monopolisierungstendenzen bei der Lebensmittelproduktion, im Handel mit Medikamenten und dem Markt für Toilettenpapier bis hin zur Monopolisierung sozialer Infrastrukturen (Matamala 2015: 30; Garín 2017; Pizarro 2020: 337FN). Auf den Binnenmärkten Chiles herrscht kaum Konkurrenz, sondern Preisabsprachen und hierarchische Verhältnisse zwischen großen und kleinen Unternehmen (Graf 2021a). Laut Daniel Matamala zeigten unabhängige Studien, dass die Chilen*innen durchschnittlich die Hälfte ihrer Ausgaben in Märkten tätigen, auf denen von »fehlender Konkurrenz« oder von Preisabsprachen auszugehen sei. So schätze die Fiscalía Nacional Económica – die Einrichtung des chilenischen Staates für die Überwachung der freien Konkurrenz –, dass die Endkonsument*innen beispielsweise beim Kauf von Gas rund 15 Prozent mehr zahlen müssen, als dies bei freier Konkurrenz der Fall sei (Matamala 2022). Der Markt für Gas, den sich die chilenischen Unternehmen Lipigas und Gasco untereinander aufteilen, ist allerdings längst nicht der einzige Markt, der von Monopolbildung betroffen ist (Garín 2017). Die Folge ist eine »asymmetrische Kommodifizierung«, bei der sich die Großunternehmen die Einkommen der einfachen Leute über erhöhte Preise aneignen (Landherr/Graf 2017: 575; Graf 2021a: 706 f.).

Durch ihre große wirtschaftliche Bedeutung kommt den Familienkonglomeraten, die häufig eng mit transnationalen Unternehmen zusammenarbeiten, eine bedeutende »strukturelle Macht« zu (Landherr/Graf 2017: 572 ff.). Darüber hinaus bestehen zwischen den Mitgliedern der kleinen besitzenden Klasse durch Arbeitgebervereinigungen, Branchenverbände, Privatschulen sowie in den Parteien und durch Lobbying und Think Tanks enge formelle und informelle Verbindungen (Fairfield 2010: 49 ff.; Fischer 2011: 160 f.). Zudem stehen viele Unternehmen durch Eigentumsverflechtungen und Netze gegenseitiger Beteiligungen sowie familiäre Beziehungen der Eigentümer*innen in engem Kontakt zueinander (Ossandón 2013: 44 f.). Außerdem kommt es zu einem nahen Verhältnis zwischen besitzender Klasse und Politik (Fischer 2011: 160 f.; Matamala 2015: 136–146). Dadurch und durch eine Reihe weiterer Machtressourcen – wie der institutionellen und informellen Macht, aber auch ihres Einflusses auf die nationalen Medien – gelingt es der besitzenden Klasse Chiles, ihre Machtposition und das wirtschaftliche Modell bis heute zu erhalten (Fairfield 2010; Landherr/Graf 2017). All dies führt zu einer Kontinuität in der staatlichen Politik, die die Interessen der besitzenden Klasse wahrt.

Der enormen Konzentration wirtschaftlichen Reichtums stehen allerdings große sozialökologische Kosten gegenüber. So ist die Mehrheit der Chilen*innen von den Einnahmen der Geschäfte mit den Rohstoffen auf dem Weltmarkt ausgeschlossen. Grund dafür ist nicht zuletzt, dass die extraktivistischen Branchen nur in geringem Maße Beschäftigungseffekte erzielen. Beispielsweise sind – wie schon angesprochen – trotz der großen wirtschaftlichen Bedeutung der Branche unter zwei Prozent der chilenischen Erwerbsbevölkerung im Bergbau beschäftigt. Die wenigen direkten Festangestellten des chilenischen Bergbaus, in dem die meisten prekär in Subunternehmen tätig sind, bilden zudem eine eigene soziale Klasse der im chilenischen Vergleich privilegierten, sozial abgesicherten Beschäftigten, deren Löhne diejenigen vieler anderer Bereichen um das Drei- bis Vierfache übersteigen (Salazar 2017: 293).Footnote 36 Die chilenische Beschäftigungsstruktur spiegelt insgesamt die ausbleibende Verteilung des Reichtums der extraktiven Branchen und die Exklusion breiter Teile der Bevölkerung wider. Im Jahr 2020 arbeiteten laut Schätzungen der ILO unter 10 Prozent der chilenischen Beschäftigten im industriellen Fertigungsbereich, 8,8 Prozent in der Landwirtschaft, 8,4 Prozent im Bausektor und gleichzeitig über 40,7 Prozent in privaten Groß- und Kleinhandel, Transport und unternehmensbezogenen Dienstleistungen sowie 28,4 Prozent in öffentlicher Verwaltung, öffentlichen Diensten und anderen staatlichen Aktivitäten.Footnote 37 Fast 70 Prozent der lohnabhängig Beschäftigten sind im prekären Dienstleistungsbereich tätig (Durán/Narbona 2021: 215). Unter anderem aufgrund dieser Beschäftigungsstruktur trägt der Extraktivismus in Chile kaum zu einem trickle down-Effekt der großen Erlöse in die breite Bevölkerung bei, was sich an der – oben dargestellten – massiven sozialen Ungleichheit in Chile ablesen lässt. Eine weitere Folge ist, dass ein großer Teil der ökonomischen Aktivitäten der einfachen Bevölkerung im bedarfsökonomischen Sektor stattfindet. Dieser Sektor gerät im Zuge der zunehmenden ökologischen Krisen allerdings immer stärker unter Druck. Das gilt vor allem in ländlichen Gebieten.

Aber nicht nur die Einkommen sind in extraktivistischen Ländern in der Regel äußerst ungleich verteilt. Dies gilt auch für die natürlichen Ressourcen. Die extraktivistische Ausrichtung der Wirtschaft verschärft vor allem die Konkurrenz um Land und Wasser. Seit jeher ist die Landverteilung in Lateinamerika extrem ungleich. Gemäß Zahlen aus den 1990er Jahren waren 90 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche in der Hand von Großgrundbesitzen, die insgesamt nur 26 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe ausmachen (Veltmeyer 2005: 290). 60 Prozent der ländlichen Haushalte waren arm (ebd.: 291). Gleichzeitig ist der Kampf für Land seit jeher wesentlicher Bestandteil politischer Bewegungen in der Region (ebd.: 285). Dass sich diese Situation seit den 1990er Jahren kaum geändert hat, sieht man im heutigen Chile. Wie schon oben angesprochen, gehören heute fast 75 Prozent der chilenischen landwirtschaftlichen Nutzfläche nur einem Prozent der Grundbesitzer*innen (Oxfam 2016: 25). Die Folge sind vielfache Landkonflikte. Dies hat einerseits mit dem Aufleben der Bewegung der Mapuche Ende der 1990er Jahre zu tun und andererseits mit einem seit den 1990er Jahren allmählich steigenden politischen Selbstbewusstsein auf dem Land.

Neben der sozialen Exklusion und der ungleichen Landverteilung bedeutet die extraktivistische Ausrichtung der Wirtschaft enorme Interventionen in die ökologischen Kreisläufe. Dies lässt sich besonders am Beispiel des Wassers verdeutlichen. Der Bergbau benötigt in einer der trockensten Regionen der Welt große Mengen der knappen Ressource, die industrielle Landwirtschaft bohrt immer tiefere Brunnen, die Forstwirtschaft pflanzt schnell wachsende Baumarten in kilometerlangen Plantagen, die die Bäche austrocknen und das Regenwasser absorbieren und die Lachsindustrie verschmutzt die Flüsse und Meere. All dies führt insbesondere in Zeiten voranschreitender Trockenheit und den immer deutlicher werdenden Folgen des Klimawandels zu einer wachsenden ökologischen Schieflage. Im Zuge steigender Temperaturen schmelzen in den Anden die Gletscher.Footnote 38 Die Flüsse und Bäche werden zu kleinen Rinnsalen. Hitzewellen und Rekordtemperaturen überschlagen sich in Lateinamerika in den letzten Jahren (OMM 2022: 20). Das führt zu großflächigen Waldbränden (ebd.: 20 f.).Footnote 39 Zentralchile ist seit 2009 von der schlimmsten Dürre der letzten tausend Jahre betroffen, was zu einem umfassenden Wassermangel in der Region führt (ebd.: 18). All dies trägt zudem zum Waldsterben bei und führt zu sinkenden Erträgen der Landwirtschaft und damit längerfristig zu einer Gefährdung der Ernährungssicherheit der Länder Lateinamerikas (ebd.: 22 ff.).

Die Grenze der Wüstenbildung verschiebt sich in Chile jährlich kilometerweit aus den Wüsten und Steppen des Nordens Richtung Süden. Zehntausende landwirtschaftliche Nutztiere verendeten in den letzten Jahren aufgrund von Trockenheit und Wassermangel.Footnote 40 In 231 Kommunen und neun Regionen Chiles gilt Anfang 2022 der landwirtschaftliche Ausnahmezustand.Footnote 41 Aber auch die chilenischen Städte sind immer stärker von Trinkwasserausfällen betroffen (Tamayo/Carmona 2019: 191 f.). Die Folge ist, dass die extraktiven wirtschaftlichen Aktivitäten des kapitalistischen Sektors immer stärker mit dem bedarfsökonomischen Sektor um ökologische Ressourcen konkurrieren. Für die Betroffenen ist häufig klar, dass das Problem nicht nur an der Wasserknappheit liegt, die das Problem deutlich verschärft, sondern auch an den extraktiven Aktivitäten großer Unternehmen und der industriellen Landwirtschaft sowie am Management der privatisierten Ressource, für deren Verteilung der Staat keine durchdachte Infrastruktur zu Verfügung stehe (Tamayo/Carmona 2019: 192 f.). Immer wieder finden deshalb Konflikte um knappe Wasserressourcen zwischen kleinbäuerlichen Landwirt*innen und den großen landwirtschaftlichen Exportunternehmen, die große, tiefe Brunnen bohren oder ganze Flüsse umleiten, um an Wasser für die Produktion von Kiwis, Tafeltrauben, Mandarinen, Avocados oder Pflaumen für die Weltmärkte zu kommen (Tamayo/Carmona 2019: 187–194). Wiederholt kommt es zu direkten Aktionen, in denen lokalen Bewohner*innen Dämme zerstören, die das Wasser umleiten und dadurch Flüsse und Seen austrocknen, um die eigene Landwirtschaft wieder mit Wasser zu versorgen.Footnote 42

Um die breiten sozialökologischen Konflikte, die jede der vier großen extraktivistischen Branchen – Bergbau, Land- und Forstwirtschaft sowie Lachsindustrie – betreffen und die aus der sozialen Exklusion und der ökologischen Zerstörung durch den chilenischen Extraktivismus resultieren, zu verstehen, ist es nötig, die spezifische soziale Reproduktion der Mehrheit der chilenischen Privathaushalte sowie die Rolle, die dem bedarfsökonomischen Sektor dabei zukommt, zu betrachten. Im Folgenden lege ich deshalb die Grundstrukturen der chilenischen Bedarfsökonomie und die zentralen sozioökonomischen Überlebensstrategien der einfachen Haushalte in Chile dar.

4.1.4 Prekarität als gesellschaftliche Normalität und die Bedeutung des bedarfsökonomischen Sektors

Chile ist eine »prekäre Gesellschaft« (Julián 2021), in der kurze, häufig ungesunde und unsichere Arbeitsverhältnisse, niedrige Löhne, mangelhafte Altersvorsorge sowie Abhängigkeiten und Intransparenz das Erwerbsleben kennzeichnen (Durán/Narbona 2021: 216–220). Die Bindung an ein Beschäftigungsverhältnis ist derart niedrig, dass selbst unter den Festangestellten die Hälfte durchschnittlich nicht länger als 15 Monate im gleichen Arbeitsverhältnis bleibt (ebd.: 215). Eine der Folgen der Prekarität der Beschäftigung im kapitalistischen Sektor ist es, wie ich im Folgenden zeigen werde, dass dem bedarfsökonomischen Sektor eine bleibende wirtschaftliche Rolle in der sozialen Reproduktion ärmerer Haushalte zukommt. Dafür werde ich erstens die chilenische Lohnarbeitsgesellschaft untersuchen, zweitens gehe ich auf die Bedeutung von Klein(st)betrieben und Selbständigen ein und stelle drittens die besonderen Bedingungen und Schwierigkeiten bedarfsökonomischer Akteure im heutigen Chile dar.

Arm trotz Arbeit: Die prekäre Lohnarbeitsgesellschaft

Die Integration der chilenischen Bevölkerung in Arbeitsmärkte nahm in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich zu. Der Anteil der Erwerbsbevölkerung an der Gesamtbevölkerung stieg seit den 1990er Jahren relativ konstant und liegt heute – je nach Angaben – zwischen 52 und 69 Prozent (MDS 2018a: 5; Páez/Sáez 2018: 19).Footnote 43 Dies liegt jedoch nahezu ausschließlich an der Erwerbsbeteiligung der Frauen, die sich seit Ende der 1970er Jahre auf fast 50 Prozent im Jahre 2019 verdoppelte.Footnote 44 Die Erwerbsbeteiligung der Männer ist hingegen seit Mitte des 20. Jahrhunderts eher rückläufig (Páez/Sáez 2018: 25). Insgesamt liegt die Erwerbsbeteiligung in Chile deutlich unter dem OECD-Durchschnitt (ebd.: 18 f.). Auch in konjunkturellen Hochphasen hielt der Anstieg von Beschäftigung und Löhnen keinesfalls mit dem Wirtschaftswachstum mit (ebd.: 29). Außerdem ist die Erwerbsbeteiligung in hohem Maße abhängig von der ökonomischen Stellung eines chilenischen Haushalts. Während im untersten Einkommensdezil auch heute noch nur 33,4 Prozent der Menschen erwerbstätig ist, beläuft sich diese Zahl im obersten Dezil auf 78,8 Prozent (MDS 2018a: 12). Dies gilt in besonderem Maße für Frauen. So steht die Erwerbsbeteiligung im untersten Einkommensdezil mit nur 26,7 Prozent der Frauen in Kontrast zu den 72,1 Prozent der erwerbstätigen Frauen im obersten Einkommensdezil (MDS 2018a: 14). Der offizielle Anteil der wirtschaftlich aktiven Frauen ist mit nur 32,1 Prozent zudem auf dem Land besonders niedrig (ebd.: 21),Footnote 45 obwohl Frauen seit Ende des 20. Jahrhunderts massiv in flexible Beschäftigungsverhältnisse der Exportlandwirtschaft integriert wurden (Saldaña 2019: 156 ff.). Frauen sind – dies legen die Zahlen nahe – heute in unteren Einkommensgruppen und stärker im ländlichen Raum in hohem Maße in informellen Tätigkeiten oder in der Subsistenzproduktion aktiv. Letzteres gilt für Erwerbstätige in ruralen Gebieten auch unabhängig vom Geschlecht. Chiles Arbeitsmärkte sind in der Folge hochgradig fragmentiert. Dies gilt nicht nur bezüglich der geschlechtlichen Kategorien oder der Differenzen zwischen Stadt und Land, sondern vor allem mit Blick auf soziale Unterschiede, die sich aus der Einkommenshöhe ergeben.

Die großen Unterschiede in den chilenischen Arbeitsverhältnissen je nach Einkommenshöhe lassen sich insbesondere mit Blick auf die Beschäftigungsverhältnisse der Lohnabhängigen veranschaulichen: Während in den oberen fünf Einkommensdezilen zwischen 70 bis 80 Prozent der Lohnabhängigen einen festen Arbeitsvertrag haben, sind es im untersten Einkommensperzentil weniger als 45 Prozent (MDS 2018a: 74). Ähnlich sieht es in Bezug auf die Informalität aus.Footnote 46 Während in den obersten vier Einkommensgruppen nur zwischen 5 bis 10 Prozent der Lohnabhängigen ohne Verträge beschäftigt sind, beläuft sich diese Zahl in den untersten drei Einkommensdezilen auf zwischen 20 und 40 Prozent (ebd.: 78). Die niedrigen Einkommen, die darüber hinaus die unsicheren Beschäftigungsverhältnisse begleiten, bedeuten, dass sechs von zehn Beschäftigten nicht genug verdienen, um einen vierköpfigen Haushalt über die Armutsgrenze zu heben (Durán/Kremerman 2019a: 3).Footnote 47 Die prekären Beschäftigungsverhältnisse haben zur Folge, dass sich große Teile der Privathaushalte verschulden müssen, um Produkte des täglichen Bedarfs zu erwerben (Durán/Narbona 2021: 217 f.). Die dargelegten Zahlen betreffen nur die Teile der Erwerbsbevölkerung, die lohnabhängig beschäftigt sind. Sie zeigen, dass es insbesondere mit Blick auf ärmere lohnabhängige Haushalte zu einer verbreiteten Prekarität kommt, die durch befristete Verträge und informelle Beschäftigung bedingte bedingt ist.

Eine relativ hohe Arbeitslosigkeit von 8 bis 10 Prozent ist ein dauerhaftes Phänomen der chilenischen Wirtschaft. Sie ist im urbanen Raum etwas höher als in ländlichen Regionen (MDS 2018c: 34) und betrifft in besonderem Maße Teile der Erwerbsbevölkerung mit abgebrochener höherer Bildung (ebd.: 41). Mit einer Arbeitslosigkeit von 29 Prozent (2017) ist jedoch das unterste Einkommensdezil am stärksten von Arbeitslosigkeit betroffen – die oberen Einkommensgruppen kommen lediglich auf eine Arbeitslosigkeit von zwei bis vier Prozent (MDS 2018a: 38). Die UnterbeschäftigungFootnote 48 liegt darüber hinaus relativ konstant bei fast 10 Prozent (MDS 2018c: 63). Auf der anderen Seite arbeiten diejenigen, die Beschäftigung finden, häufig sehr lange. So kommen männliche Beschäftigte zwischen 31 und 45 Jahren gewöhnlicherweise auf eine Wochenarbeitszeit von fast 65 Stunden (MDS 2018c: 62).

Die Einkommen eines großen Teils der Privathaushalte sind in Chile über breite Einkommensgruppen hinweg in hohem Maße von Prekarität betroffen (Blanco/Julián 2019). Gerade solche Haushalte der unteren Einkommensgruppen leiden unter niedrigen Einkommen, unsicheren und teilweise gesundheitsgefährdenden Beschäftigungsverhältnissen und teilweise an Unterbeschäftigung (ebd.: 118 f.; Saldaña 2019: 157, 165). Lohnabhängigkeit ist besonders in der Landwirtschaft und hier gerade für Frauen äußerst unsicher (Saldaña 2019). Außerdem sind viele Lohnarbeiter*innen atypisch beschäftigt und über Leiharbeitsfirmen angestellt oder werden per Stücklohn bezahlt, was deren Beschäftigungsunsicherheit – insbesondere durch Befristung und Saisonalität – erhöht (Julián 2014: 142 f.; Saldaña 2019: 156 f., 159 ff.). Gesteigert wird die Prekarität noch durch den Faktor der Informalität. Fast ein Drittel aller Erwerbstätigen arbeiten in der Informalität (Villanueva/Espinoza 2021). Für informell tätige Klein- und Kleinstunternehmer sowie informelle Beschäftigte besteht insbesondere das Problem der fehlenden Einzahlung in Gesundheits- und Arbeitslosenversicherungen sowie eines unsicheren Arbeitsumfeldes (Saldaña 2019: 158 f.; Blanco/Julián 2019: 119).

Die Fragmentierung des chilenischen Arbeitsmarktes lässt sich allerdings nicht nur an den Arbeitsverhältnissen, sondern auch an den großen Differenzen zwischen den Einkommen ermessen. Im Jahre 2017 verdiente ein Haushalt der ärmeren Bevölkerungshälfte pro Kopf durchschnittlich zwischen 160 und 360 Euro monatlich mit seiner wirtschaftlichen Hauptaktivität, wohingegen die Hauptaktivität eines Haushalt der obersten Dezile diesem rund 1740 Euro pro Person monatlich einbrachte (MDS 2018a: 94).Footnote 49 Andere Berechnungen ermitteln bei dem ärmsten Einkommensdezil nur ein pro Kopf Monatseinkommen von umgerechnet etwas über 82 Euro (MDS 2018b: 20). Gleichzeitig sind die chilenischen Lebenshaltungskosten mit denjenigen in Deutschland vergleichbar oder übersteigen sie noch.Footnote 50 Dies gilt insbesondere innerhalb des kapitalistischen und formellen Sektors, deren Produkte des täglichen Bedarfs wie Wasser, Strom, Miete, Transport und Lebensmittel genauso wie grundlegende soziale Einrichtungen im Bereich Gesundheit und Bildung in den letzten Jahren weitere Preissteigerungen verzeichneten (Albert/Miranda 2019). Die Preise des formellen kapitalistischen Sektors werden lediglich im Bereich des klein(st)betrieblichen und informellen Handels deutlich unterlaufen. Die hohen Lebenshaltungskosten gepaart mit niedrigen Einkommenshöhen durch die Hauptaktivitäten machen die ärmeren Haushalte abhängig von bedarfsökonomischen Lebensmittelmärkten, alternativen Nebeneinkünften und Sozialtransfers. Ein großer Teil der staatlichen Sozialtransfers fließt deshalb in die untersten Einkommensgruppen (NDS 2018b: 13). Die ärmsten 10 Prozent erhalten auf diese Weise 27,5 Prozent der gesamten monetären Sozialtransfers des Staates (ebd.). Haushalte, denen es gelingt die Armutsgrenze zu überschreiten, fallen in den Folgejahren häufig wieder darunter (Ruiz/Boccardo 2014: 70 f.), was zeigt, dass die sinkenden Armutszahlen keine stabile soziale »Entwicklung« wiedergeben.

Lohnarbeit stellt gerade für Frauen eine Doppelbelastung dar, da ihnen zugleich die Verantwortung der Kinderbetreuung und Sorgearbeit zugeschrieben wird (Saldaña 2019: 164 f., 167). Die Folge ist, dass Mütter ihre Kinder entweder mit auf die Arbeit nehmen – was in einigen Fällen Kinderarbeit begünstigt – oder ihre Kinder von Verwandten, Bezugspersonen aus dem sozialen Nahbereich oder bezahlten Dienstleister*innen betreuen lassen (ebd.: 164 f.). Diese Organisationsarbeit beziehungsweise Ausgaben für die Betreuung der Kinder stellen Opportunitätskosten dar, die sich im Falle von Selbständigkeit und Kleinstbetrieben verringern lassen. Frauen geben häufig an, dass ein Hauptgrund für die Wahl der Selbständigkeit die Vereinbarkeit von Arbeitstätigkeit und Pflege beziehungsweise Betreuung darstellt (MEFT 2020a: 2). Grund dafür ist vor allem die Tatsache, dass viele Klein(st)betriebe und Selbständige ihre ökonomische Aktivität im eigenen Wohnraum verrichten (INE 2019b: 101).

Die sozialen Unterschiede zwischen den chilenischen Erwerbstätigen lassen sich zudem entlang der Branchen differenzieren. Seit geraumer Zeit bilden die Verkäufer*innen in kleinen Läden und Kaufhäusern die größte Beschäftigtengruppe in Chile. Darauf folgt die Gruppe der Landarbeiter*innen und an dritter Stelle private Hausangestellte. Außer den Landarbeiter*innen stellen alle der zehn häufigsten Beschäftigtengruppen Dienstleistungsberufe dar. Unterschiedet man von der erstgenannten Beschäftigtengruppe noch die Verkäufer*innen in Kiosken und auf Märkten, kommt selbst diese Beschäftigtengruppe alleine mit fast 170 000 Erwerbstätigen auf Platz 8.Footnote 51 Die chilenische Wirtschaft ist, so bezeugen diese Zahlen, in enormem Maße durch Dienstleistungstätigkeiten geprägt. Im Kontrast zum Bergbausektor, wo der Medianlohn bei fast 700 Euro monatlich liegt, kommen die Beschäftigten im Einzelhandel und in der Industrie allerdings im Median nur auf etwa 375 Euro monatlich (Durán/Kremerman 2019a: 7).Footnote 52 Gleichzeitig sind gerade die Dienstleistungsberufe charakterisiert durch saisonale und konjunkturelle Unsicherheit, niedrige Löhne sowie kurzfristige Arbeitsarrangements. Dabei lassen sich mit Blick auf die Lohnhöhen keine relevanten Unterschiede nach Unternehmensgröße ausmachen. Auch die Löhne in den großen Unternehmen mit über 200 Beschäftigten übersteigen die allgemein niedrigen Löhne kaum.Footnote 53 Die Gesamtsituation der Prekarität und Informalität der Arbeit trägt dazu bei, dass nur ein geringer Anteil der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert ist. So sind von den abhängig Beschäftigten nur etwas über 12 Prozent Mitglied einer Gewerkschaft – Tendenz sinkend (MDS 2018c: 116).Footnote 54

Lohnarbeit ist allerdings längst nicht die einzige relevante monetäre Einkommensquelle der Chilen*innen. Vielmehr sind sie in sehr unterschiedlichem Ausmaß von Lohneinkommen abhängig. Während in den mittleren Einkommensdezilen über 70 Prozent der Erwerbstätigen in lohnabhängigen Arbeitsverhältnissen tätig sind, waren im untersten Einkommensdezil im Jahr 2017 nur etwas über zwei Drittel überhaupt in statistisch erfasste Erwerbstätigkeit integriert und von diesen wiederum nur 42 Prozent in lohnabhängigen Beschäftigungsverhältnissen aktiv (MDS 2018a: 38; MDS 2018c: 51). Zwar lässt sich feststellen, dass die Mehrheit der chilenischen Erwerbsbevölkerung auf die ein oder andere Weise in Lohnarbeit integriert ist, für einen Großteil ist dies allerdings längst nicht die einzige Einkommensquelle. Eine relevante Zahl an Lohnabhängigen wird durch eine bedeutende Zahl an Selbständigen ergänzt (Villanueva/Espinoza 2021). Zwischen 2014 und 2019 nahm in Chile die Zahl der Selbständigen jährlich um durchschnittlich 3,8 Prozent zu – gegenüber 1,6 Prozent Zunahme am Arbeitsmarkt der Lohnabhängigen (ebd.). Das Wachstum der lohnabhängigen Beschäftigten ging in diesem Zeitraum zudem maßgeblich auf öffentliche Beschäftigung zurück (ebd.). Gleichzeitig machen staatliche Sozialleistungen in den unteren Einkommensgruppen einen stetig steigenden Anteil der monetären Einnehmen aus.Footnote 55 Sie kamen im untersten Einkommensdezil im Jahr 2006 noch auf nur 27 Prozent und nahmen dann auf 45 Prozent der Gesamteinkommen dieser Gruppe im Jahr 2017 und fast 90 Prozent im Pandemiejahr 2020 zu (MDS 2021b: 48).Footnote 56 Die Haushalte der untersten Einkommensgruppen können sich folglich immer weniger auf die Einkommen durch Erwerbsarbeit verlassen und kompensierten dies zumindest partiell durch Sozialprogramme und -transfers.

Die hochgradig prekäre Lohnarbeit in Chile – so können wir schlussfolgern – ermöglicht keine dauerhafte Reproduktion der ärmeren Haushalte. Die Mehrheit der chilenischen Erwerbsbevölkerung ist darüber hinaus nicht in den extraktiven Branchen mit einer höheren Wertschöpfung aktiv, sondern in den Niedriglohnsektoren des Dienstleistungsbereichs. Unterbeschäftigung, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, niedrige Löhne und Informalität kennzeichnen die chilenischen Arbeitsmärkte (Páez/Sáez 2018; Blanco/Julián 2019). Dies macht chilenische Haushalte von alternativen Einkommensquellen und Sozialtransfers abhängig. Die Rolle informeller Nebeneinkünfte ist statistisch allerdings kaum untersucht und kann nur geschätzt werden. Aus den angeführten Zahlen wird allerdings deutlich, dass sich ärmere chilenische Haushalte zu wesentlichen Anteilen außerhalb des kapitalistischen Sektors reproduzieren. Dafür spielt – wie im Folgenden deutlich wird – der bedarfsökonomische Sektor eine bedeutende Rolle. Wirtschaftliche Aktivitäten finden in ihm vor allem innerhalb von Haushalten, Klein(st)betrieben und in Selbständigkeit statt und richten sich in der Regel auf lokale Märkte.

Die Bedeutung von Klein(st)betrieben und Selbständigen

Tabelle 4.1 Betriebstypen. (Quelle: Biblioteca del Congreso NacionalFootnote

URL: https://www.bcn.cl/leyfacil/recurso/estatuto-de-las-pymes, Zugriff: 23.9.2021. Eigene Darstellung und Berechnung in Euro mit Wechselkurs von 23.9.2021.

– Eigene Darstellung)

Die chilenische Ökonomie ist durch eine große Bedeutung von Selbständigen, kleinsten, kleinen und mittleren Unternehmen gekennzeichnet (Tabelle 4.1). Selbständige – die sogenannten cuenta propiasFootnote 58 – machen in Chile seit den 1990er Jahren einen schwankenden Anteil zwischen 20 und 30 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung aus. Während ihr Anteil zwischenzeitlich leicht rückläufig war und 2013 nur 21,8 Prozent ausmachte, stieg diese Zahl zuletzt wieder auf über 24,2 Prozent (MDS 2018a: 60).Footnote 59 In den Kleinstbetrieben sind weitere rund 19 Prozent der Erwerbstätigen tätig (MDS 2018a: 56). Die Zahl dieser Betriebe hat sich seit 2015 von 1,8 auf über 2 Millionen erhöht.Footnote 60 Zentrale Motivation für die überwiegende Mehrheit in Kleinstbetrieben oder als cuenta propias zu arbeiten, besteht in der ökonomischen Notwendigkeit – vor allem mangelnden Alternativen – oder spezifischen wirtschaftlichen Gelegenheiten wie beispielsweise besonderen Marktzugängen.Footnote 61 Darüber hinaus sind fast 16 Prozent der Chilen*innen in Kleinbetrieben mit weniger als 49 Beschäftigten tätig (MDS 2018a: 56). Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Mehrheit der Erwerbsbevölkerung entweder selbständig arbeitet oder in Klein- und Kleinstbetrieben beschäftigt ist. Zuletzt waren dies über 53 Prozent der Erwerbstätigen (ebd.). Nur rund 35,8 Prozent der gesamten Beschäftigten sind in Chile demgegenüber in staatlichen Institutionen oder privaten Unternehmen mit 50 oder mehr Beschäftigten tätig (ebd).Footnote 62

Die Sozialstruktur der chilenischen Erwerbsbevölkerung ist dadurch gekennzeichnet, dass nur etwa 23 Prozent der offiziellFootnote 63 erwerbstätigen Bevölkerung in Großbetrieben von mehr als 200 Beschäftigten arbeitet und die Mehrzahl entweder in Selbständigkeit oder in kleinen bis sehr kleinen Betrieben beschäftigt ist (MDS 2018c: 54). Im Vergleich dazu arbeiten in der deutschen nicht-finanziellen gewerblichen Wirtschaft rund 13,3 Millionen Menschen (etwa 38 Prozent) in Großbetrieben mit über 249 Beschäftigten und nur etwas über 9,7 Millionen in Kleinstbetrieben und in Selbständigkeit (zusammen 28,6 Prozent) (IZA 2020: 5, 9; Statista 2021). Zudem spielt die Selbständigkeit in den beiden Ländern auch wirtschaftlich eine sehr unterschiedliche Rolle und geht mit sehr verschiedenen Klassenpositionen einher. Während es sich in Chile bei den Selbständigen um »arme Unternehmer« handelt und die gerade ärmsten Teile der Bevölkerung selbständig sind – in den untersten Einkommensperzentilen sind es zwischen fast 32 und 50 Prozent –, sind in Deutschland die Selbständigen tendenziell besser gestellt und überdurchschnittlich bezahlt (MDS 2018a: 52; MDS 2021e: 18; IZA 2020: 18 ff.). So sind hier über 49 Prozent der Selbständigen hochqualifiziert, 44 Prozent qualifiziert und nur 7 Prozent unqualifiziert IZA 2020: 16). Ohne näher auf den deutschen Fall einzugehen, legen diese Zahlen nahe, dass der sozioökonomische Grund für Selbständigkeit in Chile – im Gegensatz zu Deutschland – die Unterbeschäftigung im kapitalistischen Sektor ist.Footnote 64 Dies spiegelt sich auch in ihrer hohen Informalität wider. Mehr als eine Millionen der als cuenta propia oder in Kleinstbetrieben Tätigen arbeitet in der Informalität.Footnote 65 Das bedeutet, dass rund 53,1 Prozent der Selbständigen und Kleinstbetriebe informell tätig sind (Saéz 2020: 6). Dabei handelt es sich um keine Übergangserscheinung oder kurze Ausweichtätigkeiten: 52,1 Prozent der informellen Kleinstbetriebe ist schon mehr als zehn Jahre alt (ebd.).Footnote 66

In absoluten Zahlen nimmt seit geraumer Zeit nicht nur die Zahl der gesamten Erwerbsbevölkerung, sondern auch der Selbständigen stetig zu (Mideplan 2009: 12). Ihr Anteil hat sich in Chile in den letzten Jahren auf 21,5 Prozent (2017) und 24,1 Prozent (2020) der Erwerbsbevölkerung erhöht, während der Anteil der hauptsächlich durch Löhne finanzierten Personen von 71,4 Prozent (2017) auf 68,3 (2020) leicht gesunken ist (MDS 2018a: 50; MDS 2021a: 49).Footnote 67 Dieser Trend gilt vor allem für die armen Einkommensgruppen, in denen im Jahr 2020 fast 45 Prozent selbständig und nur etwas über 41 Prozent abhängig beschäftigt waren (MDS 2021a: 49). Diese Entwicklung ist allerdings schon seit dem Ende des Rohstoffbooms im Jahr 2013 erkennbar (ILO 2019: 5 f.). Seitdem sinken die relativen Anteile der Beschäftigten in Bereichen wie dem Bergbau oder der Industrie. Waren 2013 noch 2,8 Prozent der Erwerbstätigen im Bergbau und 11,3 Prozent in der Industrie tätig, sank diese Zahl auf nur 1,8 Prozent und 9,3 Prozent im Jahre 2017 und stieg parallel quer durch nahezu alle Dienstleistungsbereiche (MDP 2017a: 36; MDP 2018a: 54). Gerade im untersten Einkommensdezil korreliert dieser Trend mit dem Rückgang der Bedeutung von Lohneinkommen. Während die Zahlen der Selbständigen und der Beschäftigten im Dienstleistungsbereich folglich seit 2013 ansteigen, sinken die Zahlen der lohnabhängig Beschäftigten in den extraktiven Branchen und der Industrie. Es ist damit eine rückläufige Beschäftigung in den Bereichen höherer Wertschöpfung und eine steigende Relevanz von prekären Dienstleistungsjobs und Tätigkeiten in Selbständigkeit beobachtbar. Dies führt zur Reproduktion fragmentierter Arbeitsmärkte, struktureller Heterogenität und – so die Vermutung – der Bedeutung des bedarfsökonomischen Sektors.

Die quantitative Bedeutung der Selbständigen und der Klein(st)betriebe gibt einen ersten Hinweis auf die strukturelle Heterogenität in der chilenischen Ökonomie. Allerdings lässt sich an den Betriebsgrößen noch keinesfalls deren Zuordnung zum bedarfsökonomischen oder kapitalistischen Sektor verlässlich ausmachen. Da es sich gerade bei Selbständigen und Klein(st)betrieben – wie die weiteren Ausführungen zeigen – allerdings zu großen Teilen um wirtschaftliche Aktivitäten handelt, die auf die lokalen Märkte sowie auf das Erlangen von Einkommen zur Bedarfsdeckung einfacher Haushalte zielen, werden sie im Folgenden mehrheitlich dem bedarfsökonomischen Sektor zugerechnet. Eine verlässliche sektorale Zuordnung muss allerdings über die quantitativen Beschäftigtenzahlen hinaus auch qualitative Merkmale untersuchen. Im Folgenden werde ich deshalb die bedarfsökonomische Akteure in ihren konkreten wirtschaftlichen Aktivitäten in den Blick nehmen.

Kontinuität und Krise des bedarfsökonomischen Sektors in Chile

Fährt man im Sommer von Santiago aus Richtung Süden die lange Fernstraße der Ruta 5 nach Temuco, dann bewegt man sich nicht nur auf der am besten ausgebauten Autobahn des Landes, sondern auch auf einem bedarfsökonomischen Markt. Immer wieder halten Fahrzeuge am Straßenrand, um kurz etwas einzukaufen. Etwa eine Autostunde vor Santiago entfernt kann man bei zahllosen kleinen Ständen Körbe und andere Flechtprodukte erwerben. Wenig später wechseln sich am Straßenrand Stände mit Obst, Linsen, Bohnen, Wein oder chicha ab. Wer bisher nicht angehalten hat, um etwas zu erwerben, wird spätestens bei einem der unzähligen kleinen Restaurants zu Mittag essen. An den unzähligen Mautkontrollen der privatisierten Autobahnen werden den Autoinsass*innen von maniseros (übers.: Erdnusshändler*innen), die mit ihren Körben von Auto zu Auto laufen, Getränke, Nüsse und Kuchen angeboten. Einige hundert Kilometer weiter beginnt der zentrale Süden Chiles und kilometerlange Forstplantagen unterbrechen vorübergehend den Seitenstreifen-Marktplatz. Doch spätestens in der Araucanía tauchen sie wieder auf: Honig, Eier, Brötchen, Humitas (eine chilenische Maisspeise), Beeren, Gemüse und Käse können in kleinen provisorischen Bretterbuden erworben werden. Lange Weizenfelder, Wiesen, auf denen Kühe grasen und kleinbäuerliche Parzellen mischen sich nun unter die Forstplantagen und diversifizieren die Landnutzung und das Angebot am Straßenrand, das einen wahren Querschnitt durch die chilenische Bedarfsökonomie abbildet. Neben den unzähligen Restaurants betrifft das vor allem die ländliche und kleinbäuerliche Wirtschaft.

Aber nicht nur die bedarfsökonomische Aktivitäten finden sich hier. Schon bei erstem Hinsehen fällt zugleich die große Zahl an LKW auf, die mit Holzstämmen, Früchten oder Tieren beladen sind und die Großabnehmer in den Städten oder Exporteure an den Häfen beliefern. Wenn Fahrer*innen solcher LKW am Straßenrand halten, um zu essen oder um Obst zu kaufen, offenbart das sogleich die Verflechtung der lokalen Märkte des bedarfsökonomischen Sektors mit den nationalen und internationalen Märkten des kapitalistischen Sektors. Es zeigt, dass die Bedarfsökonomie kein isolierter Raum ist, sondern in direktem Kontakt mit globalen Güterketten steht. Im Folgenden gebe ich einen Überblick über den bedarfsökonomischen Sektor und konzentriere mich dabei auf die landwirtschaftlich aktiven Haushalte und Klein(st)betriebe, weil sie seit jeher das Fundament der chilenischen Bedarfsökonomie bilden.

Die ländliche Bedarfsökonomie Chiles unterliegt seit vielen Jahrzehnten einem Wandel. 1920 lebten rund zwei Millionen Chilen*innen auf dem Land, das heißt rund 54 Prozent der Bevölkerung. Im Jahr 1970 waren es sogar 2,8 Millionen, aber nur noch 29 Prozent der Bevölkerung (Chonchol 2017: 5). Heute leben etwa 2,25 Millionen Menschen auf dem Land, was etwas weniger als 11 Prozent der Chilen*innen ausmacht.Footnote 68 Die Zahlen zeigen gleichzeitig die starke relative Abnahme der ruralen Haushalte, aber auch ihre Kontinuität in absoluten Zahlen. Je nach Definition und Quelle existieren in Chile nach wie vor rund 250.000 bis 260.000 kleinbäuerliche Betriebe (Ramírez et al. 2014: 17 f.; Berdegué/Lopez 2017; e1: 1).Footnote 69 Über 90 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Betriebe besteht aus solchen kleinen Familienbetrieben, die zwei Drittel aller Arbeitsplätze in dieser Branche schaffen, allerdings nur 18,6 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche besitzen (Leporati et al. 2014: 49; Contreras/Krivonos/Sáez 2014; Ramírez et al. 2014: 17 f.).Footnote 70 Ein Großteil dieser Betriebe wirtschaftet informell (Berdegué/López 2017 185 f.). Sie befinden sich im Wesentlichen von der fünften Region, die etwas nördlich der Hauptstadt Santiago liegt, abwärts bis zur zehnten Region Los Lagos, die sich weit im Süden im Gebirge der Anden und vom pazifischen Meer umschlossenen Inselgruppen verliert. Gerade in hügeligeren Flächen, die häufig für forstwirtschaftliche Aktivitäten und Tierhaltung genutzt werden, gilt, dass eine Fläche unter zehn Hektar kaum für ein überlebenssicherndes Familieneinkommen ausreicht (Antilén/FUDEAUFRO 2017: 88 f.; a17: 17 f.; e1: 1; e3). Gesellschaftlich und seitens des Staates gelten im chilenischen Süden deshalb häufig auch solche Betriebe als kleinbäuerlich, die bis zu 20 Hektar Land besitzen, allerdings familiär betrieben werden und durch kombinierte Produktionsformen gekennzeichnet sind, die sowohl die Produktion für den Verkauf von landwirtschaftlichen Produkten als auch die Produktion für den Eigenkonsum sowie Tierhaltung und häufig auch forstwirtschaftliche Aktivitäten im kleineren Umfang enthalten (e1: 2; Burschel/Rojas 2005: 123).

Seit einigen Jahrzehnten erwirtschaftet die deutliche Mehrheit der ländlichen Haushalte einen relevanten Teil ihres Einkommens zusätzlich aus anderen Quellen als der Bearbeitung des eigenen Landes (Contreras/Krivonos/Sáez 2014: 370; Berdegué/López 2017). Schätzungen zufolge belaufen sich die Erträge aus landwirtschaftlicher Produktion bei vielen kleinbäuerlichen Haushalten auf nur 20 bis 25 Prozent des Gesamteinkommens der Familie (Ramírez et al. 2014: 16, 18). Die Kombination verschiedener Einkommensquellen – das heißt vor allem, die Ergänzung der Erträge aus dem Verkauf landwirtschaftlicher Produkte um die Produktion für den Eigenbedarf sowie Einkommen aus Lohnarbeit und staatlichen Sozialleistungen – spielt bei ländlichen Haushalten in Chile folglich eine große Rolle. Im Rahmen derartiger Diversifizierung ländlicher Wirtschaftsaktivitäten und trotz steigender Schwierigkeiten kleinbäuerlicher Landwirtschaft hat sich die absolute Zahl ländlicher Haushalten mit kleinbäuerlichen Aktivitäten seit den 1990er Jahren stabilisiert (Berdegué/Lopez 2017: 186). Die Haushalte halten an ihrer ländlichen Lebensweise fest. Dies geschieht einerseits, weil sie sich aus Traditionsgründen an sie gebunden fühlen, andererseits, weil sie kaum wirtschaftliche Alternativen an anderen Orten sehen (ebd.: 196).

Über die vergangen Jahrzehnte hinweg wandelten sich die traditionellen chilenischen Kleinbäuer*innen – wie wir gesehen haben – zu prekären Haushalten, die ihre landwirtschaftlichen Aktivitäten durch andere Einkommen ergänzen, zunehmend von staatlichen Sozialtransfers abhängen und mit dem kapitalistischen Sektor verflochten sind (Ruiz/Boccardo 2014: 48). Letzteres hat vor allem mit Tendenzen der Kommodifizierung auf dem Land seit der Militärdiktatur zu tun. Während der Flächenumfang, der für den Anbau traditioneller Lebensmittel genutzt wird, in Chile seit Jahrzehnten rückläufig ist, nimmt derjenige für den Anbau von cash crops zu. So gingen die Flächen, auf denen Knollen- und Hülsenfrüchte angebaut werden, zwischen 1976 und 2007 um über 66 Prozent zurück, während diejenigen für potenzielle Exportprodukte wie Früchte, Blumen, Weintrauben und Forstplantagen um respektive 262 Prozent, 126 Prozent, 21 Prozent und 35 Prozent wuchsen (INE 2007c: 37).Footnote 71 Die Produktion für den Verkauf auf lokalen Märkten, aber auch an Großabnehmer und internationale Märkte spielt genauso eine zunehmende Rolle für ländliche Haushalte im Süden Chiles wie temporäre Lohnarbeit und Versuche des Aufstiegs durch höhere Bildungstitel der Kinder. Ländliche Haushalte, die in relevantem Maße subsistenzwirtschaftlich produzieren und dies um Einkommen aus Lohnarbeit und dem Verkauf von Produkten ergänzen, bilden den Großteil an kleinbäuerlichen Betrieben in Chile – so Schätzungen zu Beginn der 2010er Jahre (Leporati et al. 2014: 44). Trotz ihrer großen Rolle nimmt die kleinbäuerliche Landwirtschaft mit nur 20 Prozent in geringem Maße an den gesamtwirtschaftlichen Einnahmen des primären Sektor teil (ebd.: 46).Footnote 72 Dies spricht für eine massive Ungleichheit im ländlichen Raum. Die zunehmende Bedeutung von cash crops und die große rurale Ungleichheit steht allerdings im Widerspruch zu der fundamentalen Rolle, die der kleinbäuerlichen Landwirtschaft – wie im Folgenden deutlich wird –im gesamten bedarfsökonomischen Sektors Chiles zukommt.

Die kleinbäuerlichen Betriebe ernähren nicht nur ihre eigenen Familien, sondern die gesamte chilenische Bevölkerung. So schätzt ein Forstingenieur, der viel mit kleinbäuerlichen Haushalten arbeitet, im Interview, dass diese für rund 80 Prozent der Lebensmittelversorgung der Chilen*innen verantwortlich sind (e1: 4). Andere Schätzungen kommen je nach Produkt auf sehr unterschiedliche Zahlen, so würde die kleinbäuerliche Landwirtschaft rund 54 Prozent des in Chile gehandelten Gemüses produzieren sowie rund die Hälfte aller Schafe und Rinder und über 90 Prozent der Ziegen halten, aber nur 23 Prozent der Früchte produzieren, die meist exportiert werden (Leporati et al. 2014: 47).Footnote 73 Die kleinbäuerlichen Produzent*innen verkaufen ihre Produkte auf Wochenmärkten, großen offenen Lebensmittelmärkten, im Straßenhandel, in kleinen Ständen, an Restaurants oder an Zwischenhändler des Großhandels sowie direkt an Supermärkte. Ein Großteil der Lebensmittel wird von kleinen Händler*innen auf den ferias libres (übers.: freie Märkte) verkauft (Contreras/Krivonos/Sáez 2014: 371). – Die ferias libres sind lokale Märkte. Sie bestehen aus informellen Ständen am Straßenrand, aber auch aus großen stationären Märkten und den Wochenmärkten, die sich in nahezu jeder südchilenischen Stadt finden. Die große Bedeutung der ferias libres hängt vor allem damit zusammen, dass nicht nur sehr frische und in der Regel regionale Produkte angeboten werden, sondern ihre Preise auch deutlich unterhalb derjenigen der Supermärkte liegen (ebd.: 372). Damit stellen diese freien Märkte nicht nur den primären Vermarktungskanal kleinbäuerlicher Produkte dar, sondern auch einen bedarfsökonomischen Bereich, der durch seine erheblich billigeren Lebensmittelkosten einen zentralen Grundpfeiler für die Reproduktion der prekären chilenischen Privathaushalte sichert. Die große Relevanz, die der kleinbäuerlichen Landwirtschaft damit für die Ernährungssicherheit der chilenischen Bevölkerung und der Einkommenssicherung auf dem Land zukommt, steht – wie wir unten sehen werden – in offenem Kontrast zu ihrer politischen Vernachlässigung in der jüngeren Geschichte des Landes sowie den kleinen Landflächen, mit denen sie sich begnügen muss. Es überrascht daher nicht, dass die relative Zahl der kleinbäuerlichen Betriebe und derjenigen, die in diesen beschäftigt sind, in den letzten Jahrzehnten nahezu kontinuierlich rückläufig ist. Einige sprechen für die 2000er Jahre in Bezug auf die gesamte Erwerbsbevölkerung von unter 5 Prozent Kleinbäuer*innen (Ruiz/Boccardo 2014: 45). Gleichzeitig kam es in wirtschaftlichen Krisenphasen auch immer wieder zur Rückkehr in die kleinbäuerliche Landwirtschaft. So stieg deren Anteil an den Beschäftigten beispielsweise in der Krise der ersten Hälfte der 1980er Jahre wieder erkennbar an (ebd.: 45–47).

Die Krise, steigende Ungleichheiten und Tendenzen der Kommodifizierung betreffen die kleinbäuerliche Bedarfsökonomie schon seit dem Scheitern der revuelta campesina und den Kontra-Reformen im Agrarbereich in der Diktatur (Bengoa 2016: 89 ff.). Der Verlust ihres Landes war nur einer von vielen Gründen für die Verarmung der chilenischen Bauern und Bäuerinnen (ebd.: 93 f.), bildet aber den Ausgangspunkt ihrer strukturellen Krise.Footnote 74 Diese Prozesse wurden durch zunehmende Importe von Lebensmitteln im Rahmen einer immer offeneren chilenischen Wirtschaft verstärkt, was zu einem seit den 1970er Jahren stetig sinkenden Flächenumfang führte, der landwirtschaftlich für die heimische Lebensmittelproduktion genutzt wird (INE 2007c: 37; Barriga et al. 2022: 15 f.).Footnote 75 Diese Entwicklungen bereiteten die heutige Krise der kleinbäuerlichen Landwirtschaft in Chile vor, welche allerdings nicht auf Chile beschränkt bleibt.Der Rückzug staatlicher Förderungspolitiken kleinbäuerlicher Landwirtschaft und ihrer Kooperativen, zu geringe technische Ausstattung, fehlende Finanzierungsquellen, schlechte Marktzugänge sowie die verschärfte Konkurrenz, in der die Kleinbäuer*innen in der Folge der Errichtung von Freihandelszonen wie NAFTA und MERCOSUR seit den 1990er Jahren stehen, aber auch Land- und Wassermangel sowie die zunehmende ökologische Krise insgesamt hat ihre wirtschaftliche Situation in ganz Lateinamerika sukzessive erschwert.Footnote 76 Die strukturelle Krise, in die die kleinbäuerliche Landwirtschaft in den letzten Jahrzehnten geriet, wird in Chile zuletzt durch eine massive Dürre verstärkt. Seit 2007 werden zu geringe Niederschläge gemessen. Dies hat nicht nur einen Wassermangel in der Landwirtschaft, sondern auch Biodiversitätsverluste und ein massenhaftes Sterben landwirtschaftlicher Nutztiere zur Folge.Footnote 77

Aber die Bedarfsökonomie ist nicht nur ein ländliches Phänomen. Bisher wurde nur auf die kleinbäuerliche Landwirtschaft eingegangen, allerdings finden sich auch im handwerklichen Bereich und vor allem bei den formellen und informellen Dienstleistungen in den Städten eine unüberschaubare Zahl an Tätigkeiten, die von Selbständigen oder in Klein(st)betrieben verrichtet wird und sich auf die lokalen Märkte und damit indirekt auf die Reproduktion der chilenischen Privathaushalte richtet. Ein Großteil dieser städtischen bedarfsökonomischen Aktivitäten findet in Santiago statt. Dies ist wenig überraschend, denn mehr als ein Viertel aller Chilen*innen lebt in der Hauptstadt. Nimmt man die Unternehmensgröße näherungsweise als Indikator für bedarfsökonomische Aktivitäten, stellt man fest, dass Urbanisierung keinesfalls einen Rückgang der Bedarfsökonomie bedeutet. Fast 850.000 der gesamten zwei Millionen Kleinstbetriebe und Selbständigen Chiles sind in der Hauptstadt aktiv. Die große Mehrzahl von 67 Prozent dieser Aktivitäten sind Dienstleistungen.Footnote 78 Diese reichen von klassischen Diensten wie demjenigen der Hausangestellten oder Kindermädchen in den Haushalten der Besserverdienenden über Schuhputzer*innenauf der Straße bis zum Restaurantpersonal, Müllsammler*innen und Taxifahrer*innen sowie kleinen Lebensmittelläden an jeder Ecke und den maniseros in den öffentlichen Bussen. In den letzten Jahren sind aber auch eine Reihe neuer Tätigkeiten hinzugekommen. Überall auf den Straßen fahren beispielsweise Essenauslieferer*innen und Kourierfahrer*innen für Uber, Ubereats und Pedidosya mit ihren eigenen – teilweise motorisierten – Fahrrädern und Motorrollern. An diesen Plattformdiensten zeigt sich zugleich, wie bedarfsökonomische Praktiken in Kapitalkreisläufe integriert werden und es deshalb zu Hybriden zwischen dem bedarfsökonomischen und dem kapitalistischen Sektor kommt. Gleichzeitig ist das Zentrum der Hauptstadt voller informeller Straßenhändler*innen, die Kleidung, Bücher, Spielzeug, Kosmetikartikel, Fertigessen und Alltagsartikel bis hin zu Zimmerpflanzen und vielem mehr anbieten. Der unüberschaubare informelle Bereich bildet einen Grundpfeiler des chilenischen bedarfsökonomischen Sektors in den Städten und die Voraussetzung der billigen sozialen Reproduktion einer Großzahl der prekären chilenischen Privathaushalte.

Weit davon entfernt, ein Produkt der Vergangenheit oder der ländlichen Regionen zu sein, ist die moderne Großstadt in der Folge voll von kleinen Selbständigen und Klein(st)betrieben. Diese haben sich in den letzten Jahren vor allem im tertiären Sektor enorm ausgedehnt, finden als informelle Dienste in den Voroten statt und richten sich zu großen Teilen auch auf Bedürfnisse der zahlungskräftigeren lohnabhängigen Bevölkerung in den Stadtzentren.Footnote 79 Aber auch die reicheren Familien greifen auf bedarfsökonomische Dienste zurück. So arbeiten in Chile mehr als 470.000 Personen als Haushaltshilfen in Privathaushalten (MDS 2018c: 52). Sie waschen, kochen, putzen und erziehen die Kinder. Sie sind billige Arbeitskräfte, die von besser bezahlten Haushalten angestellt werden, um sie im Alltag zu entlasten. Insgesamt bilden sich in den Städten damit auch neue Formen bedarfsökonomischer Aktivitäten heraus, die sich auf die Reproduktion der chilenischen Privathaushalte ausrichten. Dabei kommt es, wie wir gesehen haben, auch zu neuartigen Verflechtungen mit dem kapitalistischen Sektor – beispielsweise Uber – sowie zu schon lange bestehenden engen Verbindungen zwischen den Klassen – beispielsweise bei den Haushaltsdiensten. Insgesamt zeigen diese Schlaglichter auf den bedarfsökonomischen Sektor der Stadt, dass dieser kein vormodernes Überbleibsel einer traditionellen Ökonomie darstellt.

Bevor wir im Folgenden zur politischen Regulation des bedarfsökonomischen Sektors übergehen können, müssen wir kurz noch darauf eingehen, wie sich die Einkommensquellen und damit die Überlebensstrategien prekärer Haushalte in Chile zuletzt diversifiziert haben. Eine zunehmende Rolle für die unteren Einkommensgruppen spielt – wie wir gesehen haben – weniger deren Proletarisierung im Sinne einer Integration in den kapitalistischen Sektor mittels Lohnarbeit als vielmehr selbständige sowie klein(st)betriebliche Aktivitäten außerhalb der Landwirtschaft. Aber auch staatliche Sozialleistungen werden immer wichtiger. Ohne die Sozialtransfers wäre die Armut in Chile heute deutlich höher. Rechnete man nur mit den Einkommen, die die Chilen*innen aus ihrer Erwerbsarbeit beziehen, das heißt unter Absehung arbeitsloser Einkommen wie Sozialtransfers und müsste jede und jeder eine durchschnittliche Miete zahlen, wäre fast ein Drittel der chilenischen Bevölkerung als arm einzustufen (Durán/Kremerman 2018: 5). In der Araucanía wären es mit dieser Berechnung mehr als 46 Prozent der Bevölkerung (ebd.: 6). Diese Zahlen zeigen, dass der kapitalistische Sektor für bedeutende Teile der Privathaushalte kein Leben oberhalb der Armutsgrenze, geschweige denn eine normale Teilhabe am sozialen Leben ermöglicht.

Neben Sozialleistungen bildet die Verschuldung eine weitere Überlebensstrategie vieler Privathaushalte. Felipe González beschreibt Chile als Musterbeispiel der Finanzierung des Privatkonsums durch Schulden. So weitete sich der Markt für Konsumentenkredite in Chile in den 1990er Jahren dynamisch aus. Dementsprechend waren im Jahr 1995 schon anderthalb Millionen Haushalte mit Konsumschulden belastet und »unter den fünfzehn Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern des Landes waren fünf Millionen Kreditkarten im Umlauf« (González 2017: 81). Später – in den 2000ern – hatten dann schon 20 Millionen Menschen eine Kreditkarte und 63,4 Prozent aller Haushalte Konsumschulden (ebd.).Footnote 80 Die Versuche an der »peripheren imperialen Lebensweise« teilzuhaben und die Lebensstile der Bessergestellten nachzuahmen führten insbesondere bei der städtischen Bevölkerung zu starker Verschuldung (Moulian 2002: 100 ff.). Die Mehrzahl nimmt aber nicht für Luxuswaren Schulden auf, sondern um alltägliche Waren für den gewöhnlichen Konsum zu kaufen und um das Stigma der Armut abzulegen (González 2017: 83 f.). Im Zuge geringer Möglichkeiten am Arbeitsmarkt und stagnierender Einkommen ist Verschuldung für viele Familien die einzige Möglichkeit, sozial mitzuhalten (ebd.: 84). Nicht zuletzt sind es aber auch die erheblichen Kosten der privatisierten Bildung und des privaten Gesundheitssystems, die die Menschen dazu bringen, sich zu verschulden (ebd.: 85 f.). Versuche des Aufstiegs durch Bildung werden dabei häufig zur Schuldenfalle. So müssen sich von denjenigen, die auf das staatliche Kreditprogramm der Studienförderung zurückgreifen, in den Folgejahren durchschnittlich um die 40 Prozent der Kreditnehmer*innen zahlungsunfähig erklären.Footnote 81

Zusammenfassend können wir sagen, dass Sozialtransfers und Privatkredite die mangelnden Einkommen der ärmeren Privathaushalte aus dem kapitalistischen Sektor etwas abfedern. Dies reicht allerdings keineswegs aus, weshalb die Bedarfsökonomie für diese Haushalte eine bleibende und große Rolle spielt. Dies gilt auf zwei Weisen: Erstens, weil die Mitglieder ärmerer Familien durch Aktivitäten in Selbständigkeit oder in Klein(st)unternehmen mit dem Verkauf von Waren und Dienstleistungen an andere Privathaushalte zusätzliche Einkommen generieren und zweitens, weil diese bedarfsökonomischen Aktivitäten lokale Märkte schaffen, die den ärmeren chilenischen Haushalten billige Güter des alltäglichen Bedarfs deutlich unter den Preisen der kapitalistischen Märkte anbietet. Diese doppelte Angewiesenheit der ärmeren Privathaushalte auf bedarfsökonomische Güter und Märkte führt dazu, dass sich neben individuellen auch kollektive Bewältigungsstrategien der Prekarität der sozialen Reproduktion finden. Sie bestehen im gemeinsamen Kampf für bessere Reproduktionsbedingungen prekärer Haushalte. Diese Kämpfe reichen – wie wir im Folgenden sehen werden – von Auseinandersetzungen um Preishöhen, über das Engagement für eine veränderte staatliche Regulierung der Bedarfsökonomie bis hin zu Landbesetzungen und der Aneignung produktiver Ressourcen. Um diese Konflikte zu verstehen, ist es nötig zu verstehen, wie der chilenische Staat historisch stets den kapitalistischen Sektor begünstigte, in den letzten Jahrzehnten aber zunehmend auch die bedarfsökonomischen Aktivitäten in Betracht ziehen muss.

4.1.5 Politische Regulierung in Chile

Der »Staat des Kapitals«: Die chilenische Verfassung von 1980 und die Privatisierungen öffentlicher Güter seit der Militärdiktatur

Die heutige chilenische Gesellschaft lässt sich nur verstehen, wenn man sie in der Kontinuität ihrer jüngeren Geschichte seit dem Militärputsch von 1973 betrachtet (Gárate 2016: 22). Damals wurden die Grundlagen des chilenischen kapitalistischen Sektors und seiner Regulierung gelegt, wie sie bis heute fortdauern. Dabei sollte streng nach wirtschaftsliberalem Vorbild möglichst viel Verantwortung an das Privatunternehmertum abgeben und der Bereich des Politischen beschränkt werden (ebd.: 228 f.). Nach diesem Grundsatz wurde nicht nur die chilenische Wirtschaft, sondern auch die Verfassung von 1980 und der chilenische Staat insgesamt aufgebaut. Der in der chilenischen Diktatur geschriebenen Verfassung von 1980 kam die Rolle zu, das liberale Wirtschaftsmodell auf Dauer zu stellen und die demokratischen Institutionen und Gesetzgebungsprozesse zu beschränken (Gárate 2016: 228; Akram 2021: 248 f.). Der Vater des Verfassungstextes, Jaime Guzmán, sagte kurz vor ihrer Fertigstellung im Jahre 1979, die Verfassung sei so geschrieben, dass selbst wenn der Gegner an die Macht gelänge, die politischen Spielräume für eine alternative Politik äußerst gering seien.Footnote 82 Um die Legislative zu beschränken, wurde die Macht des Militärs gestärkt, das Verfassungsgericht mit weiten Kompetenzen ausgestattet und dem Senat eine große Rolle zugesprochen (Gárate 2016: 230).Footnote 83 Insbesondere dem Verfassungsgericht, das in Chile besonders stark ist, kommt die Rolle zu, Gesetzgebungsprozesse zu beeinflussen oder Gesetzte zu unterbinden, die der wirtschaftsliberalen Grundausrichtung der Verfassung zuwider laufen (Akram 2021: 250 ff.).Footnote 84

In einer Prinzipienerklärung der Militärregierung heißt es, dass es das Gemeinwohl erfordere, das Prinzip der Subsidiarität zum Schlüsselbegriff einer »freiheitlichen Gesellschaft« zu machen (Bustos 1987: 203). Auch wenn es in der Verfassung nicht explizit erwähnt wird, liegt ihr dieses Prinzip zugrunde. Es besagt, dass alle sozialen und wirtschaftlichen Aktivitäten, die durch private Unternehmensaktivitäten erfüllt werden können, aus dem staatlichen Kompetenzbereich auszuschließen sind (ebd.). Der Staat soll nur solche Funktionen übernehmen, die durch Private nicht adäquat ausgeübt werden können (ebd.). In diesem Sinne wurden beispielsweise privatwirtschaftliche Möglichkeiten im Bereich von Bildung und Gesundheitswesen aktiv zu werden, in der Verfassung garantiert (ebd.: 207 f.). Außerdem stärkte die neu erlassene Verfassung in erheblichem Maße die staatliche Garantie privaten Eigentums und ermöglichte dessen enorme Konzentration (ebd.: 208 ff.; Bauer 1998: 17 f.). Dies ging nicht zuletzt mit den weitgehenden Privatisierungen der öffentlichen Güter einher, die die Militärdiktatur initiierte. Der chilenische Staat wurde in der Folge zum Estado subsidiario, der nur einzugreifen hatte, wenn der Markt diesen Bereich vernachlässigte (Bauer 1998: 12, 17; Pizarro 2020: 343).Footnote 85

Die Privatisierungen unter der Militärregierung umfassten unterschiedliche Bereiche. Einen dieser Bereiche stellten die natürlichen Ressourcen des Landes dar. Allen voran wurde ganz im Sinne der Verfassung von 1980 nur ein Jahr später ein Wasserkodex erlassen, der das chilenische Wasser privatisierte. Die während der Zeit der Agrarreformen deutlich ausgebaute öffentliche Kontrolle über die Wasserressourcen und -versorgung sollte nun stark beschränkt und der Privatbesitz an Wasser sowie Märkte über Wasserrechte geschaffen werden (Bauer 1998: 32). Dafür wurde zunächst das Recht auf Wassernutzung vom Landbesitz getrennt (ebd.). Die Wassernutzung sollte nur noch den Inhaber*innen der Wasserrechte erlaubt sein. Die Wasserrechte wurden vom Staat vergeben, sind unbefristet und unkündbar und können nach Belieben am Markt gehandelt werden (Landherr/Graf/Puk 2019: 82). Das Ziel bestand darin, dass die Wasserrechte mittels der Marktanreize von Nutzer*innen und Betrieben mit geringerer zu solchen mit höherer Wertschöpfung übergingen und sich so die Produktivität steigerte (Donoso 2021: 338). Das Ergebnis war jedoch weniger ein gut funktionierender Wassermarkt als eine starke Konzentration der Wasserrechte bei großen Unternehmen (Bauer 1998: 56 ff., 64 f.; Landherr/Graf/Puk 2019: 83). Laut Kritiker*innen befänden sich mindestens 90 Prozent der Wasserrechte in deren Händen der Unternehmen aus Bergbau, Landwirtschaft und Wasserversorgung (Mundaca 2012). Diese Entwicklung wurde seit den 1980er Jahren noch durch die stetig wachsende Ausrichtung der Wirtschaft auf den Export von Rohstoffen verstärkt, deren Produktion in allen Branchen äußerst wasserintensiv ist (Donoso 2021: 341).

Allerdings wurde nicht nur der Zugang und die Nutzung, sondern in den späten 1990er Jahren auch die Verteilung von Wasser privatisiert (Barriga et al. 2022: 42). Dies führt zu enormen Ungleichheiten am Wassermarkt, zu einer Situation, in der die ländlichen Haushalte und kleinbäuerlichen Betriebe keinen Zugang zu Wasser haben und tausende Haushalte durch Lastwägen mit Trinkwasser versorgt werden müssen. Etwa 400.000 Menschen haben daher heute keinen Zugang zu Trinkwasser.Footnote 86 Derzeit wird ein großer Teil der Wasserversorgung Chiles durch das Privatunternehmen Aguas Andinas kontrolliert, das sich im Besitz des spanischen Unternehmenskonglomerats Grupo Agbar befindet. Kritiker*innen sprechen von einem »Imperium von Agbar«, das ein weites Netz mit Anteilen an und häufig direkter Kontrolle über Wasserversorungsunternehmen in Chile besitze, welches hohe Gewinne mit dem täglichen Trinkwasser der einfachen Leute mache (Arellano/Carvajal 2014).

Neben dem Wasser wurden auch die übrigen ökologischen Ressourcen des Landes in die privaten Hände des großen Kapitals übergeben. Dies gilt für die landwirtschaftlichen Nutzflächen, die zu weiten Teilen in den Händen weniger Großgrundbesitzer*innen sind (Oxfam 2016: 25), für den Untergrund, der in Folge des Gesetzes über Bergbaukonzessionen von 1983 mit weitgehenden Berechtigungen an die Bergbauunternehmen vergeben wurde (Landherr 2019: 128–131) sowie für die Fischereirechte auf der See (Matamala 2015: 316, 319 f.). Die Militärdiktatur führte eine Regulierung ein, die bis in die jüngste Zeit weitgehend intakt bleibt und die es den Großunternehmen des kapitalistischen Sektors ermöglicht, sich die ökologischen Ressourcen des Landes anzueignen. Die Steuern, die sie darauf zahlen müssen, sind im weltweiten Vergleich nach wie vor extrem niedrig (Palma 2013).

Neben ökologischen Ressourcen wurden – ganz im Sinne der Verfassung – auch die sozialen Infrastrukturen privatisiert. Unter der Militärdiktatur wurden von José Piñera – Bruder des späteren Präsidenten Sebastián Piñera – die AFP (Administradoras de Fondo de Pensiones – übers.: Verwalter der Rentenfonds) eingeführt. Diese stellen private Rentenfonds dar, in die seit 1983 jede*r Beschäftigte verpflichtend 10 Prozent seines Lohnes einzuzahlen hat (Matamala 2015: 303). Die staatliche Rentenversicherung wurde – mit Ausnahme der Renten der Mitglieder von Militär und Polizei – nun komplett an private Unternehmen übertragen, was einen umfassenden Verlust des öffentlichen Einflusses über die Versorgung von Haushalten sowie über wirtschaftliche Prozesse bedeutete (ebd.: 299 f.).Footnote 87 Von der Privatisierung profitieren die Kapitalanleger*innen und Investitionsfonds, nicht aber die Rentner*innen selbst (ebd.: 301). So erhielten Ende 2020 die Hälfte aller Rentner*innen monatlich weniger als umgerechnet 240 Euro (Gálvez/Kremerman 2021: 5). Frauen sind besonders von Altersarmut betroffen: 50 Prozent von ihnen erhalten monatlich eine Rente von weniger als umgerechnet 180 Euro, bei Lebenshaltungskosten, die mit denjenigen in Deutschland vergleichbar sind (ebd.).

Auch das Gesundheits- und das Bildungssystem ist privatisiert und mit hohen Kosten für die chilenischen Haushalte verbunden. Gemessen am BIP liegt Chile mit seinen Ausgaben für Bildung im OECD-Vergleich auf dem fünften Platz und weit über dem Durchschnitt. Im Unterschied zu den anderen Ländern wird die Bildung allerdings zu fast einem Drittel durch die Privathaushalte finanziert (OECD 2021: 247). Das hat unter anderem mit den hohen Kosten privater Schulen sowie den äußerst hohen Studiengebühren in Chile zu tun, die nur noch durch die Studiengebühren in England und den USA übertroffen werden (ebd.: 286). Dies bezeugen die enormen Belastungen, die auf die chilenischen Familien durch das private Schul- und Universitätssystem zukommen. Will eine Familie eines ihrer Kinder auf die Universität schicken oder erkrankt ein Familienmitglied schwer, bedeutet das häufig eine große Verschuldung der Familie. Nur die etwas privilegierten und besser bezahlten Angestellten und dauerhaft beschäftigte, gut qualifizierte Lohnarbeiter*innen im kapitalistischen Sektor sind in der Regel über das Unternehmen in Krankenversicherungen eingeteilt und entgehen dieser Schuldenfalle (Prizarro 2020: 336 f.). Insgesamt gilt jedoch, dass die Regulierung der sozialen Infrastrukturen in Chile so gestaltet ist, dass sie für die Privathaushalte hohe Kosten bedeutet und für die Großunternehmen ein enormes Geschäft. Von dieser »asymmetrische Kommodifizierung« (Landherr/Graf 2017: 575) im Rahmen der Privatisierungen, der Ausweitung der Märkte und der Akkumulation durch Enteignung seit den späten 1970er Jahren profitierte maßgeblich die besitzende Klasse des Landes.

Der chilenische Staat ist kein schwacher Staat, aber im Vergleich zu den 1970er Jahren ein schlanker Staat, der in Bezug auf extraktivistische Aktivitäten ein aktiver Staat und in Bezug auf bedarfsökonomische Aktivitäten ein nach wie vor weitgehend »abwesender Staat« (Gudynas 2009: 201) ist. Auch in den Jahren nach der Militärdiktatur sind die Sozialausgaben gemessen am BIP nicht gestiegen (Fischer 2011: 139). Außerdem ist er in einer Reihe von Bereichen – wie Umwelt- und Arbeitsregulierungen – durch eine laxe Gesetzgebung gekennzeichnet (Matamala 2015: 267 ff.). Dadurch begünstigt seine Regulierung der Wirtschaft in höchstem Maße den extraktivistischen und kapitalistischen Sektor und schafft aktiv kapitalistische Märkte in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft. Damit werden die Interessen des kapitalistischen Sektors stets über diejenigen der Bedarfsökonomie gestellt. Die Strategien des kapitalistischen Sektors richten sich auf die Ausbeutung der Natur sowie auf die Akkumulation durch Kommodifizierung, welche sich durch die asymmetrische Kommodifizierung aller Lebensbereiche und die Preisabsprachen auf den Binnenmärkten ergibt, in der Privatunternehmen mit dem Geld der einfachen Leute, das diese für Gesundheitsversorgung, Bildung, Produkte des täglichen Bedarfs sowie ihre Rente und die Bedienung von Krediten ausgeben, enorme Geschäfte machen (Matamala 2015: 265, 291 f., 304).

Die rekordverdächtige Ungleichheit in Chile, die ökologische Zerstörung, die mangelhafte Versorgung der Bevölkerung mit öffentlichen Gütern sowie die engen Verbindungen zwischen besitzender Klasse und der politischen Klasse im Staat sind die Folge. Cañete (2018) spricht deshalb von einer »democracia capturada« (übers.: gekaperten Demokratie), in der der Staat die »poderosos caballeros« (Matamala 2015) und ihre Interessen privilegiert. Es lässt sich mit Blick auf die staatlichen Institutionen in Chile von einer »strukturellen Selektivität« (Offe 1972: 74 ff.) sprechen, die dazu führt, dass die Interessen der besitzenden Klasse in der Politik bevorzugt werden. Sie resultiert aus einer engen Verbindung zwischen ökonomisch und politisch herrschender Klasse und wird durch die unterschiedlichen Machtressourcen der besitzenden Klasse verstärkt. Die Folge ist ein stark ausgeprägtes politisch garantiertes Dominanzverhältnis der Interessen des kapitalistischen über diejenigen des bedarfsökonomischen Sektors. Allerdings ist der chilenische Staat auch kein einfaches »Instrument« der besitzenden Klasse, sondern stellt sich vielmehr als ein »widersprüchliches Ensemble« (Poulantzas 2002: 163 ff.) dar, in dem sich auch in begrenztem Maße die Interessen des bedarfsökonomischen Sektor materialisieren. Dies wird im Folgenden verdeutlicht.

Die Förderung der Bedarfsökonomie durch die Politik

Der chilenische Staat wurde bisher vor allem als »Staat des Kapitals« verstanden, das heißt, dass seine politische Regulierung vorwiegend die Expansion des kapitalistischen Sektors begünstigt. Allerdings kam es in den letzten Jahrzehnten zunehmend auch zu kleineren öffentlichen und privat-zivilgesellschaftlichen Politiken der Förderung des bedarfsökonomischen Sektors. So existiert heute eine kaum zu überblickende Zahl an Programmen zur Förderung von Haushalten, Selbständigen und Klein(st)betrieben in der Stadt und auf dem Land (MDS 2021e). Manche dieser Programme, Initiativen und Institutionen bestehen schon seit Mitte des 20. Jahrhunderts. So wurde die privatrechtliche Körperschaft des Servicio de Cooperación Técnica (Sercotec), die dem Wirtschaftsministerium untersteht, schon 1952 gegründet. Heute gibt sie auf ihrer Homepage an, sie »widme sich der Förderung der kleinsten und kleinen Unternehmen des Landes, damit sich diese entwickeln und eine Quelle des Wachstums für Chile und die Chilenen werden«.Footnote 88

Gerade in der Zeit der Agrarreformen entstanden bedeutende öffentliche Institutionen zur Förderung der Land- und Forstwirtschaft. Sie zielten in hohem Maße auf die Förderung der kleinbäuerlichen Ökonomie, sei es um ihnen Land zu verschaffen, sie technisch oder mit Krediten auszustatten oder Kooperativen zu bilden. Eine dieser Institutionen ist die 1962 gegründete Corporación de la Reforma Agraria (CORA), deren Aufgabe in der Umsetzung der Agrarreformen bestand. Die größte Rolle spielte allerdings das ebenfalls 1962 gegründete, nach wie vor bestehende und zum chilenischen Landwirtschaftsministerium gehörige Instituto de Desarrollo Agropecuario (INDAP). Es richtet bis heute Förderprogramme wie das Programa de Desarollo Rural (Programm für ländliche Entwicklung) oder das Programa de Desarollo Social (PRODESAL – Programm für lokale Entwicklung) aus, mit dem Ziel »die ökonomische, soziale und technologische Entwicklung kleiner landwirtschaftlicher Produzent*innen und Klein*bäuerinnen zu fördern, um deren unternehmerische, organisatorische und kommerziellen Fähigkeiten zu steigern sowie sie in die »ländliche Entwicklung« insgesamt zu integrieren und die vorhandenen produktiven Ressourcen optimal zu nutzen«.Footnote 89 Seine zentrale Aufgabe sieht das INDAP damit in der Bekämpfung der ländlichen Armut, insbesondere mittels der Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität sowie der Konkurrenzfähigkeit landwirtschaftlicher Kleinbetriebe (Ramírez et al. 2014: 169). Im Zuge der Militärdiktatur und dem neoliberalen Rückzug des Staates wurden jedoch viele der wichtigen Regulierungen, Förderungsprogramme und Institutionen abgebaut, auf die die kleinbäuerliche Ökonomie angewiesen war. Es entstand, was als »institutionelle Verwaisung« der armen Bauernschaft Chiles bezeichnet wurde (Durston et al. 2005: 13). So wurde beispielsweise die CORA im Rahmen der Militärdiktatur 1978 aufgelöst und viele kleinbäuerliche Organisationen zerstört.

In den letzten Jahrzehnten nehmen Förderprogramme der Armen auf dem Land jedoch wieder zu. Neben den chileweiten Initiativen finden sich insbesondere seit den 2000er Jahren auch auf kommunaler Ebene neue Programme zur Förderung ärmerer ländlicher Haushalte. Dabei verschob sich der Fokus von der Förderung der traditionellen Kleinbäuer*innen hin zur Förderung landwirtschaftlich aktiver armer Haushalte (Ramírez et al. 2014). Die Zahl der begünstigten Haushalte und damit auch der geförderten landwirtschaftlichen Klein(st)betriebe stieg zunehmend an (ebd.: 149, 169). Im Zuge von Klimawandel und Wasserknappheit erhält das auf die Förderung von kleinen ländlichen Betrieben gerichtete INDAP sogar historisch hohe öffentliche Mittel.Footnote 90 Diese Entwicklung hat auch mit einer Kampagne des World Rural ForumsFootnote 91 aus dem Jahre 2008 zu tun, in der es um die weltweite Unterstützung familiärer Landwirtschaft ging. Seitdem weitete das INDAP seine Förderungspolitik für Klein*bäuerinnen in Chile aus.Footnote 92 Dabei arbeitet das INDAP auch eng mit der Food and Agriculture Organization (FAO) der Vereinten Nationen zusammen. Zielgruppe der Programme sind insbesondere kleinbäuerliche Betriebe mit »potencial exportador« (übersetzt: Exportpotenzial), das heißt, die Förderung solcher Betriebe, die auf den Export ihrer Produkte ausgerichtet werden oder an exportierende Zwischenhändler liefern können.Footnote 93 Das Programm wird zusammen mit Correos de Chile – einem staatlichen Postunternehmen – organisiert, das besondere Bedingungen für den Export von Produkten kleiner und mittlerer Unternehmen anbietet.Footnote 94 In der Folge werden vor allem solche Produkttypen gefördert, die sich gut für den Export eignen (Anchio 2013: 73). Dies erhöht allerdings die Konkurrenz und Preisdruck für die Produzent*innen (ebd.: 73 f.). Kleinbäuerliches Wirtschaftens wird vom Staat folglich vor allem dann gefördert, wenn es um deren Integration in die Exportsektoren geht (Ruiz/Boccardo 2014: 49).

Es lassen sich allerdings auch Fälle finden, wo sich die staatliche Unterstützung nicht vorwiegend auf Förderung der Klein(st)betriebe im Rahmen ihrer Integration in den kapitalistischen Sektor richtet. So zielt das im Jahre 1996 initiierte PRODESAL vorwiegend auf ländliche Haushalte, die auf landwirtschaftliche Zuverdienste angewiesen sind und die weniger als fünf Hektar bewässerter Landfläche besitzen (Ramírez et al. 2014: 23). Potenziell könnte das Programm mit der so definierten Zielgruppe mit fast 177.000 chilenischen Haushalten zusammenarbeiten. Faktisch hat sich die Zahl geförderter Betriebe von zuvor unter 48.000 (2008) auf fast 78.000 im Jahre 2014 erhöht (ebd.: 23 f.). Die zentrale Tätigkeit im Rahmen der von den lokalen Gemeinden umgesetzten Programme des PRODESAL – und auch des INDAP – stellt die technische Beratung der Produzent*innen sowie die Vergabe von Krediten dar, kann aber auch im Kauf von Materialien oder dem Zur-Verfügung-Stellen von Tierärzten oder einem Startkapital bei bestimmten Investitionen bestehen (ebd.: 25, 28 f., 160). Ein besonderes Augenmerk legt das Programm zunehmend auf solche Betriebe, die in empfindlichen Ökosystemen tätig oder vom Klimawandel und Wassermangel in besonderem Maße betroffen sind. Dabei geht es neben der Unterstützung der entsprechenden Haushalte beim Verkauf von Produkten auch um eine Steigerung der Erträge in der Produktion für den Eigenkonsum.Footnote 95 So unterhält das INDAP auch Projekte, die sich auf die Förderung von »Huertos Caseros« (Hausgärten) richten und das Ziel verfolgen, die Produktion von ländlichen Haushalten zu diversifizieren.Footnote 96 Derartige Gärten, das heißt kleinere Anbauflächen in direkter Nähe zum Wohnort von Familien oder von öffentlichen Gebäuden im ländlichen und städtischen Raum, sind von großer Bedeutung für den Anbau von Lebensmitteln, Heilkräutern, der Tierhaltung sowie für kulturelle Praktiken und die Weitergabe von Wissen (Ibarra et al. 2017: 18).

Insgesamt lässt sich allerdings festhalten, dass sich das Zielobjekt staatlicher Förderungspolitik auf dem Land geändert hat. War es Mitte des 20. Jahrhunderts noch die Förderung der traditionellen, klassischen kleinbäuerlichen Haushalte und Betriebe, so hat sich die Sozialstruktur auf dem Land seither gewandelt. Das INDAP richtet seine Programme heute ganz allgemein auf ärmere ländliche Haushalte aus. So ginge es – wie Angélica, die selbst beim INDAP arbeitet, im Interview erzählt (a40) – nun bei der Unterstützung auch um Dienstleistungstätigkeiten, kleine Unternehmen und lohnabhängige Einkommensmöglichkeiten. Neben landwirtschaftlicher Produktion spielt in den letzten Jahrzehnten beispielsweise auch der Bereich des Tourismus eine zunehmende Rolle (a40). Außerdem gibt es neben erwähnten Programmen seit Beginn der 2000er Jahre auch noch spezifisch auf die indigenen comunidadesFootnote 97 ausgerichtete Programme wie das Programa de Desarollo Territorial Indígena (PDTI), auf das ich im Kontext der Analyse der Region der Araucanía zurückkommen werde (siehe Abschnitt 4.3.4).

Die meisten Programme zur Förderung des bedarfsökonomischen Sektors, die sich nicht vorwiegend auf den ländlichen Raum beziehen, sind erst in den letzten Jahrzehnten entstanden. Im Folgenden dient der im Jahre 1990 eingeführte Fondo de Solidaridad e Inversión Social (FOSIS) als Beispiel. Das Programm wurde unter der Regierung von Bachelet mehrfach als Projekt zur Armutsbekämpfung ausgebaut. Es gehört zum Ministerio de Desarrollo Social y Familia und betreut rund 130.000 Einzelpersonen, mehr als 90.000 Familien und 446 comunidades (MDS 2021d: 8). Als Ziel setzt sich der FOSIS, einen Beitrag zur Überwindung von Armut zu leisten (MDS 2021d: 2). Zielgruppe des Sozialprogramms sind Menschen, die als vulnerabel gelten, das heißt, entweder direkt von absoluter Armut betroffen zu sein oder am Rande der Armut zu stehen.Footnote 98 Laut Antonia, die selbst im FOSIS in Santiago arbeitet, richtet sich der Fondo an die ärmsten 40 Prozent der chilenischen Bevölkerung (c2). Sie arbeitet im Programm mit dem Namen Yo Emprendo (im übertragenen Sinne: ich gründe ein Unternehmen), das sich an von Armut betroffene Personen richtet, die ein eigenes Geschäft unterhalten oder aufbauen wollen. Im Rahmen des Programms werden die Geschäftsaktivitäten finanziell sowie durch Beratung und Bildungsangebote unterstützt.Footnote 99 Typische Geschäfte, die sich in den Vierteln Santiagos, die Antonia betreut, auf die Förderung bewerben, seien kleine gastronomische Geschäfte sowie kleine Läden für Bekleidung oder Dienstleistungen wie Kinderbetreuung oder Maniküre. Antonia merkt aber an, dass es dabei nicht nur darum gehe, den Menschen zu helfen, sondern auch darum, dass die Menschen aus den offiziellen Armutsstatistiken herausfielen. Ihr Unterstützung ende eben genau dann, wenn sie nicht mehr als arm gelten (c2). Die Programme des FOSIS arbeiteten im Jahr 2020 mit rund 34.000 Kleinbetrieben zusammen, die größtenteils von Frauen geleitet werden (MDS 2021d: 11). FOSIS stellt dabei nur eine Institution unter mehreren dar, die sich in Chile der Förderung kleiner Betriebe und Selbständiger widmen.Footnote 100

Insgesamt lässt sich feststellen, dass der chilenische Staat die Förderung kleiner Betriebe und Selbständiger als zentralen Einsatzpunkt für seine »Entwicklungs-« und Armutsbekämpfungspolitik sieht. Allerdings sind damit erstens die vielen informellen Aktivitäten nicht abgedeckt, die nicht zuletzt auch in Chiles Städten florieren. Zweitens gelingt es den Förderprogrammen unter anderem des INDAP und des Ministeriums für soziale Entwicklung nicht, die armen und prekären Haushalte in einem derartigen Umfang wieder mit produktiven Ressourcen auszustatten, der ihnen eine stabile soziale Integration in die chilenische Gesellschaft ermöglichen würde. Drittens dienen die staatlichen Programme häufig nur der Beschaffung politischer Legitimität durch die Senkung der offiziellen Zahlen von Armut betroffener Bevölkerungsteile. Schließlich können die Programme zur Förderung des bedarfsökonomischen Sektors die starke Schieflage der Privilegierung des kapitalistischen Sektors seitens der chilenischen Regulation nicht kompensieren. Die Folge sind Konflikte um ökologische und soziale Ressourcen, auf die ich im Folgenden eingehen werde.

4.1.6 Chile in Aufruhr: Soziale Bewegungen seit den 2000er Jahren

Vor dem Hintergrund der großen Bedeutung der marginalen Massen in der Sozialstruktur Chiles, hält es Gabriel Salazar für unwahrscheinlich, dass die klassischen Lohnabhängigen einen »mächtigen dynamischen Pol« im sozialen und politischen Gefüge der Postdiktatur darstellen werden (Salazar 2017: 369). Ganz in diesem Sinne waren es auch eher die Menschen am Rande der Städte, die Bewohner*innen der abgelegenen Regionen sowie die Studierenden und die Schüler*innen, die in den späten 1990er und vor allem in den 2000er Jahren die politische Lähmung in Chile durchbrachen.

Die Schülerproteste machten ab 2006 den Anfang. In der sogenannten Pinguinrevolution – benannt nach den schwarz- oder blau-weißen chilenischen Schuluniformen – gingen tausende Schüler*innen in den großen Städten des Landes auf die Straßen, um gegen das neoliberale Schulsystem zu demonstrieren (Donoso 2013). Dabei waren es zunächst konkrete Probleme wie die schlechten Zustände vieler Schulen, die Kosten für die Prüfungen zum Universitätsauswahlverfahren oder lange Schultage, welche die Proteste an unterschiedlichen Orten auslösten (ebd.: 10 f.). Bald richteten sich die Proteste aber grundsätzlich dagegen, dass private Geschäftsleute mit der Bildung Profite machen und die Schüler*innen sprachen sich für ein öffentliches Bildungssystem aus (Bellei et al. 2014: 430). Die große gesellschaftliche Unterstützung, die die Proteste erfuhren, hatte damit zu tun, dass sie allgemeinere Themen ansprachen, wie die hohen Kosten des öffentlichen Nahverkehrs oder die allgemein sozial sehr ungleichen Bildungschancen (Donoso 2013: 6 f., 23). Auf die Proteste der Schüler*innen folgten im Jahr 2011 massenhafte Studierendenproteste, die sich gegen die hohen Gebühren des privaten Bildungssystems richteten, das zu einer enormen Verschuldung der Studierenden führte (ebd.: 28; Bellei et al. 2014). Mitte Juni 2011 marschierten dann das erste Mal seit der Militärdiktatur über 100.000 Demonstrant*innen auf der Alameda – der größten Straße im Zentrum Santiagos – in Richtung Regierungspalast (Bellei et al. 2014: 430). Viele von ihnen waren aufgrund der hohen Studiengebühren Hals über Kopf verschuldet (ebd.). »No al lucro« (übers.: Nein zu Profiten) wurde zu einem verbreiteten Slogan (Mayol 2020: 51 ff.). Auch die Proteste der Studierenden wurden von breiten Teilen der Bevölkerung unterstützt. Wenige Monate nach Beginn der Proteste protestierten schon fast eine Millionen Menschen im Zentrum von Santiago und drückten ihre Solidarität mit den Studierenden aus, deren Demonstrationen mittlerweile wiederholt unter Einsatz von Polizeigewalt aufgelöst wurden (Bellei et al. 2014: 431). Die 2010er Jahre brachten aber nicht nur Proteste in den Städten mit sich, sondern mobilisierten auch die sozialen Bewegungen in den weit abgelegenen ländlichen Regionen.

Ebenfalls 2011 versammelten sich die Menschen in der südchilenischen Region Magallanes zu großen Protesten, Demonstrationen und Blockaden, nachdem das staatliche Erdölunternehmen die Gaspreise um über 16 Prozent erhöhte. 2012 kam es zu Massenprotesten und Straßenblockaden in der Region Aysén, die sich ebenfalls im Süden des Landes befindet. Die Proteste in Aysén richteten sich gegen die Ausbeutung ihrer ökologischen Ressourcen und große Investitionsprojekte im Bereich Stromproduktion durch Wasserkraft von denen die lokale Bevölkerung nicht profitiere (Radovic 2013). Die Proteste in Aysén schufen einen emblematischen Konflikt, der im Fortgang städtische und ländliche Bewegungen näher zusammenbrachte. 2016 riegelten die Gewerkschaften der selbständigen Fischer*innen bei Protesten das ganze Inselarchipel Chiloé mehrere Wochen vom Festland ab. Im Frühjahr hatten zuvor große Transportschiffe der Lachsindustrie vor den Küsten Chiloés tonnenweise tote Fische verklappt. Wenige Wochen später suchte im Zuge einer Algenpest ein massenhaftes Fischsterben den Inselarchipel heim und die Regierung reagierte aus gesundheitlichen Gründen mit einem Verbot des Fischfangs und dem Tauchen nach Muscheltieren (Mondaca 2021: 166). Die lokale Bevölkerung, die auf den Fischfang sowie das Tauchen nach Meeresfrüchten angewiesen ist, geriet daraufhin in wirtschaftliche Nöte und machte die Lachsindustrie für die Umweltkatastrophe verantwortlich (ebd.). Große Proteste brachen aus, die sich nicht nur gegen die Lachsindustrie, sondern bald auch gegen die gesamte extraktivistische Vereinnahmung Chiloés richteten (Cárcamo/Ponce 2021: 192 ff.).Footnote 101 Die Proteste wurden von den Gewerkschaften der Fischer*innen angeführt, jedoch durch die gesamte lokale Bevölkerung unterstützt. Im Mai 2016 war schließlich der ganze Inselkomplex von der lokalen Bevölkerung abgeriegelt. Nur Fußgänger*innen, der lokalen Bevölkerung und Krankenwägen wurde von den Demonstrant*innen der Zutritt auf die Insel gewährt. Auf diese Weise verwandelte sich der Konflikt um das Fischsterben in eine Auseinandersetzung um die territoriale Kontrolle des gesamten Inselarchipels (ebd.: 169 ff.). Wie auch schon in der Schüler- und Studierendenbewegung in Magallanes und Aysén wurde ein langjährig bewährtes Repertoire der Konfliktaustragung bemüht, das aus Demonstrationen, Straßenblockaden, Barrikaden und der Besetzung von Land und Gebäuden, aber auch aus Hungerstreiks, Petitionen, ollas comunes (Volksküchen) und offenen Versammlungen bestand (Cárcamo/Ponce 2021: 201).

Während in den Städten Chiles um die Kosten der privatisierten sozialen Güter gekämpft wird, geht es in den ländlichen Regionen vorwiegend um den Zugang zu und die Verteilung von ökologischen Ressourcen, die Folgen der extraktivistischen Aktivitäten der Großunternehmen und um territoriale Kontrolle. Gleichzeitig überschneiden sich die Ziele auch in vielen Punkten. So waren eine verbesserte Bildung und niedrige Preise für Güter des alltäglichen Bedarfs auch Teil des Forderungskatalogs bei den Protesten in Aysén (Radovic 2013). Andererseits wird auch in den Städten um Land, territoriale Kontrolle und Zugänge zu öffentlichen Räumen gekämpft. Beispielsweise bilden die pobladores eine soziale Bewegung mit langer Tradition (Salazar 2017: 169 ff.; Bengoa 2016: 68 f.). Die chilenischen Klein- und Großstädte sind umgeben von solchen illegalen Ansiedlungen. Die pobladores waren seit den starken Urbanisierungsprozessen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als eine soziale Bewegung der »Überflüssigen« von großer Bedeutung (Salazar 2017: 170 ff.). Sie lebten stets in irgendeiner Hinsicht außerhalb der Legalität und ihr kollektives Handeln richtete sich auf die toma (übers.: sich etwas nehmen), eine Praktik des sich Besetzens und Aneignens von Land, Nutztieren oder gar Waffen (ebd.: 174 f.). Diese Taktik erstreckte sich im 20. Jahrhundert stark auf die Aneignung von Siedlungsland mittels direkter Aktionen, die darauf abzielten, die Ansiedlungen später legalisieren lassen zu können (ebd.: 178). Das Leben im Modus der Aneignung, das die pobladores führen, war und ist allerdings stets äußerst prekär, da es sich außerhalb der staatlichen Regulation bewegt (ebd.). In dieser Hinsicht und darin, dass sie sich nicht unterwarfen, ähnelten die marginalen Massen seit jeher den indigenen Mapuche im zentralen Süden (ebd.: 175). Allerdings verfolgten sie im Gegensatz zur Bewegung der Mapuche in der Regel das Ziel, sich mittels der toma ökonomisch und politisch in die chilenische Gesellschaft zu integrieren (ebd.: 177). Nach einem Aufleben Anfang der 1990er Jahre waren die tomas im Umfeld der Städte in Chile allmählich rückläufig (Salazar 2017: 189 f.). Die Urbanisierung verlangsamte sich und der soziale Wohnungsbau federte das Leid der Landlosen etwas ab (ebd.). Heute sind die pobladores rund um die Städte ein Teil der städtischen Arbeitsbevölkerung. Sie haben sich häufig einen festen Wohnsitz erstritten oder in den überall in Chile befindlichen staatlichen Sozialbauten einen Platz ergattert. Dennoch leben auch im Jahr 2017 über 1,4 Millionen Menschen in Wohnformen ohne Anschluss an die Grundversorgung. Über 43.000 Familien wohnen in informellen Siedlungen und rund 500.000 Familien in prekären Wohnverhältnissen.Footnote 102 Die Gründe dafür, in einem der informellem campamentosFootnote 103 zu leben, sind prinzipiell ökonomisch: an erster Stelle stehen die niedrigen Löhne und an zweiter Stelle die hohen Mietpreise (BdCN 2021). Die Zahl der campamentos ist in den letzten Jahrzehnten wieder angestiegen und hat sich seit 2007 fast verdoppelt.Footnote 104 Die toma als Praktik der Marginalen am Rande der Städte ist in Chile weiterhin äußerst verbreitet. Auch sind die Organisationen der pobladores heute noch aktiv, haben sich jedoch bezüglich ihren Zielsetzungen verändert.Footnote 105

In den 2010er Jahren kam es in Chile insgesamt zu einer stetig steigenden Zahl an manifesten und medial präsenten Konflikten (Garretón et al. 2017: 6 f.). Die größten Proteste spielten sich in den regionalen Hauptstädten und in Santiago ab. Betrachtet man die Zahl der Konflikte allerdings im Verhältnis zur Bevölkerungsdichte, so ist die Konfliktivität in vielen ländlich geprägten Gebieten äußerst hoch (ebd.: 7 f.). 5 Prozent der Auseinandersetzungen haben mit dem Rentensystem zu tun, 13 Prozent mit ökologischen Themen, 23 Prozent mit dem Zugang zu öffentlichen Gütern und 36 Prozent drehen sich um die Arbeitsverhältnisse (ebd.). Die zahlenmäßige Beteiligung an Konflikten um das Rentensystem und soziale Infrastrukturen sind dabei besonders ausgeprägt (ebd.: 8). Von den Auseinandersetzungen um Arbeitsverhältnisse finden über 55 Prozent in den öffentlichen Institutionen statt und nur etwa ein Viertel im privaten Sektor (Gutiérrez et al. 2017: 12). Über 12 Prozent der Arbeitskonflikte gehen von Selbständigen oder Klein(st)betrieben aus (ebd.). Während bei den Konflikten in größeren privaten Unternehmen Streiks und bei öffentlichen Institutionen Streiks und Demonstrationen das Repertoire der Aktionsformen dominieren, sind es bei Selbständigen und Klein(st)betrieben vor allem Demonstrationen und Straßenblockaden (ebd.: 13). Gleichzeitig drehen sich auch die Auseinandersetzungen im Arbeitsumfeld in großem Maße um Themen wie die (Betriebs-)Renten und betreffen damit weit mehr als nur Lohnfragen (ebd.: 10 f.). Die Forderungen, die Aktionsformen und die beteiligten Akteur*innen bei den Protesten in Chile bilden folglich ein weites Feld. Traditionelle betriebliche und normierte Konflikte um die Lohnhöhe und um Arbeitsverhältnisse im kapitalistischen Sektor machen nur einen kleinen Bruchteil der Konflikte aus. Es kommt vielmehr in der Breite neben klassischen Lohnfragen zu allgemein geteilten sozialen Forderungen, die sich auf die sozialen Infrastrukturen wie den öffentlichen Transport, das Gesundheits-, Renten- und Bildungssystem sowie die hohen Lebenshaltungskosten, aber auch die Geschlechtergerechtigkeit und feministische Themen beziehen (Gutiérrez et al. 2017; Paredes 2017). Es geht in den Konflikten folglich mehrheitlich um Fragen, die die allgemeinen sozialen Reproduktionsbedingungen prekärer Haushalte betreffen (Graf/Landherr 2020: 485 f.).

Die städtischen und ländlichen Bewegungen überschneiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer sozialen Forderungen. Auch ökologische Probleme haben sich zunehmend zu einem universellen Problem in Chile entwickelt. Das gilt nicht nur in Bezug auf den Wassermangel. Im Norden des Landes türmen sich die giftigen Industrieabfälle des Bergbaus (Landherr 2022) im Süden verschmutzt die Lachsindustrie die Flüsse und Meeresbuchten (Fischer 2010) und in den Städten verschmutzen die Industrieanlagen und der dreckige Verkehr die Luft und Gewässer (Winterstein 2018). In den letzten Jahren werden auch bei regionalen Wahlen Vertreter*innen ökologischer Bewegungen in wichtige Verantwortungspositionen gewählt. Das gilt auch für größere Städte wie Valparaíso.Footnote 106 Die Verbindung von ökologischen, territorialen und sozialen Forderungen in Stadt und Land wird vor allem an der zunehmende Präsenz der Symbole der Mapuche-Bewegung bei Protesten im ganzen Land deutlich. Ihre Kämpfe lebten seit den späten 1990er Jahren auf und intensivierten sich in den 2000er Jahren (Tricot 2009). Schon damals wurden die Mapuche in zunehmendem Maße Projektionsfläche für politische Aktivist*innen in Chile und Symbol für das rebellische Aufbegehren gegen die Mächtigen im Land (Vergara/Foerster 2002: 37). Insbesondere bei den Protesten des estallido social von 2019 war die Fahne der Mapuche – die Wenufoye – allgegenwärtig (Pacheco et al. 2021).

Die Proteste, die am 18. Oktober 2019 in Santiago ausbrachen, entwickelten sich zu den größten sozialen Auseinandersetzungen und Demonstrationen in der Geschichte des Landes. Zuvor hatten sich seit April 2018 die Lebenshaltungskosten weiter erhöht. Die Preise von Strom, Wasser, Gesundheitsversicherungen, die Mautgebühren sowie die Mieten waren stetig gestiegen (Albert/Miranda 2019). Ende 2019 wurden dann zusätzlich in Santiago die Preise für Metro-Tickets und für die öffentlichen Busse erhöht. Dies war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Tausende stürmten die U-Bahnstationen, sprangen über die Drehkreuze an den Tunneleingängen und riefen dazu auf, die Tarife nicht mehr zu bezahlen. Es kam zu gewaltvollen Auseinandersetzungen mit der Polizei, brennenden U-Bahnstationen, Plünderungen großer Kaufhausketten und überall entstanden Straßenbarrikaden und Protestzüge. In den folgenden Tagen, Wochen und Monaten gingen Millionen Menschen auf die Straße, blockierten im ganzen Land Straßen und besetzten öffentliche Plätze. Die Proteste ebbten nicht ab, obwohl der damalige konservative Präsident Sebastián Piñera den Ausnahmezustand ausrief, das Militär und Panzer auf die Straßen schickte und nächtliche Ausgangssperren verhängte. Hunderte Menschen wurden verletzt, viele starben in den folgenden Auseinandersetzungen mit den staatlichen Sicherheitskräften und erst die Corona-Pandemie konnte die Demonstrationen, die sich über das ganze Land und sogar in andere Länder des Kontinent ausgebreitet hatten, beenden (Tauss/Boos 2020; Graf/Landherr 2021).

Der estallido social war eine Folge davon, dass die ökologischen Krisen sowie die Fortdauer der verbreiteten Prekarität und der extremen sozialen Ungleichheit in den 2010er Jahren immer deutlicher zutage traten (Fischer 2011: 181 f.; Julián 2014; Matamala 2015: 331 ff.). Die Ungleichheit gemessen an selbständigen wirtschaftlichen Einkommen nahm in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre wieder zu und die ökologischen Krisen häuften sich (MDS 2020b; OMM 2022: 18). Zwar weckte die Bildungsexpansion in Chile seit den 1990er Jahren bei vielen die Hoffnung auf einen individuellen sozialen Aufstieg durch eine höhere Qualifizierung. Für die breite Mehrheit derjenigen, die durch ein Studium versuchen, innerhalb des kapitalistischen Sektors ein gutes Einkommen zu finden, bot die chilenische Realität schließlich jedoch auch in den 2010er Jahren nur prekäre Arbeitsverhältnisse und hohe Privatverschuldung (Schneider 2013: 176; Durán/Narbona 2021: 217 f.). Auf subjektiver Ebene paarte sich diese Situation mit dem weit verbreiteten Gefühl des individuellen Scheiterns in Bezug auf das neoliberale Versprechen der Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg durch persönlichen Aufstieg und wurde von dem Druck stetig steigender Lebenshaltungskosten begleitet. Die soziale Reproduktion von Haushalten innerhalb des kapitalistischen Sektors ist für große Teile auch der urbanisierten chilenischen Gesellschaft nach wie vor kaum möglich. Die privatisierten sozialen Infrastrukturen von Transport über Bildung bis hin zu Gesundheit und Wohnen führen zu hohen Lebenshaltungskosten, die nicht durch die nachhaltige Lohnsteigerungen kompensiert werden können, sondern die Chilen*innen in weit verbreitete Privatverschuldung und häufig in Zahlungsunfähigkeit stürzen (González 2017: 82 ff.). Das individuelle Gefühl des Scheiterns wich immer mehr der Erfahrung des kollektiven Leidens am neoliberalen System. So wurde im Zuge der Proteste auch die Identität des pueblo (übers: Volk) als Klassenidentität der einfachen Leute immer wichtiger (Graf/Landherr 2020: 478 ff.). Aus der sozialen Kategorie entwickelte sich in den Protesten der 2010er Jahre eine politische Identität zu der vor allem die Marginalisierten in den poblaciones, die Kleinbäuer*innen, die Mapuche, aber auch die Lohnarbeiter*innen im öffentlichen Sektor und in den Fabriken und Bergwerken sowie die Schüler*innen und Student*innen gehören. Die Oktoberrebellion war allerdings nicht nur ein Aufstand der Prekären, sondern in hohem Maße ein Aufstand der chilenischen Frauen. Deshalb verwundert es nicht, dass die größte Demonstration im Folge des estallido social mit zwei Millionen Beteiligten alleine in Santiago am 8. März 2020, dem internationalen Frauentag, stattfand.Footnote 107

Den sozialen Härten des pueblo stand seit jeher das gesättigte Leben einer kleinen, äußerst wohlhabenden besitzenden Klasse gegenüber – ein Missverhältnis, das in den letzten Jahren in Chile immer deutlicher wurde. Stetig wiederkehrende Skandale – von großen Preisabsprachen bis zu Umweltverschmutzungen – machten zudem die dauerhaften Vergehen der chilenischen herrschenden Klassen gegenüber den Arbeiter*innen, den Klein(st)betrieben, den Kleinbauernfamilien und den Endverbraucher*innen sowie deren Bereicherung auf Kosten der Natur immer wieder deutlich (Garín 2017; Pizarro 2020: 337). Die Aufstände seit Oktober 2019 waren eine Rebellion gegen das neoliberale Modell Chiles (Mayol 2020: 80 ff.; Akram 2021: 36 ff.), aber auch eine Rebellion gegen den kapitalistischen Sektor, dessen staatliche Förderung sowie die herrschende Klasse (Pizarro 2020; Palacios-Valladares 2020; Graf/Landherr 2020).

Der estallido social lässt sich in vielerlei Hinsicht nicht nur als Protest, sondern auch als Stärkung bedarfsökonomischer Aktivitäten verstehen. In der Nähe von San Antonio zerstörten Nachbarschaftsgruppen einen Damm eines Wasserversorgungsunternehmens und leiteten das Wasser wieder in den Río Maipo um,Footnote 108 im Süden intensivierten die Mapuche ihre Kämpfe um Land,Footnote 109 in den Vororten von Santiago besetzten pobladores Land, um Wohnhäuser für sich zu errichten,Footnote 110 überall kam der informelle Handel zurück, da die Polizei keine Kräfte mehr hatte, ihn von den Straßen zu schicken und mit Geldstrafen zu belegen (Valenzuela 2020). Kleine formelle Geschäfte – gerade im Handel – litten zwar vielerorts auch unter den sozialen und politischen Unsicherheiten, die mit den Protesten verbunden waren, doch waren ihre Schaufensterscheiben gleichzeitig nicht das Ziel der Steine der Demonstrant*innen. Kleine Ladenbesitzer*innen solidarisierten sich mit den Protesten – wie beispielsweise in Temuco, wo ein Friseur ein provisorisches Schild auf seine Tür geklebt hat, auf dem geschrieben steht, »Das ist ein Familienbetrieb des Volkes – keine Zerstörung anrichten – wir sind auf eurer Seite«.Footnote 111

Mit dem Oktober 2019 begann eine Phase des regelrechten Ausbruchs der kollektiven Wiederaneignungen der Kontrolle über soziale Infrastrukturen, Land und ökologische Ressourcen im Allgemeinen. Dabei entstanden auch Allianzen chilenischer Organisationen mit Mapuche-Organisationen.Footnote 112 Ende Oktober kam es beispielsweise zu einer Demonstration der comunidades in der regionalen Hauptstadt Temuco (La Araucanía), an der sich viele tausend Mapuche beteiligten und ihre Solidarität mit dem »chilenischen Volk« ausdrückten. Die Mapuche waren im estallido social allerdings nicht nur ein Akteur unter vielen. Überall vom Süden bis weit in den Norden des Landes führte die Fahne der indigenen Mapuche Proteste an (Pacheco et al. 2021). Dies ist einerseits überraschend, da im Vergleich zu Ländern wie Bolivien oder Ecuador in Chile nur ein relativ kleiner Teil der Bevölkerung den Mapuche angehört. Andererseits symbolisiert der Jahrhunderte alte Konflikt zwischen Staat und Mapuche in Chile den Kampf eines nicht-kompromittierten, anti-staatlichen, anti-kapitalistischen, anti-extraktivistischen und anti-kolonialen Widerstands, mit dem immer mehr Chilen*innen sympathisieren. Die Mapuche bilden dabei die – teils romantisierte – Verkörperung einer bedarfsökonomischen Produktions- und Lebensweise, die im Einklang mit der Natur steht. Insofern bilden sie das Musterbeispiel eines environmentalism of the poor, eines Widerstandes des bedarfsökonomischen Sektors sowie eines Kampfs für die Wiederaneignung (re)produktiver Ressourcen durch das einfache Volk. Diese spezifische Rolle der Mapuche als politische Avantgarde der sozioökonomischen Aktivitäten des bedarfsökonomischen Sektors, wirft die Frage auf, wie sich deren Verhältnis zum kapitalistischen Sektor gestaltet. Da der Konflikt im zentralen Süden Chiles vor allem zwischen den Gemeinschaften der Mapuche und den großen Forstunternehmen stattfindet, werden wir im Folgenden zunächst die Expansion der chilenischen Forstindustrie und deren Verhältnis zur lokalen Bevölkerung untersuchen.

4.2 Die chilenische Forstindustrie: die Produktion von Zellstoff und »Überflüssigen«

Die neuere Geschichte der Forstindustrie in Chile ist – wie wir im Folgenden sehen werden –nicht nur eine Geschichte der massiven Rodung der Urwälder und der Pflanzung industrieller Forstplantagen, sondern damit verbunden auch eine der inneren Kolonisierung und der kapitalistischen Landnahme. Die Forstwirtschaft stellte von Beginn an eine Form der Ausbeutung der Natur sowie der Unterwerfung und Kontrolle der lokalen Bevölkerung dar (Scott 1998: 11 ff.; Klubock 2014: 29 ff.). Wenn im Folgenden von der chilenischen Forstindustrie die Rede ist, begrenzt sich dies nicht nur auf die Forstwirtschaft, das heißt die Bewirtschaftung von Wäldern und Forstplantagen. Vielmehr beinhaltetet die Forstindustrie auch die Weiterverarbeitung der Rohstoffe in der Holz- und Zellstoffindustrie. Forstplantagen bilden die ökologische Basis der Branche und werden als monokultureller Anbau von schnell wachsenden Baumarten – zumeist Kiefern und Eukalyptus – definiert, der in der Regel auf großen Flächen stattfindet und mit einem intensiven Forstmanagement einhergeht, das gewöhnlich auf genveränderte, schnell wachsende Arten und intensiven Chemieeinsatz ausgerichtet ist (Gerber 2011: 165 f.). Die Expansion der Forstwirtschaft hat zu steigenden Konflikten mit der lokalen Bevölkerung und immer wieder zu deren Vertreibung und der Untergrabung ihrer Produktions- und Lebensweisen geführt. Vor allem zwischen den indigenen Mapuche und der Forstindustrie kommt es deshalb zu ständigen Auseinandersetzungen. Die Entwicklung der Forstindustrie ist – wie wir sehen werden – ein extremer Fall eines sozial exklusiven und ökologisch zerstörerischen Wachstums des kapitalistischen Sektors. An ihr lässt sich in deutlichem Licht das konfliktive Verhältnis zwischen kapitalistischem Wachstum und dem lokalen bedarfsökonomischen Sektor untersuchen. Gerade die Auseinandersetzungen zwischen Forstindustrie und den Mapuche lassen uns besser verstehen, wie der globale Kapitalismus in peripheren Gebieten Konflikte erzeugt, wie er versucht, diese zu bearbeiten und welche Allianzen ihm gegenüber entstehen können. Die Geschichte der chilenischen Forstindustrie beginnt Ende des 19. Jahrhunderts.

4.2.1 Die Herausbildung der Forstindustrie in Chile

Der militärische Sieg des chilenischen Staates über die Mapuche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts läutete einen wirtschaftlichen Rausch ein, der sich auf das neu zu besiedelnde fruchtbare Land im zentralen Süden richtete. Riesige Waldflächen wurden gerodet und die verbliebenden Wälder maßlos ausgebeutet, um damit nicht nur große Reichtümer zu erzielen, sondern auch Flächen für die Weizenproduktion zu gewinnen. Die staatlichen Gesetze von 1874 und 1928 förderten zunächst die Brandrodung der Urwälder. Erst 1931 wurde ein Gesetz erlassen, das das illegale Inbrandsetzen von Wäldern verbot, allerdings kaum einen Effekt auf den praktischen Umgang mit den Wäldern vor Ort hatte. So schritt die Entwaldung und Erosion der Böden weiter voran (Otero 2006: 137). Die Ausbeutung der chilenischen Urwälder brachte gleichzeitig die ersten chilenischen Forstunternehmen hervor, die den Binnenmarkt für den Bau seiner wachsenden Städte, für die Gießereien des Bergbaus oder die Errichtung der Eisenbahnlinien mit Holz versorgte (ebd.: 89, 85 ff., 93). 1907 entstanden die ersten Forstplantagen der schnell wachsenden Kiefernart Pinus Radiata und als erstes größeres privates Unternehmen des Forstbereichs im Jahre 1920 die Compañía Manufacturera de Papeles y Cartones (CMPC) in Form einer kleinen Papierfabrik mit dem Namen La Esperanza (Donoso et al. 2015: 213 f.).

Schon in den 1930er Jahren wurde die zunehmende Erosion und Erschöpfung der durch die extensiven Rodungen entstandenen landwirtschaftlichen Nutzflächen deutlich. Die daraus resultierenden ökologischen Probleme gingen mit einer sozialen Krise der Arbeitslosigkeit und Lebensmittelknappheit einher (Otero 2006: 97). In der Folge entstand eine staatliche Politik zum Schutz und Aufbau sowie zur Förderung einer Land- und Forstwirtschaft, die der Erosion und Erschöpfung der Böden entgegenwirken sollte (ebd.). Ziel der staatlichen Forstpolitik war es allerdings nicht nur, die Erosion der Böden zu bekämpfen, sondern mit der Forstindustrie auch eine neue wirtschaftliche Branche zu schaffen, die fähig sei, die Exporte zu diversifizieren und die Armut in den südlichen Regionen zu bekämpfen. Dies sollte darüber hinaus durch die Verbesserung der Böden sowie durch den Aufbau einer eigenen Holz- und Papierindustrie geschaffen werden, die – so die Vorstellung – mit lokalen Beschäftigungseffekten einhergehe. Die Forstindustrie könnte – so die Hoffnung – der »Entwicklungsmotor« des zentralen chilenischen Südens werden (Klubock 2014: 120 f.). Dafür schützte der Staat die Papierindustrie mit Zöllen und errichtete Ende der 1960er Jahre zwei Zellstofffabriken im Süden des Landes: 1967 ein Werk in der Stadt Arauco und zwei Jahre später in Constitución. Beide Werke schlossen sich später zu dem staatlichen Unternehmen Celulosa Arauco y Constitución (CELCO) zusammen. Unter der Regierung Allendes wurde zudem die Institution Corporación Nacional Forestal (CONAF) mit dem Auftrag gegründet, die »Ressource Wald zu schützen sowie ihr Management und ihre Nutzung zu verbessern«.Footnote 113 Die private Behörde untersteht bis heute dem Landwirtschaftsministerium und ist nach wie vor für die chilenischen Nationalparks, die Bekämpfung von Waldbränden und die Kontrolle der Einhaltung der Forstgesetze zuständig.

Der große Boom der Forstplantagenwirtschaft setzte unter der Militärdiktatur ein. Mit einer neuen staatlichen Förderpolitik und der Umverteilung von Land, die die kapitalistischen Forstunternehmen in unvergleichlichem Maße begünstigte, entstanden die Grundzüge der chilenischen Forstindustrie, wie sie bis heute fortbestehen. Eine große Rolle spielte dabei Julio Ponce Lerou – Schwiegersohn von Augusto Pinochet –, der im Juli 1974 den Posten als Direktor der CONAF antrat. Er blieb mehr als fünf Jahre in diesem Amt und privatisierte alle staatlichen Forstbetriebe (Matamala 2015: 204). So geriet CELCO und Forestal Arauco über einen kurzen Umweg 1982 in den Besitz der Gruppe Angelini. Aber die Privatisierungen waren nicht alles, was die Regierung Pinochets tat, um die Forstindustrie zu fördern. Ebenfalls 1974 wurde mit dem Dekret 701 ein Gesetz erlassen, das das Anlegen von Eukalyptus- oder Kiefernplantagen durch private Unternehmen mit 75 Prozent subventionierte (Pastén et al. 2020: 63).Footnote 114 In der Folge wuchs die Branche ab den späten 1970er Jahren doppelt so schnell wie die gesamte Wirtschaftsleistung des Landes und wurde schon in den 1980er Jahren zum drittgrößten Exportsektor hinter der Fertigungsindustrie und dem Bergbau (Klubock 2014: 239). Zwischen 1974 und Anfang der 2010er Jahre wurden die Forstunternehmen auf diese Weise mit rund 875 Millionen US-Dollar subventioniert. 70 Prozent dieser staatlichen Gelder gingen an die drei privaten Unternehmen CMPC/Mininco,Footnote 115 Forestal Arauco und Masisa (Matamala 2015: 204).

Die staatlich vorangetriebene Expansion bedeutete auch mit Blick auf die Landnutzung, die Landkonzentration sowie die ökologischen Kreisläufe und die Biodiversität einschneidende Veränderungen. Während den 1980er Jahren bis in die frühen 1990er Jahre wurden große Teile der ehemaligen chilenischen Naturwälder im zentralen Süden Chiles durch Plantagen ersetzt (Echeverria et al. 2006; Pastén et al. 2020: 64). Die heimischen Wälder und Urwälder mitsamt ihrer Wasserströme und ihrer Flora und Fauna wurden zerstört, um Forstplantagen Platz zu machen (Klubock 2014: 257). Dies führte insbesondere in der südlichen Küstenkordillere auch zu einer großen Transformation der sozialen Verhältnisse. Dabei kam es zu einer zunehmenden Zerstörung der kleinbäuerlichen Ökonomie, zur Verarmung der ländlichen Bevölkerung sowie zu Arbeitslosenzahlen von 20 bis 50 Prozent in den ruralen Gegenden im Umfeld der Plantagen (ebd.: 248). Diejenigen, die bei Forstunternehmen Arbeit fanden, erlitten die schlechtesten Arbeitsbedingungen und die niedrigsten Löhne des Landes (ebd.). Die Expansion der Forstindustrie in der Zeit der Militärdiktatur erwuchs damit erstens aus der Industriepolitik der vorangegangenen Jahrzehnte, welche Unternehmen und Institutionen der Forstindustrie durch staatliche Initiative hervorbrachte, zweitens ging sie mit der Vertreibung einer bedeutenden Zahl an kleinbäuerlichen Haushalten im Zuge der Kontraagrarreform einher und drittens basierte sie auf der Möglichkeit, sich mit staatlichen Subventionen die Natur des zentralen Südens zu niedrigen Kosten anzueignen und dabei auf ein überbordendes Angebot an billigen Arbeitskräften zurückgreifen zu können (ebd.: 248 f.).

Diese tiefgreifende Transformation der sozialökologischen Verhältnisse auf dem Land spiegelt sich in der flächenmäßigen Expansion der Forstplantagen wider. Die Forstplantagen bedeckten im Jahr 1976 noch 394.579 Hektar, eine Zahl, die bis ins Jahr 2007 auf 1.806.774 Hektar angestiegen war (INE 2007c: 43). In der Region La Araucanía verfünfzehnfachte und in der Region Biobío versiebenfachte sich die Fläche der Forstplantagen in dieser Zeit (ebd.: 43).Footnote 116 Diese enorme Expansion der Plantagen aus Kiefern und Eukalyptus änderte die Landnutzung sowie die Sozialstruktur in vielen ländlichen Regionen des zentralen chilenischen Südens grundlegend. Wo früher kleinbäuerliche Landwirtschaft dominierte oder auf großen Flächen Weizen oder Kartoffeln angebaut wurde, fanden sich in den 2000er Jahren nur noch kilometerlange Forstplantagen. War es ursprünglich ein Ziel der CONAF und anderer Institutionen der Forstindustrie durch die Förderung der Forstplantagen, den Druck auf die chilenischen Urwälder zu nehmen, der durch die große Nachfrage nach Holz bestand, so schlug diese Politik während der Militärdiktatur in ihr Gegenteil um. Statt den Nachfragedruck durch alternative Holzangebote aus den Plantagen zu mildern, führte die Ausrichtung auf den Export vielmehr zu einer erheblichen Expansion der Märkte. In der Folge steigerten sich nicht nur die Absatzmöglichkeiten für Holzprodukte und Zellstoff, sondern auch die Nachfrage nach billigen Rohstoffen, weshalb weitere große Flächen an Urwäldern gerodet wurden, um schnell wachsenden Baumarten Platz zu machen (Klubock 2014: 256 ff.).

Für die Expansion der chilenischen Forstwirtschaft in der Militärdiktatur und ihre staatliche Regulierung gilt, was Karl Marx Mitte des 19. Jahrhunderts über die Gesetzgebung in der preußischen Rheinprovinz schrieb, wo man »das Recht der Menschen vor dem Recht der jungen Bäume« niederfallen lasse: »[…] die hölzernen Götzen siegen, und die Menschenopfer fallen!« (Marx 1956: 111). Doch auch nach dem Ende der Regierungszeit Pinochets wurden die Weichen der Forstindustrie nicht umgestellt. Im Jahr 1998 wurde das Dekret 701 ein weiteres Mal um 12 Jahre verlängert (Matamala 2015: 204). Darüber hinaus strömte nun noch deutlich mehr ausländisches Kapital in den Sektor. Mit dessen Hilfe konnten die Familien Matte (CMPC/Mininco) und Angelini (Gruppe Arauco) die Konzentration im Forstsektor und des Landbesitzes vorantreiben und bei Verkäufen und Privatisierungen geschickte Ankäufe tätigen (Clapp 1995: 287 f.). Der chilenische Forstsektor nahm an dem allgemeinen Wirtschaftswachstum in den 1990er und 2000er Jahren großen Anteil. So vervielfachte sich die Produktion von Zellstoff in dieser Zeit von 800.000 Tonnen (1990) auf über fünf Millionen Tonnen (Infor 2020: 112).

4.2.2 Die Forstindustrie heute: Exklusives Wachstum und hierarchische Märkte

Abb. 4.1
figure 1

(Quelle: Infor 2021b: 31 – Eigene Darstellung)

Forstplantagen in Chile.

In den 1980er Jahren waren weltweit nur rund 17.8 Million Hektar mit Forstplantagen bedeckt, 2010 waren es schon etwa 264 Millionen (Gerber 2011: 166; Kröger 2012: 6). Im Vergleich verbreiten sich diese Plantagen in Lateinamerika und Asien besonders rasant (Kröger 2012: 7).Footnote 117 Schon zu Beginn der 2000er Jahre kam mehr als ein Drittel alles geernteten Holz aus Forstplantagen (ebd.: 3). Um die Jahrtausendwende intensivierten sich auch die Verbindungen zwischen großen Forstfirmen aus den Zentrumsökonomien und peripheren Regionen im globalen Süden. Der Bedarf an Zellstoff führte zu Partnerschaften zwischen den Regionen, mit Großunternehmen aus Ländern wie beispielsweise Finnland oder Schweden, die Technik und Know How lieferten und Geschäfte mit Unternehmen in Ländern wie Brasilien oder Chile eingingen, wo große Forstplantagen für die Zellstoffproduktion errichtet wurden, die den Rohstoff im globalen Vergleich sehr billig produzierten (Kröger 2013: 838 f., 842, 847) (Abbildung 4.1).Footnote 118

Die 1990er und 2000er Jahre stellten für den chilenischen Forstsektor eine wahre Boomphase dar, die gleichzeitig zu einer enormen Zentralisierung und Konzentration des Kapitals in der Branche sowie der ökologischen Ressourcen bei den großen Forstunternehmen führte. Nirgends gebe es heute eine derartige Landkonzentration im Forstbereich wie in Chile, beteuert ein Mitarbeiter einer chilenischen NGO im Interview (a25). Diese Konzentration hätte es den chilenischen Unternehmen der Branche ermöglicht, trotz der begrenzten Flächen, in relativ kurzer Zeit zu wichtigen Playern auf den internationalen Märkten für Zellstoff zu werden, so der Interviewte. In den 2000er Jahren kontrollierten die drei Unternehmen Forestal Arauco, CMPC/Mininco und Masisa zusammen 67 Prozent der gesamten Plantagenflächen Chiles (UdeC 2009: 102). Mit ihren riesigen Plantagenflächen aus schnell wachsenden Baumarten nutzen die Forstunternehmen heute zusammengerechnet fast 60 Prozent des gesamten Fließ-, Grund- und Regenwassers Chiles (Martínez et al. 2018: S. 75). Durch die massive Förderung der großen Forstunternehmen in Chile nehmen diese auf den Weltmärkten eine zunehmend wichtige Rolle ein. Wurden in einem internationalen Ranking von Forstunternehmen Mitte der 1990er Jahre die zwei größten chilenischen Forstunternehmen (Forestal Arauco und CMPC) auf Platz 84 und 128 gelistet, nahmen die beiden Unternehmen in einem späteren weltweiten Ranking im Jahre 2015 nach Unternehmensumsatz schon Platz 18 und 20 ein (Rossi 1995: 131 f.; pwc 2016: 10). Bei rohem Zellstoff ist Forestal Arauco heute mit einem Weltmarktanteil von 25 Prozent sogar der weltweit größte Produzent.Footnote 119 Damit gehört Chile heute zu einem der wichtigsten Produzenten von Zellstoff und Nadelholz (Infor 2021a: 4).

Die Expansion der Forstwirtschaft führte einerseits zur Beeinträchtigung lokaler ländlicher Produktionsweisen und Arbeitsverhältnisse, andererseits aber auch zu einem Rückgang der wirtschaftlichen Diversität innerhalb der Forst- und Holzwirtschaft selbst. Bis in die 1990er Jahre wuchs beispielsweise die Möbelproduktion bestehend aus hauptsächlich kleinen und mittleren Unternehmen in Chile noch an (Rossi 1995: 130 f.). Früher wurden Möbel oder ganze Holzhäuser von kleinen und mittleren Betrieben produziert. Heute ist davon nicht mehr viel übrig. Die großen Forstunternehmen kauften zunehmend nicht nur Land, sondern auch viele der kleinen und mittleren Sägewerke auf, was es für die kleineren Betriebe immer schwerer machte, an Holz zu kommen. In der Folge ist der Forstbereich heute vertikal integriert und die Zuliefer- und Abnehmermärkte werden von den drei großen Forstunternehmen dominiert.Footnote 120

Der chilenische Forstbereich machte im Jahr 2019 1.9 Prozent der gesamten chilenischen Wirtschaftsleistung und über 8 Prozent der Exporte aus (Infor 2021a: 2). Die Branche wird – abgesehen vom deutlich kleineren Masisa – im Wesentlichen von den Unternehmen Forestal Arauco und CMPC/Mininco dominiert, die nicht nur große Teile der Plantagen, sondern auch die gesamte Zellstoffindustrie besitzen. Über 70 Prozent der Exporte des Forstbereichs befindet sich in der Hand der beiden Unternehmen (Barton/Román 2012: 873). Die beiden Forstunternehmen teilen sich zudem den Binnenmarkt auf. CMPC produziert Papier- und Hygieneprodukte, während sich Forestal Arauco stärker auf die Produktion von Spanplatten konzentriert, erklärt Lucio – ehemaliger Präsident der CORMA – im Interview (b35).Footnote 121 Damit ist die Konkurrenz unter den Forstunternehmen auf den Binnenmärkten minimal.

Auf der anderen Seite organisieren die großen Forstunternehmen eine scharfe Konkurrenz zwischen ihren Zulieferunternehmen, welche den Großteil der Aufgaben in und um die Forstplantagen durchführen.Footnote 122 Die schiere Größe der Forstunternehmen ermöglicht es ihnen dabei, die Konditionen und Preise am Markt für die Dienstleistungen wie beispielsweise das Fällen, den Transport und die Instandhaltung der Plantagen zu bestimmen, bestätigen Beschäftigte der Forstbranche im Interview (a3; a37; b38). Es existieren im Forstbereich heute keine mittelgroßen Unternehmen mehr. Vielmehr hat eine Polarisierung stattgefunden, in der sich viele kleine und drei sehr große Unternehmen gegenüberstehen. Dies führt laut den Interviewten zu sehr einseitigen Kräfteverhältnissen am Markt.Footnote 123 Antonio (a3), der in seinem eigenen Unternehmen, das für die großen Forstunternehmen deren Straßen innerhalb der Plantagen baut, tätig ist, erklärt, dass ihre Preise ständig gedrückt würden und es keinen finanziellen Spielraum gebe, sich als Unternehmen zu entwickeln. Es sei ein »absolut imperfekter« Markt, so Fernando (b38), der Sprecher einer Vereinigung der Zulieferunternehmen des Forstbereichs ist. Falls die Forstmaschinen in den großen Forstplantagen im Rahmen des Konflikts mit radikalen Mapuche-Gruppen zu schaden kämen und die Arbeit dadurch gestoppt würde, müssten die Subunternehmen zudem die Kosten alleine tragen, so Fernando (b38). Und diese »Attentate« auf die Forstmaschinen würden von Jahr zu Jahr zunehmen. An einigen Orten könnten sie nur unter der Bewachung durch die Polizei überhaupt arbeiten, so Fernando (b38). Auch Eduardo (a37), der in einem Subunternehmen Erntearbeiten durchführt, bestätigt diese Problematik. So seien in seinem Unternehmen schon Erntemaschinen, aber auch die Busse, in denen die Arbeiter*innen saßen, attackiert worden. Von den sieben Aufträgen, die sein Unternehmen gerade hätte, könnten drei nur unter Schutz der Polizei durchgeführt werden (a37).

Die chilenische Forstindustrie stellt folglich einen wirtschaftlich bedeutenden sowie hochgradig zentralisierten Bereich des kapitalistischen Sektors dar. Auf ihn entfällt ein relevanter Anteil der Exporte der chilenischen Ökonomie. Die massive kapitalistische Landnahme führte damit zu einer konzentrierten Branche, in der der Landbesitz direkt in Unternehmenshand gebündelt wird, während die Tätigkeiten in den Plantagen nahezu vollständig an Subunternehmen outgesourct sind. Diese bekommen in der Folge nicht nur die Marktmacht der großen Forstunternehmen zu spüren, sondern bilden auch die vorderste Front im Konflikt der Forstindustrie mit den comunidades und Organisationen der Mapuche und sind damit direkt von den Auseinandersetzungen betroffen. Die Expansion der Forstindustrie führte darüber hinaus zur Verdrängung binnenmarktorientierter wirtschaftlicher Fertigungsbranchen wie der Möbelproduktion und zerstörte mit der raschen Ausbreitung der Forstplantagen – wie im Weiteren deutlich wird – lokale Produktionsweisen im ländlichen Raum. Die Gründe für die vielfältigen Konflikte mit der Forstindustrie liegen vor allem in den hohen sozialökologischen Kosten, die die Forstwirtschaft für die lokale Bevölkerung bedeutet: prekäre Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und ökologische Zerstörung.

4.2.3 Grüner Extraktivismus: Prekäre Arbeit und ökologische Folgen der Forstindustrie

Die Forstindustrie beschäftigt heute rund 111.244 Personen und damit etwa 1.2 Prozent der chilenischen Erwerbstätigen (Infor 2021a: 2). Fast 64 Prozent sind im Bereich der Forstwirtschaft, das heißt mit der Arbeit auf den Plantagen, beschäftigt (CORMA 2016: 28). Fast ein Drittel aller Tätigkeiten in diesem Bereich wird von Selbständigen und zwei Drittel von abhängig Beschäftigten ausgeführt (Julián/Alister 2018: 183). 27 Prozent sind hier informell beschäftigt (ebd.: 185). 78 Prozent der in der Forstindustrie Tätigen, arbeitet in outgesourcten Zuliefererunternehmen (CORMA 2016: 11, 28). In den Forstplantagen, wo fast 99 Prozent der Tätigkeiten von Subunternehmen durchgeführt wird, übernehmen diese insbesondere das Fällen und den Transport (ebd: 29). Aber auch in den Sägewerken und Fabriken werden häufig Subunternehmen und Leiharbeiter*innen beschäftigt (ebd.: 28). Weniger als 5 Prozent der Beschäftigten sind Frauen (ebd.: 11). Über 83 Prozent der Beschäftigten übernehmen klassische, ausführende Tätigkeiten (ebd.: 30) Insbesondere im Bereich der Forstwirtschaft werden Arbeiter*innen mit niedrigen Qualifikationsniveaus engagiert, hier sind es fast 90 Prozent (ebd.: 30 f., 41). Darüber hinaus lässt sich sagen, dass je niedriger das Qualifikationsniveau ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass der oder die Beschäftigte direkt beim großen Forstunternehmen angestellt ist (ebd.: 32, 40). Die Arbeitsverhältnisse und Lohnhöhen sind in der Folge stark differenziert. Zwar verdienen die Beschäftigten in den Subunternehmen im Durchschnitt um die 750.000 Pesos – umgerechnet fast 850 Euro –, so der oben zitierte Fernando (b38), allerdings kommt es auch mit Blick auf die outgesourcten Tätigkeiten zu großen Unterschieden. Wie ein Experte der Universidad Católica de Temuco im Interview (a41) berichtet, sind die Arbeitsverhältnisse in der Forstindustrie äußerst prekär und durch harte und häufig auch gefährliche Tätigkeiten gekennzeichnet. Kurze Beschäftigungsverhältnisse, geringe Qualifizierung und Gehälter auf Mindestlohnniveau kennzeichnen vor allem die Subunternehmen, die in den Forstplantagen tätig sind, so der genannte Experte. Eduardo (a37), der in einem Subunternehmen arbeitet, berichtet, dass insbesondere bei traditionellen Fällarbeiten mit der Motorsäge Beschäftigte großen Gefahren ausgesetzt seien und immer wieder Arbeiter*innen ums Leben kommen würden. Weiter erklärt er, dass die Verhandlungen über die Löhne für Fällarbeiten in der Regel beim Mindestlohn beginnen. Sein Subunternehmen arbeite zudem mehrheitlich mit Arbeiter*innen, die den Mapuche angehören. In der Folge erhalten 30 Prozent der Beschäftigten in den Forstplantagen in der Araucanía sogar nur Löhne unterhalb der Armutsgrenze (Julián/Alister 2018: 183). Damit müssen viele trotz Beschäftigung im Forstbereich in äußerster Prekarität leben (ebd. 184). Damit dienen die häufig zeitlich befristeten abhängigen Beschäftigungsverhältnisse in der Forstindustrie häufig nur zur Generierung von Nebeneinkünften (ebd. 183, 185). Geringe gewerkschaftliche Organisationsgrade und unzureichende Machtressourcen der Beschäftigten verstärken diese Problematik (ebd.: 180; a41).

Während die Beschäftigungsbedingungen für diejenigen schlecht sind, die einen Job in den Forstplantagen erhalten, breitet sich rund um die Forstplantagen in der lokalen Bevölkerung die Arbeitslosigkeit und Armut aus. Anfangs verband die lokale Bevölkerung teilweise noch Hoffnungen mit der aufkommenden Forstindustrie. So erzählt ein Mapuche (a10) aus dem zentralen Süden im Interview, dass viele in den 1980er Jahren noch hohe Erwartungen an eine »wirtschaftliche Entwicklung« vor Ort gehabt hatten. Allerdings sei in den folgenden Jahrzehnten klar geworden, dass von der lokalen Bevölkerung wirtschaftlich kaum jemand von der Forstwirtschaft profitiere und die Branche vielmehr sozial, ökologisch und kulturell gesehen verheerende Folgen hätte. Dass die Forstunternehmen vor Ort kaum Erwerbsmöglichkeiten generieren, hängt mit der zunehmenden technischen Entwicklung zusammen. So betont der oben bereits zitierte Sprecher einer Vereinigung der Subunternehmen des Forstbereichs (b38) im Interview, dass heute vor allem die Tätigkeiten in den Plantagen aus Kosten- und Sicherheitsgründen weit mehr als zuvor durch Maschinen ausgeführt würden. In der Folge sind die Beschäftigtenzahlen in der Forstindustrie seit Jahren rückläufig. Waren es in der Forstbranche Mitte der 2000er noch insgesamt über 136.000 Beschäftigte, so ist diese Zahl seither auf etwas über 111.000 Beschäftigte abgesunken (Infor 2020: 243). Die Beschäftigung auf den Plantagen für sich allein genommen hat sich in dieser Zeit von um die 45.000 (2007) auf 23.000 (2019) in etwa halbiert (ebd.). Nahuel – ein Mapuche aus einer ländlichen Kommune im zentralen Süden Chiles – führt die Situation im Interview wie folgt aus:

»[…] die Arbeit, die wir mit unseren Händen … oder sagen wir mit den Motorsägen und Äxten machen können und für die wir ein Jahr brauchen, da brauchen sie nur zwei oder drei Tage mit der Technik und den Maschinen. […] Am Ende finden wir keine Arbeit und wenn sie uns trotzdem mal beschäftigen, dann zahlen sie miserabel, das reicht gerade mal für was zu essen.« (a9)

Wissenschaftliche Studien bezeugen, dass die Kommunen rund um Forstplantagen auffällig oft zu den ärmsten des ganzen Landes gehören (Andersson et al. 2016; Román/Barton 2017: 249 f.; Pastén et al. 2020: 62).Footnote 124 Die steigende Armut im Umfeld der Plantagen lässt sich unter anderem auf die geringen Beschäftigungseffekte in der Forstbranche zurückführen (Anríquez et al. 2021). An Orten, an denen die Forstwirtschaft ökonomisch dominant ist, liegt die Arbeitslosigkeit durchschnittlich um 1,5 bis 3 Prozentpunkte über dem nationalen Durchschnitt (Pastén et al. 2020: 61 f.). Arbeitslosigkeit und Armut in den ländlichen Gebieten rund um die Forstplantagen hängen folglich direkt mit der Expansion dieser Industrie zusammen. Darüber hinaus bringt die Branche auch ökologisch große Probleme für die lokale Bevölkerung mit sich, aus denen sich negative Konsequenzen für die lokalen Produktionsweisen ergeben.

Über 2,3 Millionen Hektar Fläche ist mit Forstplantagen bedeckt, die der Forstindustrie ihre Rohstoffe liefern (Infor 2021a: 2). Fast die Hälfte der gesamten Plantagenflächen konzentriert sich auf nur zwei Regionen: Biobío und La Araucanía (ebd.: 6). Weil sich die großflächigen Plantagen nicht in die lokalen ökologischen Kreisläufe integrieren, sondern die Böden auslaugen, die Wasservorkommen erschöpfen und auf den massenhaften Export ohne intensive Weiterverarbeitung des Rohstoffes zielen, wird die Forstwirtschaft in den polit-ökologischen Debatten weithin als extraktivistische Branche beschrieben (Pino/Carrasco 2019). Da die Forstplantagen in der Regel zudem auf ehemaligen Naturwäldern entstehen, die zuvor häufig als öffentliche Güter genutzt wurden, erzeugt diese Entwicklung der veränderten Landnutzung ein großes Ausmaß an Konflikten – nicht nur in Chile, sondern rund um den Planeten (Gerber 2011: 167, 170).Footnote 125 Doch nicht nur die veränderte Landnutzung, sondern vor allem die Konzentration des Eigentums führt zu sozialökologischen Auseinandersetzungen: so lässt sich eine direkte Korrelation zwischen steigender Landkonzentration und Zunahme von Konflikten feststellen (ebd. 170 f.).

Abb. 4.2
figure 2

Kahlschlag einer Forstplantage in der Araucanía – Eigene Aufnahme

Die Landkonzentration ist in der Forstindustrie im Vergleich zu anderen extraktivistischen Branchen zudem besonders ausgeprägt. So ist in einigen chilenischen Kommunen mehr als die Hälfte der gesamten Fläche von Forstplantagen bedeckt, die nur wenigen Unternehmen gehören (Pino/Carrasco 2019.: 214, 216). Dies führt nicht nur zu einer rückläufigen wirtschaftlichen Diversität und der Ausrichtung aller wirtschaftlicher Aktivitäten auf die Forstindustrie, sondern auch zur Untergrabung der lokalen Wirtschaft und zum starken Rückgang der Biodiversität (ebd.: 214 f.; Graf 2019c: 7 f., 23 f.). Die Folgen sind abnehmende Ökosystemdienstleistungen, sinkende Wasserspiegel und -ströme und eine Zunahme an Waldbränden (Latorre/Rojas 2016: 84). Die Trockenheit in und rund um die Forstplantagen ist nicht zuletzt Resultat davon, dass die schnell wachsenden Kiefern- und Eukalyptusarten in 12 bis 25 Jahren groß genug für die Ernte sein müssen. Dafür braucht man täglich zwischen 20 und 40 Liter Wasser pro Baum (Pastén et al. 2020: 64). Die Mehrheit der Beobachter*innen, Expert*innen sowie der Betroffenen und lokalen Bewohner*innen sieht daher eine direkte Verbindung zwischen intensiver Forstplantagenwirtschaft und dem Wassermangel vor Ort.Footnote 126 Javiera und Lautaro drücken den Zusammenhang zwischen der Ausbreitung der Forstwirtschaft und der Wasserknappheit in der Region folgendermaßen aus:

»Die Kiefer oder der Eukalyptus zieht doch pro Baum bis zu 50 Liter Wasser am Tag. Deshalb trocknet hier das Wasser aus.« (c15)

»Die Folgen, die wir heute sehen können, sind, dass wir heute überall unter Wassermangel leiden. Die Forstplantagen brauchen so viel Wasser, dass sie die Zuläufe der großen Bäche und Flüsse austrocknen. […] Die kleinen Bäche entspringen fast alle im Inneren der Forstplantagen. Wir können dort mit eigenen Augen sehen, wie die Wasserströme versiegen, … wegen den Bäumen, die da angepflanzt werden, also den Kiefern und den Eukalyptus.« (a10)

Nicht nur die Interviewten weisen auf diesen Zusammenhang zwischen der Ausdehnung der Forstplantagen und der Wasserknappheit hin. Auch wissenschaftliche Studien belegen dies (Little et al. 2009; González-Hidalgo 2016; Alvarez-Garreton et al. 2019). Damit entstehen nicht nur Probleme der Wasserversorgung für die ländliche Bevölkerung, sondern auch die Furcht vor Waldbränden, die Chile jährlich heimsuchen. Eine große Zahl an interviewten Bewohner*innen ländlicher Gebiete berichtet von ihrer Angst vor den raschen und großflächigen Bränden der Forstplantagen, die häufig auch auf die Häuser der ländlichen Bevölkerung übergreifen (a13; a15; a16; c5; d2). Immer wieder zeigen Studien zudem, dass die großflächigen Plantagen die Bodenerosion vorantreiben, sie auslaugen und die nahen Wasserquellen verschmutzen oder anderweitig belasten (Montalba-Navarro/Carrasco 2003: 67).Footnote 127 Dies gilt in besonderem Maße für die großflächigen Kahlschläge (tala rasa), die in vielen Ländern verboten, aber in Chile üblich sind und bei denen hunderte Hektar rund um Dörfer, comunidades und Kleinstädte in kürzester Zeit gerodet werden (Abbildung 4.2). Während es für Kritiker*innen außer Frage steht, dass die Forstplantagen für die zunehmende Trockenheit, den Wassermangel, die Bodenerosion und die Waldbrände verantwortlich sind, weist die Forstindustrie alle Verantwortung von sich. Der Unternehmensverband der Forstindustrie CORMA begründet den Rückgang der Wassermengen der Quellen, Bäche und Flüsse sowie den sinkenden Grundwasserspiegel in der Umgebung der Forstplantagen mit dem Klimawandel, rückläufigen jährlichen Niederschlägen und zunehmendem Wasserverbrauch der Landwirtschaft (CORMA 2015).Footnote 128

Aber nicht nur mit Blick auf Trockenheit und Wassermangel gehen die Meinungen über die ökologischen Probleme der Forstindustrie zwischen Nutznießern und Betroffenen stark auseinander. Ländliche Bewohner*innen klagen in den geführten Interviews beispielsweise auch darüber, dass Dünger und Insektizide die lokalen Gewässer und Ökosysteme der ländlichen Gemeinschaften verschmutzen (a15; a40; c8).Footnote 129 Auch Bewohner*innen rund um die großen Industriekomplexe der Zellstoffproduktion beschweren sich immer wieder über die schlechte Luftqualität, verschmutztes Grund- und Trinkwasser sowie kontaminierte Gewässer bis hin zu Ascheablagerungen auf Oberflächen rund um die Fabriken (Zwischenzeit 2020: 25 ff.). Der Fall, der in der Öffentlichkeit am stärksten verfolgt wurde, war derjenige der Verschmutzung der Naturschutzgebiete in und um die südchilenische Stadt Valdivia im Jahre 2004 durch das Zellstoffwerk von Forestal Arauco. Großes Aufsehen erregte vor allem das durch die Industrieabwässer verursachte Massensterben der Schwarzhalsschwäne, die in diesem Gebiet heimisch sind (Zibechi 2008). Die Streitigkeiten um die Umweltrichtlinien, die das Einleiten von chemischen Abfällen aus der Industrieanlage in die Flüsse Valdivias regeln sollten, dauern auch nach fast zwei Jahrzehnten weiter an (Verdejo 2022). Auch die Industrieanalage von Forestal Arauco in der Kommune Arauco wird immer wieder für ihre Umweltverschmutzung kritisiert (Boddenberg 2019). Derartige Vorfälle der Wasser- und Luftverschmutzung sind ein konstantes Problem der Zellstoffindustrie und die Strafen niedrig.Footnote 130

Darüber hinaus untergräbt die Forstwirtschaft die sie umgebenden lokalen bedarfsökonomischen Aktivitäten. Die lokalen Anwohner*innen betonen immer wieder, dass die großen Holztransporte die Straßen zerstören und die öffentliche Infrastruktur extrem stark beanspruchen.Footnote 131 Claudia (a16) erzählt, dass die Bewohner*innen dann selbst für die Instandsetzung des Weges zu ihren Häusern aufkommen müssten und sie aufgrund der wiederholt schlechten Straßenzustände keine landwirtschaftlichen Produkte mehr in großen Mengen transportieren könnten. Traditionelle subsistenzwirtschaftliche Praktiken wie das Sammeln von Kräutern, Früchten, Pilzen und Holz in den nahe gelegenen Wäldern und Wiesenflächen seien heute zudem unmöglich geworden – berichtet Tania, eine ältere Mapuche aus Galvarino (a15). Aber auch die Landwirtschaft auf dem eigenen Boden sei immer schwieriger geworden, so Nahuel:

»die großen Forstunternehmen […] die machen uns das Leben schwer, weil der Eukalyptus die großen Quellen austrocknet, wo wir als Familie, die Nachbarn, die ganze comunidad unser Wasser herholen. Wir haben hier früher alles gemacht: Gemüseanbau, alles was der Boden hergibt, Mais, Kartoffeln, Bohnen … all das. Das Wasser zum Gießen ist uns nie ausgegangen. Das geht heute alles nicht mehr. Alles ist trocken.« (a9)

Die Expansion der Forstindustrie unterminiert folglich die lokalen Produktions- und Lebensweisen rings um die Forstplantagen. Gleichzeitig generiert sie – wie beschrieben – nur in geringem Umfang Arbeitsplätze. Insgesamt verkörpert sie im ländlichen Raum des südlichen Chiles ein kapitalistisches Wachstum, das zu prekären Arbeitsverhältnissen, Unterbeschäftigung und Armut sowie zu ökologischer Zerstörung wie Wasserknappheit, Bodenerosion, Waldbränden und rückläufiger Biodiversität führt. Im Gegensatz zu diesen offenkundigen ökologischen und sozialen Kosten, die die Branche verursacht, versuchen sich Forstunternehmen gleichzeitig öffentlich als grüne Industrie darzustellen. So wirbt der Unternehmensverband CORMA damit, dass der Forstsektor in Chile in bedeutendem Maße CO2 bindet und demnach ein Instrument auf dem Weg zur Kohlenstoffneutralität und zum Klimaschutz sei.Footnote 132 Dass dieses Grünfärben des Forstextraktivismus für die ländliche Bevölkerung keine positiven Ergebnisse zeitigt, lässt sich an den ständig aufflammenden Konflikten im Umfeld der industriellen Forstwirtschaft ablesen. Nach Schätzungen eines Forstingenieurs (a29) liegen derzeit zwischen 100.000 und 150.000 Hektar Forstplantagen im direkten Konfliktbereich. Die Auseinandersetzungen werden in ihrer großen Mehrheit außerinstitutionell und in einigen Fällen sogar bewaffnet geführt. Sie konzentrieren sich vor allem auf den Norden der Araucanía – die Provinz Malleco – sowie den Südwesten Biobíos, wo sich die meisten Forstplantagen befinden. Schon daran lässt sich ablesen, dass die Forstwirtschaft nicht nur punktuell lokale Verhältnisse rund um die Plantagen prägt, sondern – wie in Abschnitt 4.3.2 ausgeführt wird – die ländlichen Strukturen ganzer Regionen des zentralen Südens. Wie im Folgenden deutlich wird, war das höchst konfliktive Wachstumsmodell der chilenischen Forstindustrie von Beginn an Gegenstand intensiver staatlicher Regulierung, die in extremer Form den kapitalistischen Sektor privilegierte.

4.2.4 Staatliche und private Regulierung des Forstbereichs

Die zentrale Institution, die den chilenischen Forstbereich reguliert, ist die bereits angesprochene privatrechtlich verfasste und dem Landwirtschaftsministerium unterstehende Behörde der CONAF. Ihr Auftrag besteht darin, die »Ressource Wald« zu schützen. Außerdem ist sie für das Management der chilenischen Nationalparks sowie für die Bekämpfung von Waldbränden und die Kontrolle der Einhaltung der Forstgesetze zuständig. Ein zentrales Ziel der Behörde bestand laut Carlos (a1), der Mitarbeiter der CONAF ist, von Beginn auch darin, die Aufforstung großer Gebiete mit Forstplantagen zu fördern. Als regulierende Institution eines wirtschaftlichen Bereiches, der häufig auch in großem Umfang durch verbotene Geschäfte wie illegalem Holzhandel sowie durch eine Vielzahl von Konflikten geprägt ist, ist die CONAF allerdings in hohem Maße unzureichend ausgestattet. So hat die CONAF weder die rechtliche noch die finanzielle und personelle Ausstattung, um die Forstunternehmen bei dieser Aufforstung in Bezug auf ökologische und rechtliche Standards zu überwachen. Beispielsweise seien in der Araucanía, wo sich große Teile der Forstplantagen und viele Nationalparks befinden, nur 200 Mitarbeiter*innen für das Management der Parks über die Prävention und das Löschen von Waldbränden bis hin zur Prüfung der Einhaltung der rechtlichen Bestimmungen durch die Forstwirtschaft zuständig, so Carlos im Interview (a1). Gerade die Fähigkeiten der Behörde, die Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen zu kontrollieren, seien schwach, was an laxen Gesetzen sowie an der geringen Zahl an zuständigen Mitarbeiter*innen liege, so der Interviewte weiter. Auch Álvaro (a8), der ein kleineres Forstunternehmen in der Araucanía betreibt, bestätigt im Interview, dass die CONAF nicht die Ressourcen hätte, die Einhaltung der staatlichen Regelungen in der Fläche wirklich zu prüfen.Footnote 133

Während der chilenische Staat die Einhaltung der gesetzlichen Regelungen durch die wirtschaftlichen Praktiken vor Ort im Forstbereich kaum oder gar nicht kontrollieren kann, fällt gleichzeitig seine starke Förderung der privatisierten Forstunternehmen auf. Die staatliche Subventionierung monokultureller Forstplantagen im Rahmen des Dekrets 701 sowie die offizielle Begünstigung der Forstunternehmen im Zugang zu Land und Ressourcen wurde bereits oben dargelegt. Die ebenfalls schon beschriebene, enorme wirtschaftliche Konzentration im Forstbereich führt auch dazu, dass die großen Forstunternehmen die mangelhaften staatlichen Infrastrukturen in den ländlichen Kommunen teilweise privat ausgleichen. Dies gilt nicht nur für den Straßenbau in und um die Plantagen, sondern auch für die Löschung von Waldbränden. So unterhalten die großen Forstunternehmen – wie Carlos (a1) bestätigt – eigene Feuerbrigaden, die diejenigen der CONAF in ihrer Ausstattung um ein weites übertreffen.

Der Schwäche des Staates im Forstbereich steht im ländlichen Raum die Konzentration wirtschaftlicher und sozialer Macht der großen Forstunternehmen gegenüber. Diese auffällige Bündelung von Kapital, Ressourcen und sozialen Infrastrukturen in privaten Händen ist kein kontingentes Überbleibsel peripherer »Unterentwicklung«, sondern struktureller Bestandteil des neoliberalen chilenischen »Entwicklungsmodells«, das den Staat auf die Förderung des kapitalistischen Sektors ausrichtet und ihn sonst systematisch »schlank« hält (Pizarro 2020). Die daraus resultierende Unfähigkeit, soziale und ökologische Probleme sowie Konflikte, die sich aus seiner extraktivistischen wirtschaftlichen Ausrichtung ergeben, zu bearbeiten, einzuhegen oder zu lösen, führt zu Versuchen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Verfahren zur Konfliktlösung sowie zur Kontrolle der Einhaltung von Umweltstandards zu etablieren. Dies geschah seit den 2000er Jahren insbesondere im Rahmen der privaten Zertifizierung der Forstunternehmen durch den FSC.

Aufgrund der laxen staatlichen Regulierung, neuer internationaler Standards und zunehmendem Druck aus der Zivilgesellschaft gewannen im Forstbereich in den vergangenen Jahrzehnten Selbstverpflichtungen und private Zertifizierungen immer mehr an Bedeutung (Graf 2020a). Nachdem die chilenische Forstindustrie mit ihren bisherigen Siegeln den Anforderungen internationaler Märkte nicht mehr genügte, setzte sich Ende der 2000er Jahre das Siegel des Forest Stewardship Council (FSC) durch.Footnote 134 Der FSC wurde im Jahre 1993 von europäischen Händlern, US-Stiftungen, dem WWF und einer Reihe weiterer NGO in Folge der Rio-Konferenz (1992) in Kalifornien als eine NGO gegründet (Auld et al. 2009: 193). Die Zertifizierung verpflichtet die Forstwirtschaft auf zehn Prinzipien, die von der Einhaltung der jeweiligen nationalen Gesetze über den Schutz des sozialen und wirtschaftlichen Wohlergehens der Beschäftigten und der lokalen Bevölkerung sowie der Wahrung der Rechte der indigenen Völker bis zum Erhalt der lokalen Ökosysteme reichen.Footnote 135 Die chilenischen Forstunternehmen mussten sich auf Druck der chilenischen Zivilbevölkerung sowie internationaler Abnehmer auf den Zertifizierungsprozess des FSC einlassen und erhielten nach einigen Anpassungen Anfang der 2010er Jahre das Siegel (Graf 2020a: 321 f.). In der Folge müssen sich die großen Forstunternehmen nicht nur auf die genannten internationalen Prinzipien, sondern auch auf konkretisierende nationale Zusatzvereinbarungen einlassen, die unter Beteiligung einer Vielzahl von Unternehmen sowie zivilgesellschaftlichen Interessenvertretungen ausgehandelt werden. Zudem müssen sie einen FSC-eigenen Beschwerdemechanismus akzeptieren, den die lokale Bevölkerung bei Verstößen nutzen kann (ebd.).

Laut Eduardo (a37) – einem Mitarbeiter eines Subunternehmens der Forstindustrie – seien die Regelungen des FSC weitaus strenger und die Kontrolle ihrer Einhaltung würde deutlich stärker kontrolliert als dies bei staatlichen Gesetzen durch die CONAF der Fall sei. Er hätte in seiner gesamten Zeit, in der er bei der Holzernte tätig ist, nicht ein einziges Mal jemanden von der CONAF vor Ort gesehen. Sie wurden bisher lediglich von Vertreter*innen des FSC sowie von den großen Forstunternehmen kontrolliert. Auch Lucio (b35) – ehemaliger Präsident der CORMA – bestätigt dies und führt aus, dass die Zertifizierungsprozesse des FSC in den chilenischen Forstunternehmen zu großen internen Veränderungen in ihren Abläufen, aber vor allem in ihrem Verhältnis zu der lokalen Bevölkerung im Umfeld der Forstplantagen geführt hätten. Die Normen der FSC Zertifizierung zwingen die Forstunternehmen unter anderem dazu, engere wirtschaftliche Verflechtungen mit der lokalen Bevölkerung einzugehen, einen gewissen Anteil der lokalen Bevölkerung zu beschäftigen sowie ihre Corporate Social Responsibility (CSR)-Politik deutlich auszubauen (Astorga/Burschel 2019: 78). Eduardo (a37) bestätigt, dass Forstunternehmen lokale Bewohner*innen im Umfeld der Plantagen häufig nur anheuern, weil sie sich im Rahmen der Zertifizierung dazu gezwungen sehen. Ein Forstunternehmen, das beispielsweise 100 Mapuche für eine traditionelle Fällarbeit engagiert, könnte stattdessen mit ihren großen Maschinen und 30 professionellen Arbeiter*innen von außerhalb in weniger als der Hälfte der Zeit die gleiche Fällarbeit verrichten. Man gibt ihnen die Arbeit »damit sie leben können«, so Eduardo, rein wirtschaftlich und mit Blick auf die Arbeitssicherheit mache das überhaupt keinen Sinn (a37). Auch ein Mitglied einer Umwelt-NGO betont im Interview, dass die Zertifizierungsprozesse die Forstunternehmen dazu gezwungen hätten, die lokale Bevölkerung zu beschäftigen (a25). Darüber hinaus hat die Zertifizierung dazu beigetragen, dass die Forstwirtschaft in Chile heute in höherem Maße international anerkannten Umweltstandards genügt, als dies zuvor der Fall war (Graf 2020a: 323 f.).Footnote 136 Zu einem Rückgang des Wassermangels, der Landkonzentration bei den großen Forstunternehmen oder der lokalen Konflikte hat die Zertifizierung jedoch nicht beigetragen. Dies hat auch damit zu tun, dass der FSC und sein Beschwerdemechanismus bei vielen lokalen Gemeinschaften der Mapuche gar nicht bekannt ist (ebd.). Damit hat auch der FSC nichts am grundsätzlichen Charakter der chilenischen Regulierung des Forstbereichs geändert, die die Expansion der Forstindustrie stark fördert und gegenüber dem bedarfsökonomischen Sektor privilegiert.

Der ausgeprägten Förderung des kapitalistischen Sektors der Forstbranche steht eine Politik des chilenischen Staates gegenüber, die die bedarfsökonomischen Praktiken im Umfeld von Wäldern und Forstplantagen untergräbt und exkludiert. Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachtete das chilenische Forstmanagement die kleinbäuerlichen Haushalte des zentralen Südens als ein Hindernis auf dem Weg zu einer effizienten Bewirtschaftung der Wälder. Während den großen Unternehmen Abholzungsrechte übertragen wurden, vertrieben die Behörden die lokale Bevölkerung unter dem Vorwand des Schutzes der Urwälder vor Übernutzung (Klubock 2014: 20 f.). Die ärmeren ländlichen Haushalte, die ihr Feuerholz sowie ihr Holz für die Herstellung von Holzkohle bisher aus den Misch- und Urwäldern in ihrer Umgebung holten, wurden plötzlich von einem zentralen Rohstoff ihrer Subsistenz getrennt – erklärt Pedro aus einer ländlichen Kommune im Süden Chiles im Interview (d4).

In der Militärdiktatur wurde dann nicht nur das Pflanzen von monokulturellen Forstplantagen in großem Maße begünstigt und subventioniert, sondern auch die Ur- und Naturwälder weiterhin intensiv ausgebeutet (Bengoa 1999: 193).Footnote 137 Dies hatte schwerwiegende Folgen für deren Bestände. In den 1990er Jahren eröffnete der Boom des Exports von Holzchips nach Japan und andere asiatische Länder eine weitere Phase der häufig illegalen Rodung von Ur- und Naturwäldern. Dies geschah anfangs auch durch lokale Wirtschaftsakteure und mittlere sowie kleinere Landbesitzer*innen, die die Waldflächen auf ihren eigenen Grundstücken schlugen – wie ein Forstingenieur im Interview berichtet (e1). Eine Folge dieser Ausschlachtung der chilenischen Naturwälder, die in den 1980er und 1990er Jahren zur weiteren Degradierung der chilenischen Wälder beitrug, bestand in der 1992 eingereichten, aber erst 2008 verabschiedeten Gesetzesinitiative eines Ley de Bosque Nativo (Gesetz für den Naturwald).Footnote 138 Dieses Gesetz regelt den Umgang mit Naturwäldern und deren wirtschaftliche Nutzung sowie die Sanktionierung illegalen Holzschlags. Es konnte in der Folgezeit den Rückgang der Natur- und Urwälder etwas bremsen. Gleichzeitig schränkte das Gesetz den ausbeuterischen Umgang kleiner wie großer Landeigentümer*innen gleichermaßen ein und brachte keine spezifischen Regelungen hervor, lokale wirtschaftliche Alternativen wie beispielsweise Märkte für eine nachhaltige Forstwirtschaft für kleine Landbesitzer*innen zu schaffen.

Auf diese Weise bestärkten die Regulierungen des Schutzes der Naturwälder die Exklusion der lokalen Bevölkerung. Dies hat auch mit den durch die CONAF verwalteten Naturschutzgebiete zu tun. Derzeit unterhält die CONAF 106 solcher Schutzgebiete (CONAF 2020), von denen sich ein großer Teil in ehemaligen indigenen Gebieten befindet (Arce et al. 2016: 83). Daneben finden sich große private Naturreservate wie beispielsweise Tompkins Conservation, die mit dem chilenischen Staat kooperieren und in Patagonien – im äußersten Süden des Landes – sieben eigene Parks betreiben.Footnote 139 Diese Parks wurden zu großen Teilen im 20. Jahrhundert gegründet und fanden allesamt ohne den im internationalen Diskurs der »nachhaltigen Entwicklung« angelegten free, prior and informed consent der indigenen Gemeinschaften statt (Arce et al. 2016: 83 f.).Footnote 140 Die gleichzeitig Ausdehnung von Naturschutzgebieten und Regulierungen zum Erhalt von bestimmten Urwäldern ab Mitte des 20. Jahrhunderts vertrieb kleinbäuerliche Familien massenhaft aus den staatlichen Wäldern, während gleichzeitig Rechte für Fällarbeiten an Forstunternehmen vergeben wurden (Klubock 2014: 152 ff., 161 ff.).Footnote 141 Dementgegen legt das 1994 von Chile ratifizierte »Übereinkommen über die biologische Vielfalt« der Vereinten Nationen in Artikel 8 fest, dass der Erhalt von Biodiversität in Zusammenarbeit mit den lokalen und indigenen Gemeinschaften stattfinden soll.Footnote 142 Das Übereinkommen wurde in Chile allerdings nie umgesetzt (Arce et al. 2016: 47, 84 f.). Die privaten Träger sowie die chilenischen Behörden verwalten die chilenischen Naturschutzgebiete weitgehend unter Exklusion der lokalen Bevölkerung und deren ökonomischen Nutzungsformen. Auf der einen Seite wird die lokale Bevölkerung mit ihren bedarfsökonomischen Praktiken zunehmend von heimischen Wäldern ausgeschlossen, während sie auf der anderen Seite durch die Expansion der Forstplantagen bedrängt werden, die sich im Besitz der großen Forstunternehmen befinden und zu denen sie ebenfalls keinen Zugang haben.

Der Charakter des chilenischen Staates als »Staat des Kapitals« wird im Forstbereich besonders sichtbar. Die staatliche Regulierung fördert einseitig die Expansion des kapitalistischen Sektors und schließt gleichzeitig die lokale Bevölkerung von der Nutzung der Forstplantagen und Naturwälder aus. Es handelt sich folglich um eine staatliche Regulierung, die selektiv die Interessen des kapitalistischen Sektors privilegiert. Insbesondere unter der Militärdiktatur wurde die Förderung der kapitalistischen Forstwirtschaft durch staatliche Gesetze, Privatisierungen und Subventionen ausgebaut sowie ihre staatliche Kontrolle zurückgeschraubt. Dabei wird bis heute die Einhaltung der Regeln, Normen und Gesetze durch die Forstunternehmen vom in ländlichen Regionen »abwesenden Staat« kaum oder nur unzureichend kontrolliert. In der Folge entstehen auf zivilgesellschaftlichen und internationalen Druck hin private Regulierungsmechanismen wie der FSC. Dieser hat zwar einerseits Veränderungen im chilenischen Forstbereich gebracht, was die Beschäftigung der lokalen Bevölkerung sowie die Einhaltung von Umweltstandards betrifft, andererseits hat er jedoch den grundsätzlichen Charakter der chilenischen Forstindustrie kaum verändert und auch keine bedeutende, neue, institutionalisierte Form der Konfliktbearbeitung hervorgebracht. Weiterhin privilegiert die politische Regulierung des Forstbereichs das kapitalistische Wachstumsmodell der chilenischen Forstindustrie, untergräbt und exkludiert die bedarfswirtschaftlichen Aktivitäten und zerstört lokale Ökosysteme. Dies führt nicht nur zu einer Verstärkung der ökologischen Krise, sondern auch zu einer strukturellen Krise des bedarfsökonomischen Sektors und verschärft so die lokalen Konflikte im Umfeld der Forstplantagen. Im Folgenden werde ich diese Konflikte im zentralen Süden Chiles mit Fokus auf die Araucanía genauer untersuchen, die in Chile als die Kernregion der Auseinandersetzungen zwischen Mapuche und der Forstindustrie gilt. Dafür werfe ich zunächst einen Blick auf die Sozialstruktur und die wirtschaftliche Situation in der Region und untersuche dann die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen ländlicher Bedarfsökonomie und Forstunternehmen sowie die damit in Zusammenhang stehende Konfliktivität anhand vier empirischer Fälle.

4.3 Der Konflikt mit der Forstindustrie im zentralen Süden

Weil der Ruf der Mapuche nach politischer und kultureller Selbstbestimmung unüberhörbar ist, wird ihr Kampf häufig vorwiegend als kulturelle, politische oder historische Auseinandersetzung mit dem chilenischen Staat betrachtet (Bengoa 1999; Kaltmeier 2004; Marimán 2012; Marimán et al. 2017; Foerster 2018; Correa 2021; Hoehl 2022). Gleichzeitig betont die neuere Forschung insbesondere die Bedeutung des Verhältnisses zwischen den Mapuche und der Forstindustrie als zentrale Quelle der Konfliktdynamik (Aylwin 2000; Latorre/Rojas 2016; Schmidt/Rose 2017; Pino/Carrasco 2019; Schmalz et al. 2023). Damit rückt auch die sozioökonomische und ökologische Ebene stärker in den Blick. Diese ermöglicht es – wie wir sehen – nicht nur, die enormen Ungleichheiten im Umfeld der Forstplantagen zu verstehen, sondern auch die Art, wie die sich daraus ergebenden Konflikte vor Ort bearbeitet werden. Wie wir schon gesehen haben, lässt sich das kapitalistische Wachstum des Forstbereichs als sozial exklusiv und ökologisch destruktiv bezeichnen. Damit ist das Verhältnis zwischen den comunidades und der Forstindustrie sowie die Konfliktdynamik allerdings nur einseitig erklärt. Vielmehr kommt es zu ökonomischen und ökologischen Verflechtungen. Um diese zu verstehen, ist es notwendig, nicht nur die Spezifik des kapitalistischen, sondern auch diejenige des bedarfsökonomischen Sektors zu beleuchten. Im folgenden Kapitel konzentriere ich mich dafür vor allem auf die Region La Araucanía, die bis heute am stärksten durch die genannte Konfliktdynamik sowie durch die Produktions- und Lebensweise der Mapuche geprägt ist.

Um die Verflechtungen zwischen ländlicher Bedarfsökonomie und Forstindustrie im Anschluss konkreter zu versehen, untersuche ich in diesem Kapitel den regionalen, sozioökonomischen Kontext und die spezifische politische Regulierung, in dem jene stattfinden. Dafür ist es zunächst nötig, kurz auf die spezifischen, historischen, kolonialen Kontinuitäten einzugehen, die den Regionen im zentralen Süden bis heute zugrundeliegen (4.3.1). Damit lässt sich auch die heutige Prekarität und die »neue Ruralität« im ländlichen Raum der Araucanía besser verstehen (4.3.2). In der Folge untersuche ich die besondere Bedeutung der bedarfsökonomischen Praktiken der Mapuche und wie sie damit auch im Unterschied zu den übrigen kleinbäuerlichen Haushalten stehen (4.3.3). Schließlich gehe ich darauf ein, welche spezifische politische Regulierung der bedarfsökonomische Sektor in den ländlichen Gegenden der Araucanía in den vergangenen Jahrzehnten erfuhr (4.3.4). An dieser Stelle wird deutlich, dass die bedarfsökonomischen Praktiken der Mapuche eine besondere Regulierung erfahren. Dabei lässt sich beobachten, dass der chilenische »Staat des Kapitals« mit Blick auf die Mapuche nicht nur durch Wellen der Enteignungen, sondern immer wieder auch zu Umverteilungen von Ressourcen in den bedarfsökonomischen Sektor gezwungen werden konnte.

4.3.1 Koloniale Kontinuitäten, die Mapuche und kapitalistische »Entwicklung« in der Araucanía

Die ersten Wellen der Enteignung der Mapuche: Vom Wallmapu zur Araucanía

Rund um die heutige chilenische Region der Araucanía lag einst das Wallmapu, das Gebiet der Mapuche. Es erstreckte sich über verschiedene geografische Gebiete, die alle zum Wallmapu gehörten. Im Norden reichte das pikun mapu bis weit in das heutige Zentralchile. Im Osten entfaltete sich das pewen mapu bis über die hohen Anden und reichte als puel mapu bis an die Atlantikküste im heutigen Argentinien. Im Westen lag das lafken mapu, das sich entlang der Pazifikküste erstreckte und im Süden reichte das willi mapu bis zum Inselarchipel Chiloé. Das einstige Wallmapu ist ein bewaldetes und gebirgiges Gebiet mit gemäßigtem Klima, weiten Tälern, großen Gebirgsketten und beeindruckenden, schneebedeckten Vulkanen. Der Teil des Wallmapu, der heute zu Chile gehört, erstreckt sich über mehrere hundert Kilometer entlang der Pazifikküste, an die sich die Berge der Küstenkordillere anschmiegen und ist auf der anderen Seite durch das hohe Andengebirge begrenzt. Dazwischen befinden sich weite, flache Ebenen – das nag mapu – und ein breites Tal mit fruchtbaren Böden – das wente mapu. Den verschiedenen Regionen des Wallmapu entsprechen die verschiedenen Gruppen des seit jeher sehr heterogenen Volks der Mapuche. Im Norden lebten die picunche und die nagche, in und entlang der Anden die pewenche, an der Küste die lafkenche sowie die wenteche in den Tälern, im Süden die williche und die puelche im heutigen Argentinien (Kaltmeier 2004: 290). Diese Abstammungsgebiete haben mit Ausnahme der picunche sowie der puelche bis heute eine wichtige Bedeutung für die territorialen Identitäten der Mapuche (ebd.: 290 f.).Footnote 143 Nahuel – ein Mapuche aus Galvarino (a9) – erklärt im Interview, dass die Unterschiede zwischen den verschiedenen Mapuche-Völkern bis heute respektiert werden. Auch Arón (c7), der ebenfalls in Galvarino lebt und dort in einer Stiftung für lokale Entwicklung arbeitet, bestätigt das und betont, dass die politischen Unterschiede zwischen den nagche und den wenteche beispielsweise mit Blick auf den Grad der Militanz bis heute bestünden.Footnote 144

Die Mapuche betrieben im Wallmapu lange Zeit kaum sesshafte, landwirtschaftliche Praktiken. Während die Kordilleren der Küste und der Anden bis zur endgültigen Kolonisierung mit Urwäldern bedeckt waren, wurden die Wälder der Hügel, Niederungen und Täler durch die Landwirtschaft der Mapuche geprägt. Größere Flächen wurden mit Feuer bereinigt, bepflanzt und nach der Ernte mehrere Jahrzehnte einer natürlichen Rückkehr des Naturwaldes überlassen. Die Bearbeitung des Bodens rotierte dabei in einem Turnus von etwa 50 Jahren und bewegte sich über große Distanzen hinweg. Begleitet wurde der Wanderfeldbau durch Praktiken der Jagd, des Sammelns von Früchten, der Tierhaltung und der Fischerei (Otero 2006: 42 ff.; Anchio 2013: 72).Footnote 145 Allerdings waren die Produktions- und Lebensweisen der Mapuche fortwährend mit den umliegenden Völkern und auch mit der Wirtschaft der Spanier*innen verflochten, die im 16. Jahrhundert den Boden des heutigen chilenischen Territoriums betraten (Kaltmeier 2004: 75 ff.).

Vor der kolonialen Unterwerfung großer Teile des heutigen Chiles durch die spanische Krone lebten in Chile etwa eine Millionen Mapuche (Silva 1995: 31). Ihr Name »Mapuche« bedeutet übersetzt so viel wie »die Menschen der Erde«. Sie bildeten nicht nur das größte, sondern auch das wehrhafteste unter den indigenen Völkern Chiles. Es war durch kaum mehr als die gemeinsame Sprache geeint und seine Untergruppen standen immer wieder untereinander im Krieg (ebd.: 31 ff.). Allerdings einte die Mapuche der Kampf gegen den äußeren Feind, der lange Zeit in Gestalt der Inkas und später durch die Spanier*innen das Wallmapu zu erobern drohte. Gerade die äußerst blutigen Schlachten gegen die Spanier, die im Laufe des 16. Jahrhunderts weit in das Land der Mapuche eindrangen, führten auf beiden Seiten zu vielen Opfern. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts unternahmen die Spanier ihre letzte gewaltvolle Offensive in das Gebiet der Mapuche (ebd.: 64 f.). Doch in den nächsten 50 Jahren drängten die Mapuche die Spanier allmählich im Norden bis wenige hundert Kilometer vor die Tore der Hauptstadt Santiago zurück und brannten sämtliche spanischen Städte des Wallmapu nieder (ebd. 61 ff., 67 f.). Schließlich einigten sich die spanische koloniale Regentschaft mit den Mapuche auf eine Gebietsaufteilung, die den Mapuche das Land zusicherte, das vom Fluss Biobío im Norden bis fast nach Valdívia im Süden reichte (ebd.: 80 f.). Zwischen den Spaniern und den unterschiedlichen Mapuche-Gruppen kam es zu fortwährenden Friedensverhandlungen und einem zunehmenden wirtschaftlichen Handel (ebd.: 89). Die Kriege mit den Spaniern hinterließen bei den Mapuche allerdings dramatische Spuren. Nach den kriegerschien Auseinandersetzungen mit den Spaniern war ihre Zahl auf rund 25 Prozent ihrer ursprünglichen Bevölkerungsgröße zurückgegangen (ebd.: 76).

Nach der chilenischen Unabhängigkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzten die militärischen Eroberungsversuche des Wallmapu wieder ein. Von 1880 bis 1883 führte das chilenische Militär die Campaña por la ocupación de la Cordillera (Kampagne für die Besetzung der Kordillere) durch (Ojeda 2021: 277). Sie war Teil der großangelegten »pacificación de la Araucanía« (die sogenannte »Befriedung« der Araucanía), die 1983 in einem Sieg des chilenischen Militärs über die Mapuche endete. Mit dem Ende der militärischen Auseinandersetzungen begann eine große Welle der Enteignung der Mapuche von ihren Ländereien im zentralen Süden. Lange nach der spanischen Eroberung setzte damit nun ein Prozess der »internen Kolonisierung« ein (González 2006; Pineda 2014: 106 f.). Die Mapuche wurden in reducciones angesiedelt, das heißt, kleinen Flächen mit vergleichsweise geringer landwirtschaftlicher Produktivität, in denen sie leben und arbeiten sollten. In der heutigen Provinz Arauco beliefen sich die Flächen dieser reducciones – je nach Angaben – beispielsweise nur auf zwischen 1,4 und 1,7 Prozent der Gesamtfläche. In den meisten anderen Regionen sah es ähnlich aus, nur in Cautín – der südlichen Araucanía – lag die Zahl auf einem deutlich höheren Wert von rund 18 Prozent (Mariman 2017: 260; Correa 2021: 169).Footnote 146 Die reducciones befanden sich, wie Lautaro (a10) – ein Mapuche aus Galvarino – im Interview berichtet, meist in den Hügeln und Bergen der Kordilleren. Ziel dieser Reservatspolitik war die Erschließung des »wilden Südens« für die landwirtschaftliche Produktion (Höhl 202: 41).

Auf den fruchtbarsten Böden wurden Haciendas gegründet, die bewaldeten Hügel fielen dabei vielfach der Brandrodung zum Opfer und die übrigen Flächen wurden Siedlerfamilien aus Westeuropa versprochen (Otero 2006: 79 ff.). Zwischen der großen Landwirtschaft der kolonialen Siedler*innen und den Mapuche in den reducciones entwickelte sich zunächst kaum eine wirtschaftliche Verflechtung. Nur wenige Mapuche arbeiteten bei der Ernte oder anderen saisonalen Tätigkeiten auf den Haciendas, wo vorwiegend chilenische Arbeiter*innen beschäftigt wurden (Mariman 2017: 262 f.). Außer diesem Nebeneinander aus kolonialen Großgrundbesitztümern und der weitgehend autarken Produktions- und Lebensweise in den reducciones entwickelte sich zunehmend auch eine kleinbäuerliche Landwirtschaft chilenischer Familien mit häufig europäischer Abstammung (Bengoa 2008: 366). Die Ansiedlung der Mapuche in den reducciones verwandelte auch das Leben der Mapuche in eine Gemeinschaft verarmter Bäuer*innen (Bengoa 2008: 362). In den reducciones transformierte sich die Wirtschaft der Mapuche von einer nomadenartigen Produktionsweise in eine sesshafte Subsistenzproduktion. Diese Entwicklung stellte somit den ersten Schritt einer gewaltvollen Verbäuerlichung der Mapuche dar, die bis weit ins 20. Jahrhundert andauern sollte (Bengoa 1983: 130 ff.; ebd. 2008: 362 ff.; Höhl 2022: 41 f.). Die extensive und migrierende Land- und Viehwirtschaft wurde durch die reducciones in eine stationäre Landwirtschaft auf kleinen Flächen verwandelt, woran sich die Mapuche mehrheitlich lange nicht anpassen konnten und was zu ihrer starken Verarmung Ende des 19. Jahrhunderts und im Laufe des 20. Jahrhunderts führte (Bengoa 1983: 131 f.).

Die kurzen Ausführungen zur Geschichte des Wallmapu verdeutlichen, welchen enormen Umfang und Einfluss die ersten beiden Wellen der Enteignung auf die Produktions- und Lebensweise der Mapuche hatten. Insbesondere die Eroberung ihres Landes durch das chilenische Militär Ende des 19. Jahrhunderts bildet einen existenziellen Einschnitt in die kulturelle und sozioökonomische Lebensweise der Mapuche (Pineda 2014: 104). Diese Enteignungen fügten den Mapuche in ihrem kollektiven Bewusstsein und ihrer Identität eine Wunde zu, die bis heute nicht verheilt ist. Dies befeuert nach wie vor den tiefen Schmerz im historischen Bewusstsein der Mapuche sowie ihre beeindruckende Entschlossenheit, sich ihr Land wieder anzueignen.

Das 20. Jahrhundert: Zwischen Verbäuerlichung der Mapuche und der Wiederaneignung des Landes

Auch im 20. Jahrhundert schritten die kapitalistischen Landnahmen im Wallmapu weiter voran. Nach der sogenannten »Befriedung« der Araucanía, der Errichtung einer Zugstrecke und riesiger Mühlen sowie der Brandrodung eines großen Teils der Wälder entwickelte sich die Region zur Kornkammer der chilenischen Gesellschaft (Otero 2006: 89; Garín et al. 2011: 75). All dies hatte auch umfassende ökologische Konsequenzen. Als Folge der Brandrodungen galten zu Beginn des 20. Jahrhunderts 59 Prozent der Küstenkordillere im zentralen Süden Chiles als erodierte Flächen und rund vier Millionen Hektar waren Prozessen der Wüstenbildung ausgesetzt (Otero 2006: 89). Flüsse veränderten ihren Flusslauf und riesige Urwälder verschwanden für immer (ebd.). Verschärft wurden die massiven ökologischen Zerstörungen noch dadurch, dass zur gleichen Zeit der Raubbau der Forstwirtschaft in der Araucanía einsetzte, welcher durch die Nachfrage nach Holz als Baumaterial für das Wachstum der Städte angefeuert wurde und ohne Rücksicht auf die Arbeiter*innen und die Ökosysteme die noch verbliebenen Wälder rodete (ebd.: 89 ff.).Footnote 147 Die »Entwicklung« des Südens seit der sogenannten »Befriedung« führte damit im 20. Jahrhundert zur Zerstörung großer Ökosysteme und zur raschen Auslaugung der fruchtbaren Böden. Schließlich musste Chile schon in den 1930er Jahren beginnen, Fleisch, Milch und Weizen zu importieren (Otero 2006: 97, 126).

Neben der breiten ökologischen Krise hatten die Entwicklungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts allerdings auch soziale Folgen (Otero 2006: 96 f.). Die Landwirtschaft in der Araucanía sollte im Rahmen der importsubstituierenden Politik modernisiert werden und die chilenische lohnabhängige Bevölkerung wieder verstärkt mit billigen Lebensmitteln versorgen. Für die Steigerung der Lebensmittelproduktion im Rahmen der »grünen Revolution« sollten nun auch kleine und mittlere Landbesitzer*innen mit Krediten, Technik und staatlicher Unterstützung ausgestattet werden (Montalba-Navarro/Carrasco 2003: 66). Die Folgen für die kleinbäuerliche Landwirtschaft waren allerdings eher negativ und bestanden in einer weiteren Degenerierung und Erosion der Böden und einer zunehmenden sozialen Polarisierung. Mit Blick auf die kleinbäuerlichen Haushalte schritt zu Beginn des 20. Jahrhunderts vielerorts die soziale Isolation und die Perspektivlosigkeit auf dem Lande voran, was die rurale Bevölkerung dazu trieb, ihr Land an die Forstunternehmen zu verkaufen und in die Städte zu ziehen (ebd.: 66 f.; Grosser 2018: 111 f.). In den reducciones der Mapuche setzten zudem Prozesse der Individualisierung ein. Comunidades teilten auf staatliche Anreize hin teilweise ihr Gemeinschaftsland in Privatgrundstücke auf und es kam zu betrügerischen Aufkäufen von Mapuche-Land durch die Forstindustrie und Großgrundbesitzer*innen (Bengoa 1999: 117 f.; Aylwin 2000: 280; Montalba-Navarro/Carrasco 2003: 65; Henríquez 2013: 151 f.; Correa 2021).

Mit Blick auf die Mapuche entstanden in den 1950er Jahren zudem neue Politiken der »Integration«, die die vorhergehenden Politiken der »erzwungenen Assimilation« schrittweise und erratisch abzulösen versuchten (Bengoa 2004: 31). Ziel war es, die chilenische Bevölkerung kulturell zu homogenisieren (ebd.). Statt einer erfolgreichen »Integration« folgte allerdings eine Urbanisierung und Marginalisierung sowie eine zunehmende Diskriminierung der indigenen Bevölkerung (ebd.: 32). Die Mapuche wurden im 20. Jahrhundert zudem allmählich zu semiproletarisierten ländlichen Haushalten, die ihre Subsistenzwirtschaft und kleine Warenproduktion zunehmend auch mit der Lohnarbeit auf den Feldern der Großgrundbesitzer*innen kombinierten (ebd.: 132). So bildeten die Reservate zunehmend ein Arbeitskräftereservoir für die lokalen Großgrundbesitzer*innen (Kaltmeier 2004: 114).Footnote 148 Die spätere Mechanisierung der Erntearbeit auf den großen Latifundien im zentralen Süden Chiles in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts trug deshalb ein weiteres Mal zur Verarmung der Mapuche-Haushalte sowie zur Landflucht bei (Bengoa 1983: 133).

Mitte des 20. Jahrhunderts begann eine Phase des wachsenden Einflusses sozialer Organisationen in der Politik sowie der weitreichenden Landreformen, deren umfangreichste – wie oben dargestellt – unter Allende stattfand (Bengoa 2005: 32). In dieser Zeit kam es auch zu neuen sozialen Beziehungen zwischen der chilenischen Gesellschaft und den Mapuche, beispielsweise in Form von Bündnissen zwischen Mapuche und sozialen Bewegungen, die mehr als je zuvor eine Grundlage für eine »respektvolle Integration« darstellten (ebd.: 33). Unter Allende erlebten diese sozialen Bündnisse von unten einen Höhepunkt. Die späten 1960er und die frühen 1970er Jahre waren durch Wellen der Streiks und Landbesetzungen gekennzeichnet. Auch in der Region der Araucanía intensivierten sich die sozialen Auseinandersetzungen, die zudem durch die Besonderheit gekennzeichnet waren, dass es zu einer Vielzahl von gemeinsamen Kämpfen der chilenischen Kleinbauer*innen mit den comunidades kam (Redondo 2017). Politisch gesehen entstanden Verbindungen zwischen Mapuche-Bewegung und Klassenorganisationen der campesinos auch schon mit den Initiativen zu kleinbäuerlichen Gewerkschaften in den 1950er Jahren (Bengoa 2016: 77) und Forderungen nach einer Agrarreform und staatlicher Hilfe rückten schon seit den späten 1960er Jahren zunehmend in den Vordergrund (Kaltmeier 2004: 136 f.). Schon zu Beginn der 1960er Jahre fanden gemeinsame Landbesetzungen statt – wie beispielsweise 1962 im fundo Pangal –, allerdings stellten diese Akte des Widerstands damals noch isolierte Erscheinungen dar, die sich in der Araucanía erst im Jahre 1970 zu einer massenhaften Form des gemeinsamen politischen Kampfes entwickelten (ebd.: 171 f.).

Im Dezember 1970 reiste Allende in die Araucanía, um an einer großen Versammlung der indigenen Völker Chiles im Stadium von Temuco teilzunehmen. Diese verdeutlichten Allende die Notwendigkeit eines neuen Indigenengesetzes, für das sie ihm einen Vorschlag überreichten und die Rückgabe der enteigneten indigenen Länder forderten (Chonchol 2017: 11). Weil Allendes Regierung keine Mehrheit im Kongress innehatte, konnte sie ihre Bemühungen allerdings zunächst nur im Rahmen der bisher gültigen Rechtslage umsetzen, die mit den vorangegangen Agrarreformen gegeben waren (ebd.). Diese Gesetzgebung behandelte die indigene Landbevölkerung unabhängig von ihren spezifischen kulturellen und kollektiv-ökonomischen Praktiken als gewöhnliche Bauernfamilien (ebd.: 12). Allende blieb wenig anderes übrig, als den Prozess der Rückgabe von Land innerhalb der bestehenden Rechtslage zu beschleunigen und Enteignungen großer Landbesitze in großem Stile zu genehmigen.Footnote 149 Dieser Prozess wurde durch eine Vielzahl an eigenständigen Landbesetzungen, die die Mapuche in dieser Zeit – teilweise unterstützt durch radikale, linke Organisationen – durchführten, begleitet und ausgedehnt (Kaltmeier 2004: 134 f.). Dies gilt vor allem im Zuge der Welle von Landbesetzungen, die durch die politische Euphorie der frühen 1970er Jahre sowie der permissiveren staatlichen Vorgehensweise unter Allende ausgelöst wurde (Bastías 2016: 85 ff., 108–112; Bengoa 2016: 77 ff.). Der kulturelle Anerkennungskampf wich – wie Olaf Kaltmeier es ausdrückt – in dieser Zeit einem allgemein geteilten Kampf für »bäuerliche Umverteilung« (Kaltmeier 2004: 136–138). Den comunidades wurden im ersten Jahr unter der Regierung Allende schließlich nach unterschiedlichen Angaben zwischen fast 70.000 und mehr als 150.000 Hektar übertragen (Aylwin 1995: 32 f.; Chonchol 2017: 12; Mariman 2017: 264).Footnote 150

Die dritte Welle der Enteignung: Die Mapuche während und nach der Militärdiktatur

Im Rahmen der Militärdiktatur begann in den 1970er Jahren in Chile eine neue Phase der Politik gegenüber den indigenen Völkern. Sie zielte auf die aktive Unterminierung der gemeinschaftlichen Produktions- und Lebensweise der Mapuche (Kaltmeier 2004: 152; Höhl 2022: 133 f.). Die 1979 erlassenen Gesetze 2.568 und 2.750 beinhalteten die Zerstückelung der reducciones in individuelle Landbesitze durch das INDAP.Footnote 151 Bis 1990 wurden im Rahmen dieser Gesetze 2000 reducciones aufgeteilt und rund 72.000 individuelle Besitztitel über eine Fläche von geschätzt 463.000 Hektar Land vergeben, was im Durchschnitt eine Landgröße zwischen fünf und sechs Hektar pro Familie ergibt (Kaltmeier 2004: 152; Henríquez 2013: 151 f.; Höhl 2022: 48, 130 f.).Footnote 152 Damit wurde das Land der Mapuche kommodifiziert und sollte mit einer Frist von zwei Jahrzehnten gekauft und verkauft sowie mit Krediten belastet werden können (Bengoa 1999: 170 f.; ebd. 2004: 428). Diese Privatisierungen und Parzellierungen des Gemeindelandes der Mapuche führten allerdings nicht nur zur erzwungen Privatisierung von Land (Millaman 2017: 267), sondern auch ein weiteres Mal zu großen Landverlusten seitens der Mapuche: erstens, weil Mapuche einer comunidad, die zum Zeitpunkt der Gebietsaufteilung nicht anwesend waren, ihr Anrecht auf einen Besitztitel verwirkten (Henríquez 2013: 152); zweitens, weil der Status des »indigenen Landes« aufgehoben wurde und damit Land, das zuvor als indigen und unveräußerlich galt, nun häufig in die Hände privater Geschäftemacher geriet sowie illegal angeeignetes indigenes Land nun in vielen Fällen einen legalen Status bekam (Kaltmeier 2004: 152; Henríquez 2013: 151).Footnote 153 Darüber hinaus wurde indigenes Land mittels Pachtverträgen über 99 Jahre oder über Schuldverhältnisse betrügerisch angeeignet (Bengoa 2004: 428, 433). Die Landverluste der Mapuche, welche durch die Gegen-Agrarreform eingeleitet wurden, können schließlich wie folgt beziffert werden: Nannten die Mapuche im Jahr 1973 noch circa 500.000 Hektar Land ihr Eigen, waren dies im Jahre 1990 nur noch rund 300.000 (Kaltmeier 2004: 181). Auch andere Quellen sprechen von Landverlusten der Mapuche von über 150.000 Hektar nach 1973 (Mariman 2017: 266). Aber die Mapuche verloren in dieser Zeit nicht nur Land, sondern im Rahmen der »kapitalistischen Revolution« in der Landwirtschaft auch wieder die Erwerbstätigkeiten in der alten Hacienda-Wirtschaft der Großgrundbesitzer*innen. Für die Regionen des zentralen Südens wurden die Mapuche zu einer reinen Überflussbevölkerung:

»Die Zerstörung des Komplexes hacienda-comunidad [in der Militärdiktatur] […] bringt die Mapuche in eine neue Situation. Nun existieren die funktionalen Beziehungen innerhalb der regionalen ländlichen Entwicklung nicht mehr. Die Mapuche-Bevölkerung ist in der neuen kapitalistischen Expansion nicht mehr ‚von Interesse‘, […] sie ist eine ‚Last der Vergangenheit‘, der man sich entledigen muss.« (eigene Übersetzung – Bengoa 1983: 135)

Gleichzeitig wurden die Mapuche zunehmend in weit entfernte Arbeitsmärkte des chilenischen Nordens integriert (Bengoa 1983: 159 f.). Es begann eine wahre Welle der Migration. Laut José Bengoa migrierte von 80 Prozent der untersuchten Mapuche-Familien mindestens ein Haushaltsmitglied temporär in den Norden, um dort einer befristeten Arbeit nachzugehen (ebd.: 153). Das Volk der Mapuche wurde damit noch weiter proletarisiert und diente als verarmter Reservepool für prekäre Gelegenheitsarbeiten. Eine ländliche Subsistenzproduktion im zentralen Süden wurde so kombiniert mit kapitalistischen Branchen in nördlich gelegenen Regionen (ebd.: 135 f., 159 f.). Die landwirtschaftlichen Praktiken der Mapuche veränderten sich auch nach der Zerstückelung ihres Landes kaum, so war sie auch in den 1980er Jahren noch zu mehr als 60 Prozent auf die Produktion für den Eigenbedarf ausgerichtet (Kaltmeier 2004: 152).Footnote 154 Allerdings nahm die erzwungene Assimilierung unter Pinochet neue Formen an und richtete sich auch auf die soziale und kulturelle Ebene (Höhl 2022: 88 f., 138 ff.).

Die »interne Kolonisierung« bedeutete im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder auch die aktive Zerstörung der Kultur der Mapuche sowie deren erzwungene Integration in die chilenische Gesellschaft. Die Zerteilung des Landes der comunidades in individuelle Besitztümer war der zentrale erste Schritt dieser Zerstörung der Lebensweise der Mapuche (Bengoa 2004: 32; Levil 2017: 233 ff.; Höhl 2022: 48, 130). Darüber hinaus wurde nicht nur die Sprache und die Traditionen der Mapuche delegitimiert, sondern auch ihre sozialen Organisationsformen und Reproduktionsweisen (Pineda 2014: 106 f.). Im Gegenzug dazu entstanden die Centros Culturales Mapuches (übers.: Kulturzentren der Mapuche) als eine neue Gegenbewegung der Mapuche von unten (Bengoa 1999: 163 f., 171 f.; ebd. 2004: 33; Levil 2017: 234 f.). Sie unterstützten in Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche, NGO sowie internationale Organisationen die kleinbäuerlichen Aktivitäten der Mapuche mit technischer Hilfe, Krediten und sozialen Programmen (Levil 2017: 235). 1980 entstand aus den Centros Culturales Mapuche die Organisation Ad Mapu, welche im Jahr 1990 zur Entstehung des Consejo de Todas las Tierras führte und schon in den 1980er Jahren eine zunehmende Radikalisierung und Politisierung der Mapuche-Bewegung sowie eine Betonung der eigenen Kultur beinhaltete (ebd.: 235 ff.). Die 1980er Jahre sind damit durch Versuche der Mapuche-Bewegung gekennzeichnet, aktiv ihre eigene Kultur wieder zu erstreiten und sich damit auch explizit von anderen sozialen Bewegungen abzugrenzen (Bengoa 2004: 33, 431 f.).Footnote 155

Weil sich die Politik der Militärdiktatur in Bezug auf die Mapuche nicht nur auf die Assimilierung der Mapuche richtete, sondern auch auf die groß angelegte Expansion des kapitalistischen Sektors in Form der Ausdehnung der Forstplantagenwirtschaft, lässt sich diese Phase darüber hinaus als eine weitere massive kapitalistische Landnahme begreifen (Garín et al. 2011: 84 f.; Henríquez 2013: 155 ff.). Sie bereitete nicht nur die Grundlage für das heutige Exportmodell, das auf einem sehr konzentrierten Unternehmenssektor der Forstindustrie, großen Plantagen in wenigen Händen und dem Export von Zellstoff basiert, sondern trieb ein weiteres Mal die Verarmung der Mapuche voran (Henríquez 2013: 159). Bezüglich ihrer sozioökonomischen Praktiken näherten sich die indigenen und chilenischen kleinbäuerlichen Haushalte stärker an (Pareja 2021: 381). Damit wurde auch die Grundlage für ein neues Wirtschaftsmodell in der Araucanía gelegt, in dem die Landwirtschaft zwar noch eine große Rolle spielte, die monokulturelle Forstwirtschaft jedoch mit Blick auf die wirtschaftlichen Zahlen die Oberhand gewann (Garín et al. 2011: 83 f.; Henríquez 2013: 155 ff.; Pareja 2021: 382). Verstärkt wurde die Entwicklung noch dadurch, dass die Zeit der Ausdehnung der Forstwirtschaft in eine Krise der Landwirtschaft fiel, welche gerade bei den ländlichen Haushalten zu einer stärkeren Verschuldung und Verarmung sowie zu Tendenzen der Veräußerung ihrer Grundstücke führte (Pareja 2021: 382). Die Diktatur leitete folglich eine Entwicklung ein, die große Gebiete des einstigen Wallmapu in den Weltmarkt für Forstprodukte und Zellstoff integrierte, die lokale Bevölkerung jedoch sozioökonomisch verarmte, kulturell diskriminierte und von ökologischen Ressourcen ausschloss.

Die ersten Jahre nach der Militärdiktatur waren dementgegen eine Zeit der aufkommenden Hoffnungen – auch für die indigenen Völker Chiles. Schon im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen von 1989 fanden mit dem Kandidaten Patricio Aylwin der Concertación de Partidos por la Democracia frühzeitig große Versammlungen mit Vertreter*innen der verschiedenen indigenen Gruppen des Landes statt. Bei einer der wichtigsten Versammlungen, die in Nueva Imperial im Zentrum der Araucanía stattfand, kam es zu einer Vereinbarung zwischen dem künftigen Präsidenten und den Repräsentanten der indigen Völker. Darin wurde sich darauf geeinigt, dass letztere bei einem Wahlsieg Aywins im Rahmen einer Verfassungsreform formal anerkannt würden, dass ein neues Indigenengesetz erlassen sowie dass eine staatliche Körperschaft geschaffen würde, die unter direkter Beteiligung der indigenen Gruppen die Konflikte zwischen diesen und dem Staat beilegen würde. Die Indigenenvertreter*innen verpflichteten sich ihrerseits darauf, den Präsidentschaftskandidaten zu unterstützen und ihre Konflikte künftig auf dem geplanten behördlichen Weg innerhalb der staatlichen Institutionen auszutragen (Bengoa 1999: 183 ff.). Ein Jahr später wurde Patricio Aylwin als Präsident vereidigt. In der Folge entstand die CONADI sowie ein neues Indigenengesetz unter Beteiligung der Mehrheit der Organisationen der Mapuche (Levil 2017: 241 f.). Die großen Erwartungen der Mapuche wurden allerdings schon bald enttäuscht. So wurden im Laufe der 1990er Jahren die Ambivalenzen in der Beziehung der CONADI und den comunidades deutlich. Viele Organisationen der Mapuche wandten sich im Laufe der ersten Jahre von der CONADI ab (Bengoa 1999: 183; Aylwin 2000: 278; Levil 2017: 239 ff.).Footnote 156 Die Versuche mit der Gründung der CONADI und anderen Initiativen einen Dialog zu etablieren und Instanzen der Konfliktbearbeitung zwischen chilenischem Staat und den Mapuche zu schaffen, hatten keine grundlegenden Veränderungen zur Folge (Vergara/Foerster 2002: 36 f.). Auch eine Anerkennung der indigenen Völker in der chilenischen Verfassung – welche in vielen Ländern Lateinamerikas in dieser Zeit vollzogen wurde – blieb in Chile aus (Bengoa 1999: 199 f.; Fuentes/de Cea 2017). All dies führte Ende der 1990er Jahre zu einer verbreiteten Enttäuschung auch unter den gemäßigteren Mapuche-Organisationen über die demokratischen Regierungen und begünstigte nach politischer Autonomie strebende Bewegungen, Organisationen und Protestformen.

Im Jahr 1997 begann eine neue Phase der Konflikte zwischen den Mapuche und den Mächtigen aus der chilenischen Politik und Wirtschaft (Tricot 2009; Pairicán/Alvarez 2011; Pineda 2014: 112; Levil 2017: 244 f.). In der Kommune von Lumaco brannten am Morgen des 13. Oktober 1997 eine Reihe von Forst- und Transportmaschinen. Zwei comunidades besetzten in der Folge Land und erhoben im Zuge einer direkten Aktion den Anspruch, ihr Gebiet selbständig zurückzugewinnen. Das öffentliche Aufsehen, das diese Auseinandersetzungen erlangten, führte zu einer allgemeinen Radikalisierung der Bewegung, so der Mapuche-Aktivist Ignacio aus Temuco (a23). Viele Beobachter*innen bezeichnen die Vorfälle als einen Wendepunkt in der Geschichte des Konfliktes und sehen in ihnen den Startpunkt der »neuen Mapuche Bewegung«, die sich explizit dem Thema der »recuperación de las tierras« (übers.: Wiederaneignung des Landes) widmet (Tricot 2009: 77; Pineda 2014: 113 f.; a23: 1 f.). Während die öffentlichen Medien zunächst offen über die Proteste berichteten, wich die Berichterstattung bald einer breiten Kampagne, die ein Klima der Angst und des Terrors, der von den radikalen Mapuche ausginge, verbreitete, so Ignacio aus Temuco (a23). Eine Welle der Repression begann. Zum ersten Mal in der Geschichte Chiles – schreibt der Historiker Gabriel Salazar – füllten sich die Gefängnisse des Südens massenhaft mit jungen Mapuche, die als politische Gefangene galten und denen Terrorismus zur Last gelegt wurde (Salazar 2017: 125). Ihre Behandlung stand nun allerdings erstmalig auch unter Beobachtung einer weltweiten Zivilgesellschaft und einer zu bedeutenden Teilen mit den Mapuche sympathisierenden nationalen Öffentlichkeit (ebd.).

Eines der frühen organisatorischen Produkte des Wendepunktes von 1997 war die radikale Mapuche-Organisation Coordinadora Arauco Malleco (CAM), die im Folgejahr 1998 gegründet wurde, bald großen Zulauf erhielt und an ihrem Höhepunkt Mitglieder in rund 30 bis 40 comunidades hatte. Die CAM führte die comunidades in eine Reihe von Landbesetzungen, die mit einer starken Rückbesinnung auf die Mapuche-Identität und Kultur einhergingen und sich die Zerstörung von Maschinerie und Eigentum der Forstunternehmen zum Ziel setzte (Pineda 2014: 114). Dieses Vorgehen sollte zur Wiederaneignung der eigenen Kultur und subsistenzwirtschaftlicher Ressourcen führen (ebd.: 114 f.). So heißt es in einer politischen Erklärung der CAM von 2004 folgendermaßen:

»[…] die Aktionen der Wiederaneignung von Land, die von verschiedenen comunidades durchgeführt werden, […] haben sich zu einem realen Konflikt insbesondere mit den Forstunternehmen entwickelt, die den großen Unternehmenskonglomeraten des Landes angehören. Diese Aktionen sind Teil eines historischen Kampfes […]. Die Grundlage der Forderung nach Land ist nicht nur historisch, sondern auch ökologisch, sozial und kulturell […].Im Grunde handelt es sich um territoriale Ansprüche, durch die wir mittels Aktionen der Wiederaneignung unsere ursprünglichen Gebiete zurückbekommen wollen.«Footnote 157

Die Erklärung der CAM macht deutlich, was die neueren Kämpfe der Mapuche kennzeichnet: ein klarer Antagonismus zu den großen Forstunternehmen wie zum chilenischen Staat und der Fokus auf die Wiederaneignung von Land mittels direkter Aktionen (Pineda 2014: 117, 119 f.). In diesem Zusammenhang zielt die CAM und andere Organisationen auf den Aufbau einer Mapuche-Nation, das heißt, ein eigenes, autonom verwaltetes Territorium (ebd.: 119).Footnote 158 Auf der anderen Seite waren die 2000er Jahre durch eine zweischneidige Strategie der Concertación-Regierungen gegenüber den Mapuche gekennzeichnet. Einerseits wurden Förder- und Anerkennungspolitiken ausgebaut, andererseits ländliche, konfliktreiche Mapuche-Gebiete flächenmäßig polizeilich kontrolliert, überwacht, radikale Organisationen der Mapuche kriminalisiert und Führungspersonen mit dem Anti-Terror-Gesetz aus der Pinochet-Diktatur überzogen (Molina 2012: 28 ff.). 2008 wurde dann unter Michelle Bachelet auch das »Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern« Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ratifiziert, das den indigenen Bevölkerungsgruppen weitere Rechte zubilligt. Militante Landbesetzungen, das Inbrandsetzen von Forstmaschinen oder die bewaffnete Störung von Fällarbeiten blieben beim radikaleren Teil der Mapuche-Bewegung und insbesondere der CAM allerdings weiterhin die dominante Form der Konfliktaustragung. Ihre Mobilisierungs- und Organisationsstärke nahm auch nach mehrfachen Verhaftungswellen ihrer Anführer*innen und im Rahmen des gegen sie verhängten Ausnahmezustands bis in die 2020er Jahre nicht ab.Footnote 159 Diese radikaleren Mapuche-Organisationen bilden allerdings trotz ihrer medialen Präsenz auch heute nur den radikalen Arm und repräsentieren nur eine Minderheit der Mapuche-Bewegung.Footnote 160 Die große Mehrheit der comunidades und Organisationen der Mapuche führen ihre direkten Aktionen, Proteste, Demonstrationen, Blockaden und Landbesetzungen unbewaffnet durch. Das hohe Maß an Konfliktivität und Politisierung unter den Mapuche lässt sich nachvollziehen, wenn man den sozioökonomischen Kontext, die soziale Polarisierung und die enorme Ausbreitung der Forstwirtschaft in der Araucanía betrachtet.

4.3.2 Die Araucanía heute: Neue Ruralität, ländliche Armut und die Expansion der Forstindustrie

Heute leben in der Region der Araucanía etwa eine Millionen Menschen, von denen rund ein Drittel den Mapuche angehört.Footnote 161 Die Region umfasst eine Fläche in der Größe von Belgien und ist sozioökonomisch stark auf den Export von Forstprodukten ausgerichtet. Die Wirtschaft der Araucanía exportierte im Jahr 2020 Waren im Wert von 675 Millionen US-Dollar, von denen der überwiegende Teil unverarbeitete oder industriell leicht verarbeitete land- und forstwirtschaftliche Erzeugnisse darstellt. Die Exporte gehen zu über einem Drittel nach China, gefolgt von rund 10 Prozent, die auf die USA entfallen (INE 2021c). Gleichzeitig ist die Araucanía gemessen am durchschnittlichen Einkommen der Privathaushalte die ärmste Region des Landes (INE 2021b). So verdient die ärmere Hälfte der Erwerbstätigen der Region umgerechnet monatlich weniger als 330 Euro und 70 Prozent der Bevölkerung umgerechnet weniger als 450 Euro (Durán/Kremerman 2019a: 6).Footnote 162 Der Anteil der Armut von 17,4 Prozent der Gesamtbevölkerung in der Region ist der höchste Wert Chiles.Footnote 163 Sie betrifft gerade die indigene Bevölkerung und ist auf dem Land besonders ausgeprägt (Durán/Kremerman 2015). Auch die Arbeitslosigkeit ist in der Araucanía besonders hoch. Sie lag seit den 2000er Jahren zwischen 8 und 14 Prozent, in den 2010er Jahren zwischen 7 und 10 Prozent und erreichte insbesondere in den Krisenjahren mit 13 Prozent (2009) und im Zuge der Corona-Pandemie mit 14,6 Prozent (2020) Rekordwerte (INE 2021a).Footnote 164 Gleichzeitig ist die Erwerbsquote in der Araucanía mit um die 50 Prozent relativ gering (MDS 2018a 10, 22) und der Anteil der Einkünfte durch abhängige Beschäftigung am gesamten monetären Einkommen der Privathaushalte nahm von 82 Prozent (2006) auf 79,7 Prozent (2017) ab (MDS 2018b: 45). Die Araucanía ist darüber hinaus durch einen hohen Anteil an informellen und klein(st)betrieblichen Aktivitäten gekennzeichnet. In der Region gibt es rund 160.000 Kleinstunternehmen und Selbständige, die formell oder informell tätig sind. Fast ein Viertel der Erwerbstätigen gilt als selbständig.Footnote 165 Im Jahre 2019 lag die Informalität bei 39,8 Prozent in der Araucanía. Der größte Anteil der Informellen entfällt auf die kleinen Selbständigen und Kleinstunternehmen (INE 2019a). Fast 75 Prozent aller Ein-Personen-Betriebe arbeiten laut Schätzungen informell (OES UFRO 2021: 7 f.).Footnote 166 Der Großteil der informellen Beschäftigung findet in der Landwirtschaft und im Handel statt. Im ländlichen Bereich und gerade bei den Mapuche spielen Subsistenzwirtschaft sowie der häufig informelle Verkauf von landwirtschaftlichem Überschuss in den Städten weiterhin eine wichtige Rolle (Romero et al. 2017: 44).

Im chilenischen Vergleich ist die Araucanía sehr ländlich geprägt, auch wenn selbst hier doppelt so viele Menschen in Städten (678.142) wie auf dem Land (321.588) leben (CASEN 2017 Resultado Trabajo: 132). Über 74 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche der Region wird für den Anbau von Getreide – hauptsächlich Weizen – und über 16 Prozent wird für die industrielle Landwirtschaft – im Wesentlichen Raps und Lupine – genutzt. Nur 4,7 Prozent der Flächen, aber über 16 Prozent der gesamten Erzeugnisse entfällt auf die Produktion von Gemüse (INE 2019c: 2 f.). Die Verteilung der Flächen zwischen industrieller und kleinbäuerlicher Landnutzung ist dabei äußerst ungleich. Dies gilt insbesondere für die Provinzen, in denen die Forstwirtschaft verbreitet ist.Footnote 167 Die Landknappheit der kleinbäuerlichen Familien wird noch dadurch gesteigert, dass die Haushalte – insbesondere die vergleichsweise großen Familien der Mapuche – ihre kleinen Flächen unter mehrere Erben aufteilen und die Flächen pro Haushalt damit im Laufe der Zeit immer weiter zurückgehen, wie mehrere Interviewte anmerken (a17; a20; a22; d6; vgl. auch Bengoa 1983: 134–140; Marimán 2012: 62). So erzählt René, ein Mapuche aus Galvarino (a17), dass seiner comunidad seit der sogenannten pacificación eine immer kleinere Fläche zugesprochen wurde, welche zudem in immer kleinere Parzellen unterteilt wurde. Dies führe heute zu derart kleinen Landbesitzen, dass die kleinbäuerliche Landwirtschaft der indigenen Bevölkerung ökonomisch nicht mehr subsistenzsichernd sei:

»wenn eine comunidad ihre 300 Hektar unter 300 Familien aufteilen muss, dann ist das 1 Hektar pro Familie. Wenn wir das individuell aufteilen würden, dann stünde meinem Vater von den 345 Hektar unserer comunidad ein Hektar zu […], das heißt für mich, dass ich ein Recht auf ein Viertel Hektar Land hätte […] und das in den Bergen, das macht ökonomisch überhaupt keinen Sinn. Und meinen eigenen Kindern bleibt dann eigentlich gar nichts.« (a17).

Die ländlichen Regionen im chilenischen Süden unterliegen in den letzten Jahren und Jahrzehnten allerdings einem ständigen Wandel. Die Transformation ländlicher Produktions- und Lebensweisen hat eine »neue Ruralität« (Julián et al. 2022: 118) geschaffen, die sich durch vier Grundzüge beschreiben lässt. Erstens spielen nicht-landwirtschaftliche Einkommen eine zunehmende Rolle. Zweitens nehmen Frauen immer stärker an monetarisierten Erwerbstätigkeiten teil. Drittens entsteht eine immer stärkere Verflechtung zwischen ruralen und urbanen Zonen. Viertens spielt Arbeitsmigration eine immer bedeutendere Rolle (ebd.: 117 ff.). Diese Prozesse sind Teil eines Wandels, der mit einem wachsenden Gewicht neuer wirtschaftlicher Bereiche wie dem Tourismus einhergeht sowie mit öffentlichen Beschäftigungsprogrammen und einer immer besseren Infrastruktur und Erreichbarkeit auch ehemals abgelegenerer Orte (ebd.: 118; Ojeda 2021: 280 f.). Die kleinbäuerliche Landwirtschaft verändert dadurch zunehmend ihre Produktpalette. Staatliche Anreize und ausländliche Unternehmen motivierten zudem kleine Landwirte auf die Produktion von cash crops für den Export wie Erdbeeren, Himbeeren und Heidelbeeren (arándanos), Blumen oder Haselnüssen umzustellen (Garín et al. 2011: 83 f.; Almonacid 2018: 140 ff.). Heidelbeeren gab es im Süden Chiles einst kaum. Nun werden sie großflächig angebaut und in zunehmendem Maße auch auf dem Binnenmarkt verkauft. Das große Geschäft läuft jedoch über die big player, die die Beeren ins Ausland exportieren, wo sie hohe Preise erzielen. Diese Branche wuchs vor allem seit den späten 1990er Jahren stetig an (ebd.: 142 ff.). Rund zwei Drittel der Beeren, die die Großabnehmer exportieren, werden vor Ort von kleinen Landwirt*innen angebaut (ebd.: 148). Auch für den Binnenmarkt beginnen Großabnehmer zunehmend kleinbäuerliche Produkte aufzukaufen. Sie erwerben beispielsweise Milch, Schweine oder Kälber von den Kleinbäuer*innen um daraus Milch- oder Fleischprodukte für den heimischen Märkte herzustellen (Díaz/Valencia 2014: 340–346; Almonacid 2018: 142). Die Verflechtungen kleinbäuerlicher Produktion mit dem Handel für den Binnenmarkt und für den Export nahmen folglich in den vergangen Jahrzehnten zu.

Allen voran veränderte aber vor allem die massive Expansion der Forstindustrie die Verhältnisse in den ländlichen Gebieten der Araucanía. Im Jahr 2017 macht die Forstindustrie 9 Prozent des BIP der Region der Araucanía aus (Infor 2020: 9). Laut Lucio – einem ehemaligen Präsidenten des Unternehmensverbandes CORMA – sei die Forstindustrie zudem für 65 Prozent der Exporte und 9 Prozent der Beschäftigung in der Region verantwortlich (b35). Etwa 13.000 Personen arbeiten auf den Plantagen der Forstindustrie und fast 4.500 Beschäftigte sind in den weiterverarbeitenden Industrien, in denen neben Zellstoff vor allem Spanplatten und Schnittholz für den Export, aber auch Möbel und verschiedene Arten von Bauholz für den Binnenmarkt hergestellt werden, tätig (Infor 2020: 243). In der Araucanía sind damit insgesamt etwa 18.000 Personen direkt in der Forstindustrie tätig (Julián/Alister 2018: 182). Nimmt man die indirekten Beschäftigten hinzu, das heißt diejenigen, die in irgendeiner Weise von der Forstindustrie abhängig sind, käme der Bereich in der Araucanía auf eine Gesamtzahl von um die 55.000 Arbeitsplätzen, schätzt ein Experte der Universidad Católica im Interview (a41). Dass die wirtschaftlichen Aktivitäten der großen Forstunternehmen allerdings kaum Reichtum in der Region lassen, zeigt Rodrigo Cerda, wenn er darauf verweist, dass sich das BIP pro Kopf in der Araucanía nur auf 35 Prozent desjenigen in der Metropolenregion Santiago und nur auf 15,9 Prozent desjenigen in der Bergbau-Region Antofagasta beläuft (Cerda 2015: 409 f.).

Abb. 4.3
figure 3

(Quelle: Infor 2020: 32 – Eigene Bearbeitung)

Forstplantagen in der Araucanía.

Die Forstindustrie ist in der Araucanía nicht nur wirtschaftlich sehr präsent. Ihre Dominanz in der Region drückt sich vor allem in ihrer flächenmäßigen Expansion aus. Seit Ende der 1970er Jahre rollte eine Welle der kapitalistischen Landnahme über die Araucanía und insbesondere die Küstenkordillere. Aus landwirtschaftlichen oder nicht-marktwirtschaftlich genutzten Flächen wurden Monokulturen der Forstindustrie. Die Aneignung von Land durch die Forstindustrie setzte sich, wie Abbildung 4.3 zeigt, noch in den 2000er Jahren fort und stieß erst in den 2010er Jahren an ihre Grenzen. Diese Expansion hat dazu geführt, dass Ende der 2000er Jahre die Fläche der Forstplantagen in einer Reihe von Kommunen über 60 Prozent der Gesamtfläche der Kommune übertraf (Garín et al. 2011: 83 f.; Henríquez 2013: 155 ff.). Seitdem haben sich die Forstplantagen noch weiter ausgebreitet.

Während Vertreter*innen der Forstwirtschaft immer wieder betonen, dass die Forstplantagen zumeist auf ungenützten, häufig erodierten Flächen gepflanzt wurden, bezeugt die ländliche Bevölkerung beispielsweise in Galvarino (in Abbildung 4.4 markiert), dass auf dem Land, das in ihrer Nachbarschaft in den vergangenen Jahrzehnten mit Monokulturen bepflanzt wurde, vorher heimische Mischwälder wuchsen (a9; a10; a14; a15; a22). Viele der angeblich leeren Gebiete waren für die Mapuche kulturell von großer Bedeutung. So wurden reihenweise Orte an Forstunternehmen vergeben, die von den Mapuche als heilige Stätten stets respektiert und in Ruhe gelassen wurden und die eine enorme Biodiversität beheimateten, so Tahiel – ein Mapuche aus Cholchol – im Interview (a22). Claudia aus Galvarino beschreibt das Gefühl vieler Mapuche in der Araucanía, die auf dem Land leben, eindrücklich: »Schau dir an wie wir leben, eingesperrt zwischen diesen Forstplantagen. Von beiden Seiten sind wir eingekesselt« (a16).

Abb. 4.4
figure 4

(Quelle: Felipe Castro Gutierrez (mapaaraucanía) – Eigene Bearbeitung)

Forstplantagen in der Araucanía mit Markierung der Kommune Galvarino.

Die großen Flächen, die die Forstindustrie für die konstante Versorgung mit Rohstoffen ihrer Zellstofffabriken benötigt, stößt auch in der Araucanía nur auf einen geringen Bedarf an Arbeitsplätzen. Die Bewohner*innen von Galvarino und Cholchol berichten mehrheitlich, dass es kaum Arbeit bei den Forstunternehmen gebe. Außerdem würden sie in den wenigen Fällen, wenn die Unternehmen lokale Bevölkerung beschäftigen, sehr schlecht bezahlt (a9; a13; a14; a15; a20; a22). Nicht zuletzt deshalb korreliert die flächenmäßige Bedeutung der Forstplantagen mit der Verbreitung von Armut – so Angélica, die in staatlichen »Entwicklungsprogrammen« arbeitet, im Interview (a40). Gleichzeitig sind diese Gebiete von großem Wassermangel, Verschmutzung ihrer Gewässer und Gesundheitsproblemen betroffen und selbst im Vergleich mit anderen ländlichen Räumen der Araucanía durch geringe öffentliche Investitionen gekennzeichnet – so Angélica weiter (a40).

Mit der veränderten wirtschaftlichen Ausrichtung der Region auf cash crops und Forstwirtschaft änderten sich auch die Erwerbsmöglichkeiten für die ländliche Bevölkerung. Zuvor teils arbeitsintensive Tätigkeiten wichen beispielsweise den extrem flächen- und kapitalintensiven Forstplantagen. Darüber hinaus änderten sich die lokalen Ökosysteme und machten kleinbäuerliche Landwirtschaft in zunehmendem Maße schwierig (Julián et al. 2022: 120). Der Rückgang von Natur- und Urwäldern schränkt die traditionell praktizierten kleinbäuerlichen Formen der Waldnutzung ein, die von der Suche nach Heilkräutern, Pilzen und dem Beschaffen von Feuerholz über die Nutzung von Wäldern als Weideland bis hin zur Produktion von Holzkohle und Holzschindeln reichen (Tecklin/Catalán 2005: 31). Neben der Ausdehnung der Forstwirtschaft und der damit einhergehenden Ersetzung alter Naturwälder und landwirtschaftlicher Aktivitäten in monokulturelle Forstwirtschaft, erklärte der chilenische Staat auf der anderen Seite – wie bereits oben schon angesprochen – übriggebliebene größere Flächen von Urwäldern als Naturschutzgebiete, aus denen kleinbäuerliche Landnutzung ausschlossen wurde (Julián et al. 2022: 120). Die kleinbäuerliche Bedarfsökonomie wurde in der Folge noch stärker als zuvor eingeklemmt zwischen privatem Großgrundbesitz und staatlicher Exklusion. Die zunehmende Krise der kleinbäuerlichen Landwirtschaft sowie die sinkenden Beschäftigungsmöglichkeiten, die sich aus der Expansion der Forstwirtschaft ergaben, führten in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Fortsetzung der Tendenz zur Migration in die Städte (Henríquez 2013: 155 f.).

Aber nicht nur die einfache Bevölkerung, sondern auch die regional herrschende Klasse unterlag in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einem grundsätzlichen Wandel. So wurden aus den ehemaligen Hacienda-Besitzer*innen im Rahmen der breiten revuelta campesina sowie den Agrar- und Kontra-Agrarreformen allmählich moderne Kapitalist*innen (Bengoa 2016: 9 ff., 26 f., 64 f., 82 ff., 89 ff.). Diese Verwandlung alter Großgrundtümer, die vor allem Weizen produzierten, in exportorientierte Unternehmen mit enormen Landflächen hatte vor dem Hintergrund zunehmender Lebensmittelimporte und sinkender Preise mit einer abnehmenden Rentabilität der Lebensmittelproduktion für den Binnenmarkt zu tun und folglich auch stark wirtschaftliche Gründe (Julián et al. 2022: 119). Viele von ihnen pflanzten nun große Forstplantagen auf ihren großen Grundstücken und beliefern heute die Forstindustrie.

Die äußerst konservativen Großgrundbesitzer- und Unternehmerfamilien der Araucanía sind häufig direkte Nachfolger kolonialer Siedler und stellen bis heute einen bedeutenden Teil der regionalen Elite dar. Ihre wesentlichen Geschäfte liegen in den Bereichen der Land- und Forstwirtschaft, der Industrie und dem Tourismus (Moyo/Pelfini/Aguilar 2018: 290). Die regional herrschende Klasse unterhält untereinander enge Kontakte: »In Temuco kennen sich alle« erklärt Lucía – eine wichtige Unternehmerin in Temuco und Mitglied der Multigremial de la Araucanía (b36). Mit »alle« meint sie dabei die Unternehmerfamilien der Region. Sie kennen sich meist schon aus der Deutschen Schule in Temuco, erklärt Lucía. Bis heute seien sie befreundet und stünden über eine WhatsApp-Gruppe in ständigem Kontakt (b36). Eine der zentralen Organisationen der regional herrschenden Klasse ist der angesprochene Unternehmerverband Multigremial de la Araucanía, der nach eigenen Angaben über 1000 Unternehmen der Region mit über 36 000 direkten Beschäftigten vereint und sich als zentraler Akteur der wirtschaftlichen Entwicklung in der Region definiert.Footnote 168 Die Organisation mit Sitz Temuco ist äußerst konservativ und ihre Vertreter*innen fordern vom Zentralstaat in Santiago immer wieder ein weitaus entschiedeneres Vorgehen gegen die Mapuche-Organisationen. In ihren Augen müsse dauerhaft ein Ausnahmezustand in den ländlichen Kommunen der Araucanía ausgerufen werden. Laut Lucía würden Unternehmen heute aufgrund des Konflikts und der Attacken kaum mehr in größerem Umfang in der Region investieren (b36). Damit wird deutlich, dass die Region der Araucanía nicht nur sozial, sondern entlang der Klassenachse auch politisch stark polarisiert ist.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Araucanía durch eine große Zahl ländlicher und landwirtschaftlich aktiver Bevölkerung, einen hohen Anteil an Mapuche sowie an Armut und prekärer Beschäftigung gekennzeichnet ist.Footnote 169 Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts breiten sich die Forstplantagen allerdings massiv aus und drängen die kleinbäuerliche Landwirtschaft zurück. Während große Betriebe der verarbeitenden Industrie nur eine geringe Rolle spielen, dominiert der kapitalistische Sektor mittels der weit ausgedehnten Forstplantagen. Gleichzeitig transformierten sich die ehemaligen semifeudalen Großgrundbesitzerfamilien in Unternehmerfamilien, die heute vielfach im Forstbereich aktiv sind. Diese schaffen jedoch kaum Arbeitsplätze für die lokale Bevölkerung, weshalb bedarfsökonomische Aktivitäten und Arbeitsmigration von zentraler Bedeutung sind. Darüber hinaus entstehen zunehmend – teils staatlich geförderte – Verflechtungen der indirekten Subsumtion kleinbäuerlicher Betriebe im Rahmen der Produktion von cash crops für deren Export. Insgesamt lässt sich die »neue Ruralität« als ein Prozess hin zu einer Fokussierung des kapitalistischen Sektors auf extraktivistische Aktivitäten sowie des bedarfsökonomischen Sektors auf eine stärkere Monetarisierung und Kommodifizierung der Einkommen ländlicher Haushalte und einer zunehmenden Verflechtung ihrer Klein(st)betriebe mit Kapitalkreisläufen kennzeichnen. Der kapitalistische Sektor und allen voran die Forstindustrie trägt in der Araucanía in der Breite jedoch kaum zu sozialer Wohlfahrt bei, weshalb die Region zu den ärmsten des Landes gehört. Außerdem konzentrieren sich hier Probleme des Land- und Wassermangels, die durch die Forstwirtschaft verstärkt werden. Dieser geschilderte allgemeine sozioökonomische Kontext legt nahe, dass dem Konflikt zwischen der ländlichen Bevölkerung und vor allem der Mapuche auf der einen und der besitzenden Klasse vor allem in Gestalt der Forstindustrie auf der anderen Seite in hohem Maße ein Klassencharakter zukommt. Gleichzeitig finden die stärksten Auseinandersetzungen im nördlich gelegenen Gebiet der nagche, wo nicht nur ein großer Teil der Forstplantagen liegen, sondern auch ein großer Anteil der Bevölkerung den Mapuche angehört, statt. Hier geraten nicht einfach soziale Klassen in Konflikt, vielmehr tragen die Auseinandersetzungen einen zutiefst historischen und kulturellen Charakter. Dies wird im Folgenden an den Spezifika der Produktions- und Lebensweise der Mapuche in der Araucanía verdeutlicht.

4.3.3 Die Mapuche heute: Lebens- und Produktionsweisen

Lebensweise und kulturelle Praktiken der Mapuche

Lange Zeit galt als Mapuche, wer nach Abstammung und Nachname eindeutig dieser Ethnie zugerechnet werden konnte. Heute ist diese essentialistisch-biologisierende Definition nicht mehr gebräuchlich. Es wird weitgehend anerkannt, dass die chilenische Gesellschaft nahezu vollständig aus mestizos mit völlig unterschiedlichen Ursprüngen besteht.Footnote 170 Auch die Mapuche sind in ihrer Abstammung hybrid (Marimán 2012: 34 ff.). Phänotypisch lässt sich zwischen Mapuche und der übrigen mestizo-Bevölkerung – von einigen sehr europäisch geprägten Einzelfällen vorwiegend der oberen Klassen abgesehen – kein Unterschied ausmachen (ebd.: 35 ff.). Einige Autor*innen schlagen deshalb vor, die Frage der Identität der Mapuche an das Praktizieren der Kultur und das Sprechen des Mapudungun zu koppeln (Höhl 2022: 83 f.). Im chilenischen Zensus wird überhaupt erst seit den 1990er Jahren nach der Zugehörigkeit zu einer indigenen Gruppe gefragt. Dabei richtet sich die Kategorie der ethnischen Zugehörigkeit heute nach der Selbstidentifizierung der Person beispielsweise als Mapuche (ebd.: 82 f.; INE 2018: 16). Gleichzeitig ist die Mapuche-Identität nach wie vor auch durch starke Fremdzuschreibungen geprägt. In der Folge stoßen die Mapuche auch heute noch auf starke Diskriminierung (Marimán 2012: 88 f.; Foerster 2018: 456 ff.). Dies zeigt sich auch darin, dass die Chilen*innen durchschnittlich rund 43 Prozent mehr verdienen als Mitglieder indigener Völker (Durán/Kremerman 2015: 3). Insgesamt hat die Zugehörigkeit zu den Mapuche folglich heute weniger mit Abstammungslinien und mehr mit Diskriminierungserfahrungen, Zugehörigkeitsgefühl, der eigenen Sprache, dem Wohngebiet sowie der praktizierten Kultur zu tun (Höhl 2022: 85).Footnote 171 Die verbreitete Migration der Mapuche in die Städte hat diesen Fragen neue Bedeutung gegeben.Footnote 172

Die Mehrheit der Mapuche lebt heute in Städten, vor allem in der Hauptstadt Santiago sowie in Temuco. Die Abwanderung von ganzen Familien oder einzelnen Familienangehörigen in die Städte und andere Regionen des Landes charakterisiert auch die vergangenen Jahre (Cerda 2015: 412). Dort können junge Mapuche nicht nur studieren, auch sind die Erwerbschancen im urbanen Raum besser. Zudem verdienen Mapuche außerhalb der Araucanía durchschnittlich 23 Prozent mehr (ebd.: 415 f.). Die Migration der Mapuche hat darüber hinaus Konsequenzen für ihre politische Organisierung sowie das Praktizieren ihrer Kultur (Vergara/Foerster 2002: 41). Dennoch haben auch die warriache – die urbanen Mapuche – ihre Identität, ihre Kultur und ihre Lebensweise nicht vollkommen aufgegeben (Bieker 2010). Die Mapuche in den Städten, dies bestätigt auch Ignacio (a23) – ein Mapuche-Aktivist aus Temuco (a23) – im Interview, würden eine Vielzahl an Traditionen weiter praktizieren. Viele Mapuche, die in den Städten leben, unterhalten weiterhin enge Verbindungen zu ihren comunidades auf dem Lande, ein Umstand, der sich schon in den ersten Urbanisierungswellen des 20. Jahrhunderts beobachten ließ (Bengoa 1983: 133). Frida (c3), die an einer Studie über die Gesundheit der Mapuche in der Hauptstadt arbeitet, berichtet im Interview, dass viele Mapuche auch in Santiago versuchen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine an die eigenen Traditionen angebundene Lebensweise zu führen.Footnote 173 Allerdings merken ihre Gesprächspartner*innen immer wieder an, dass es ihnen in der Stadt schwerfällt, irgendeine Art von Verbindung zur Natur und dem eigenen Land – dem Wallmapu – aufzubauen, die für die Mapuche sehr wichtig ist und die sie nicht aufgeben wollen. Immer wieder berichten Mapuche im Interview (a9; a15; c16), dass Mapuche-Familien versuchen, aufs Land zurückziehen. Dies hängt auch damit zusammen, dass sich die Lebensweise und die Identität der Mapuche nicht vorwiegend um individuelles Verhalten drehen, sondern vor allem um kollektive kulturelle Praktiken, die beispielsweise in traditionellen Ritualen und Zeremonien bestehen und mit einer spezifischen gemeinschaftlichen Organisationsweise des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Miteinanders verbunden sind, das wesentlich in comunidades und in einem spezifischen ökologischen Umfeld stattfindet (Dillehay 1990: 95 ff.; Kaltmeier 2004: 289 ff.; Marimán 2012: 97 f.; Marimán et al. 2017: 268).

Ökologische Kreisläufe, Wasserquellen sowie bestimmte Hügel, Berge und Baumarten sind in der Kultur der Mapuche heilig. Wollen die Mapuche der Natur etwas entnehmen, müssen sie diese in ihren Zeremonien des nguillatun klassischerweise um Erlaubnis bitten (Otero 2006: 56 f.). Die Mapuche stehen in einer Reziprozitätsbeziehung zu allem pflanzlichen und tierischen Leben ihrer Umgebung, aber auch zu ihrer beseelten Umwelt insgesamt (Neira et al. 2012). Die Lebensweise der Mapuche zielt in ihren Worten auf das kume mongen – das »gute Leben« – sowie auf itrofill mongen (übersetzt: alle Leben), das heißt auf ein Leben im Einklang mit der Natur und anderen Lebewesen, ab. Die enge Verbindung zu ihrem Land und ihrer Natur spiegelt sich auch in ihren gemeinschaftlichen Strukturen wider. So sind die Mapuche in lof organisiert, welche einen Familienzusammenhang bilden, dem ein lonko (traditionelles Familienoberhaupt) vorsteht.Footnote 174 Neben dem lonko ist die machi eine wichtige Autorität. Sie erfüllt die spirituellen und heilenden Aufgaben. Allerdings ist ein lof keinesfalls nur ein soziales Gebilde, sondern ist an ein spezifisches geografisches Territorium gebunden (Viera-Bravo 2021: 100). Die Lebensweise der Mapuche geht folglich auch mit traditionellen Organisationsweisen und Autoritäten und mit einer starken territoriale Verbundenheit einher. Allerdings kommt es hierbei zu einer Konkurrenz zwischen den Institutionen des chilenischen Staates und der Autoritäten der comunidades. Dies betrifft nicht nur die Gemeinden und ihre Bürgermeister*innen in den Kommunen, sondern auch die behördliche Anforderung an die comunidades mittels eines spezifischen Verfahrens eine/n offizielle/n Präsident*in zu wählen, der als anerkannte/r Vertreter*in der comunidad fungiert. Die beiden jeweils eigenständigen organisatorischen Gebilde bestehen in der Folge nebeneinander und geraten miteinander in Konflikt – berichtet ein Gemeindemitarbeiter aus Cholchol im Interview (a20). Für viele comunidades ist es eine Frage des Respektes, dass jegliche staatliche und ökonomische Intervention in ihrem Territorium zunächst mit ihren traditionellen Autoritäten abgestimmt wird (a23). Die traditionelle Organisationsweise der Mapuche werde aber meist überhaupt nicht anerkannt und die lonkos verlören deshalb an Legitimität, so beispielsweise Amancay (a21) und Tahiel (a22) aus Cholchol. Lautaro (a10) aus Galvarino erklärt, dass die Aufrechterhaltung der eigenen Organisationen auch eine strategische Entscheidung der Mapuche-Bewegung darstelle: »Heute bauen wir unsere eigenen Mapuche-Organisationen auf, in denen der lonko, die machi und die traditionellen Autoritäten das Sagen haben, ohne dass sie offizielle Rechtspersonen sind und damit konfrontieren wir sie [die chilenischen Behörden – J.G.] auch […]« (a10).

Auf der anderen Seite arbeiten Gemeinden, staatliche Förderprogramme und Forstunternehmen entgegen der Traditionen der Mapuche vorzugsweise mit den Präsident*innen der comunidades zusammen, wie Mapuche aus Galvarino und Cholchol im Interview berichten (a9; a21). Auch ein Mitarbeiter eines Subunternehmens der Forstindustrie (a37) berichtet, dass sie bei der Suche nach Arbeitskräften für die Fällarbeiten in den Plantagen lieber mit den Präsident*innen der comunidades als mit den lonkos in Kontakt träten, weil letztere häufig nicht gewillt seien, mit der Forstindustrie zu kooperieren. Es entsteht damit ein ständiges Spannungsfeld zwischen den Mapuche-eigenen Autoritäten und den offiziellen, staatlich anerkannten Vertreter*innen der comunidades, die von gewählten Präsident*innen und Sekretär*innen bis hin zu Buchhalter*innen reichen.

Insgesamt kann festgestellt werden, dass die Mapuche mit Blick auf ihre ökonomische Stellung die unterste soziale Gruppe in der chilenischen Klassenhierarchie bilden. Sie verdienen weniger als Chilen*innen und sind dauerhafter, rassistischer Diskriminierung ausgesetzt (Richards 2016). Darüber hinaus hängt die Produktions- und Lebensweise der Mapuche mit spezifischen territorialen Identitäten, kollektiven Zeremonien und kulturellen Praktiken sowie eigenen politischen Autoritäten und einer spezifischen ökologischen und geografischen Umgebung zusammen (Marimán et al. 2017: 268), die massiv von der Expansion der Forstindustrie betroffen ist. Der Kampf um die eigene kulturelle Identität und die eigenen politischen Autoritäten gilt dabei in der chilenischen Gesellschaft als besonders radikal. Das hat auch damit zu tun, dass die Mapuche dabei immer wieder den Zusammenhang zwischen Wiederaneignung der eigenen Kultur und der Rückeroberung ihres Gebietes – des Wallmapu – deutlich machen. Dies zeigt, dass die kulturellen Kämpfe der Mapuche weit über klassische Formen von Anerkennungspolitik hinausgehen. Sie bilden einen essenziellen Bestandteil, eines Gesamtkomplexes, der im Folgenden als reivindicación mapuche beschrieben wird.

La reivindicación mapuche

»Wir haben immer Widerstand geleistet. Früher waren es unsere Eltern und unsere Großeltern, jetzt machen wir das gleiche«, sagt Aukan aus Galvarino im Interview (a15). Die Konflikte der Mapuche mit äußeren Gegnern haben eine lange Geschichte. Immer wieder gab es auch Hoffnungszeichen ihrer Befriedung. Sei es im Rahmen der mit den Spaniern ausgehandelten Verträge über Gebietsverteilungen, Landreformen unter der sozialistischen Regierung von Salvador Allende oder Hoffnungen auf ihre Anerkennung im Rahmen der gescheiterten plurinationalen Verfassungsreform im Jahr 2022 (Fuentes/Pairican 2022). Die Mapuche sind heute gleichzeitig nicht mehr dieselben, die sich gegen die spanische Invasion zur Wehr setzten. Mit Blick auf ihre einstigen wirtschaftlichen Ressourcen und insbesondere ihr Land sind sie seitdem fast vollkommen enteignet worden. Heute kämpfen sie für reivindicación, was sowohl Wiedergutmachung als auch Wiederaneignung bedeutet. Dabei geht es allerdings nicht nur um eine reivindicación territorial, mit der historische Ansprüche auf das Land der Mapuche erhoben werden, sondern auch um eine reivindicación cultural, das heißt eine Wiederaneignung der eigenen Kultur. Der weit verbreitete Terminus reivindicación weist darauf hin, dass sich die Kämpfe der Mapuche auf Ansprüche aus einer historischen Schuld insbesondere des chilenischen Staates ihnen gegenüber beziehen: »der Akt selbst ist eine Rückgewinnung (recuperación), aber die reivindicación betont, dass es um ein angestammtes Gebiet geht«, so Ignacio Mapuche-Aktivist aus Temuco (a23). Das heutige normative Anrecht stützt sich dabei auf historisches Unrecht und die heutigen Praktiken der Wiederaneignungen werden in ihren unterschiedlichen Formen durch die vergangenen Gewaltakte der Enteignungen von gestern und vorgestern gerechtfertigt, die die Mapuche erlitten.Footnote 175 Darüber hinaus können sich die Mapuche seit dem Ende des 20. Jahrhunderts auch auf internationales Recht beziehen. Chile ratifizierte – wie bereits oben angesprochen – 2008 das »Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern« der ILO, welches in Artikel 14 festlegt, dass die »Eigentums- und Besitzrechte der betreffenden Völker an dem von ihnen von alters her besiedelten Land […] anzuerkennen« sind. Weiter führt das Übereinkommen aus: »Außerdem sind in geeigneten Fällen Maßnahmen zu ergreifen, um das Recht der betreffenden Völker zur Nutzung von Land zu schützen, das nicht ausschließlich von ihnen besiedelt ist, zu dem sie aber im Hinblick auf ihre der Eigenversorgung dienenden und ihre traditionellen Tätigkeiten von alters her Zugang haben«.Footnote 176 Im Rahmen der reivindicaciones spiele deshalb auch Bildungsarbeit eine Rolle. So erzählen Aukan und Nahuel, dass es heute darum gehe, die Jugend besser bezüglich der Rechte und Berechtigungen auszubilden, die sie im Kampf für ihr eigenes Land hätten (a9; a15). Außerdem sei diese längerfristig angelegte Bildungsarbeit auch wichtig, um das Bewusstsein für die eigene Kultur zu vertiefen sowie die eigenen ökonomischen Praktiken der Mapuche wiederzubeleben und die Gemeinschaft zu stärken (a15).

In der reivindicacion cultural spielen Praktiken, die Eric Hobsbawm als invented traditions bezeichnete eine wichtige Rolle (Hobsbawm 1983: 1 f.). In einem heute völlig veränderten Kontext werden alte traditionelle Praktiken wieder angeeignet, mit modernen Praktiken und Weltanschauungen kombiniert und somit die vergangenen Traditionen »neu erfunden« (Marimán 2012: 38; Burguete Cal y Mayor 2018: 17; Pareja 2021: 385 f., 393).Footnote 177 Es geht den Mapuche demnach in ihren reivindicaciones nicht um eine Rückkehr zum Alten. Die Kultur sei dynamisch, nicht statisch und artikuliere sich mit der »Moderne«, dies betont auch Arón aus Galvarino im Interview (c7). Nicht nur die eigenen Traditionen, sondern auch die Einflüsse der chilenischen »Moderne« sowie der bäuerlichen-ländlichen Kultur bilden damit Quellen der hybriden Identität der Mapuche (Pareja 2021: 386). Während lonkos beispielsweise ursprünglich durch Abstammung vorbestimmt sind, berichtet Aukan, dass sie in ihrer comunidad einen lonko wählten, der dann mit einer traditionellen Zeremonie einer machi zur traditionellen Autorität würde (a15). Folglich wird »Altes« mit »Neuem« gemischt. Die Identität der Mapuche wird dabei fortwährend rekonstruiert (Kaltmeier 2004: 323 f.), was vor allem auch durch Konflikte – sei es mit dem chilenischen Staat, mit den Großgrundbesitzer*innen oder den Forstunternehmen – geschieht, die die Identitätsbildung verstärken (ebd.; Pareja 2021: 386). Die konfliktive Identität und die Rolle des/der Mapuche als Kämpfer*in (weichafe) spielten in der Geschichte immer wieder eine große Rolle (Bengoa 2004: 430 f.; Marimán 2012: 105 f.).

In den letzten zehn Jahren kann in der gesamten chilenischen Gesellschaft zudem ein Öffnungsprozess bezüglich der Mapuche-Kultur und -Bewegung beobachtet werden. Diese bestätigen auch Mapuche in Interviews (a11; a23). Einerseits führt dies zu einer wachsenden gesellschaftlichen Anerkennung der politischen Forderungen der Mapuche, andererseits stärkt dies auch die Wiederaneignung der Mapuche-Kultur und -Identität bei den Mapuche selbst und bildet einen elementaren Bestandteil eines politischen Prozesses, der langfristig die großen Ungleichheiten zwischen den comunidades auf der einen Seite und einer kleinen und gut vernetzten regional herrschenden Klasse auf der anderen Seite herausfordern könnte, so Sergio aus Galvarino (a11). Arón (a7) bestätigt diese Entwicklung. Heute schämten sich die Mapuche mehrheitlich nicht mehr für ihre kulturellen Praktiken und eigneten sich diese wieder offensiv an, meint er. Gerade die junge Generation praktiziert öffentlich die eigene Kultur, feiert traditionelle Feste und organisiert sich in Mapuche-Organisationen.

Die Kämpfe der reivindicación mapuche sind allerdings nicht einheitlich, sondern geografisch sehr ungleich verteilt. Das Gebiet der nagche im Norden der Araucanía ist heute als rote Zone des Konflikts zwischen comunidades auf der einen Seite und staatlichen Sicherheitskräften und Forstunternehmen auf der anderen Seite bekannt. Die comunidades der nagche sind besonders gut organisiert – wie eine Mitarbeiterin des PDTI berichtet (a40). Einerseits wird in Gesprächen mit Mapuche immer wieder deutlich, dass die comunidades untereinander vernetzt sind (a9; a10; a15). Andererseits ist die Mapuche-Bewegung sehr heterogen. Sie unterschieden sich hinsichtlich ihres politischen und kulturellen Bewusstseins je nach Territorium, von comunidad zu comunidad und je nach Generation und Lebensrealität (c7; c8). Auf zwei Ebenen bilden sich fortwährend Widersprüche zwischen Mapuche unterschiedlicher comunidades heraus: Auf der sozioökonomischen Ebene entstehen Differenzen zwischen comunidades, die mit der Forstindustrie zusammenarbeiten, Plantagen in ihrem Gebiet anlegen lassen oder sich durch Projekte der Forstunternehmen fördern lassen mit den übrigen comunidades, die dies ablehnen, so ein Mapuche-Aktivist aus Temuco (a23). Andererseits existieren Differenzen auf politischer Ebene. So versuchen viele comunidades auf institutionellem und juristischem Wege, ihre Ziele zu erreichen: sei es im Rahmen der Beteiligung an Bürgermeisterwahlen auf kommunaler Ebene oder durch Anträge auf Land bei der CONADI, in Form von staatlich geförderten Projekten, Beschwerden beim FSC oder der Berufung auf internationales Recht. Letzteres ist ein Weg, den Amancay (a21) explizit für seine comunidad in Cholchol in Anspruch nimmt. Sie würden einen friedlichen Weg bestreiten und sich auf internationales Recht berufen, so der Sohn eines lonko. Auch Nahuel (a9) – lonko aus Galvarino – spricht sich für diesen Weg aus. Andere – wie beispielsweise Lautaro (a10) – widersetzen sich dieser »Anpassung an den chilenischen Staat« vehement. Für sie spielen direkte Aktionen und der außerinstitutionelle Weg die zentrale Rolle: sei es in Form von Auseinandersetzungen mit der Polizei auf den Straßen durch urbane Gruppen oder in Form von Besetzungen, Blockaden oder der Sabotage von Forstarbeiten durch Mitglieder von comunidades auf dem Lande. Dies ist eine Form der Konfliktaustragung, die einige comunidades aus Galvarino explizit und strategisch wählen (a10; a12; a17). Gerade Mapuche-Organisationen wie die oben bereits angesprochene CAM agieren darüber hinaus mittels bewaffneter Aktionen und können so immer wieder Gebiete verteidigen oder Anschläge auf Forstmaschinen verüben (Pairicán/Alvarez 2011; Pineda 2014).

Die reivindicación mapuche ist damit heterogen und besteht aus unterschiedlichen Akteuren, die von studentischen Gruppen in den Universitäten und ethnokulturellen Gruppen in den Städten über comunidades, die sich gegen extraktivistische Großprojekte oder Plantagen wehren oder solche, die für einen Landtitel kämpfen bis hin zu Mapuche-Organisationen, die bewaffnet kämpfen, reichen (Pineda 2014: 110 f.). Damit kommt es auch zu sehr unterschiedlichen Strategien, Artikulationsformen mit dem Staat und damit auch zu Widersprüchen in der Bewegung (ebd.: 111; a23). Dies hat zudem damit zu tun, dass militante Mittel zwar erfolgsversprechend sein können, allerdings oft zu erheblichen staatlichen Repressionen führen – wie vor allem Interviewte aus Galvarino bezeugen (a9; a15; a16). Die genannten Differenzen werden allerdings durch die dezentrale Lebensweise der Mapuche abgemildert. So läge es in der Tradition der Mapuche, sich nicht in die politischen Angelegenheiten der anderen Territorien einzumischen und ihre autonomen Entscheidungen zu respektieren, so Arón (c7; c8). Dies führt zu prinzipieller Solidarität auch zwischen sehr unterschiedlichen Akteuren der Mapuche. Die Wiederaneignung der eigenen Kultur bildet dabei einen gemeinsamen Nenner der aktuellen Mapuche-Bewegungen. Allerdings beinhaltet die reivindicación mapuche notwendigerweise auch die Thematik der Landverteilung. Marimán et al. (2017) betonen darüber hinaus, dass die reivindicación mapuche auf eine eigene wirtschaftliche Grundlage gestellt werden muss:

»Sich ein Projekt der Autonomie vorzunehmen, ohne es wirtschaftlich zu durchdenken, bedeutet, einen Neokolonialismus und eine chronische ökonomische Abhängigkeit zu verlängern, die die politischen Handlungsmöglichkeiten sowie schließlich auch die populare Partizipation einschränken würde.« (Marimán et al. 2017: 264 – eigene Übers.)

Die Forderungen der Mapuche nach kultureller Anerkennung sowie nach der freien Ausübung ihrer kulturellen Praktiken waren vor allem immer dann mit der Rückforderung von Land und anderen Formen gesellschaftlicher Umverteilung verbunden, wenn die Bewegung an Stärke gewann (Kaltmeier 2004: 135 ff., 394). Wie im Folgenden deutlich wird, bilden kulturelle, politische und wirtschaftliche Praktiken zusammen mit Wiederaneignung der Ressource Land und spezifischen sozioökonomischen Praktiken einen unmittelbar zusammenhängenden Komplex der reivindicación mapuche (Aylwin 2000: 280).

Economía mapuche oder die politische Ökonomie der Enteigneten

Die bedarfsökonomischen Praktiken der Mapuche richten sich entgegen den dominanten wirtschaftlichen Effizienz- und Gewinnkriterien stark nach kulturellen Werten aus. Sie hängen mit der Vorstellung des küme mogen (übers.: das gute Leben) zusammen, die einen festen Teil der Mapuche-Kosmovision bildet und ein erfülltes und gesundes Leben im Einklang mit der Natur anstrebt (Meza-Calfunao et al. 2018). Dabei sind die wirtschaftlichen – genauso wie die kulturellen – Praktiken der Mapuche über die zeitliche Entwicklung hin keinesfalls unveränderlich. Die Ankunft der Spanier sowie die Kolonisierung durch den chilenischen Staat und schließlich die Auflösung der Reduktionen in der Militärdiktatur veränderten ihre wirtschaftlichen Praktiken nachhaltig und führten – wie oben bereits dargelegt – zu einer »Verbäuerlichung« der Mapuche mit großer Bedeutung der SubsistenzwirtschaftFootnote 178 (Bengoa 1983: 130–143; Pareja 2021: 381, 385; Ojeda 2021: 277 f.). Die Mapuche auf dem Land produzieren – wie wir in Abschnitt 4.4 sehen werden – bis heute noch in relevantem Maße für den Eigenbedarf und verkaufen ihren Überschuss auf den Straßen der Städte. Ihre gemischte Landnutzung für eine Reihe unterschiedlicher Gemüsearten ist in Chile heute als »chacra« bekannt und wird nach wie vor von Mapuche und chilenischen Haushalten auf dem Land intensiv genutzt (Otero 2006: 44).Footnote 179 Gleichzeitig entsprach die Landwirtschaft der Mapuche trotz der gewaltvollen Verbäuerlichung nie gänzlich einer klassischen kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Land wurde lange Zeit nicht individuell, sondern gemeinschaftlich besessen und genutzt und hatte für die Mapuche stets einen hohen Gebrauchs- nie aber einen Tauschwert (Bengoa 1983: 136 f.). Die kulturellen Eigenheiten der ökonomischen Praktiken der Mapuche führen zudem dazu, dass viele Mapuche bis heute wirtschaftlich de facto außerhalb staatlicher Regulierungen im informellen Bereich tätig sind.

Insbesondere seit den 2010er Jahren kommt es zudem zu einer Reihe von Initiativen, die sich auf die Stärkung eigener wirtschaftlicher Praktiken richten. Sie haben das Ziel, die eigene Lebensweise materiell zu ermöglichen und gleichzeitig deren Autonomie zu steigern (Marimán et al. 2017: 266; Viera-Bravo 2021: 97–100). So eigneten sich, wie Interviewte aus der Mapuche-Bewegung berichten, eine große Zahl an Organisationen in dieser Zeit das Thema der Ernährungssouveränität an (a11; a23; Viera-Bravo 2021: 101). Die ökonomischen Aktivitäten zielten unter anderem auf die Steigerung der Biodiversität und der Verfügbarkeit von Wasser sowie der Verbesserung der Bodenqualität, aber auch darauf, die angestrebte Lebensweise mit wirtschaftlichen Einkommensformen zu kombinieren, die der eigenen Mapuche-Kosmovision entsprechen (Viera-Bravo 2021: 97–100). Praktiken wie das tukukan, die Rotation in der Fruchtfolge sowie eine breite Biodiversität des Angebauten, sind fester Bestandteil der Landwirtschaft der Mapuche (ebd.: 98). Dabei spielen typische Mapuche-Prinzipien wie das kelluwün, das die Reziprozitätsbeziehung zwischen Menschen sowie zwischen Mensch und Natur bezeichnet, auch im produktiven Bereich ein zentrale Rolle (Marimán et al. 2017: 266). Die Verbundenheit mit den ökologischen Kreisläufen schütze dabei nicht nur diese, sondern auch die Gesundheit der Menschen. So hätte der Verlust subsistenzwirtschaftlicher Praktiken zum Anstieg vieler moderner Volkskrankheiten von Diabetes bis Krebs beigetragen – so Nahuel, lonko einer comunidad in Galvarino (a9).

Reziprozitätsbeziehungen spielen im sozialen Bereich beispielsweise beim mingako, der kollaborativen Arbeit und gegenseitigen Hilfe sowie insbesondere bei größeren Gemeinschaftsprojekten eine Rolle.Footnote 180 Wie Pablo (a19) – ein Mapuche aus Cholchol – im Interview berichtet, sei es früher üblich gewesen, dass eine Reihe von Arbeiten bis hin zur Ernte oder dem Aufziehen von Tieren als Gemeinschaftstätigkeit im mingako abgelaufen seien. Heute käme es nur noch in punktuellen Situationen wie beim Bau eines Hauses dazu, dass man auf Mithilfe zählen könnte und als Entlohnung statt Geld ein gemeinsames Essen oder ein kleines Fest diene (a19). Auch Arón und María aus Galvarino (c8; c9) berichten, dass die kooperativen wirtschaftlichen Praktiken weitgehend verloren gegangen seien, was auch mit dem zunehmenden Einsatz von Maschinerie zu tun hat (Anchio 2013: 79). Weitere traditionelle reziproke wirtschaftliche Praktiken sind das rukan, die Verteilung von Land und Tieren sowie die gleiche Aufteilung von gemeinsamen Erträgen zwischen Eigentümer*in und Arbeiter*in und das trafkintu, das unterschiedliche Arten des nicht-monetären TauschesFootnote 181 – insbesondere von Saatgut – zwischen unterschiedlichen Gebieten bezeichnet (ebd.: 64 f.). All diese wirtschaftlichen Praktiken basieren der Idee nach auf Gleichheit, Reziprozität und Horizontalität (Viera-Bravo 2021: 99). Initiativen wie beispielsweise die fenxen pu choyvn (Vereinigung der jungen Mapuche-Frauen zur Förderung des freien Saatgutes) organisieren heutzutage Versammlungen zum Austausch »von Saatgut, Wissen und lokalen Produkten« und wollen so die Verbreitung von Praktiken des trafkintu fördern (Anchio 2013: 68).

Die Wiederaneignung und Neuerfindung der Mapuche-Kultur innerhalb der heutigen chilenischen und globalen Verhältnisse schließt folglich auch die Praktiken einer spezifischen kulturellen Ökonomie der Mapuche – einer economía mapuche – mit ein. Dabei nimmt die Mapuche-Kultur allerdings auch Organisationsformen und Praktiken der modernen Gesellschaften mit auf. Im Rahmen des Strebens nach dem Ausbau einer economía mapuche kommt es beispielsweise zur Gründung von Kooperativen (Viera-Bravo 2021: 98, 101). Auch Lautaro aus Galvarino (a10) betont die große Bedeutung von Kooperativen im Kampf für den Aufbau einer economía mapuche. Die juristische Organisationsform der Kooperative entspräche dabei den klassischen Arten der Zusammenarbeit, wie sie die Mapuche schon seit jeher praktizierten. Die Form der Kooperative helfe dabei, innerhalb der legalen Normen der chilenischen Gesellschaft Mapuche-eigene ökonomische Praktiken umsetzen zu können. Dies sei insbesondere dann von Nöten, wenn eigene Produkte legal verkauft werden und die Produzent*innen nicht in Schwierigkeiten mit den staatlichen Behörden kommen wollten (a10). Lautaro berichtet weiter, dass sie in Galvarino derzeit daran arbeiten, eine eigene kooperative Mapuche-Bank aufzubauen, die Spareinlagen ermöglicht und niedrigschwellige Kredite vergibt. Dabei ginge es nicht nur darum, Geld zu verleihen, sondern auch Saatgut oder landwirtschaftliche Maschinerie (a10). Die Bedeutung der Kooperativen bestätigt auch Arón (c8), der in Galvarino eine Stiftung zur Förderung der lokalen Entwicklung betreibt und von sieben Mapuche-Kooperativen berichtet, die in Galvarino Förderung der CORFO erhielten. Ziel sei es dabei, eigene wirtschaftliche Aktivitäten – vor allem bei der Produktion von Lebensmitteln – aufzubauen (c8). Auch die regional aktive Kooperative küme mogen, die seit 2015 besteht, ist eine Art kooperative Bank der Mapuche, die Kredite vergibt und Ersparnisse bündelt, um produktive Aktivitäten anderer Mapuche zu finanzieren.Footnote 182 Ziel sei es laut dem damaligen Präsidenten von küme mogen, die wirtschaftliche Unabhängigkeit der comunidades zu stärken und »in Harmonie mit der Natur leben zu können«.Footnote 183

Die oben angesprochene Horizontalität und Reziprozität gilt in der Kosmovision der Mapuche – wie bereits angedeutet – auch für den »Austausch mit der Natur«. Die Beziehung zur Natur wird ebenfalls nicht als ein hierarchisches, sondern als ein Verhältnis der Menschen auf Augenhöhe mit der Biodiversität (itrofill mongen), den Energien (newen) und den Geistern der Vorfahren (püllü) in der Natur verstanden (Viera-Bravo 2021: 99). Das Verhältnis zur Erde ist für die Mapuche eines, das nicht durch Ausbeutung von Ressourcen und Akkumulation gekennzeichnet ist, sondern nach einer zyklischen Logik funktioniert – so Angélica, die im Rahmen des PDTI mit comunidades zusammenarbeitet (a40). Dieses Naturverhältnis wird bei einer Reihe von Festen wie beispielsweise dem we tripantu deutlich. Dieses bezeichnet die traditionelle Neujahresfeier der Mapuche, die üblicherweise vom 23. auf den 24. Juni – in der kürzesten Nacht der Südhalbkugel – stattfindet und bei der der Natur und den Geistern der Vorfahren gedankt wird. Ursprünglich findet die Feier zunächst in einem traditionellen Haus der Mapuche (ruka) und rund um einen heiligen Ort (rewe) sowie in einer ländlichen und bewaldeten Umgebung statt. Eine große Rolle dabei spielt auch das »spirituelle Bad« während der Morgendämmerung in einem nahegelegenen Fluss (García/Bibiana 2013: 45 ff.). Dabei wird deutlich, wie eng kulturelle und ökonomische Praktiken an einen bestimmten ökologischen Kontext gebunden sind. Mapuche berichten im Interview, dass traditionelle religiöse Zeremonien unmöglich würden, wenn die comunidades von Plantagen umringt seien (a10; a12; a15). Dies gilt insbesondere für die traditionelle Gesundheitsversorgung (mapu lawen) der Mapuche. So weist beispielsweise Juan (a12) – ein ehemaliger Mitarbeiter der Municipalidad in Galvarino – darauf hin, dass »den Heilkräutern in der Gesundheitsversorgung der Mapuche eine elementare Rolle zukommt«. Diese seien allerdings durch die Expansion der Forstwirtschaft immer seltener geworden, bestätigen die Interviewte aus Galvarino (a15; a16; c7).Footnote 184 Brachflächen, Wiesen, Felder und Naturwälder sind die Ausnahme in der von Plantagen dominierten Umgebung. Viele Mapuche sehen daher eine direkte Verbindung zwischen der Expansion der Forstwirtschaft und dem Niedergang kultureller und wirtschaftlicher Praktiken der Mapuche: »dort, wo die Forstunternehmen sind, […] ist vieles, was die Kultur der Mapuche ausmacht, verschwunden« (a10). Zudem befänden sich die Forstplantagen auch auf heiligen Stätten. Mehrere Mapuche berichten von Friedhöfen, die sich »unter Plantagen befänden« (a9; a10). Der Verlust kultureller Praktiken durch die massive Präsenz der Forstplantagen wird auch in der Literatur immer wieder als Problem benannt (Montalba-Navarro/Carrasco 2003: 71 f.; Anchio 2013; Schmidt/Rose 2017: 1030 f.).

Mit Blick auf die economía mapuche geht es organisierten Mapuche folglich darum, der in der Mapuche-Bewegung verbreiteten Kritik an der kapitalistischen Wirtschaft eine wirtschaftliche Alternative an die Seite zu stellen. Dies bedeutet aber nicht, dass alle Formen der Verflechtung mit dem kapitalistischen Sektor rund heraus abgelehnt werden. Die economía mapuche widerspreche zudem keinesfalls einer Produktion für den Markt und auch nicht technischen Innovationen, Fortbildungen der Erwerbstätigen oder größeren Projekten und Investitionen (Marimán et al. 2017: 266; Viera-Bravo 2021: 101). Allerdings sei die aktuelle wirtschaftliche Abhängigkeit von äußeren Märkten wie den Exportmärkten und ihrer Volatilität und Krisenhaftigkeit ein großes Problem für die Mapuche und müsste überwunden werden (Marimán et al. 2017: 266). Dafür sei laut einem Mapuche-Autorenkollektiv die stärkere Ausrichtung auf eigene Märkte mit kontrollierten Preisen, trueques, die demonetarisierte Tauschformen darstellen, sowie zugängliche Kreditmöglichkeiten für ärmere Haushalte nötig (ebd.: 266 f.). Wie Aukan aus Galvarino (a15) berichtet, sei es wichtig, zudem um eigene Zugänge zu Ressourcen wie Wasser zu kämpfen, da die wirtschaftlichen Aktivitäten der Mapuche nur so aus den Abhängigkeiten von Forstunternehmen oder Wasserlieferungen der Gemeinden herausgelöst werden könnten. Die unterschiedlichen Dimensionen der Kämpfe für eine reivindicación mapuche schließen damit auch Tendenzen der Wiederaneignung traditioneller kollektiver wirtschaftlicher Praktiken mit ein.

Die wirtschaftlichen Auffassungen der Mapuche konkurrieren allerdings fortwährend mit einem westlichen Verständnis wirtschaftlicher Effizienz und Produktivität, das bei Verantwortungsträger*innen in Wirtschaft und Politik verbreitet ist. Ein ehemaliger höherer Beschäftigter bei CMPC/Mininco (a3) drückt dies wie folgt aus: »um die Mapuche aus einer eher westlichen Sicht zu verstehen, muss man sich erst klarmachen, dass sie keine Hierarchien haben. Das zweite ist, dass sie das Land wollen, einfach um es zu haben. […] Sie haben kein Interesse daran, die natürlichen Ressourcen auszubeuten, sie haben eine andere Beziehung zur Natur. Das Ergebnis ist, dass sie das Land einfach nur haben wollen […]«. Dies entspricht der häufig unter Chilen*innen geäußerten Meinung, dass die Mapuche ihr Land unproduktiv nutzten. Für die Mapuche auf der anderen Seite repräsentiert die Forstindustrie eine Produktions- und Lebensweise der ökologischen Nicht-Nachhaltigkeit und der neokolonialen Konzentration von Macht, Einkommen und Land, die ihren Vorstellungen eines guten Lebens diametral entgegengesetzt ist – so beispielsweise Sergio aus Galvarino im Interview (a11). Die Monokulturen der Forstindustrie seien ein »Anschlag auf die Biodiversität« und ein »Anschlag auf das gute Leben« (a11). Im Gegensatz zum kapitalistischen Sektor geht es der economía mapuche um Stabilität, Reziprozität, soziale Gleichheit und Erhalt der Ökosysteme – wie Teresa, die Mitglied einer NGO für Umweltschutz ist, im Interview beteuert (a28). So lehnen viele Mapuche nicht nur genmanipuliertes Saatgut, sondern auch den breiten Einsatz von chemischen Düngemitteln kategorisch ab (a10, a28). Die Grenze zwischen einer economía mapuche und einem westlichen kapitalistischen Sektor lässt sich allerdings nicht sauber ziehen. Vielmehr sind beide – wie wir in Abschnitt 4.4 sehen werden – vielfach miteinander verflochten. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass das autarke Praktizieren wirtschaftlicher Prinzipien, die einer economía mapuche entsprechen, nur schwer möglich ist. Außerdem trifft die allgemeine Krise der traditionellen kleinbäuerlichen Landwirtschaft in Chile auch die Mapuche.

Während ärmere Mapuche und Nicht-Mapuche in ähnlicher Weise von der Krise der kleinbäuerlichen Landwirtschaft der letzten Jahrzehnte in Chile betroffen sind, sind die Bewältigungsformen dieser Krise allerdings sehr verschieden (Kaltmeier 2004: 207 ff.). Während Nicht-Mapuche in der Regel resignierten, wählten viele comunidades den Weg des Protests (ebd.: 208). Diese Entwicklung habe laut Olaf Kaltmeier ihre Ursachen auch darin, dass Mapuche ihr Land rechtlich nicht einfach verkaufen können und dass die traditionelle Alternative, der Migration in die Städte aufgrund der steigenden Arbeitslosigkeit seit den 1990er Jahren immer weniger attraktiv wurde (ebd.: 209). Die Folge ist, dass viele Mapuche an ihrem Land festhalten, das sie in sehr unterschiedlichen Formen als Quelle wirtschaftlicher Einkommensformen nutzen.

Die economía mapuche bildet, so lässt sich zusammenfassend sagen, eine kulturell stark geprägte »moralische Ökonomie«, die ein spezifisches Naturverhältnis impliziert und einer gänzlich anderen sozialen Logik folgt als der kapitalistische Sektor (Viera-Bravo 2021: 100). Damit sind spezifische sozioökonomische Praktiken und Naturverhältnisse wesentlicher Teil der reivindicación mapuche, die mit dem kapitalistischen Sektor und seiner westlichen Logik des Wachstum, der Effizienz, der Naturausbeutung und des Profits in Widerspruch stehen. Die Mapuche kämpfen – wie wir gesehen haben – deshalb in hohem Maße auch aus kulturellen Gründen für ihre eigene economía mapuche. Gleichzeitig werden damit aber auch Differenzen innerhalb des bedarfsökonomischen Sektors deutlich. Mit ihren spezifischen Naturverhältnissen, Organisationsweisen, kollektiven kulturellen Praktiken und auch aufgrund ihren spezifischen historischen Ansprüche auf Land unterscheiden sie sich nicht nur von den Forstunternehmen, sondern – wie in Abschnitt 5.5.2 verdeutlicht wird – auch von ihren ärmeren chilenischen Nachbar*innen. Dies gilt auch deshalb, weil die politischen Ansprüche der Mapuche auf Land von besonderen – auf indigene Völker zugeschnittenen – nationalen und internationalen Regulierungen gestützt werden, auf die sich prekäre ländliche Nicht-Mapuche nicht berufen können. Die politischen Kämpfe der Mapuche führten beispielsweise seit den 1990er Jahren unter anderem dazu, dass im Rahmen der CONADI größere Mengen Land an die Mapuche umverteilt wurde. Darüber hinaus kommt es vor dem Hintergrund einer breiten Unterbeschäftigung im kapitalistischen Sektor zu spezifischen auf die economía mapuche zugeschnittenen Programmen der Förderung einer ökologisch nachhaltigen und sozialen »Entwicklung« des ländlichen Raumes. Mit Blick auf die Frage, warum es zu einer Fortdauer bedarfsökonomischer Praktiken kommt, sind neben ökonomischen und kulturellen Gründen damit im Folgenden auch politische Ursachen zu beachten.

4.3.4 Regulierung des bedarfsökonomischen Sektors in der Araucanía

Landumverteilung, die CONADI und internationale Regulierung

Drei Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur und in der Folge erheblichen Drucks seitens der indigenen Völker Chiles wurde im Jahr 1993 das Gesetz Nr. 19.253 »über den Schutz, die Förderung und die Entwicklung der indigenen Völker« (i. O.: »Ley sobre Protección, Fomento y Desarrollo de los Indígenas«) erlassen (Aylwin 2000: 280). Darin enthalten war die Gründung der staatlichen Behörde für indigene Entwicklung – die Corporación Nacional de Desarrollo Indígena (CONADI) –, mit der – in Artikel 39 definierten – Zielsetzung, »insbesondere zur wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung« der indigenen Völker Chiles beizutragen »sowie deren Integration in das nationale Leben zu fördern«.Footnote 185 Die zentrale Rolle, die der CONADI in Bezug auf die Mapuche zukam, bestand neben der Förderung der economía mapuche darin, die Umverteilung von Land an comunidades voranzutreiben. Konsequenterweise wurde sie daher in der südchilenischen Stadt Temuco – mitten im Wallmapu – und nicht wie sonst üblich in Santiago angesiedelt (Kaltmeier 2004: 180). Die staatlichen Landkäufe sollten allerdings – laut Víctor Toledo Llancaqueo – nicht vorwiegend Rechtsansprüche prüfen, sondern direkt dazu beitragen, den Konflikt zu »dekomprimieren« (Toledo 2006: 99 ff.).

Zwischen 1994 und 2001 übertrug die CONADI über 35.168 Hektar »tierras en conflicto« (übers.: umkämpfte Landflächen) an 3.127 Mapuche-Familien (Toledo 2006: 102). Insgesamt wurden zwischen den 1990ern und 2010 über 660.000 Hektar Land teilweise an individuelle Mapuche-Familien, aber zu ihrer großen Mehrzahl an comunidades verteilt (CEPAL/ATM 2012: 20 f.; Donoso 2017: 304).Footnote 186 Zwischen 2010 und 2016 kaufte die CONADI mehr als 870 Grundstücke für fast 9600 Familien (Antilén/FUDEAUFRO 2017: 26 ff.). Ein Großteil der verteilten Landflächen entfielen auf die Araucanía (ebd.: 32). In den Jahren 2017 und 2018 kaufte die Behörde beispielsweise allein in der Araucanía 3.300 Hektar für 579 Familien.Footnote 187 Da es sich bei mehr als der Hälfte der Familien um große Familien mit mehr als sechs Mitgliedern handelt, beläuft sich die Gesamtzahl der Begünstigten auf viele Zehntausende (ebd.: 49). Das Finanzvolumen, das der CONADI dabei zur Verfügung stand, wuchs von etwas über elf im Jahre 2000 auf über 80 Milliarden chilenische Pesos im Jahr 2017 (Donoso 2017: 310). Im Vergleich zu anderen staatlichen Institutionen sind die finanziellen Mittel der Behörde dennoch relativ gering, weshalb die Spielräume der Behörde – abgesehen von der Zuteilung staatlichen Landes – begrenzt sind (Kaltmeier 2004: 181). Falls die oben angegebenen Zahlen korrekt sind, konnte die Rückverteilung von Land an die comunidades allerdings wenigstens die Landverluste der Mapuche in der Militärdiktatur, während der die Mapuche rund 300.000 Hektar Land verloren (ebd.), deutlich überkompensieren. In den letzten Jahrzehnten nahmen folglich nicht nur die Plantagenflächen der Forstindustrie stark zu, sondern auch diejenigen, die die CONADI Familien der Mapuche zusprach.

Gleichzeitig ist die Umverteilung von Land seitens des chilenischen Staates auch fortwährender Kritik ausgesetzt, was einerseits mit einer spezifischen staatlichen Regulierung indigenen Landbesitzes zusammenhängt. Dieser ist staatlicherseits im Rahmen des Ley indígena von 1993 (Artikel 12 und 13) dadurch »geschützt«, dass indigenes Land nicht an nicht-indigene Privatpersonen verkauft werden kann.Footnote 188 Diese partielle Entkommodifizierung des indigenen Landes wird vor allem von neoliberaler Seite dafür kritisiert, da er die freien ökonomischen Entscheidungen der Mapuche beschränkte und die Herstellung eines offenen Grundstückmarktes verhindere (Bengoa 1999: 198 f.). Auch politisch rechte Unternehmer wie Wolf von Appen (Bosques Cautín) fordern, Mapuche sollten ihr Land frei verkaufen, verpachten und mit Hypotheken belasten können.Footnote 189 Dem stimmen teilweise auch Mapuche zu, weil die legalen Beschränkungen der Landrechte dazu führten, dass sie ihr Land bei Banken für eine Kreditaufnahme nicht als Hypothek nutzen könnten, was die Krise in ländlichen Gebieten verstärke, wie Mapuche im Interview betonen (a10; a38). Laut anderen Beobachter*innen stärkte dieser »Schutz des indigenen Landes« die comunidades, weil es zumindest einige Flächen der Mapuche vom ständigen Druck der Großunternehmen befreite, die sich diese Flächen aneignen wollen (Bengoa 1999: 198 f.). Außerdem verhinderte diese Regulierung seither die vollständige Proletarisierung vieler Mapuche.

Auf der anderen Seite kritisieren politisch rechtsstehende Akteure wie beispielsweise Cristóbal von der Multigremial de la Araucanía, dass die CONADI mit den Fonds zum Kauf von Flächen für die comunidades die Konflikte um Land anheize (b37). Juan Pablo Lepín, Exekutivdirektor der Multigremial de la Araucanía, vertritt in einer Publikation des neoliberalen Think Tanks Libertad y Desarollo mit seiner Co-Autorin Yasmin Zaror sogar die These, dass die CONADI mit ihrer Politik des Kaufs von Land für comunidades der zentrale Grund für den aktuellen Konflikt und insbesondere für die Gewalt in der Region darstelle, weil sie militantes Verhalten positiv sanktioniere (Zaror/Lepín 2016: 8). Die Sozialpolitik der CONADI würde aktuell durch »extremistische Gruppen« instrumentalisiert, die nur eine Minderheit darstellten, aber die Gewalt als Mittel der Politik nutzten, so die Autor*innen (ebd.: 10, 12). Eine derartige Auffassung einer positiven Sanktionierung gewaltvoller Proteste durch Teile des chilenischen Staates und insbesondere durch die CONADI ist unter der regionalen Elite der Araucanía weit verbreitet (Moyo/Pelfini/Aguilar 2018: 297 f.). Das Vorgehen der CONADI bestärkt laut ihren konservativen Kritiker*innen demzufolge eher Konflikte um Land, als wie ursprünglich angedacht, eine Form des Konfliktmanagements darzustellen.

Die Landkäufe der CONADI stehen allerdings auch seitens der Mapuche in der Kritik. Sie kritisierten, dass der Prozess des Landkaufs nach Paragraf 20 A viel zu lange dauere (a9; a23). Wie Sergio aus Galvarino erzählt, warteten viele sechs bis sieben Jahre bis Land übergeben würde (a11). Forschungen verweisen teilweise sogar auf Wartezeiten zwischen zehn und 15 Jahren (Antilén/FUDEAUFRO 2017: 90). Außerdem liegt das von der CONADI erworbene Land häufig in völlig anderen Gebieten und damit entfernt von der Heimat der betreffenden comunidad. Auch die Forschung bestätigt, dass die große Mehrzahl der begünstigten Familien und comunidades aus entfernteren Gebieten stammt (Antilén/FUDEAUFRO 2017: 62, 89). Dies zerreiße enge Verbindungen zwischen benachbarten comunidades und bringe Konflikte mit anderen comunidades hervor, in deren Gebieten die Neuankömmlinge angesiedelt würden, so Mapuche im Interview (a11; a15; a20; a22). Auch kaufe die CONADI die Ländereien teilweise zu überhöhten Preisen von einflussreichen Großgrundbesitzerfamilien (a23; c7). Darüber hinaus sind die meisten der überschrieben Grundstücke weniger als neun Hektar und einige nur etwas über sechs Hektar pro Familie groß (Antilén/FUDEAUFRO 2017: 36, 85), eine Größe, die nicht ausreicht, um davon eine Familie zu unterhalten, zumal die meisten gekauften Flächen vergleichsweise schlechte Böden umfassen (ebd.: 86). Teilweise handele es sich außerdem um Flächen, die wirtschaftlich unproduktiv seien (Molina 2012: 29). Expert*innen bestätigen diese Einschätzung und fügen hinzu, dass es der Staat versäume, mit dem Landkauf den comunidades auch die damit zusammenhängenden Ressourcen bereitzustellen (Aylwin 2000: 283–289; Kaltmeier 2004: 181). Nur etwas mehr als die Hälfte der Familien siedeln deshalb mit ihrem Hauptwohnsitz überhaupt auf das erhaltene Grundstück (Antilén/FUDEAUFRO 2017: 60), was meist auf (zunächst) fehlende Häuser und mangelnde Finanzierung für den Infrastruktur- und Hausbau zurückzuführen ist (ebd.: 61, 87). Häufig handelt es sich um Flächen ohne staatliche Infrastruktur, die weder mit Wegen, Elektrizität, Wohnmöglichkeiten oder einer Wasserversorgung ausgestattet sind (ebd.: 87 ff.). Große Teile des erhaltenen Landes werden deshalb für landwirtschaftliche Tätigkeiten und Viehhaltung genutzt (in der Regel fast 50 Prozent), je nach Region aber auch 30 bis 65 Prozent als Wald oder Plantagen (ebd.: 63, 86). Das erhaltene Land wird dabei zunächst vor allem als Ressource gesehen, Einkommen zu erwirtschaften (ebd.: 88) und nicht als Ort, sich als comunidad niederzulassen. Trotz dieser Probleme kann insgesamt festgestellt werden, dass mittels der CONADI in den vergangenen Jahrzehnten bedeutende Landflächen an die Mapuche umverteilt wurden. Gleichzeitig machen diese Flächen im Vergleich zum Landbesitz der Forstindustrie nur einen kleinen Bruchteil aus.

Die Regulierung der Umverteilung von Land findet jedoch nicht nur durch Behörden wie die CONADI und nicht nur auf nationaler Ebene statt. In den 1990er Jahren kam es auch zu internationalen Regulierungen, die die indigenen Ansprüche auf Land stärkten. Internationales Recht und weltweite, zivilgesellschaftliche Unterstützung wurden für die Mapuche in ihrer reivindicación territorial immer wichtiger. Dabei spielt insbesondere das 2008 von Chile ratifizierte »Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern« der ILO eine Rolle, das den Mapuche ein Recht auf all jene Ländereien gewährt, die diese indigene Gruppe »traditionell bewohnte«. In diesem Sinne begründen die Mapuche ihre Ansprüche auf Land in den Interviews stets historisch und kulturell. Dabei – dies wird in mehreren Interviews deutlich – nutzen sie das internationale Recht sehr strategisch (a9; a10; a17; a21). So sagt Amancay (a21) – Sohn eines lonko – im Interview: »Das Übereinkommen 169 [der ILO] ist ein Werkzeug, das uns erlaubt, Konflikte friedlich zu lösen«. Er will deshalb auf der Ebene der internationalen Gesetze um eine Anerkennung seines Volkes kämpfen. Lautaro (a10) – ein Mapuche aus Galvarino – bezieht sich ebenfalls positiv auf das internationale Recht, hat dazu aber eher ein instrumentelleres Verhältnis: »Wir nutzen das internationale Recht. […] Wir wollen das Land zurückerobern, das einst unsere Familien bewohnt haben. Hier liegt der Konflikt, den wir führen«.Footnote 190 Und laut Ignacio (a23) – ein Mapuche Aktivist aus Temuco – stärkt das Übereinkommen die traditionellen Autoritäten und Gebietsansprüche der Mapuche:

»Das Übereinkommen 169 der ILO bedeutet, dass die indigenen Völker das Recht haben, ihre Entwicklung selbst zu bestimmen. Es erkennt explizit die traditionellen Institutionen an […], das heißt die lonkos, die machis etc. […] und wenn sie ein Projekt in diesen Gebiet umsetzen wollen, dann müssen sie uns erst fragen, weil das so im Übereinkommen 169 der ILO steht.« (a23)

Immer wieder geht es den Mapuche in der Folge auch darum, sich in internationalem Recht zu schulen, wie sie in Interviews anmerken (a10; a15). Dies ziele darauf, Anführer*innen auszubilden, die sich mit dem Recht der ILO sowie der UNO auseinandersetzen, so Aukan – ein Mapuche aus Galvarino (a15). Es sei wichtig, dass dabei außerdem mit NGO zusammengearbeitet würde, weil beispielsweise das korrekte Formulieren von Beschwerden im Falle von Menschenrechtsverstößen bei internationalen Organisationen für Laien zu schwierig sei und oft Jahre dauerte, so Ingacio (a23). Arón aus Galvarino (c7) berichtet, dass es in seiner Kommune auch Mapuche gebe, die im Ausland studiert hätten und dann wieder in die comunidades zurückkehrten und mit ihren neuen Erfahrungen die reivindicaciones mapuches vorantrieben.

Die Bedeutung der internationalen Institutionen im Kampf um Land lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen. Amancay (a23) erklärt im Interview, dass er mit der ILO und dem FSC zusammenarbeite, um im Gebiet zwischen Temuco und Galvarino heilige Stätten und Ländereien der Mapuche zurückzugewinnen. Die internationalen Vorgaben hätten sie genutzt, um über die Schweizer Botschaft Druck auf das Forstunternehmen Masisa aufzubauen, die eine heilige Stätte mit Forstplantagen bepflanzt hätte.Footnote 191 In der Folge sah sich das Forstunternehmen im Rahmen offizieller Versammlungen von Vertreter*innen seines Managements mit Autoritäten der Mapuche und der Schweizer Botschaft gezwungen, die heiligen Stätten anzuerkennen und im Jahr 2016 unter Einschaltung des FSC über 200 Hektar von dem mehr als 410 Hektar umfassenden Gebiet der comunidad von Amancay zur Nutzung überlassen (a21). Diese Form des Ausübens von Druck auf die Forstunternehmen über internationale Organisationen und die internationale Öffentlichkeit hätte zwar viele Studien sowie juristische Gutachten erfordert und hätte ihn zwischenzeitlich ins Gefängnis gebracht, allerdings funktioniere sie weitaus besser als über die chilenischen Behörden, da letztere vor einem Vorgehen gegen große Unternehmen zurückschreckten und bürokratische Schwierigkeiten vorschöben, so Amancay. Andererseits betonen Mapuche auch, dass sie die internationalen Institutionen vor Ort relativ machtlos seien, weil ihre Regulierungen hier nur mittels des chilenischen Staates umsetzen könnten, der in der Regel nicht gewillt ist dies zu tun. Auch wenn beispielsweise Ignacio (a23) hervorhebt, dass die internationale Öffentlichkeitsarbeit – insbesondere die Menschenrechtsarbeit – für die Mapuche von großer Bedeutung sei, sieht er doch auch deren Grenzen:

»Es ist eben so, dass wir es mit einem sehr rassistischen Staat zu tun haben. […] in vielen Fällen bricht er ganz schamlos das Recht … also ihm sind die internationalen Verpflichtungen egal, er ignoriert die Empfehlungen internationaler Organisationen und Menschenrechtsinstitutionen einfach. […] Auch wenn sie verlangen, dass das Anti-Terror-Gesetz nicht gegen soziale Bewegungen und bei Landkonflikten mit den Forstunternehmen angewandt wird. Trotzdem, vor kurzem erst […] wurde es wieder gegen Mapuche angewandt.« (a23)

Aber nicht nur die nationale und internationale Anerkennungspolitik der indigenen Völker, sondern auch internationale Umweltpolitik stützt teilweise die Ansprüche der Mapuche auf Zugang zu Land. So legt das 1994 von Chile ratifizierte »Übereinkommen über die biologische Vielfalt« der Vereinten Nationen eine Zusammenarbeit des Staates mit lokalen und indigenen Gemeinschaften beim Schutz der Biodiversität fest. Zuletzt bemühen sich comunidades immer stärker darum, dass ihre Produktions- und Lebensweise vor Ort als Teil einer nachhaltigen Forstwirtschaft und des Schutzes der Biodiversität anerkannt wird. Einige comunidades versuchen, dies im Rahmen neuer Projekte der CONAF und der UNO-REDD umzusetzen (Ojeda 2021: 280 f.). Teilweise werden sie dabei auch von der internationalen Zivilgesellschaft unterstützt. Eine NGO, mit der comunidades in der Araucanía zusammenarbeiten, ist die internationale Organisation GRAIN (Anchio 2013: 68 f.). GRAIN setzt sich für Kleinbäuer*innen ein, die um die Kontrolle ihrer landwirtschaftliche Biodiversität kämpfen,Footnote 192 was direkt an die Praktik des trafkintu anschließen kann, bei der es unter anderem um Austausch von Saatgut geht.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mittels lokaler Kämpfe und politischer Regulierung, bedeutende Flächen umverteilt und damit die Bedarfsökonomie der Mapuche gestärkt wurde. Diese Umverteilung von Land ist nicht nur ein Ergebnis sozialer Armutsbekämpfungs- und kultureller Anerkennungspolitik, sondern Resultat intensiver politischer Kämpfe der Mapuche um Land, die sich seit den 1980er Jahren und insbesondere seit dem Ende der 1990er Jahre intensiviert haben. Dabei spielen neben nationalen Behörden wie der CONADI auch internationale Konventionen wie diejenige der ILO, die internationale Zivilgesellschaft, sowie Zertifizierungen wie diejenige des FSC eine zunehmende Rolle (Graf 2020a). Zwar sind die Landumverteilungen der CONADI sehr viel verbreiteter und konkreter, dennoch stellen internationale Regelungen und Organisationen wichtige Bezugspunkte historischer Ansprüche der Mapuche sowie teilweise auch vorrübergehende Verbündete im Kampf um Land dar. Gleichzeitig fällt die dargestellte Landumverteilung in eine Zeit, in der sich der jährliche Zuwachs an Plantagenflächen der Forstindustrie zwar allmählich verlangsamte, allerdings deren Gesamtfläche noch teilweise zunahm. Die bisherige Landumverteilung an die comunidades scheint damit häufig Flächen zu betreffen, die nicht in erheblichem Maße mit der Expansion der Forstindustrie konkurrieren. Während dadurch der Landmangel für einige comunidades abgemildert wurde, erhöhte er sich in der gleichen Zeit durch die weitere Ausbreitung der Forstplantagen für andere comunidades. Darüber hinaus hat sich die reine Umverteilung von Land für die Mapuche als sozioökonomisch unzureichend herausgestellt. Aufgrund der geschilderten ökonomischen Schwierigkeiten bedarfsökonomischer Aktivitäten auf dem Land haben sich in den letzten Jahrzehnten auch in der Araucanía eine Vielzahl von staatlichen und privaten Förderprogrammen durchgesetzt, die im Folgenden dargestellt werden.

Programme zur Förderung der ländlichen Bedarfsökonomie

Die oben schon dargestellten öffentlichen Förderprogramme des INDAP, die sich auf die ländlichen Haushalte und die Verbesserung ihrer vielfältigen Einkommensarten richten, erlangten seit den 2000er Jahren auch in der Araucanía eine zunehmende Verbreitung. Zudem lässt sich eine wachsende Zahl an Programmen feststellen, die sich explizit an die Mapuche richten. Dies hat einerseits mit dem hohen Anteil der Mapuche an der ländlichen, von Armut betroffenen Bevölkerung der Araucanía zu tun, andererseits mit ihrem Status als indigenes Volk. Von den staatlichen Programmen, die Klein- und Kleinstbetriebe im ländlichen Raum sowie die kleinbäuerliche Ökonomie der Mapuche fördern, ist nicht nur die diskutierte CONADI zu nennen, sondern auch das Anfang der 2000er Jahre entstandene Programa de Desarollo Territorial Indígena (PDTI), das als Teil des INDAP fungiert. Hatte dieses im Jahr 2009 nur 440 Begünstigte, so erhöhte sich die Zahl der im Rahmen des PDTI betreuten ländlichen Betriebe bis zum Jahr 2014 auf über 30.000 (Ramírez et al. 2014: 149).

Das PDTI, das sich auf die Förderung indigener Haushalte und comunidades fokussiert, spielt in der Araucanía eine besondere Rolle. So seien ein Großteil der Mapuche-Straßenhändler*innen, die in den Straßen des Zentrums der regionalen Hauptstadt Temuco selbst angebautes Gemüse verkaufen, Begünstigte von Programmen des PDTI – erklärt Verónica (d1), die als Sozialwissenschaftlerin beruflich mit den Straßenhändler*innen zusammenarbeitet, im Interview. Darüber hinaus wird auch die kleinbäuerliche Produktion von Lebensmitteln wie Käse gefördert, der ebenfalls anschließend in den Städten verkauft wird. Dabei gehe es in einer Verónicas Projekten aktuell darum, die Herstellung so umzustellen, dass die traditionellen Methoden mit offiziellen Gesundheitsstandards übereinstimmen. Andererseits steht nicht zuletzt die Konversion der kleinbäuerlichen Landwirtschaft von subsistence crops zu cash crops im Fokus vieler Programme. Während sich die Förderungen lange Zeit auf Tierhaltung oder beispielsweise den Bau von Lagerräumen richtete, hat sich in der Araucanía in den letzten Jahrzehnten die Produktion von Heidelbeeren, Blumen und Erdbeeren für den Export und den Binnenmarkt ausgeweitet. Diese Entwicklung wird von staatlichen Behörden als Programm der Diversifizierung und Kommodifizierung der Landwirtschaft gefördert, das häufig vor allem von den jüngeren Generationen in Anspruch genommen wird, so Verónica.Footnote 193 So fördert das PDTI beispielsweise ländliche Haushalte der comunidades in der Araucanía mit umgerechnet 110 Euro jährlich, um Beeren für den Export zu produzieren oder um Dienstleistungen für Tourist*innen anzubieten, erklärt Angélica, die für das INDAP arbeitet (a40). Diese staatlichen Förderprogramme sind in der Regel auf die Maximierung ökonomischer Erträge ausgerichtet und schließen teilweise die Nutzung von genmanipuliertem Saatgut, den Einsatz von Dünger oder großen Mengen an Wasser ein, so Angélica. Da diese Praktiken im Gegensatz zu wichtigen Prinzipien der economía mapuche stehen, führt dies zu Spannungen und Unstimmigkeiten im Rahmen der Projekte der Förderung der Bedarfsökonomie, erklärt die Interviewte (a40).

Nicht nur das PDTI fördert kleinbäuerliche Produzent*innen in der Araucanía. Es kommt auch zu Projekten mit internationaler Beteiligung, die sich im Süden Chiles auf die Unterstützung kleiner Betriebe richten. Dies hat neben Armutsbekämpfungspolitik und kultureller Anerkennungspolitik auch mit globaler Umweltschutzpolitik zu tun. So befinden sich Schätzungen zufolge landesweit über 90 Prozent der Ur- und Naturwälder Chiles in den Händen von comunidades und kleinen Landbesitzer*innen (Tecklin/Catalán: 31). Politiken zur Förderung einer nachhaltigen kleinbäuerlichen Forstwirtschaft können in der Folge in erheblichem Maße sowohl zum Erhalt wichtiger Ökosysteme als auch zur Verbesserung der sozialen Lage ländlicher Haushalte beitragen (ebd.: 19, 31 f.). Diese Feststellung lag einem im Jahre 1994 gestarteten Programm zugrunde, das zunächst unter dem Namen »campesino forestal« (übersetzt: der Waldbauer) firmierte und das der Deutsche Entwicklungsdienst (DED, heute Teil der GIZ) zusammen mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) in Chile durchführte.Footnote 194 Das Projekt wurde vor Ort von der CONAF betreut und richtete sich an Bauern und Bäuerinnen aus der siebten Region (Maule) über die Araucanía bis zur damals elften Region (Aysén).Footnote 195 Das Ziel bestand darin, dass Bäuer*innen bewaldete Teile ihres Landes forstwirtschaftlich produktiv und legal nutzen konnten, ohne dabei Naturwälder abzuholzen (Burschel/Rojas 2005: 122 f.). Wie ein Forstingenieur berichtet (e1), arbeitete das Projekt mit rund 6000 Familienbetrieben zusammen, von denen viele den Mapuche angehörten. Ziel war es, eine regulierte Bewirtschaftung der Wälder und Märkte für Forstprodukte kleiner Landbesitzer*innen zu schaffen, die in sehr viel geringerem Umfang produzierten als beispielsweise die Forstindustrie. Aufgrund fehlender formeller Märkte hatten kleine Waldbesitzer*innen lange Jahre illegal Holz geschlagen, das dann in Form von Holzchips nach Asien exportiert wurde (Burschel/Rojas 2005). Gleichzeitig gab es in den chilenischen Städten des Südens, deren Haushalte im Winter weitgehend mit Holz heizen, einen großen Bedarf an trockenem Brennholz. Eine der Initiativen im Rahmen des Projekts bestand nun darin, die ungesättigte Nachfrage nach Brennholz mit den kleinen campesinos forestales zu einem staatlich vermittelten, legalen Markt zu verbinden. Dafür wurden unter anderem große Hallen zum Trocknen des geernteten Holzes errichtet und Vereinbarungen mit dem Transportgewerbe getroffen, die das Holz an vereinbarten Sammelpunkten abholten, so der oben zitierte Forstingenieur (e1). Ergebnis war die Schaffung eines Marktes für qualitatives Brennholz, das aufgrund seiner Trockenheit zu weniger Luftverschmutzung führte. Dieser Markt war zudem Ergebnis eines Zertifizierungsprozesses (mit dem Namen: Sistema Nacional de Certificación de Leña), der es erlaubte, das entsprechende hochwertige Brennholz anhand eines Siegels von anderen Produkten zu unterscheiden. Diese Regulierung wurde von chilenischen NGO, staatlichen Behörden sowie durch Gelder der Europäischen Union umgesetzt.Footnote 196 Das Projekt funktionierte – wie der genannte Forstingenieur im Interview berichtet – einige Jahre sehr gut, bis die Förderung durch den DED und die KfW nach zehn Jahren auslief und die CONAF die Unterstützung der Produzent*innen und die Organisation der Märkte, die sich zwischen den kleinen Produzent*innen und den städtischen Haushalten herausgebildet hatten, nicht aufrecht erhalten konnte. Die öffentlichen und privaten Institutionen Chiles seien zu schwach ausgestattet gewesen, um das bis dato erfolgreiche Projekt fortzuführen, so der zitierte Forstingenieur (e1). Damit brach Mitte der 2000er Jahre auch der neu geschaffene bedarfsökonomische Markt für Brennholz wieder zusammen.

Am Fall des Brennholz-Marktes wird deutlich, wie nationale und internationale, staatliche und private Akteure mitunter bei der Regulierung und Förderung bedarfsökonomischer Aktivitäten in Regionen wie der Araucanía zusammenwirken. Derartige internationale und private Förderungen bedarfsökonomischer Akteure stellen allerdings keine Ausnahme dar. So lassen sich auch Beispiele der Wiederaneignung von Praktiken der economía mapuche finden, die Unterstützung durch internationale NGO erhalten. So hilft die US-amerikanische NGO MAPLE Microdevelopment beispielsweise lokalen Gemeinschaften bei der Finanzierung »selbstverwalteter wirtschaftlicher Projekte«. In Chile arbeitet sie seit 2012 mit verschiedenen comunidades zusammen, um – in den Worten der NGO – ein Werkzeug zur Finanzierung hervorzubringen, das von den comunidades selbst ausgeht und den Werten und Traditionen ihrer Kultur entspricht.Footnote 197 Damit einhergehend werden Organisationen wie die Grupo de Apoyo Mutuo (GAM – Gruppe für die gegenseitige Unterstützung) gegründet, die den Austausch zwischen den comunidades über sozioökonomische Praktiken vor Ort sowie gegenseitige finanzielle Unterstützung fördern soll.Footnote 198 Derartige Kooperationen spielen in der Araucanía eine nicht unerhebliche Rolle (Guzmán/Krell 2020; Viera-Bravo 2021: 97).

Die Programme nationaler und internationaler Institutionen zeigen, dass die Bedarfsökonomie in der Araucanía ein von unterschiedlichen politischen Ebenen und Politikbereichen durchdrungenes Feld bildet. Diese reichen von »Entwicklungs-« und Armutsbekämpfungspolitik über kulturelle Anerkennungspolitik bis zu globaler Umweltpolitik. Manche dieser Politiken richten sich direkt an die Mapuche, andere auf bedarfsökonomische Aktivitäten im Allgemeinen. Gleichzeitig hat sich gezeigt, dass die nationalen chilenischen Institutionen teilweise zu schwach oder nicht willens sind, alleine bedarfsökonomische Aktivitäten institutionell aufrecht zu erhalten, wenn sich internationale Akteure zurückziehen. Regulierungen und Förderungen der Bedarfsökonomie sind damit kein rein nationalstaatliches Politikfeld, sondern finden in einem öffentlich-privaten und lokal-national-internationalen Regulierungszusammenhang statt. Dieser ist allerdings in hohem Maße von lokalen und regionalen Kräfteverhältnissen vor Ort abhängig. Deshalb gehe ich im Folgenden nochmal abschließend auf die starke Selektivität der chilenischen Staatlichkeit zugunsten des kapitalistischen Sektors ein.

Vom abwesenden Staat zum »Staat des Kapitals« in der Araucanía

Die vielfachen Förderprogramme und die Landumverteilung durch die CONADI erweisen sich angesichts der sozialen und ökologischen Krise im Umfeld der Forstplantagen als ungenügend. Die Zahl kleinbäuerliche Betriebe in der Region ging alleine in den letzten Jahren um viele Tausende zurück.Footnote 199 Neben allgemeinen Umweltbedingungen wie dem Klimawandel sind dafür vor allem die politischen und sozioökonomischen Grundstrukturen verantwortlich. Fehlende Zugänge zu Krediten, Märkten, Maschinen oder Kooperativen sowie Landmangel sind ein bleibendes Problem des bedarfsökonomischen Sektors, so Interviewte und Expert*innen (a20; a40; Anchio 2013: 73 f.). Die staatlichen Behörden konzentrieren ihre öffentlichen Investitionen auf die urbanen Gebiete und vernachlässigen die ländliche Infrastruktur – so die oben zitierte Angélica, die für das INDAP arbeitet (a40). Alleine schon die schlechten Transport- und Straßenbedingungen gerade auf den mehrheitlichen Schotterstraßen führten zu schlechten Zugängen zu Märkten ländlicher Produzent*innen, aber auch zu langen Wegen zu Schulen oder zum Gesundheitssystem. Darüber hinaus sinken die Preise für landwirtschaftliche Produkte seit Jahrzehnten, so Angélica. Die steigenden ökologischen Risiken hätten zudem die Kosten erhöht, so müssten sich landwirtschaftliche Produzent*innen heute gegen Ernteausfälle versichern. Monetarisierungsdruck erfahren ländliche Haushalte aber auch, weil Bildung zunehmend wichtiger wird, was je nach Anzahl der Kinder und Bildungsweg mit steigenden Kosten verbunden ist. All dies drängt ländliche Haushalte zunehmend in prekäre Arbeitsmärkte, die teils dem bedarfsökonomischen und teils dem kapitalistischen Sektor zugeordnet werden können – so Angélica weiter. Gleichzeitig sei die Produktion für den Eigenbedarf nach wie vor äußerst verbreitet, weil die Löhne in den prekären Jobs nicht für die Bedarfsdeckung ausreichen. Folglich spielt die Kombination unterschiedlicher Einkommensformen und deren Bündelung auf der Ebene der Haushalte in den ländlichen Gebieten der Araucanía eine große Rolle, erklärt Angélica.Footnote 200 Dabei nimmt allerdings der Druck auf die kleinen Landflächen seit Jahrzehnten noch zu, weil Familien mit mehreren Kindern ihr Land unter mehrere Nachkommen aufteilen müssen. Bezüglich des Managements und der Verteilung ökologischer Ressourcen und der Zur-Verfügung-Stellung sozialer Infrastrukturen lässt sich der chilenische Staat in den ländlichen Kommunen der Araucanía als abwesender Staat bezeichnen.

Während die Forstindustrie enorme Flächen mit Forstplantagen für die Exportwirtschaft bepflanzt, dauert die Landarmut trotz der Umverteilung von Flächen durch die CONADI an. Dies betrifft vor allem die Haushalte der Mapuche. Nicht zuletzt aufgrund der Landknappheit kommt es zu erheblichen Konflikten um Land. Dabei ist umstritten, auf welche Ländereien die comunidades rechtlich einen Anspruch erheben können. Im chilenischen Recht berechtigen üblicherweise ein vorliegender título de merced einen Anspruch auf ein bestimmtes Gebiet. Allerdings gelingt es den comunidades in der Regel erst in Folge von Kämpfen um Land, die häufig in Form von Gebietsbesetzungen ausgetragen werden, den Prozess des Landkaufs durch die CONADI zu beschleunigen und wirklich Land zu erhalten (Toledo 2006: 99 ff.; Millaman et al. 2016: 19). Aufgrund der Begrenztheit der Landumverteilung durch die CONADI berufen sich viele comunidades und Mapuche-Organisationen auf das Übereinkommen 169 der ILO, das eine rechtliche Anerkennung des Anspruchs von indigenen Bevölkerungsteilen auf all jene Ländereien beanstandet, die diese indigene Gruppe »traditionell bewohnte« (Levil 2017: 242 f.). Damit ist der Konflikt allerdings nicht mehr im Rahmen eines staatlichen Rückkaufs bestimmter und im Umfang beschränkter Grundstücke zu lösen. Die Umverteilung von Land ist folglich kein vorwiegend technisches oder bürokratisch zu lösendes Problem, sondern – wie schon oben angesprochen – ein Ergebnis intensiver Kämpfe um Wiederaneignung.

Doch nicht nur Landmangel und häufig zu geringe Erträge stellen Probleme dar, allen voran sei es das fehlende Wasser und dessen ungleiche Verteilung, die die Situation auf dem Land dramatisch verschlechtern.Footnote 201 Die Kämpfe um Wiederaneignung produktiver Ressourcen richten sich deshalb auf weit mehr als nur Land. Es geht darum, den bedarfsökonomischen Sektor als Ganzen zu stärken. Die zentrale Bedeutung, die dem bedarfsökonomischen Sektor zukommt, wird in der chilenischen Politik allerdings zumeist ignoriert oder gar als Bestandteil der eigenen »Unterentwicklung« abgewertet (Larraín 2014: 236 f., 240 f.). »Entwicklung« scheint nur vom kapitalistischen Sektor ausgehen zu können, weshalb – wie gezeigt wurde – Gemeingüter wie Land und Wasser privatisiert, kollektives Land parzelliert und die ländliche Bevölkerung von ökologischen Gemeingütern ausgeschlossen wurde. Während der bedarfsökonomische Sektor folglich unter Land- und Wassermangel leidet, seine sozialen Infrastrukturen vernachlässigt und seine produktiven Aktivitäten nur ungenügend staatlich gefördert werden, schafft der »Staat des Kapitals« mit seinen Privatisierungen und Kommodifizierungen seit der Militärdiktatur einen Rahmen, der das kapitalistische Wachstum stark begünstigt. Darüber hinaus leiden bedarfsökonomische Aktivitäten aber auch unter zunehmender Diskriminierung. So werden informelle Ökonomien wie die economía mapuche häufig staatlich verfolgt, wie Interviewte berichten (a10; a12). Nicht nur auf nationaler und lokaler Ebene, sondern auch auf internationaler Ebene werden letztlich die ökonomischen Aktivitäten des kapitalistischen Sektors privilegiert. So fördert – entgegen seiner Ursprungsidee – auch der FSC im Rahmen seiner Zertifizierung die globalen Marktzugänge großer Forstunternehmen (Graf 2020a).

Der chilenische estado subsidiario richtet seine Aktivitäten in den ländlichen Gebieten wie der Araucanía folglich nicht darauf aus, grundlegende soziale Veränderungen umzusetzen, sondern zielt darauf, beste Bedingungen für die »Entwicklung« des kapitalistischen Sektors beizubehalten und dies gleichzeitig durch Pflasterpolitiken zur Förderung kleiner Betriebe und armer Haushalte zu ergänzen, um die ländliche Bevölkerung über die Armutslinie zu heben und Konflikte zu bearbeiten. Diese Gleichzeitigkeit aus struktureller Begünstigung des kapitalistischen Sektors und begrenzter staatlicher Förderung der ländlichen Bedarfsökonomien analysiere ich im Folgenden anhand empirischer Fälle. Dabei konzentriere ich mich auf die Frage, wie und warum nicht nur der bedarfsökonomische Sektor in den untersuchten Kommunen überlebt, sondern wie und warum sich dessen Aktivitäten auch zunehmend mit dem kapitalistischen Sektor verflechten. Dies ermöglicht es uns, die Konfliktdynamik zwischen Mapuche und Forstindustrie besser zu verstehen.

4.4 Von Galvarino bis Arauco: Verflechtungen zwischen Bedarfsökonomie und Forstindustrie in vier Kommunen

Das folgende Kapitel schreitet die Güterkette des zu exportfähigem Zellstoff werdenden chilenischen Holzes von ihrem Ausgangspunkt ab, das in den ausgedehnten Forstplantagen im Landesinneren extrahiert, zu den großen Industrien transportiert und in den Häfen an der Küste exportiert wird. Das Kapitel beginnt mit meinem empirischen Hauptfall: der Kommune Galvarino. Diese werde ich am eingehendsten untersuchen. Sie unterscheidet sich von den anderen Fällen insbesondere dadurch, dass es hier zu den stärksten Konflikten zwischen lokalen comunidades und der Forstindustrie kommt. Mit Blick auf Galvarino lässt sich umfassend nach den Spezifika des bedarfsökonomischen Sektors im »Land der Mapuche« sowie nach Verflechtungen mit dem kapitalistischen Sektor und der damit in Zusammenhang stehenden Konfliktdynamik fragen. Deshalb wurden in Galvarino deutlich mehr Daten erhoben, als dies in den drei nachfolgenden Kontrastfällen geschah. Im Anschluss an Galvarino untersuche ich die Kommune Cholchol, in der genauso wie in Galvarino ein großer Anteil der Bevölkerung den Mapuche angehört. Hier kommt es allerdings zu einer geringeren Konfliktivität. Ein zentraler Grund dafür – so werde ich darlegen – sind die spezifischen Verflechtungsverhältnisse zwischen dem bedarfsökonomischen Sektor und der Forstindustrie in Cholchol. Damit wird deutlich, dass ein großer Anteil an Mapuche nicht automatisch zu Konflikten mit der Forstindustrie führen muss. Nachfolgend untersuche ich die Kommunen Curanilahue und Arauco, die leicht nordwestlich der Araucanía im Süden der Region Biobío liegen. Auch wenn sie formell nicht zur Araucanía gehören, sind sie doch Teil der Untersuchungsregion des Wallmapu im zentralen Süden Chiles und gleichen vor allem sozioökonomisch den vorhergegangenen Fällen, da sie ebenso stark von der Forstindustrie geprägt sind.Footnote 202 Sie wurden als empirische Kontrastfälle gewählt, weil es einerseits in der Araucanía keine großen Häfen und kaum große Zellstofffabriken der Forstindustrie gibt. Deren Untersuchung ist aber wichtig, um die Güterkette des Holzes bis zur Zellstoffproduktion und den Häfen nachzuvollziehen und die damit einhergehenden Konflikte auf den unterschiedlichen Ebenen der Güterkette untersuchen zu können. Andererseits spielen die beiden Kommunen eine wichtige Rolle als Kontrastfälle, weil sie durch einen weitaus geringeren Anteil an Mapuche-Bevölkerung gekennzeichnet sind, was in der Folge Aussagen über den Einfluss dieser kulturellen Identität in Bezug auf den Konflikt zwischen bedarfsökonomischen Sektor und Forstindustrie erlaubt. Curanilahue ist außerdem für die Untersuchung interessant, weil die Kommune einen Extremfall der Expansion der Forstplantagen darstellt. Die Kommune Arauco ist von besonderem Interesse, weil sich in ihr einer der größten Industriekomplexe für Zellstoffproduktion in Lateinamerika befindet. Schließlich gehe ich noch gesondert auf die regionale Hauptstadt Temuco ein, weil sich an ihr verdeutlichen lässt, welche Relevanz der ländlichen Bedarfsökonomie und den Verflechtungen zwischen dieser und dem kapitalistischen Sektor auch innerhalb der chilenischen Städte zukommt.

Insgesamt fokussiere ich mich im Folgenden auf die Situation ländliche Haushalte und comunidades, weil diese – wie deutlich wird – die stärksten Konflikte mit dem kapitalistischen Sektor eingehen. Dadurch lässt sich zeigen, wie groß erstens die Bedeutung der kämpferischen Tradition der Mapuche ist, wie es dabei zweitens aber auch zu unterschiedlichen sozioökonomischen Arten von Verflechtungen zwischen bedarfsökonomischem und kapitalistischem Sektor kommt und drittens, welche Rolle dabei unternehmerische Sozialpolitik und staatlichen Förderungsprogramme spielen. Andererseits stellt sich heraus, dass die Mapuche nicht nur für die Interessen ihrer Bedarfsökonomie, sondern gegen die Untergrabung des gesamten bedarfsökonomischen Sektors durch die Forstindustrie im zentralen Süden kämpfen. Dem Konflikt der Forstindustrie mit den Mapuche kommt insofern eine weit über die ländlichen Gebiete der Araucanía hinausgehende Bedeutung zu. Dies erklärt auch die große Resonanz des Kampfes der Mapuche in den sozialen und ökologischen Bewegungen und Protesten in ganz Chile.

4.4.1 Galvarino – umkämpfte Verflechtung

Abb. 4.5
figure 5

Ländlicher Mapuche-Haushalt in Galvarino – Eigene Aufnahme

Koloniale Kontinuitäten: Mapuche, Großgrundbesitzerfamilien und die Expansion der Forstwirtschaft in Galvarino

Die Kommune Galvarino liegt inmitten der Region der Araucanía und ist nach einem der wichtigsten Krieger der Mapuche des 16. Jahrhunderts benannt. Berichten zufolge nahmen die Spanier den Anführer der Mapuche im Jahr 1557 nach einer Schlacht in der Nähe des Flusses Biobío zusammen mit anderen 150 Mapuche fest. Der Legende nach hackten sie ihm in Gefangenschaft zur Abschreckung beide Hände ab und schickten ihn zu seinen Gefährten zurück. Dort angekommen schwor er Rache, ließ sich Waffen an die Armstümpfe binden und zog zurück in die Schlacht. Ende 1557 geriet Galvarino ein weiteres Mal in Gefangenschaft der Spanier, die ihn schließlich exekutierten (Fernández/Tamaro 2004).

Die heutige Stadt Galvarino entstand lange Zeit nach Galvarinos Tod im Jahr 1882 als militärisches Fort im Kampf des chilenischen Militärs gegen die Mapuche. Das Fort wurde im Gebiet der nagche auf dem Boden der comunidad Liempi errichtet, die hier einst ein großes Tal bewohnten, erklärt Nahuel (a9). Nahuel ist lonko der comunidad Paillahue und direkter Nachfahre der Liempi, die sich gegen die Invasion des chilenischen Militärs zur Wehr setzten. In Folge der Aufstände gegen die einfallenden Besatzer unter der Regentschaft des pacificador Gregorio Urrutia sei es zu Massakern an seinen Vorfahren gekommen, erklärt Nahuel.Footnote 203 750 Mapuche seien ermordet worden. Der heutige Name seiner comunidad erinnert an dieses Ereignis, Paillahue bedeutet übersetzt so viel wie »hinterrücks ermordet« (muerte por espalda) – so Nahuel im Interview (a9).Footnote 204 Im Nachgang des Sieges des chilenischen Militärs wurde das Gebiet um das Fort von Galvarino mit Immigrant*innen aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz besiedelt, denen große, fruchtbare und unbewohnte Landflächen versprochen wurden. Die Kriege gegen die Spanier und den chilenischen Staat sowie die nachfolgende Kolonisierung sind tief in der Erinnerung der Mapuche Galvarinos verankert. Heute reißen diese historischen Wunden jährlich beim Gedenken an die Stadtgründung und den damit verbundenen Feierlichkeiten auf. Dann tritt auch heute noch vielen Mapuche aus Galvarino der Zorn in die Augen. Es sei kein Geheimnis, dass damals die Familien der Liempi in ihren rucas eingesperrt und bei lebendigem Leib verbrannt wurden, erklärt der Mapuche Lautaro, »[…] kann man an einer Jahresfeier einer Stadt teilnehmen, wo sie deine Vorfahren getötet haben?«, fügt er im Interview hinzu (a10).

Heute zählt Galvarino rund 12.000 Einwohner*innen,Footnote 205 von denen sich etwa 70 Prozent selbst als Mapuche identifizieren (Romero et al. 2017: 42). Gleichzeitig gehört die Kommune mit einem äußerst niedrigen »Index der menschlichen Entwicklung« von 0,19 zu den ärmsten in Chile (Hernández et al. 2020: 46).Footnote 206 Ein Großteil der ländlichen Bevölkerung (Abbildung 4.5) – Mapuche wie Nicht-Mapuche – war bis ins 20. Jahrhundert als inquilinos auf den fundos der Großgrundbesitzerfamilien beschäftigt, auf denen teilweise bis heute große Mengen an Weizen produziert werden, erklärt Arón im Interview (c7).Footnote 207 Aber nicht nur die Großgrundbesitzer*innen, sondern auch die Mapuche-Familien bauten das Getreide an, berichtet Nahuel (a9).Footnote 208 Gemeinsam mit der Umverteilung von Land im Zuge der Agrarreformen führte die Expansion der Forstwirtschaft in den 1970er und 1980er Jahren zum Ende der alten quasi-feudalen Verhältnisse in Galvarino. Dennoch lassen sich die kolonialen Kontinuitäten nach wie vor in der Landverteilung feststellen. Mitte der 2000er Jahre befanden sich auf rund 32 Prozent der wirtschaftlichen Nutzfläche der Kommune Forstplantagen (INE 2007a). Von den übrigen 68 Prozent, die landwirtschaftlich genutzt werden, besitzen laut den letzten verfügbaren Daten von 2007 die kleinbäuerlichen Betriebe mit Flächen von weniger als 10 Hektar, die über 61 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe darstellen, nur einen Anteil von 15 Prozent an der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche der Kommune. Betriebe mit einer Nutzfläche von 10 bis 50 Hektar machen 34 Prozent der Betriebe und fast 36 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche aus. Auf der anderen Seite stehen Großbetriebe mit über 50 Hektar landwirtschaftlich nutzbaren Bodens, die nur 4,6 Prozent der Betriebe aber mit 49 Prozent fast die Hälfte der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche der Kommune ihr Eigen nennen. Insgesamt listet der Zensus von 2007 deutlich über 1800 Eigentümer*innen landwirtschaftlicher Nutzflächen in der Kommune.Footnote 209 Hinsichtlich der Verteilung des Bodens in Galvarino lässt sich damit feststellen, dass es eine sehr große Zahl an Kleinbetrieben mit geringen Flächen gibt, denen eine bedeutende Zahl an mittelgroßen Landeigentümer*innen und eine kleine Zahl an großen Unternehmen mit sehr extensivem Landbesitz gegenüberstehen. Gleichzeitig ist Galvarino hinsichtlich der Landnutzung und des Flächenbesitzes weitaus fragmentierter als die anderen untersuchten Kommunen. Kleinbäuerliche Landwirtschaft und die großflächige Weizenproduktion in den fundos spielen neben der Forstwirtschaft auch heute eine sehr große Rolle und finden überall in direkter Nachbarschaft statt.

Der verbreiteten Armut stehen nicht nur die großen Forstunternehmen, sondern auch die lokalen reichen Familien der Großgrundbesitzer*innen gegenüber. Diese sattelten im Laufe der Zeit vielfach von der Weizenproduktion auf die Forstwirtschaft um. Eines der lokal aktivsten Forstunternehmen vor Ort ist Forestal Galvarino, das im Besitz der Familie Bachmann steht. Diese ursprünglich deutschstämmige Unternehmerfamilie profitierte von der sogenannten pacificación. Sie gehört der wirtschaftlich dominanten Klasse der Region an, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts aus alten Großgrundbesitzer*innen zu modernen Unternehmerfamilien entwickelten. Nahuel (a9) bezeugt, dass die Bachmanns allein in seiner comunidad 300 bis 400 Hektar Forstplantagen besitzen und dass auf der anderen Seite der comunidad die Familie Luchsinger große Plantagenflächen unterhalten. Neben den Bachmanns und den Luchsinger berichten Bewohner*innen auch von Forstplantagen der Familien Paulsen und Venturelli (a9; a13). Der große Einfluss dieser regionalen besitzenden Klasse der Araucanía in Kommunen wie Galvarino liegt nicht nur darin, dass sie hier große Landflächen besitzen oder darin, dass beispielsweise die Bachmanns die einzige Getreidemühle Galvarinos betreiben, zu der all die kleinen Weizenproduzent*innen kommen, um ihr Getreide mahlen zu lassen. Er zeigt sich auch darin, dass sie die relevanten Verbindungen in die Politik haben. Die alten Familien der Großgrundbesitzer*innen geben in Galvarino nach wie vor politisch den Ton an – so Arón, der in Galvarino eine Stiftung für lokale Entwicklung gegründet hat (c7). Es seien die alten kolonialen Kontinuitäten, die dazu führten, dass die heutigen Unternehmerfamilien, die aus ehemaligen kolonialen Siedler*innen hervorgegangen sind, bis heute die kommunale Politik maßgeblich bestimmen (c7). Mit einer einzigen Ausnahme von 2012 bis 2016 waren es die Vertreter*innen der regionalen besitzenden Klasse, die in Galvarino den Bürgermeisterposten bekleideten. Auch Sergio (a11) – ein Mapuche aus Galvarino – betont im Interview, dass es diese Familien seien, die seit jeher alle Räume politischer Macht in der Kommune einnähmen.Footnote 210

Die sozialen und politischen Auseinandersetzungen nehmen in Galvarino allerdings seit geraumer Zeit zu. So fordern die Mapuche zunehmend Land und die Anerkennung ihrer Sprache und Kultur in der Kommune ein. Viele der kleinen Landbesitzer*innen Galvarinos haben ihr Land in den Agrarreformen des 20. Jahrhunderts – gerade unter der Präsidentschaft Allendes – zugesprochen bekommen, so der Mapuche Aukan (a15). Seine eigene comunidad hätte damals Land erhalten, das sie zuvor besetzt hatten und auf dem sie dann jährlich sehr große Mengen an Weizen ernteten, über tausend Rinder hielten sowie auf landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge zurückgreifen konnten. All das hätten sie mit dem Beginn der Militärdiktatur wieder verloren (a15). Auch der Kleinbauer Reinaldo (a13) berichtet, dass ihre Nachbarn ihre Länder im Zuge der Agrarreformen der 1970er Jahre zugesprochen bekommen hatten, sie ihre kleinen Grundstücke heute allerdings oft wieder verkauften. Josés Familie, die den Mapuche angehört und die ihre Fläche ebenfalls Anfang der 1970er Jahre im Rahmen der Agrarreform erhielt, bewirtschaftet ihr Land hingegen nach wie vor (a14). Während die Landreformen damals nach sozialen Gesichtspunkten Land verteilten, spielen bei Landkonflikten heute historisch-indigene Ansprüche die zentrale Rolle. Zwanzig comunidades der Kommune seien aktuell in Rechtsstreitigkeiten um ihr Land verwickelt – so Sergio, der in der Gemeinde Galvarino arbeitete, im Interview (a11). Viele versuchten, mittels der CONADI an Land zu gelangen, so Arón (c7). Dies habe mit dem allgemeinen Landmangel zu tun. Im Durchschnitt besäße eine Mapuche-Familie in Galvarino heute lediglich drei Hektar und hätte fünf Nachkommen. In der Folge sei die Landknappheit bei der armen ländlichen Bevölkerung enorm, so Arón, der in einer Stiftung für lokale Entwicklung arbeitet (c7).

Nahuel (a9), der oben zitierte lonko, zeigt uns ein altes Dokument, bei dem es sich um einen título de merced handelt. Laut diesem Dokument wurde den Nachfolger*innen der Liempi im Rahmen der pacificación eine große Fläche Land zugesprochen, auf die sie heute einen rechtmäßigen Anspruch erheben könnten. Allerdings sei es nicht einfach, dieses Recht durchzusetzen, so Nahuel, einerseits aufgrund der Macht der Großgrundbesitzer*innen und andererseits auch deshalb, weil die jungen Mapuche seit jeher in die Städte abwanderten, um dort nach besseren Möglichkeiten zu suchen. Dort würden sie aber große Diskriminierung erleiden, weshalb er die Mapuche seiner comunidad heute dafür zu gewinnen versucht, in ihre Heimat zurückzukehren und gemeinsam hier vor Ort darum zu kämpfen, was ihnen historisch zustehe: »viele junge Leute, die […] in die Großstädte auswandern […], wollen wieder zurückkehren, weil sie in Santiago sehr, sehr hektisch leben, es gibt viel Kriminalität, viel Böses […]«, so Nahuel (a9). Auch andere Interviewte bestätigen solche Entwicklungen (a15; c7; c16). Aukan (a15) berichtet im Interview von Mapuche-Familien aus den Städten, die verzweifelt versuchen, Landflächen in Galvarino zu kaufen, um dort ein Leben aufzubauen. Florentina (c16) erzählt, dass sie selbst 18 Jahre in Santiago gelebt habe und vor 15 Jahren mit ihren Kindern nach Galvarino zurückgekehrt sei.

In der ungleichen Landverteilung zeigt sich damit die koloniale Kontinuität in Galvarino. Gleichzeitig kam es während der Agrarreformen des 20. Jahrhunderts und im Rahmen jüngerer Landkäufe durch die CONADI zu einer gewissen Umverteilung von Land vor allem an ärmere Haushalte der Mapuche. Dennoch besteht der Druck auf Land weiter und für viele Familien reicht ihr kleiner Landbesitz nicht für ein Überleben. Gleichzeitig ist die koloniale Geschichte und die darauffolgende Situation der Armut und des Landmangels nicht nur ein ökonomisches Problem für die Mapuche. Der Landverlust hätte lange Zeit die Identität der Mapuche geschwächt. Die Rate der Selbstmorde sei unter der Mapuche-Jugend Galvarinos besonders hoch, weshalb die Aufwertung ihrer Identität neben der Wiederaneignung von Land als politisches Projekt von besonderer Bedeutung sei, so der bereits zitierte Arón (c7).

Die Forderung der Mapuche nach Land wird durch den scharfen Kontrast, in dem die prekären ländlichen Haushalte zum enormen Reichtum der Forstunternehmen stehen, noch befeuert. Zudem sind auch viele der mittelgroßen und großen Landbesitzer*innen mit der Forstindustrie wirtschaftlich eng verbunden. So sind neben den Großunternehmen wie Forestal Arauco, Mininco und Masisa in Galvarino auch die regionalen Forstunternehmen – beispielsweise Venturelli oder Bosques Cautín – und die lokalen Großgrundbesitzer*innen aus Galvarino in der Forstwirtschaft aktiv, erklärt Arón (c7). Während Familien wie die Bachmanns ihr eigenes Unternehmen betreiben, verpachten andere traditionelle Großgrundbesitzerfamilien – wie die Paulsen – eigene Flächen an die Großunternehmen der Forstbranche, berichtet ein Mapuche (a15). Gleichzeitig pflanzen aber auch kleine Landbesitzer*innen auf ihren Grundstücken immer wieder Forstplantagen. Die Folge ist eine in den letzten Jahrzehnten stark zunehmende Verbreitung der Forstplantagen (Abbildung 4.6). Schon im Jahr 2007 waren 32 Prozent der gesamten land- und forstwirtschaftlichen Nutzfläche der Kommune mit Forstplantagen bedeckt.Footnote 211

Abb. 4.6
figure 6

(Quelle: Felipe Castro Gutierrez (mapaaraucanía) – Eigene Bearbeitung)

Veränderte Landnutzung in Galvarino.

In den 2010er Jahren haben sich die Forstplantagen weiter ausgebreitet. Heute bedecken sie nach unterschiedlichen Angaben 40 bis 60 Prozent der gesamten Fläche der Kommune.Footnote 212 Diese Dominanz der Forstwirtschaft in Galvarino wird selbst von manchen politisch konservativen Akteuren kritisch gesehen: Sie bedeuten »Brot für heute und Hunger für morgen« und tragen wenig zur Wirtschaft in Galvarino bei – so der Lokalpolitiker Miguel (c6). Galvarinos Latifundien sind allerdings nicht nur mit Forstplantagen bedeckt. Zwar wurden bedeutende Flächen für die Expansion der Forstwirtschaft seit den 1980er Jahren aus Urwäldern, Mischwäldern oder landwirtschaftlichen Flächen in Forstplantagen verwandelt – wie die lokale Bevölkerung in Interviews bezeugt (a9; a10; a14; a15; a16; c15) – dennoch spielt die kleine und große Landwirtschaft weiterhin eine wichtige Rolle.Footnote 213 Die wichtigsten lokalen Einkommen werden in der Kommune durch die Produktion von Getreide, Früchten und Dienstleistungen generiert, nur 10 Prozent werde durch die Forstwirtschaft erzielt.Footnote 214 Die Bachmanns nutzen ihre großen Landflächen in Galvarino beispielsweise zu rund einem Drittel für Forstplantagen und pflanzen auf der übrigen Fläche Weizen oder halten Vieh.Footnote 215 Nach wie vor arbeitet ein relevanter Anteil der ländlichen Bevölkerung in Form von saisonalen Gelegenheitsjobs auf den fundos der Großgrundbesitzer*innen, erklären lokale Bewohner*innen (c15). Ein großer Teil der Bevölkerung Galvarinos ist weiterhin in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft tätig.

Die ländliche Bedarfsökonomie und die Konkurrenz um Ressourcen

Miguel (c6), der in der Gemeinde Galvarinos für die »ländlich Entwicklung« zuständig ist, bestätigt den schon bisher gewonnenen Eindruck, dass die Kommune Galvarino durch kleine landwirtschaftlich aktive Haushalte mit meist etwas mehr als einem Hektar Land geprägt ist. Diese Haushalte besäßen in der Regel allerdings nicht nur kleine Flächen, sondern auch Böden minderer Qualität, die sich zudem häufig in Hanglage befänden (c6). Neben den klassischen Kräutern, dem Gemüse sowie Weizen, Hafer und Kartoffeln, die größtenteils angebaut werden, halten viele Haushalte auch Tiere. Dabei seien die Imkerei sowie vor allem die Schafszucht für Lammfleisch und Wolle eine wichtige wirtschaftliche Aktivität der kleinen Produzent*innen – so Miguel (c6). Dies bestätigt sich auch in den Interviews mit kleinbäuerlichen Haushalten. Macarena hält auf ihrem Land von sieben Hektar Größe Schafe und zusätzlich noch etwa 50 Puten, »um zu überleben«, wie sie sagt (a13). José hält ebenfalls Schafe, dazu noch Schweine und Hühner (a14). Reinaldo erzählt, dass er Kühe hält und Bienen züchtet (a13). Auch Yerko berichtet, dass er mit seinen Eltern eine Bienenzucht unterhält und seine Familie weitgehend vom Verkauf von Honig und Honigprodukten lebe (c23). Die meisten Bewohner*innen verfahren nach klassisch kleinbäuerlicher Produktionslogik und kombinieren die Produktion für den Eigenbedarf mit dem Verkauf von Überschuss (a14; c4; c5; c6; c13; c17). Dabei vereinen die ländlichen Haushalte stets eine Vielzahl von ökonomischen Aktivitäten, erklärt der oben zitierte Miguel, der für die Gemeinde für Programme der ländliche Entwicklung zuständig ist (c6). Lohnarbeit ist vor allem während der Erntezeit in den Obstplantagen eine wichtige Einkommensquelle, so der Interviewte (c6). Es ist nicht unüblich, dass auch ärmere ländliche Haushalte für einzelne Tätigkeiten andere Bewohner*innen gegen Bezahlung anheuern, erklärt eine Mapuche, die in der Stadt Galvarino ihre Waren anbietet (c9). Allerdings fehlten nahezu allen kleinbäuerlichen Haushalten Landmaschinen, so Matías, der ebenfalls in der Stadt Gemüse verkauft (c18). Deshalb müssten sie beispielsweise bei der Ernte Maschinen von den Großgrundbesitzer*innen anmieten, was ihnen zusätzlich hohe Kosten verursachen würde, so die Mapuche Javiera (c15). Neben der klassischen kleinbäuerlichen Landwirtschaft ist die Herstellung von Holzkohle ein traditionsreicher Erwerb kleiner Produzent*innen in Galvarino, erklärt Miguel (c6). Die aus Galvarino stammende Kohle würde dabei auf lokalen Märkten bis weit im Süden des Landes verkauft (c6).

Die ländlichen Haushalte werden unter anderem im Rahmen kommunaler »Entwicklungspläne«Footnote 216 auf Gemeindeebene mit Programmen unterstützt. Seit den 1980er Jahren wurden derartige Förderprogramme in der Araucanía allerdings zunehmend auf forstwirtschaftliche Aktivitäten ausgerichtet. In Galvarino betrieb die Gemeinde dafür in Kooperation mit der CONAF beispielsweise zwischenzeitlich eine eigene Baumschule, in der Kiefern- und Eukalyptussetzlinge vorgezogen und kostenfrei an die Bewohner*innen ausgegeben wurden, so Arón (c7). María (c9) – Mapuche aus Galvarino – erzählt, dass sie, als sie Anfang der 2000er Jahre aufs Land zurückkehrte, einen Teil ihres Grundstückes von der CONAF mit Kiefern und Eukalyptus aufforsten ließ. Auch Matías und Valeria (c18) geben an, auf ihrem kleinen Stück Land mit Setzlingen der CONAF Kiefern- und Eukalyptusbäume gepflanzt zu haben. Allerdings merkt Matías kritisch an, dass sie damals betrogen worden seien. So brächten die kleinen Plantagenflächen »wirtschaftlich kaum etwas ein, verbrauchten aber viel Wasser« (c18). Javiera (c15), die ebenfalls ein kleines Grundstück in Galvarino bewirtschaftet, erzählt, dass die kleinen Landbesitzer*innen heute vor allem für die Landwirtschaft ungeeignete Flächen für das Pflanzen von Kiefern- und Eukalyptusbäumen nutzten, weil sie das Holz zum Heizen bräuchten und das Feuerholz auf dem Markt sehr teuer sei.

Die staatlichen Förderpolitiken richten sich – unter anderem aufgrund der geringen wirtschaftlichen Erlöse – heute mehrheitlich auf Projekte außerhalb des forstwirtschaftlichen Bereiches. So arbeitet die Gemeinde Galvarinos derzeit im Rahmen der Programme des PDTI mit über 1350 Familien in der Förderung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft zusammen – so der oben zitierte Gemeindemitarbeiter Miguel (c6). José (a14), der in einer comunidad Galvarinos lebt und ein kleines Stück Land bewirtschaftet, erzählt, dass er mit der Förderung des PDTI einen Schuppen für seine Schafe bauen konnte. Auch der oben zitierte lonko Nahuel (a9) beantragt mit seiner comunidad derzeit Gelder, um mit einer Gruppe von rund 30 Personen den Anbau von Beeren und Gemüse mit Bewässerungssystem und großem Gewächshaus zu beginnen. Die aktuellen »Entwicklungsschwerpunkte« bestünden laut Miguel seit 2016 allerdings wieder weniger in der Förderung von Subsistenzproduktion und mehr im Ausbau von Obstplantagen und insbesondere dem Anbau von Weintrauben für den Export. Nur durch die Verknüpfung der kleinen Produzent*innen mit den Märkten der Agroindustrie, seien größere Umsätze vor Ort möglich, so Miguel (c6). Dafür sei es nötig, Verbindungen »nach außen« aufzubauen, das heißt große Abnehmer*innen zu gewinnen, die das Obst weitervermarkten. Dabei fehlten allerdings bisher nicht nur die Marktzugänge, sondern auch genmanipuliertes Saatgut und technische Beratung, so Miguel (c6). Ziel sei auch der Aufbau eines Marktes für den Verkauf von eigenem Wein aus Galvarino, so der Gemeindemitarbeiter (c6).

Die neuere staatliche Förderpolitik zielt in Galvarino folglich auf eine stärkere Kommodifizierung und Verflechtung der bedarfsökonomischen Landwirtschaft mit dem kapitalistischen Sektor. Laut Florentina (c16), die im urbanen Raum Galvarinos Pflanzen züchtet und verkauft, hätte der Anbau von Früchten und vor allem Heidelbeeren in größeren Plantagen in Galvarino in den letzten Jahren stark zugenommen. Arón (c7), der in Galvarino eine Stiftung für ländliche Entwicklung betreibt, erklärt, dass auch Tourismus-Projekte zunehmende Verbreitung finden – auch in comunidades. Insbesondere in den comunidades stoßen die staatlichen Förderprogramme auch auf Kritik. So müssten die comunidades häufig lange auf die erhofften Gelder warten, berichtet Nahuel (a9). Valentina und Matías (c18) bestätigen dies. Immer wieder würden von den Behörden zwar Projekte initiiert, aber es käme nie zu Ergebnissen und sie hätten die Vermutung, dass die Projektleiter das Geld selber einsteckten (c18). Gleichzeitig sind die Differenzen zwischen der staatlichen chilenischen Förderpolitik – wie sie Miguel vertritt – und den Vorstellungen der comunidades hinsichtlich einer economía mapuche unübersehbar. Sie betreffen weit mehr als nur die Frage des Einsatzes genmanipulierten Saatgutes. Auch aufgrund dieser Differenzen wurden in Galvarino zuletzt eigene Mapuche-Kooperativen gegründet. Arón (c8) erzählt, dass sie sieben solcher Kooperativen initiiert hätten, die sogar Finanzierung des CORFO erhielten. Ziel sei es, nicht als Lohnarbeiter*innen auf den großen Obstplantagen anzuheuern, sondern eigene Projekte in kleinerem Umfang umzusetzen.

Neben der ungenügenden und umstrittenen Förderpolitik der kleinen Landwirtschaft stellen Mangel an Land und Ressourcen sowie schlechte Marktzugänge die ländlichen Haushalte vor große Probleme. Nur etwa 20 Prozent der ländlichen Haushalte sei – so schätzt Arón (c8) – eine regelmäßige Bewässerung ihrer Anbauflächen möglich. Viele Interviewte erklären, dass die Wasserknappheit mit der Expansion der Forstwirtschaft zu tun habe, die die Wasserquellen versiegen ließe.Footnote 217 Juan (a12), der einige Jahre in der Municipalidad in Galvarino arbeitete, berichtet im Interview von einem deutlichen Zusammenhang, der deshalb zwischen der Expansion der Forstplantagen und den lokalen Konflikt bestehe: »es ist so, dass das Wasser drastisch weniger wird und das hat Konsequenzen für die comunidades und ihre Produktion … das hat mit den Forstplantagen zu tun. Das führt zu Konflikten«. Lautro (a10) berichtet, dass seine comunidad verhinderte, dass ehemalige Plantagenflächen wieder von Forstunternehmen bepflanzt wurden. Seitdem kehre dort auch das Wasser in den Bächen zurück. Nahezu alle Interviewten, die in der Umgebung von Galvarino kleine Landwirtschaft betreiben, beklagen das große Problem des Wassermangels.Footnote 218 Tania (a15), die in einer comunidad Galvarinos lebt, drückt es wie folgt aus:

»…wir wollen ja auch einen Garten anlegen und Gemüse anbauen, auch, um es schön zu haben. Aber das geht nicht, weil alles austrocknet. Immer wieder müssen wir die Pflanzenarten anpassen, weil sie uns im Sommer vertrocknen. Man muss das Wasser eben erstmal für den Haushalt nutzen, für den Verbrauch und um zu waschen. Aber auch für das Geflügel …, wenn man eben Tiere hält.« (a15)

Das fehlende Wasser scheint – neben dem Landmangel – das Hauptproblem für diejenigen zu sein, die ein wenig Land bebauen. Aber nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch andere wirtschaftliche Aktivitäten und die Haushalte selbst leiden unter dem Wassermangel. Francisco (c21), der in der Nähe der Stadt Galvarino ein Sägewerk betreibt und sein gelagertes Holz – wegen Plagen und Brandgefahr – feucht halten muss, erklärt, er habe selbst kaum Wasser und würde dasjenige, das er für sein Werk bräuchte, deshalb einfach illegal aus dem Fluss pumpen. Das scheint generell eine verbreitete Praxis bei all jenen zu sein, die Zugang zu fließenden Gewässern in ihrer Nähe haben. Gleichzeitig müssen in Galvarino – je nach Jahreszeit – zwischen 1200 und 2500 Familien durch LKW der Gemeinde mit Trinkwasser beliefert werden, da sie sonst kein Wasser hätten, berichten Bewohner*innen und ein Gemeindemitarbeiter (a13; a39; c6). Zeitweise hätten sie nur einige Male im Monat Wasser geliefert bekommen und dann hätten sie nicht mal Wasser gehabt, »um die Teekanne zu füllen«, erklärt Macarena, die mit ihrem Mann in Galvarino ein entlegenes Grundstück bewirtschaftet (a13: 5). Sergio (a11), der früher in der Gemeinde Galvarinos arbeitete, erklärt darüber hinaus, dass aufgrund der Wasserknappheit auch nahezu alle Schulen in der Kommune davon abhingen, regelmäßig von LKW der Gemeinde mit Wasser von außerhalb beliefert zu werden.

Der bedarfsökonomische Sektor Galvarinos ist in vielerlei Hinsicht von den negativen Konsequenzen der Forstplantagen betroffen. Neben dem Land- und Wassermangel und dem Verbot, die Plantagen eigenständig zu betreten, führt der Mangel an heimischen Wäldern zu großen Problemen bei allen bedarfswirtschaftlichen Aktivitäten, die auf funktionierende Ökosysteme angewiesen sind, wie Gemeindemitarbeiter erklären (a12; c6) (Abbildung 4.7). Neben der kleinbäuerlichen Landwirtschaft leiden aber auch andere Bereiche – wie die Gesundheitsversorgung – unter den Monokulturen. Die Mapuche seien auf Heilpflanzen angewiesen, die nur in der Umgebung heimischer Baumbestände vorkommen, erklärt die Mapuche Tania (a15). Außerdem – so berichtet Juan (a12) im Interview weiter – würden beim Anlegen von Plantagen gezielt andere Pflanzen vernichtet:

»Die Forstunternehmen nutzen verschiedene chemische Mittel, um ihre Pflanzen zu schützen,[…] die töten die heimischen Pflanzen […]. Es gibt keine heimischen Pflanzen, die diese intensive Forstplantagenwirtschaft aushalten können.« (a12)

Die von den Forstunternehmen eingesetzten Chemikalien verschmutzen jedoch nicht nur Gewässer und Böden, sondern beeinträchtigen auch die Gesundheit der umliegenden Bevölkerung, so der ehemalige Gemeindemitarbeiter Juan (a12). Darüber hinaus drohen durch die großen Forstplantagen immer wieder gefährliche Waldbrände, die sich aufgrund der extremen Trockenheit in den Plantagen rasch kilometerweit ausbreiten, wie viele Interviewte beteuern.Footnote 219 Außerdem kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen um heilige Orte der Mapuche, die sich in Gebieten befinden, die heute von den Forstunternehmen mit Plantagen bepflanzt werden. So zeigt uns Lautaro (a38) einen »menoko«, eine heilige Quelle, die – laut dem Interviewten – vom Unternehmen Masisa durch eine Forstplantage zerstört wurde.Footnote 220

Abb. 4.7
figure 7

Kahlschlag einer Forstplantage in Galvarino – Eigene Aufnahme

Die geschilderte Problematik vor Ort wird noch dadurch gesteigert, dass die Forstunternehmen in den ländlichen Gebieten kaum Beschäftigungseffekte erzeugen. Dies beklagen eine Vielzahl der lokalen Bewohner*innen Galvarinos.Footnote 221 Diejenigen, die in den Forstplantagen die Erntearbeiten übernehmen, sind Drittunternehmen, die ihren Sitz vorwiegend in den Städten oder anderen Kommunen haben und von den Großunternehmen beauftragt werden. Die anfänglichen Hoffnungen auf einen Arbeitsplatz im Forstbereich haben sich für die ländlichen Bewohner*innen Galvarinos nicht erfüllt. Mittlerweile sei deutlich geworden, dass die vorwiegend outgesourcten Tätigkeiten mit Maschinerie und Arbeitskräften von außerhalb durchgeführt würden, so interviewte Mapuche (a9; a38). Während der Wachstumszeit der Plantagen seien damit selbst für sehr große Landflächen kaum Arbeitskräfte nötig (a38; c6). Lohnarbeit fänden die ländlichen Bewohner*innen Galvarinos eher auf den Obstplantagen, so der Gemeindemitarbeiter Miguel (c6). Viele hätten aufgrund der schwierigen ökonomischen und sozialökologischen Situation in Galvarino ihr Land verkauft oder verpachtet und suchten in den Städten nach Arbeit und einem einfacheren Leben, so Miguel weiter (c6). Die große Armut der Familien der Mapuche in Galvarino führe schließlich dazu, dass sie ihre monetären Einkommen mehrheitlich zu großen Teilen aus staatlichen Sozialtransfers beziehen, so der bereits zitierte Arón (c8).

Aus dem oben dargestellten wird deutlich, dass der bedarfswirtschaftliche Sektor in Galvarino äußerst prekär ist und Einkommensmöglichkeiten im kapitalistischen Sektor kaum zur Verfügung stehen. In der Folge hängen viele ärmere Haushalte von staatlichen Sozialtransfers ab oder greifen auf öffentliche Beschäftigungsmöglichkeiten und saisonale Jobs zurück. Aber nur ein Bruchteil der Bewohner*innen findet einen Arbeitsplatz in der Nähe. In den meisten Fällen würden Familienmitglieder weit entfernt Arbeit suchen, erklärt Javiera (c15), die im urbanen Raum Galvarinos Produkte ihres Kunsthandwerks (artesanía) verkauft. María (c9), die ebenfalls in der Stadt artesanía verkauft und auf dem Land ein Grundstück bewirtschaftet, hat einen Sohn, der in der Stadt studiert und eine Tochter, die in der nordchilenischen Hafenstadt Iquique arbeitet. Viele jüngere Erwachsene sind zudem Arbeitsmigrant*innen und verbringen teilweise bis zu einem halben Jahr außerhalb. Die Mapuche Irena (a16) berichtet, dass sie aufgrund des Wassermangels kaum noch Weizen anbauen und ihr Mann deshalb mehrere Monate als Zeitarbeiter in den Norden des Landes gehen müsse. Die Mehrheit der jüngeren Generationen würde im Sommer als Zeitarbeiter im Norden arbeiten und dann zurückkommen, erklärt sie. Den Winter würden sie dann hier bei ihren Familien auf dem Land in Galvarino verbringen, um dann im Frühling wieder in den Norden zu reisen (a16). Auch Arón (c7) berichtet, dass die Praxis der Arbeitsmigration der jungen Erwachsenen Galvarinos stark verbreitet sei.Footnote 222

Allerdings würden gleichzeitig viele derjenigen, die in die Städte gezogen waren, nach einer gewissen Zeit wieder dauerhaft zurückkehren, um hier eine Familie zu gründen und wieder in Galvarino zu leben, insbesondere dann, wenn sie ein Stück Land erbten, erklärt Arón (c7). Gerade die Generation, die in den 1980er und 1990er Jahren in die Städte migrierte und heute zwischen 50 und 60 Jahre alt sei, wollten heute wieder zurück aufs Land. Sie seien es auch, die vor Ort eine Vielzahl der Projekte des Obstanbaus umsetzten, so Arón. Zu dieser Generation gehört auch María (c9), die bestätigt, dass sie selbst und alle ihre fünf Geschwister nach einer längeren Zeit in der Stadt wieder zurück aufs Land gekommen seien. Gleichzeitig seien es die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die nicht nur als Zeitarbeiter*innen in den Norden reisten, sondern auch vor Ort die Gebietsbesetzungen auf den fundos in der Nachbarschaft ihrer comunidad durchführten, erklärt Irena (a16). Auch Arón (c7) bestätigt, dass die jüngeren Mapuche, die in die Städte zogen, um zu studieren, häufig politisch radikalisiert wieder in ihre comunidades zurückkämen.Footnote 223 Die comunidad dient folglich als bedeutendes bedarfswirtschaftliches Fundament der ländlichen Haushalte Galvarinos, die mit Lohnarbeit außerhalb kombiniert wird sowie als kollektive Basis der politischen Identität der Mapuche.

Die sozioökonomischen Verflechtungen im urbanen Raum Galvarinos

Im urbanen Raum Galvarinos leben heute über viertausend Menschen (INE 2019d: 106). Die Stadt ist in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen.Footnote 224 Gerade für ältere und kranke Menschen wie Fernanda und Javiera wird das Landleben häufig zu beschwerlich. Eine Reihe von Interviewten, die in die Stadt gezogen sind, wollen ihr Land verkaufen. Die Kleinstädte sind allerdings nicht nur Ziel der Landflucht, sondern auch wirtschaftliche Knotenpunkte der ganzen Kommune. In der Stadt Galvarino sind die Erwerbstätigen in den öffentlichen Institutionen, der Krankenstation, der Gemeinde oder der Schule, aber auch in besonderem Maße im Dienstleistungsgewerbe beschäftigt. Galvarinos Stadtbild ist geprägt von Klein(st)betrieben, unzähligen Läden und Kiosken, kleinen Restaurants und Trinkhallen, Schustern, Friseuren, Schneidereien, oder Verkaufsständen – vom Verkauf kleiner Zier- und Nutzpflanzen bis hin zu Orten, an denen Brennholz erworben werden kann. An nahezu jedem zweiten Haus wird etwas zum Verkauf angeboten. Zahlreiche Bewohner*innen haben auch kleine Gemüsegärten, in denen sie Bohnen, Tomaten und ähnliches für den Eigenbedarf anbauen. In einigen Hinterhöfen grasen Schafe und über den Sportplatz trottet eine Herde Ziegen. Viele Bewohner*innen besitzen zudem ein Stück Land außerhalb der Stadt, auf dem sie etwas anbauen, Tiere halten oder – in den meisten Fällen – schnell wachsende Baumarten für die Forstwirtschaft gepflanzt haben. Große Holztransporte fahren über die unasphaltierten Straßen Galvarinos und überall stehen Händler*innen, die ihr Obst und Gemüse zu günstigen Preisen aus ihrem Pickup, aus einem Wagen oder aus Körben und Eimern verkaufen. Mitten im Stadtzentrum hüpft eine Henne mit zwölf Küken über die Straße. Stadt und Land gehen in Galvarino ineinander über.Footnote 225

In der Nähe der Gemeinde sitzen einige Frauen am Straßenrand, die ihr Gemüse aus Körben zum Verkauf anbieten. Eine Frau (c4) berichtet, ihre Familie besäße eine Fläche von einem Hektar Land in der Nähe der Stadt und sie bauten Kräuter, Tomaten, Pfirsiche und einiges mehr an und verkauften vieles davon in der Stadt. Sie sei auf den öffentlichen Bus angewiesen, um ihre Produkte in der Stadt zu verkaufen. Damit würde sie das Haupteinkommen der Familie generieren. Sie sei außerdem Mitglied der Asociación de Productores de Hortalizas de Galvarino (Vereinigung der Gemüseproduzent*innen Galvarinos), die seit etwa zehn Jahren bestünde und sich für die Interessen der hortaliceras in Galvarino einsetze.Footnote 226 Einige Straßen weiter verkauft ein Mann (c5) mittleren Alters für umgerechnet etwa 1,30 Euro pro KiloFootnote 227 Erdbeeren aus einem Eimer. Er habe sie mit seiner Familie, die etwa zehn Kilometer entfernt einen Hektar Land besäße, in Bioqualität angebaut. Nach seinen Angaben käme die vierköpfige Familie mit dem, was sie selbst anbauen – unter anderem Weizen, Kartoffeln und Bohnen –, ganz gut über die Runden. Er erzählt, dass er aber nebenher noch als Saisonarbeiter bei einem Unternehmen, das Früchte und Beeren anbaue, arbeite. Das Verhältnis zu den Forstunternehmen hält er für relativ unproblematisch, nur die sich häufenden Waldbrände seien ein Problem. Auf dem zentralen Platz Galvarinos verkauft ein Ehepaar Gemüse (c13). Sie seien wieder hier aufs Land gezogen, nachdem der Vater der Ehefrau ihnen ein Stück Land von etwa einem halben Hektar Größe vermacht hatte. Hier produzieren sie Kartoffeln, Tomaten und sogar Kohl, welche sie nun auf der Ladefläche ihres Pickups zum Verkauf anbieten. Auf der Ladefläche findet sich auch Mais, den ihr Nachbar angebaut hat und den sie für diesen mitverkaufen. Über das ganze Jahr hinweg würden sie rund 300 Stück Kohl für den Verkauf produzieren, erklären sie. Daneben hätten sie noch Hühner, einen Gemüsegarten und Obstbäume vorwiegend für den Eigenbedarf. Sonstige Einkommen hätten sie nicht. Nach Problemen gefragt verweisen sie auf die Forstplantagen, durch die gerade im Sommer fortwährend die Gefahr bedrohlicher Waldbrände und ein erheblicher Wassermangel bestünde. Landwirtschaftlich aktive Haushalte, die mit ihrem voll beladenen Pickup weite Strecken zurücklegen, um in der Stadt ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse zu verkaufen, sind keine Seltenheit. Valentina und Matías (c18) kommen täglich aus fast 20 Kilometer Entfernung über die Schotterstraßen, um in der Stadt am Straßenrand ihr Gemüse zu verkaufen. Mit ihrem vierköpfigen Haushalt besitzen sie nur einen halben Hektar, auf dem sie Zwiebeln, Tomaten, Kartoffeln und vieles andere anbauen sowie Schweine und Hühner halten. Dennoch haben sie es geschafft, das eine ihre Töchter heute in Temuco studieren kann. Auch Salvador und Hortensia (c17), die einige Meter weiter ihren Stand aufgebaut haben, verkaufen ihr selbst angebautes Gemüse, das von Tomaten über Mais bis zu Kürbissen und Kräutern reicht. Den eigenen Stand, für den sie alle drei Monate bei der Gemeinde eine Gebühr bezahlen würden, müssten sie neben der landwirtschaftlichen Arbeit an ihrem Wohnort einige Kilometer von Galvarino von Montag bis Freitag betreuen, um ihre Produkte zu verkaufen. Der Verkauf der produzierten Lebensmittel sei schließlich ihre einzige Einkommensquelle (c17). All dies legt deutlich die Präsenz des bedarfsökonomischen Sektors in der Stadt Galvarino und die enge Verbindung von landwirtschaftlichen Praktiken und lokalen Märkten dar. Doch die Bedarfsökonomie Galvarinos besteht nicht nur aus klassischen landwirtschaftlichen Tätigkeiten.

Am Rande Galvarinos läuft ein junger Erwachsener (c11) mit Plastikwaren für den Küchenbedarf von Haus zu Haus. Er sei eigentlich aus einer anderen Ortschaft, aber aufgrund von Drogenproblemen hier von der evangelikalen Gemeinde Galvarinos aufgenommen worden und verkaufe jetzt hier und in umliegenden Dörfern chinesische Fabrikwaren, die er in Temuco erwirbt. Einige Meter weiter repariert ein Mechaniker (c12) in seinem Hof Autos. Er sei vor 30 Jahren nach Galvarino gekommen. Neben seiner Werkstatt vermiete er noch zwei kleine Häuser, die seiner Familie gehörten. Seine Frau arbeitet im Gesundheitsbereich und betreibe einen Gemüsegarten für den Eigenbedarf. So kämen sie gut über die Runden. Florentina (c16) lebt mitten im Zentrum Galvarinos. Sie verkauft bei sich zuhause Humuserde und Zier- und Nutzpflanzen, die sie selbst züchtet. Ab und zu arbeitet sie im Rahmen kleinerer Gartenarbeiten für die Familie Bachmann. Außerdem stellt sie kleinere Dekorationsartikel und Gebrauchsgegenstände für den Haushalt aus recycelten Materialen her. Sie beklagt, dass die ferias – die traditionellen Straßenmärkte –, die es in Galvarino üblicherweise gab, kaum noch stattfänden, was für kleine Produzent*innen wie sie ein großes Problem sei. Heute müsse sie deshalb über facebook verkaufen. Ihr Mann betreibt einen kleinen Kiosk. Für diesen hätten sie vor kurzem ein große Kühltruhe von Coca-Cola geschenkt bekommen, das hätte geholfen, sagt Florentina (c16). Ein paar Häuserblöcke weiter verkauft Yerko (c23) aus seinem Haus informell Honig, Honigprodukte und Materialien für die Bienenzucht. Auf die Frage, warum er kein Schild am Laden hätte, betont er, seine Kund*innen würden ihn kennen und kämen mit ihren Wünschen sowieso direkt zu ihm. Darüber hinaus verkaufe auch er über facebook.

María (c9) wohnt fünf Kilometer außerhalb von Galvarino auf dem Land, hat aber am Rande der Stadt ihren Laden. Hier verkauft sie artesanía (Kunsthandwerksprodukte) und gibt Workshops, in denen sie ihr Handwerk lehrt. Ihr Geschäft gehört zu einer Organisation, die vor rund zehn Jahren entstanden sei und den Namen Agrupación de Artesanos y Gestores Culturales (übers.: Vereinigung der Kunsthandwerker und Kulturverwalter) trägt und von der María bis vor kurzem die Vorsitzende gewesen ist. Der Organisation gehörten rund 60 artesanos (Kunsthandwerker*innen) an, wovon derzeit allerdings nur etwa 22 aktiv seien und ihre Läden am Rande der Stadt betrieben, so María (c9). Die Organisation hätte zudem schon mehrfach regionale öffentliche Fördergelder erhalten. Sie selbst hätte zwischenzeitlich auch Produkte für ein Unternehmen aus der Schweiz hergestellt. In ihrem Haus auf dem Land produziere sie allerdings nicht nur die artesanía, sondern erzeuge in ihrem Gemüsegarten zudem Lebensmittel des täglichen Bedarf. Nur einige Dinge wie Reis, Fleisch und Zucker, die sie nicht selbst erzeugen könne, kaufe sie in der Stadt. Ihre Haupteinkünfte kämen aus dem Verkauf ihrer artesanía und den Weiterbildungen, die sie ausrichte. Außerdem erhalte sie eine kleine Rente vom Staat und vermiete noch ein Haus auf dem Land, das sie von ihren Eltern geerbt hätte, wodurch sie die Miete ihres Sohnes in der Stadt finanzieren könne.

Insgesamt wird deutlich, dass die große Mehrheit der Menschen Galvarinos mit sehr unterschiedlichen bedarfsökonomischen Aktivitäten beschäftigt ist. Ein großer Teil dieser Tätigkeiten hängt mit lokalen Märkten zusammen, auf denen die Bewohner*innen Galvarinos die Güter und Dienstleistungen ihres alltäglichen Bedarfs erwerben. Diese Märkte sind relativ prekär, müssen selbst organisiert werden – sei es durch persönliche Kontakte, eigene Stände oder über facebook – und hängen insbesondere bezüglich des Transports mit einer ungenügenden öffentlichen Infrastruktur zusammen. Diese prekären aber dauerhaften Aktivitäten im bedarfsökonomischen Sektor hängen ökologisch häufig eng mit der Forstindustrie zusammen, was insbesondere in der Konkurrenz um Wasser deutlich wird, sind jedoch ökonomisch kaum mit der Forstindustrie verflochten. Einige Ausnahmen lassen sich diesbezüglich jedoch feststellen.

Etwa 50 Meter außerhalb der Stadt steht ein kleines Sägewerk. Francisco (c21) betreibt das Werk mit seinen beiden Söhnen. Er erklärt, es sei für ihn nicht einfach, an Holz zu kommen. Die Forstunternehmen würden kein Holz an kleine Abnehmer*innen verkaufen und wenn, dann zu hohen Preisen. Er würde in kleinen Mengen von lokalen Landbesitzer*innen vor allem Kiefernholz kaufen. Dieses würde dann im Sägewerk hauptsächlich zu Material für den Bau von Häusern weiterverarbeitet und imprägniert. Abnehmer*innen seien in der Regel Käufer*innen von vor Ort. Allerdings sei das Geschäft schwieriger geworden, weil zunehmend große Unternehmen mit Fertigteilen bis hin zu ganzen Fertighäusern den Markt für Baumaterialen aus Holz bestimmen würden. Im Gegensatz zu Franciscos Sägewerk stehen kleine lokale Transportunternehmen in Galvarino in einem komplementären Verhältnis zur Forstindustrie. So stehen am Rande der Stadt zwei große LKW am Straßenrand, an deren Ende sich große Kräne befinden. Sie gehören einer Familie (c10), die nach eigenen Angaben aktuell im Rahmen einer großen Holzernte des Unternehmens Masisa angeheuert wurde, um Holz aus einer 20 km entfernten Forstplantage in die Werke des Unternehmens zu transportieren. Der Familienvater betreibt das Geschäft mit seinen zwei Söhnen, die gerade einen der beiden Kräne reparieren. Außerdem gebe es noch eine Hand voll weiterer solcher Kleinunternehmen vor Ort, die für die Forstunternehmen Fäll- und Transporttätigkeiten übernehmen. Das Haus der Familie, vor dem sie ihre LKW geparkt haben, macht nicht den Anschein, dass die Familie mit ihrem kleinen Betrieb weit mehr verdient als die übrige Bevölkerung Galvarinos. Dennoch leben die camioneros (LKW-Fahrer*innen) Galvarinos etwas über dem sozialen Durchschnitt, erklärt Arón im Interview (c7). Dies führe auch dazu, dass diejenigen, die auf diese Weise Zuliefertätigkeiten für die Forstindustrie übernehmen, tendenziell politisch loyal gegenüber der Forstindustrie eingestellt seien und der Mapuche-Bewegung in der Regel mit äußerster Ablehnung begegneten, selbst wenn sie selbst Mapuche seien, so Arón (c7). Ähnliches gilt für die direkt in der Forstindustrie Beschäftigten.

In einer Unterkunft in Galvarino treffen wir auf Martín (c14). Er wohnt in einer zwei Autostunden entfernten Stadt und ist das erste Mal in Galvarino. Er arbeitet als Maschinenführer und Mechaniker für einen Unternehmen aus Cholchol, das für die großen Forstunternehmen Fällarbeiten durchführt und hat einen festen Arbeitsvertrag. Er verdient eigenen Angaben nach gut, müsse aber sehr viel unterwegs sein und sehe seine Familie selten. Dafür könnte er heute für zwei seiner drei Kinder ein Studium finanzieren. Allerdings gebe es in seiner Arbeit immer wieder Probleme. Einerseits, weil neue Maschinen immer mehr Tätigkeiten ersetzten – nicht mehr nur das Fällen und Verladen, sondern auch direkte Arbeiten am Stamm würden immer mehr maschinell verrichtet. Andererseits weil es immer wieder zu Attacken der lokalen comunidades auf Maschinen und Arbeiter*innen käme. Erst vor zwei Wochen hätten sie bei einem Unternehmen in Galvarino in der Nacht vermummt und mit Gewehren bewaffnet alle Forstmaschinen angezündet und zerstört. Über 20 Leute hätten dadurch ihre Arbeit verloren. Sonst passiere den Beschäftigten zum Glück in der Regel nichts. Die Maschinen hätten heutzutage auch kugelsichere Scheiben, so Martín.

Galvarino – so wird in den Interviews deutlich – ist das sozioökonomische und politische Zentrum der Kommune. Hier spielt sich die lokale Politik ab, hier treffen sich die Bewohner*innen der Region und hier verflechten sich die verschiedenen ökonomischen Praktiken, Akteure und Sektoren Galvarinos. Märkte vermitteln die formell und informell gehandelten Waren der Umgebung, in der Stadt werden Kredite aufgenommen und vergeben und wer sein Weizen mahlen will, bringt es in die Mühle der Familie Bachmann, wo es für 6500 Pesos pro 100 kg – umgerechnet sieben bis acht Euro – zu Mehl verarbeitet wird. Zwar spielen die Familien der Großgrundbesitzer*innen in Galvarino eine wichtige Rolle, aber große Unternehmen mit vielen Beschäftigten gibt es in der Kommune Galvarinos nicht, bestätigt Miguel (c6). Eine kleinbetriebliche Wirtschaft prägt sowohl den städtischen als auch den ländlichen Raum Galvarinos. Dabei lassen sich – wie im Folgenden deutlich wird – aber auch vielfache Verflechtungen zwischen bedarfsökonomischem und kapitalistischem Sektor ausmachen.

Verflechtungen zwischen Forstindustrie und der Bedarfsökonomie in Galvarino

Das Verhältnis zwischen Forstplantagen und lokaler Wirtschaft ließe sich im Anschluss an das bisher dargelegte als ein Nebeneinander beschreiben. Allerdings lassen sich vielerlei ökologische Verflechtungen feststellen, die in der gemeinsamen Eingebundenheit des bedarfsökonomischen und des kapitalistischen Sektors in dasselbe Ökosysteme resultiert. Verflechtungen finden dabei nicht nur auf das gemeinsame Nutzen bestimmter Ressourcen – sei es Land oder Wasser –, sondern auch mit Blick auf geteilte Nutzungspraktiken der Forstplantagen statt. So berichten Bewohner*innen Galvarinos (c15; c17), dass sie in den Plantagen Kiefernzapfen, die häufig als Brennmaterial dienen, sammeln sowie dass sie ihr Vieh in und rund um die Plantagen grasen lassen.Footnote 228 Der Gemeindemitarbeiter Miguel erklärt, dass auch die Köhler Galvarinos mittlerweile ihre Kohle aus Kiefern- und Eukalyptusholz herstellen würden (c6). Dabei würden sie häufig auf Holz zurückgreifen, das von der großen Forstwirtschaft nicht mehr verwendet würde oder nach Waldbränden übrigbliebe. Yerko (c23) bezieht Holzreste vom Sägewerk von Francisco sowie von Fällarbeiten in der Nähe und macht aus den Resten Brennholzbündel, die er in Galvarino, aber auch an ein Geschäft in Temuco für 1.200 Pesos – umgerechnet etwa 1,30 Euro – verkauft. Auch andere Bewohner*innen (a13; a14; a16; c20; c23) berichten, dass es eine verbreitete Praxis sei, geringe Mengen an Brennholz aus den Plantagen zu holen oder das übrige Restholz nach einer großen Ernte aufzulesen. Auch eine Gruppe Jugendlicher (c20), die in der Stadt Galvarino Brennholz hacken, erklärt, dass sie ihr Holz aus abgeernteten Plantagen der großen Forstunternehmen oder der fundos holen und es dann für den eigenen Heizbedarf im Winter verwenden. Dafür müssten sie allerdings vorher immer eine Erlaubnis beim Besitzer der Forstplantage einholen, sonst würden sie gleich wegen Holzdiebstahl festgenommen, meint einer von ihnen (c20). Es würde gleichzeitig dennoch viel Holz aus den Plantagen gestohlen, behauptet ein anderer im gleichen Interview (c20). Sie selbst hätten einen guten Kontakt ( »tengo pituto«), deshalb könnten sie an große Mengen Holz gelangen.

Allerdings lassen sich zwischen Forstindustrie und bedarfsökonomischen Akteure auch direkte wirtschaftliche Verflechtungsverhältnisse feststellen (Quiñones 2012: 151). Wie oben schon dargelegt haben in Galvarino in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur die großen Unternehmen, sondern auch die kleinen Landbesitzer*innen damit begonnen, exotische Baumarten zu pflanzen. Claudio (c19), der heute eine Fleischerei im Zentrum Galvarinos betreibt, hat auf seinem Land von 15 Hektar außerhalb der Stadt fast nur Eukalyptus gepflanzt. Jetzt wartet er, bis die Bäume groß genug sind, um sie an einen Zwischenhändler zu verkaufen. Das sei sein Ersparnis fürs Alter, wenn er nicht mehr arbeiten könne, so Claudio (c19). Juan (a12) – ein früherer Gemeindemitarbeiter – erklärt, dass diese kleinen Investitionen in Forstplantagen keine unübliche Praktik sei:

»die kleinen Landbesitzer, auch die Mapuche, beteiligen sich an dem ganzen Wirbel des Forstthemas. Klar, es gab einen Moment bis vor ein paar Jahren, da haben selbst die staatlichen Institutionen der Regierung für diese exotischen Forstplantagen Werbung gemacht. Da haben dann viele Leute Plantagen gepflanzt und manche machen das immer noch. Weil … klar, wenn du Geld verdienen willst, liegt das sehr nahe.« (a12: 2)

Das Holz aus den eigenen Plantagen wird von den kleinen Landbesitzer*innen dann je nach Umfang für den eigenen Bedarf – vor allem zum Heizen – oder als Ersparnis für die Zukunft genutzt. Der Verkauf einer Holzernte läuft über Zwischenhändler, die das Holz dann weiter an die Zellstoffindustrie veräußern. In anderen Fällen verpachteten Besitzer*innen kleinerer Landbesitze ihren Boden allerdings auch direkt an Forstunternehmen und migrierten selbst in die Städte. Einige – wie der Nicht-Mapuche Reinaldo (a13) – sehen darin ein gutes Geschäftsmodell. Wie Juan (a12), bestätigen auch andere Mapuche (a10; a16; a38), dass das Pflanzen schnell wachsender Baumarten auch in einigen comunidades Verbreitung gefunden hätte. Lautaro deutet – bei einem Besuch verschiedener comunidades in Galvarino – auf einen Landstrich, der einer comunidad gehöre und der mit einer »praktisch hundertprozentigen Subvention« komplett von der CONAF mit Eukalyptus bepflanzt wurde und deren Ernte später an Arauco oder Mininco verkauft würde (a38). Wesentlicher Grund für derartige Verflechtungen zwischen lokaler Bevölkerung, staatlichen Institutionen und Forstunternehmen sei die wirtschaftliche Alternativlosigkeit vor Ort, so Juan (a12): »klar, viele Leute machen da mit, weil es ja auch wenige Alternativen gibt, die wirklich unterstützt werden… Viele sehen einfach keine Alternative und pflanzen dann eine Plantage«. Die Folge sei, dass die comunidades von den großen Forstunternehmen »benutzt würden«, um die Industrie mit Holz zu versorgen, so Lautaro (a38). Die Mapuche würden ihre Flächen hier teilweise an die Forstunternehmen »verschenken«, indem sie sich mit Bonuszahlungen abfinden, die ihnen fünf Jahre lang gezahlt würden und für die sie im Gegenzug die Plantagen pflegen müssten, kritisiert Lautaro (a38). Hierbei kommt es allerdings – je nach Unternehmen – neben der klassischen Verpachtung zu verschiedenen Arrangements. Lautaro betont, dass keines dieser Arrangements, Eukalyptus oder Kiefern für die Forstunternehmen zu pflanzen oder pflanzen zu lassen, im Vergleich zur eigenen landwirtschaftlicher Nutzung rentabel sei (a38). Der Grund für die Alternativlosigkeit vor der manche comunidades stünden, liege in den mangelhaften staatlichen Rahmenbedingungen. Lautaro zeigt uns drei comunidades, die zusammengenommen eine Fläche über 1000 Hektar besitzen, die sie aber selbst nicht bewirtschafteten, weil ihnen die staatlichen Förderungspolitiken, Kredite und Marktzugänge fehlten, so Lautaro, der selbst eine Zeit lang in der Gemeinde Galvarinos arbeitete (a38). Sie verpachteten die Fläche deshalb an einen großen landwirtschaftlichen Betrieb, der dort unter anderem Weizen großflächig anbaut. Lautaro besteht darauf, dass die comunidades in dieser Region ausreichend Flächen hätten, die sie selbst mit Quinoa, Mais oder Weizen bebauen könnten, wenn sie dafür Kontakte zu vertrauenswürdigen Abnehmern hätten. Insgesamt lässt sich feststellen, dass kleine Landbesitzer*innen bis hin zu comunidades nicht nur ökologisch, sondern auch wirtschaftlich häufig mit der Forstindustrie verflochten sind.

Umkämpfte Verflechtung: territoriale Kontrolle der grupos territoriales

Während der Fahrt durch die Hügel Galvarinos kommen wir an einer großen gerodeten Fläche vorbei. Diese gehört zwar dem Forstunternehmen Masisa, allerdings hat seine comunidad die von Masisa beauftragten Erntemaschinen »herausgeworfen«, erzählt Lautaro (a38). Sie hätten zudem in Verhandlungen mit dem Unternehmen erzwungen, dass die Erntearbeiten künftig nicht mehr von Subunternehmen mit großer Maschinerie durchgeführt werden, sondern von den Mapuche der Umgebung und dadurch größere Zahlen an Arbeitsplätzen entstehen (a38). Mittlerweile übernimmt eine Mapuche-Gruppe die Fällarbeiten. Dies sei aber nur durch direkten Druck und Aktionen vonseiten der comunidades zustande gekommen, so Lautaro. Sie wollten dafür langfristig eine Kooperative bilden, seien bisher aber als »grupo territorial« (territoriale Gruppe) mit Mitgliedern aus unterschiedlichen comunidades des Territoriums Mañiuco organisiert (a39).Footnote 229 Ihre Aktivitäten funktionieren nicht wie ein Zuliefererunternehmen des Forstbereichs, da sie sich nicht an einer ökonomischen Rationalität ausrichten und keine Hierarchie zwischen Chef und Arbeiter*innen haben, sondern vielmehr nach politischen Motiven zusammenarbeiten, erklärt Lautaro (a39). Dabei handelt es sich allerdings nicht um die einzige grupo territorial in der Kommune und Masisa sei neben Venturelli, Mininco und Bosques Cautín auch nur eines von mehreren Unternehmen, das zur Zusammenarbeit gezwungen würde, so Lautaro weiter (a39).

Im benachbarten Territorium Ñielol, das nördlich an Mañiuco angrenzt, sind schon längere Zeit ähnliche Prozesse der erzwungenen Zusammenarbeit im Gange. Dort seien die comunidades allerdings »rebellischer«, da sie den Forstunternehmen nach der Ernte nicht erlaubten, wieder zu pflanzen, so Lautaro (a39). Dies bestätigt auch Aukan, der aus einer comunidad im Sektor Ñielol stammt (a15). Demgegenüber ließen die grupos territoriales in Mañiuco das Wiederbepflanzen durch die Unternehmen unter bestimmten Bedingungen zu (a39). Daran wird deutlich, dass die grupos territoriales sich vor Ort die territoriale Kontrolle aneignen und dadurch die grundlegende Entscheidungsmacht über die Nutzung der natürlichen Ressourcen vor Ort an sich reißen. Der selbsterklärte Status der grupos territoriales bedeutet dabei einerseits, dass sie keine Vorgaben seitens der Unternehmen auf ihrem Territorium akzeptierten, selbst wenn das Land formell dem Forstunternehmen gehörte, andererseits verdeutlicht die Organisationsform die völlig verschiedene Anspruchshaltung bezüglich der territorialen Kontrolle: die Gruppen erheben den Anspruch, zentrale Aktivitäten in den Territorien von Mañiuco und Ñielol zu regulieren. Gegenüber den Unternehmen begründet beispielsweise Lautaro dieses Vorgehen damit, dass die Aktivitäten der Forstunternehmen auf dem Territorium ihrer comunidades stattfänden und diese deshalb von Beginn an illegitim seien (a39). Damit stellen sie de facto nicht nur staatlich garantiertes Privateigentum, sondern auch das Gewaltmonopol des chilenischen Staates in Frage.

Ein Mitglied der Kooperative aus Mañiuco (a39) erklärt, welche Vorgaben sie den Forstunternehmen für künftige Pflanzungen geben: Wenn sie in Mañiuco weiterhin Monokulturen anlegen wollten, müssten sie zumindest bestimmte Anteile der Gesamtfläche sowie rund um die Wasserquellen heimische Baumarten pflanzen und einen Abstand zwischen diesen und den Plantagen einhalten, damit im Falle von Waldbränden, diese nicht von den Plantagen auf die heimischen Baumbestände überspringen. Unter dem Verweis darauf, dass dieses Gebiet zum Territorium ihrer comunidad gehöre, zwingen sie die Unternehmen – in diesem Fall Forestal Arauco und Masisa –, durch aktiven Druck, sei es durch die Blockade von Fällarbeiten oder von Wegen, ihre Konditionen darüber auf, wie die Unternehmen pflanzen und ernten sollen (a39).Footnote 230 Auch geht es darum, dass ein größerer Teil von den Einnahmen der Forstwirtschaft vor Ort bei der lokalen Bevölkerung bleibt. Bisher seien sie einfach nur die billige Arbeitskraft des Sektors, die die »dreckige Arbeit« machen müsste, so das oben zitierte Kooperativenmitglied (a39). Künftig ginge es damit zudem um ein »würdigen Lohn« für ihre Arbeit. Auch wollen sie die Forstunternehmen dazu zwingen, die Wege vor Ort instand zu halten (a39). Die jüngeren Generationen spielen dabei eine zentrale Rolle, weil sie sich weitaus mehr als die älteren Generationen trauten, auf ihre Ansprüche zu bestehen, so der Mapuche (a39). Gleichzeitig seien die meisten Bewohner*innen der comunidades von den Forstunternehmen eingeschüchtert.

Das langfristige Ziel der entstehenden Kooperative sei es, die Forstaktivitäten in im Territorium der comunidad insgesamt zu verwalten, so der oben zitierte Kooperativen-Mitarbeiter (a39). Das bedeutet auch, dass sie künftig bestimmen wollen, wie viele Plantagen künftig überhaupt neu gepflanzt werden sollen und wo vielmehr die Landnutzung umgewandelt und in Zukunft Nahrungsmittel produziert oder Viehhaltung möglich werden soll. Auch gehe es darum, andere Käufer*innen als die großen Forstunternehmen zu finden, mit denen sich ein besserer Preis verhandeln ließe sowie darum, das Holz selbst weiterzuverarbeiten und eigene Sägewerke zu errichten, so Lautaro (a10). Dabei seien sie auch schon mit befreundeten lokalen Unternehmern im Kontakt, die das Kapital einbrächten, während die Kooperative die Arbeitskraft bereitstellen würde, so Lautaro weiter (a10). Die comunidades sind vor allem für Marktzugänge auf gute Kontakte zur Wirtschaftswelt außerhalb angewiesen, so Lautaro:

»aus wirtschaftlicher Sicht, […] bräuchten wir vor allem Investoren, gute Kontakte. […] Die Welt braucht heutzutage Nahrungsmittel und wir können die perfekt produzieren, weil wir Land haben. Sehr gerne würden wir uns mit einem ausländischen Investor treffen, der mit uns arbeiten will […]. Ein Kapitalist, der uns sagt, hier habt ihr Geld, produziert damit etwas und wir verkaufen das gemeinsam.« (a10)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die comunidades über Arbeitskraft verfügen, ihnen allerdings das Startkapital und Marktzugänge für ihre wirtschaftlichen Initiativen fehlen. Um sich diese anzueignen, setzen sie mittels direkten Aktionen vor Ort ihre territoriale Kontrolle über die lokalen wirtschaftlichen und ökologischen Kreisläufe durch. Bestehende große Plantagen sollen dabei weiter dem Export dienen, der allerdings direkt durch die Mapuche selbst abgewickelt werden müsse, so Lautaro (a10). Die Hügelflächen wollen die Kooperativen-Mitglieder (a39) langfristig jedoch wieder mit heimischen Baumarten bepflanzen. Nur kleine Flächen könnten weiterhin mit schnell wachsenden Arten bepflanzt werden, die dann nicht mehr dem Export, sondern dem heimischen Bedarf – beispielsweise für das Heizen – dienen würden. Ein Weiter-So der Nachbarschaft zwischen der comunidad und den großen Forstunternehmen in der bisherigen Form sei nicht möglich (a39).

Auch an anderen Orten ist die territoriale Kontrolle der Mapuche fortgeschritten. So erzählen Aukan und Lautaro von einer weiteren kämpferischen comunidad in Galvarino. Rund 45 Familien hätten in dieser in mehreren Schritten ab 1997 Land eines regionalen Forstunternehmens besetzt, so Aukan (a15). Nach langen und schwierigen Konflikten besteht die comunidad vor Ort heute noch aus etwa 12 bis 15 Familien und hält Flächen von 1.800 bis 2.000 Hektar, die vorwiegend aus Forstplantagen bestehen, unter ihrer Kontrolle. Die Familien hätten mittlerweile begonnen, auf dem besetzten Land Vieh zu halten und Lebensmittel anzubauen, erklären Lautaro und Aukan (a10; a15). Auf diese Weise nutzt die comunidad die Flächen des Forstunternehmen landwirtschaftlich: sei es im Rahmen der Viehzucht, des Sammelns von Heilkräutern oder Früchten sowie der Entnahme von Wasser. Ohne ein derartiges informelles Mitnutzen der Plantagen sei die lokale Ökonomie in Galvarino heute völlig unmöglich, so Lautaro (a10).

Auch würde im geschilderten Fall in kooperativer Arbeit gemeinsam versucht, ein Bewässerungssystem zu errichten und durch die Entfernung der Forstplantagen die Erholung der Wasserquellen zu ermöglichen, berichtet Aukan (a15). Da das Wasser allerdings in höher gelegenen Lagen entspringt, wo sich ebenfalls Forstplantagen befinden, käme unten kaum Wasser an. Einmal seien sie mit Motorsägen in die Berge gewandert und hätten Holz geschlagen. Danach hätte sich die Lage verbessert, so Aukan (a15). Das betreffende Unternehmen ließe die comunidad auch deshalb gewähren, weil es versucht, eine Politik der buena vecindad (Politik der guten Nachbarschaft) umzusetzen, die unter anderem im Rahmen der FSC Zertifizierung verlangt wird, so Lautaro (a10). Aktuell ist die comunidad damit beschäftigt, in der Plantage die Fällarbeiten durchzuführen und eine Kooperative zu gründen:

»Derzeit schaffen wir einen Mapuche-Betrieb für die Ernte und Kooperativen, die die Plantagen ernten können. […] Wir sagen ihnen [den Forstunternehmen – J.G.], ohne uns wird es keine Ernte geben … wir machen ihnen die Tür vor der Nase zu. Also sagen sie uns: ok, erntet ihr das für uns ab. Das haben wir gemacht und die ganzen Einnahmen kommen jetzt der comunidad zugute … natürlich gute Einnahmen, weil wir einen Preis oberhalb des Marktpreises rausgehandelt haben.« (a10)

Mit dem ehemaligen Eigentümer des besetzten Gebietes war die comunidad ursprünglich übereingekommen, dass er das Land an die CONADI verkaufe, damit diese die Flächen der comunidad zur Verfügung stellen würde. Allerdings hätte der Eigentümer die Plantage dann an das Unternehmen Venturelli verkauft, als die Holzernte fällig wurde. Dieser kann aber nun das Holz nicht ernten, weil die Mapuche vor Ort dies nicht zulassen. Dadurch befindet sich die comunidad nun in einem offenen Konflikt mit Venturelli, berichteten die Interviewten übereinstimmend (a10; a15). Weil das Gebiet der Plantage nur über den Weg durch die comunidad zu erreichen sei, kontrolliere diese den Zugang und nütze dies als Druckmittel, so die Interviewten. Aukan, der Teil dieser kämpferischen comunidad ist, sagt im Interview:

»…wir haben die territoriale Kontrolle auf diesen zwei fundos. Deswegen müssen sie bei egal welcher Sache, die sie da machen wollen, von uns die Erlaubnis dafür kriegen. Wenn sie Maschinen reinbringen wollen zum Beispiel oder wenn sie Bäume transportieren wollen, dann müssen sie dafür unsere Erlaubnis haben.« (a15)

In anderen Fällen versuchen die Mapuche, Pflanzungen der Forstunternehmen von Beginn an zu verhindern. Tania (a15) erzählt, dass ihre comunidad, wenn in den nahe gelegenen fundos Forstplantagen angelegt werden, manchmal zu den lokalen Großgrundbesitzer*innen fahren, sie auffordern das Pflanzen einzustellen und damit drohen, andernfalls die Jungpflanzen direkt wieder auszureißen. Lautaro (a10) berichtet, dass die genannte comunidad immer wieder auch Arbeiten des Unternehmens Forestal Mininco blockiert. Bei Mininco seien sie allerdings weniger erfolgreich gewesen, da das Unternehmen sie direkt mit Gerichtsprozessen wegen Nötigung überschüttete.Footnote 231 In anderen Fällen, wo die Fällarbeiten durchgeführt wurden, versuchen Mapuche neue Pflanzungen zu verhindern, wobei es immer wieder zu gewaltvollen Zusammenstößen mit staatlichen Sicherheitskräften käme (a10). Gleichzeitig betont Lautaro, dass derartige Auseinandersetzungen in Galvarino immer größere Verbreitung fänden und oft auch erfolgreich seien:

»es gibt viele comunidades, die sich heute trauen, die Arbeit eines Forstunternehmens zu blockieren und es gibt viele Gebiete, die in der Kommune besetzt werden und wo wir verhindern konnten, dass die Forstunternehmen nach der Ernte wieder Plantagen pflanzen.« (a10)

Dabei ginge es darum, wieder eine economía mapuche aufzubauen, berichtet Lautaro (a10), der früher eine Zeit lang selbst in die Stadt migriert war und mittlerweile wieder auf dem Land lebt. Es müssten Wege gefunden werden, wie einerseits die economía mapuche selbständig bestehen und andererseits institutionell, rechtlich und ökonomisch in die chilenische Gesellschaft integriert sein kann. Derzeit verwalte er als Vorsitzender einer lokalen kooperativen Mapuche-Bank mit dem Namen Banche jährlich über 500.000 US-Dollar für unterschiedliche Mapuche-Gruppen (a10). Die Bank wurde 2015 gegründet. Dabei gehe es darum, dass die Mapuche an die produktiven Ressourcen kommen könnten, die sie für ihre Arbeit brauchen. Die Bank verleiht aber nicht nur Geld, sondern auch Saatgut und sei selbst am Anbau von Weizen, Hafer, Bohnen und Kartoffeln beteiligt, so der Interviewte (a10). Nach der Ernte würden die Bezuschussten das Saatgut wieder an die Bank zurückgeben und könnten 75 Prozent der gesamten Ernte behalten. Dadurch würde die landwirtschaftliche Produktion in hohem Maße subventioniert. Im Jahr 2016 hatte die Bank nur 40 Mitglieder, im Jahr darauf waren es schon rund 400, wovon eine Minderheit auch Nicht-Mapuche sind. Der Finanzumfang der Bank beläuft sich mittlerweile auf rund 44 Millionen chilenische Pesos.Footnote 232 Die Bank hat auch internationale Kontakte aufgebaut und wird unter anderem von sozialen Organisationen in Deutschland unterstützt. Derartige Kontakte wollen sie auch künftig ausbauen – so Lautaro (a10). Er könne sich beispielsweise vorstellen, angesichts der attraktiven Landschaft vor Ort mit Geld von außerhalb Hotelkomplexe zu errichten, insofern sie dann von den Mapuche verwaltet würden. Für derartige wirtschaftliche Aktivitäten biete sich die Form der Kooperative an, so Lautaro:

»Wir Mapuche haben immer miteinander zusammengearbeitet. Der kooperative Geist ist Teil unserer Kultur. […] Wir haben das sowieso immer gemacht. […] Deshalb ist eine Kooperative nur von einem legalen Standpunkt aus wichtig für uns … wenn ich Bohnen herstelle, muss ich sie eben auch verkaufen und dafür brauche ich legale Papiere […] die Kooperative entspricht eben dem institutionellen chilenischen Rahmen.« (a10)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die lokalen bedarfswirtschaftlichen Akteure in Form der grupos territoriales und der comunidades versuchen, mittels territorialer Kontrolle die Bedingungen der ökologischen und ökonomischen Verflechtung mit den Forstunternehmen zu kontrollieren und letzteren dabei die Konditionen zu diktieren. Ziel ist es dabei, nicht nur an dem im kapitalistischen Sektor erwirtschafteten Reichtum teilzuhaben, sondern auch, die lokale economía mapuche zu stärken. Mittels dieser konfliktorientierten Aneignung der territorialen Kontrolle über ein betreffendes Gebiet will eine Reihe von comunidades langfristig erreichen, dass ihnen Teile des Landes offiziell überschrieben werden, so Lautaro (a10). Insgesamt wird in Galvarino deutlich, dass die ländliche Bedarfsökonomie äußerst prekär ist und lediglich auf sichere Beine gestellt werden kann, wenn den Forstunternehmen in größerem Maße Ressourcen oder Verflechtungen abgetrotzt werden.

Wie im Folgenden deutlich wird, gehen die bedarfsökonomischen Praktiken der Mapuche und ihre Kämpfe um Verflechtungen auch mit spezifischen Formen der Artikulation im Bereich des Politischen einher. Dies gilt – wie wir bereits gesehen haben – beispielsweise für die Frage der Integration in die legal vorgegebenen Abläufe staatlicher Wirtschaftsregulation mittels Kooperativen. Derzeit hoffen politisch aktive Mapuche in Galvarino zudem darauf, mittels der offiziellen Gründung einer Kooperative eine Förderung bei der staatlichen Behörde CORFO zu erhalten. Außerdem würden sie aktuell beantragen, dass die Mapuche-Unternehmen keine oder kaum Steuern abführen müssten oder dass die gezahlten Steuern zumindest für Förderpolitiken für Mapuche in der Region verwandt würden, so Lautaro (a10). Wie im Folgenden deutlich wird, ist die Regulation der Bedarfsökonomie in Galvarino ebenfalls ein umkämpftes Feld.

Umkämpfte Artikulation: Die Mapuche im Staat

Die comunidades, die sich dem Prozess der Wiederaneignung ihres Landes verschrieben haben, stünden – so Lautaro (a10) – mittels der Organisation coordinación de comunidades en reivindicación territorial miteinander in engem Kontakt. Diese politische Organisation unterstützte auch den ersten Mapuche-Bürgermeister in der Geschichte Galvarinos. Der Mapuche Fernando Huaiquil Paillal bekleidete das Amt von 2012 bis 2016. Damit arbeiten die politisch aktiven Mapuche in Galvarino keineswegs nur außerhalb der staatlichen Institutionen, sondern nutzen diese »Räume der Macht« soweit es geht für sich, erzählt Lautaro im Interview (a10). Zuvor hätten die Bewohner*innen meist Kandidat*innen der politischen Rechten gewählt, die von außerhalb kamen und von denen in der über 130 jährigen Geschichte Galvarinos kein einziger ein Mapuche gewesen sei, wie Lautaro und Arón übereinstimmend berichten (a10; c7).

Aufgrund der Bürgermeisterschaft des Huaiquil, die mit dieser koloniale Kontinuität vorübergehend brach, kam Galvarino zwischenzeitlich sogar internationale Aufmerksamkeit zu. Europäische Botschafter*innen und Repräsentant*innen europäischer Botschaften besuchten im Zuge einer Reise durch den Süden Chiles Anfang 2014 Galvarino. Dabei waren sie auch zu Gast bei einigen comunidades der Kommune. Während des Aufenthalts kam es zu längeren Gesprächen mit dem Bürgermeister Huaiquil und einigen seiner Mitarbeiter*innen sowie den lonkos der comunidades und anderen traditionellen Autoritäten der Mapuche. Thema dabei war nicht nur das Engagement der durch einen Mapuche regierten Gemeinde für eine Wiederaneignung der Mapuche-Kultur und -Sprache, sondern auch die Probleme wie Wasser- und Landmangel im Zusammenhang mit den Forstplantagen sowie den Bemühungen der »wirtschaftlichen Entwicklung« vor Ort. Darunter fanden auch Gespräche über die Förderung von Kooperativen wie etwa die angesprochen Mapuche-Bank Banche sowie die Gründung einer Kooperative durch Frauen, die das traditionelle Mapuche-Gewürz merkén herstellten und nach Kontakten für den Export ihrer Produkte suchten, statt.Footnote 233 Am Umgang der Gemeinde, der Kooperativen und wirtschaftlichen Initiativen sowie der traditionellen Autoritäten mit dem Besuch der europäischen Delegation wird deutlich, für wie wichtig die internationalen Kontakte von den Mapuche Galvarinos politisch und wirtschaftlich gehalten werden.

Auch vor Ort eröffneten sich unter dem Bürgermeister Huaiquil für die Mapuche zwischenzeitlich neue Möglichkeiten. Im Rahmen des neuen kommunalen Entwicklungsplanes (PLADECO) wurde damals die Förderung der kleinbetrieblichen, auf den Anbau von Kiefern und Eukalyptus ausgerichteten Forstwirtschaft eingestellt, so Arón (c7). Ab diesem Zeitpunkt war Galvarino keine »comuna forestal« (Forstkommune) mehr, sondern strebte eine wirtschaftliche Diversifizierung an, so der Interviewte (c7). Heute würden in der Baumschule heimische Baumarten und Medizinpflanzen gezüchtet (c7). María (c9) erzählt, dass damals auch ihre Organisation der artesanía-Kunsthandwerker*innen vom Mapuche-Bürgermeister unterstützt wurde. Florentina (c16) ergänzt, dass der Bürgermeister Huaiquil den artesanía-Produzent*innen beispielsweise einen Laden im Stadtzentrum zur Verfügung gestellt hätte, in dem sie ihre Produkte verkaufen konnten. Wie der ehemalige Gemeindemitarbeiter Sergio (a11) erklärt, wurde nicht nur ein wirtschaftliches Umsteuern und der Bau eines lokalen Krankenhauses, das an die traditionellen Behandlungsformen der Mapuche angepasst sei, initiiert. Darüber hinaus gebe es in den Schulen nun neue Unterrichtsfächer, darunter eines der ökologischen Bildung sowie ein weiteres, in dem die Mapuche-Sprache Mapudungun unterrichtet wird. Ziel sei dabei laut Sergio auch, den Widerspruch zwischen der Lebensweise der Mapuche und derjenigen deutlich zu machen, die die Forstindustrie repräsentiert. Das Engagement innerhalb der bürgerlichen politischen Institutionen eröffnete den Mapuche folglich politische Möglichkeiten, die sie vorher nicht hatten.Footnote 234 Gleichzeitig gehe es den politisch aktiven Mapuche in Galvarino aber hauptsächlich darum, die eigenen Mapuche-Organisationen zu stärken und weniger darum, den Staat in die comunidades zu verankern, so Lautaro im Interview (a10). Langfristiges Ziel sei, dass die Mapuche ihre ganz eigene Regierung mit ihren eigenen Institutionen in ihrem Territorium errichteten und dass Mapudungun als offizielle Sprache anerkannt würde sowie dass die Forstunternehmen aus dem Territorium verschwinden, so Lautaro (a10).

Allerdings hatte die öffentliche Sichtbarkeit und offizielle Verantwortung, die mit der Teilnahme an den staatlichen politischen Institutionen einherging und durch die das gleichzeitige Engagement für die Wiederaneignung des Territoriums gesteigert wurde, auch negative Auswirkungen. So sind die politisch aktiven Mapuche – wie Lautaro – in Galvarino von zunehmender Kriminalisierung betroffen: »Gegen mich laufen derzeit fünf gerichtliche Verfahren […]. Als wichtigster Mann an der Seite des Bürgermeisters und Kabinettschef wird mir vorgeworfen, die territoriale Wiederaneignung zu unterstützen […]«, erklärt Lautaro (a10). Weil er auch innerhalb der offiziellen Institutionen die politische Strategie der Organisationen der comunidades vorantreibt, habe er sich viele Feinde gemacht:

»Mir wird die Anstiftung zur Gewalt vorgeworfen. […] Ich spreche immer noch die gleiche politische Sprache, die ich auch außerhalb der Institutionen in den Organisationen gesprochen habe, dass es eben um die Wiederaneignung des Landes geht und darum, dass die Forstunternehmen gehen […].« (a10)

In der Folge laufen die Mapuche im Rahmen von kämpferische Formen der Konfliktaustragung immer Gefahr, Repressionen ausgesetzt zu sein. So betont Nahuel (a9), dass er sehr vorsichtig geworden sei, Konflikte einzugehen, weil er Kinder und Familie habe und nicht zehn Jahre seines Lebens im Gefängnis verlieren wolle. Aukan (a15) berichtet davon, dass er mit Mapuche aus anderen comunidades kaum Telefonkontakt habe und er aus Furcht vor Überwachung ihrer Handygespräche durch die Strafverfolgungsbehörden stets das mündliche Gespräch suche. Diese Gefahren der staatlichen Repression steigerten sich noch seit im Jahr 2016 in Galvarino wieder ein Bürgermeister gewählt wurde, der nicht den Mapuche angehört. Im Frühjahr 2019 wurden dann zentrale Mitarbeiter*innen des ehemaligen Mapuche-Bürgermeisters Huaiquil inhaftiert. Während die Staatsanwaltschaft ihnen bewaffneten Raub zur Last legte und ihnen eine über zehnjährige Gefängnisstrafe androhte,Footnote 235 behaupten die Mapuche, sie seien aus politischen Gründen inhaftiert worden. So heißt es in der Erklärung eines der Inhaftierten: »am 25. April [2019 – J.G.] […] drangen Spezialkräfte der Polizei gewaltvoll in unser lof ein, zerstörten Häuser unserer Familien und inhaftierten mich.«Footnote 236

Neben den Festnahmen kam es mit dem neuen Bürgermeister auf kommunaler Ebene auch zu Veränderungen, die die wirtschaftliche Regulierung betreffen. Förderungsprogramme wurden beendet, ferias fanden kaum mehr statt und der Laden für artesanía im Stadtzentrum wurde geschlossen – bezeugen mehrere Interviewte (c8; c9; c16). Damit endete eine politische Phase in Galvarino, in der die Mapuche auch innerhalb der staatlichen Institutionen ihre kulturellen und die bedarfsökonomischen Praktiken vor Ort stärken konnten. Trotz der Repressionen und der teilweise eingestellten Förderungen bedarfswirtschaftlicher Aktivitäten scheinen die politischen Politisierungsprozesse von unten in Galvarino allerdings nachhaltig in Gang gekommen zu sein. Das gilt nicht nur für kämpferische Mapuche-Gruppen. Florentina (c16) erzählt beispielsweise von einer ökologischen Organisation, die sich in Galvarino gegründet habe und sich derzeit dem Thema der Waldbrände und des Wassermangels widme. Im Oktober 2019 kam es während des estallido social zudem zu großen Demonstrationen und einer gemeinsamen politischen Artikulation der sozialen und ökologischen Probleme der Mapuche sowie der Nicht-Mapuche in Galvarino, die Arón mit folgenden Worten beschrieb:

»Galvarino hat sich wie nie zuvor vereint, um seine Würde in allen Bereichen des alltäglichen Lebens einzufordern. Es finden friedliche politische Aktionen wie Demonstrationen und kulturelle Treffen in öffentlichen Räumen statt, aber auch direkte Aktionen wie die Blockade von Straßen. Im Allgemeinen fordert Galvarino bessere Lebensbedingungen und eine verfassungsmäßige Anerkennung der Mapuche.«Footnote 237

Zusammenfassend lässt sich am Fall von Galvarino feststellen, dass es zu einer Vielzahl bedarfsökonomischer Praktiken kommt und insbesondere die landwirtschaftlichen Aktivitäten eine große Rolle in der sozialen Reproduktion der Mehrheit der Menschen in Stadt und Land der Kommune Galvarinos spielen. Die Expansion der Forstindustrie hat jedoch zur Prekarität der bedarfsökonomischen Praktiken in Galvarino beigetragen. Dieser Untergrabung der Reproduktionsbedingungen der einfachen Bevölkerung stehen jedoch kaum Beschäftigungsmöglichkeiten im Forstbereich gegenüber. Es kommt in der Folge nur in sehr geringem Maße zu wirtschaftlichen Verflechtungen über den Arbeitsmarkt. Im Gegensatz dazu werden wirtschaftliche Verflechtungen in Galvarino durch grupos territoriales von unten erkämpft. Damit wollen die comunidades nicht nur an den Erlösen des kapitalistischen Sektors teilhaben, sondern auch ihre bedarfsökonomischen Praktiken auf stabilere Beine stellen, indem sie den Forstunternehmen Ressourcen und Zugeständnisse abtrotzen. Damit wir einerseits deutlich, dass eine stabile Bedarfsökonomie in Galvarino mehr Ressourcen – insbesondere Land, Wasser und Marktzugänge – benötigt, andererseits, dass diese nur im Konflikt mit der Forstindustrie erklangt werden können. Die treibende Kraft auf Seiten des bedarfsökonomischen Sektors stellen dabei die Organisationen der Mapuche dar. Diese nutzen dabei auch Möglichkeiten der politischen Regulation mittels der offizieller Institutionen, um bedarfsökonomische Praktiken vor Ort zu stärken. In der Folge erleiden sie allerdings verstärkte Repression seitens des chilenischen Staates. Im Kontrast zu diesen Kämpfen für den bedarfsökonomischen Sektor und den konfliktreichen Verflechtungen in Galvarino stehen wirtschaftliche Verflechtungen, die die Konfliktivität von Beginn an abmildern. Dies wird im Folgenden kurz am Fall von Cholchol dargelegt.

4.4.2 Cholchol – Komplizenschaft der comunidades?

Das »Land der Disteln« – so die übertragene Bedeutung des Namens der Kommune Cholchol in Mapudungun – liegt unweit nordöstlich der regionalen Hauptstadt Temuco in der Region La Araucanía. Es ist ein hügeliges Land, geprägt von kleinbäuerlichen Parzellen und großen Forstplantagen. Von den über 11.600 Einwohner*innen gehören über 75 Prozent den indigenen Mapuche an.Footnote 238 Ein überwiegender Teil der Beschäftigung findet in der Kommune informell statt (Enama 2017: 5). Die meisten Menschen arbeiten als Selbständige in kleinen Geschäften, dem Handwerk (artesanía) sowie in der Landwirtschaft und nur wenige der kleinen Betriebe haben überhaupt dauerhaft Beschäftigte (ebd.: 5 f., 8). Die Mapuche-Familien mit ihren kleinen Ländereien produzieren in Cholchol vorwiegend für den Eigenbedarf und verkaufen ihren Überschuss. Die Ausrichtung auf den Verkauf wird dabei von der Gemeinde explizit gefördert, teilweise auch unter dem Dach von neu entstehenden Vereinigungen von Produzent*innen, so Andrés, ein Mitarbeiter der Gemeinde Cholchols (a20). Dabei werden beispielsweise Zusammenschlüsse von Erdbeerproduzent*innen unterstützt, um diesen bessere Marktzugänge im Rahmen größerer Produktionsvolumina zu ermöglichen. Verkauft würde in den Städten der Region, teilweise aber auch in anderen Regionen. Auch kleine Landbesitzer*innen würden zudem in geringem Umfang Forstplantagen für die Selbstversorgung mit Feuerholz und für das Herstellen von Kohlen anlegen, so der Gemeindemitarbeiter (a20).

Genauso wie in Galvarino kontrolliert die Forstwirtschaft auch in Cholchol einen großen Teil der Fläche der Kommune. Laut Andrés (a20) hätte die Forstwirtschaft im späten 20. Jahrhundert die heimischen Wälder der Kommune durch Plantagen aus Kiefern und Eukalyptus ersetzt. Heute seien hier vor allem zwei Forstunternehmen tätig: Forestal Mininco und das aus der Region stammende Bosques Cautín. Der Gemeindemitarbeiter zeigt auf eine Karte in seinem Büro, auf der zu sehen ist, dass die beiden Forstunternehmen schätzungsweise mehr als ein Drittel der gesamten Fläche der Kommune ihr Eigen nennen. Diese Plantagenfläche dehnt sich vollständig und nahezu ununterbrochen durch andere Flächennutzungen, Grundstücke und Bewohner*innen über den gesamten Westen der Kommune aus (a20). Tahiel (a22), ein Mapuche, der in Cholchol lebt, erklärt, dass es deshalb kaum zu alltäglichen Kontakten zwischen der ländlichen Bevölkerung und den Betreiber*innen der Forstplantagen komme:

»Mit wem sollten wir denn sprechen? Mit den Bäumen? Die Eigentümer sind doch nie da. Die leben in Europa oder so, wer weiß? Es gibt einen Wächter, der aufpasst, aber alle wissen, dass der nichts zu sagen hat.« (a22)

Größere Auseinandersetzungen der lokalen Bevölkerung mit der Forstindustrie gebe es hier allerdings kaum, betont Andrés (a20). Es käme lediglich zu vereinzelten Konflikten wegen der bestehenden Wasserknappheit. Auch diese Auseinandersetzungen seien aber keinesfalls vergleichbar mit denen in Ercilla oder in Galvarino. Grund für die geringe Konfliktivität sei laut Andrés (a20) vor allem, dass hier insbesondere zwei Forstunternehmen eine relevante Rolle spielten, die eine intensive Politik der guten Nachbarschaft betreiben, welche zu einem guten Verhältnis der comunidades zur Forstindustrie führte. Beispielsweise bevorzuge Forestal Mininco einige der lokalen comunidades, wenn es darum ginge, Arbeit zu vergeben. Sie würden es der ländlichen Bevölkerung zudem häufig erlauben, Heilkräuter in den Plantagen zu sammeln und einigen comunidades den Zugang zu Wasserquellen und Weideflächen ermöglichen, wie auch Tahiel im Interview bestätigt (a20; a22). Auch würde Mininco Straßen erneuern und Brücken reparieren, so Andrés (a20: 3). Dennoch betont er, dass es ihm – wie vielen in Cholchol – lieber wäre, es gäbe hier keine oder weniger Forstplantagen und die Flächen würden landwirtschaftlich genutzt. Das wäre besser für die Menschen hier, aber auch für die Biodiversität (a20).

Die geringere Konfliktivität zwischen Mapuche und Forstindustrie scheint in Cholchol unter anderem mit engeren wirtschaftlichen Verflechtungen zu tun zu haben. Eine besondere Form dieser wirtschaftlichen Verflechtung zwischen ländlichen Haushalten und Forstindustrie findet durch das regional wichtige Unternehmen Bosques Cautín statt. Das Forstunternehmen richtet sich seit Oktober 2007 mit einem speziellen Programm an Mapuche mit Landbesitz in Cholchol und dem südlicher gelegenen Nueva Imperial. Dabei forstet Bosques Cautín die kleinen Grundstücke der Mapuche für diese auf und teile sich schließlich den Erlös mit ihnen. Laut den Schilderungen von Wolf von Appen – dem Besitzer von Bosques Cautín –, betreibe das Unternehmen die Plantagen im Rahmen des Programms von Beginn an, das heißt, ab der chemischen Bodenbehandlung sowie dem Pflanzen, der Zertifizierung mit dem FSC-Siegel, aber auch bezüglich möglicher Subventionen, die dabei nach DL 701 über die CONAF staatlicherseits bezogen werden. Die Pflege der Plantagen sowie die Ernte wird ebenfalls von Bosques Cautín übernommen. Schließlich würde die Ernte – im Falle von Eukalyptusplantagen nach 12 Jahren – zwischen Landbesitzer*innen und Unternehmen geteilt. Dabei könne der/die Landbesitzer*in 40 Prozent der Ernte selbst aussuchen und selbständig weiterverkaufen oder -nutzen. Es ginge dabei – nach Unternehmensangaben – um degradierte, ungenutzte Böden und Mapuche-Familien, die sich sonst durch Viehhaltung und kleinbäuerliche Landwirtschaft über Wasser hielten.Footnote 239

Lautraro (a38) aus Galvarino kritisiert derartige Arrangements zwischen Mapuche und Forstindustrie, da die Unternehmen das Land der comunidades damit völlig in Eigenregie nutzten, ohne dass die comunidad, der die Fläche gehört, noch irgendwas mit dem Stück Land zu tun habe. Zudem bekämen die Besitzer*innen bei der Aufteilung des Erlöses seiner Meinung nach nicht den versprochenen Anteil (a38). Während sich die Mapuche, die die Verträge eingehen, ein monetäres Einkommen oder ein mögliches Erbe für ihre Kinder erhoffen, hat Bosques Cautín die Expansion ihrer Geschäftstätigkeiten über den eigenen Landbesitz hinaus im Blick. Gemeinsames Ziel solle es sein, die »Kleinbauern in forstwirtschaftliche Exporteure« zu verwandeln, die damit auch an der regionalen Wirtschaftsdynamik teilhaben könnten. Laut Wolf von Appen hätte das Unternehmen bis zum Jahr 2012 schon 170 Mapuche als Geschäftspartner*innen für eine Gesamtfläche von mehr als 1.500 Hektar gewonnen. Einige davon seien auch comunidades, die ihr Land über die CONADI erhalten hatten.Footnote 240 Von comunidades in Cholchol, die Teile ihres Landes mit Plantagen bepflanzten, berichtet auch Tahiel im Interview (a22). Demgegenüber bestreitet Andrés (a20) explizit, dass die comunidades in relevantem Maße Flächen zusammen mit Forstunternehmen bepflanzen würden. Diese unterschiedliche Wahrnehmung legt die Vermutung nahe, dass derartige Arrangements vor allem durch vereinzelte Mapuche-Familien eingegangen werden, die keinen engen Kontakt zu ihren comunidades oder zur Arbeit der Gemeinde pflegen und häufig in die Städte gezogen sind.

Aber nicht nur die Pacht- und Nutzungsverträge verbinden die kleinen Landbesitzer*innen Cholchols mit der Forstindustrie. Ignacio (a23) – ein Mapuche-Aktivist – berichtet von einem Mapuche-Unternehmen, das für die Forstunternehmen Arbeiten in den Plantagen der Kommune durchführe und Teil einer breiteren Kampagne der Gründung von Mapuche-Unternehmen in Cholchol sei. Es ginge in Cholchol darum, Mapuche zu »kapitalistischen Unternehmern« zu machen, betont Ignacio. Deshalb hätte der Staat auch die Gründung der ENAMA – Encuentro Nacional Mapuche – unterstützt, die eine Vereinigung der Mapuche-Unternehmen darstellt. Die Verflechtung zwischen Mapuche und Forstindustrie nimmt aber noch weitere Formen an. So treten die Großunternehmen in den comunidades als quasi-staatliche Akteure auf. Insgesamt gilt Cholchol unter den Mapuche als wenig kämpferisch. Das bestätigen auch Amancay und Tahiel – zwei Mapuche, die selbst in Cholchol leben (a21; a22). Juan (a12) aus Galvarino beschwert sich im Interview, dass die comunidades in Cholchol die Forstunternehmen auf ihrem Gebiet duldeten (a12: 7). Aukan (a15) erzählt, es gebe in Cholchol eine Reihe von comunidades, in denen Forstunternehmen Infrastrukturprojekte finanzierten und führt aus: »in Cholchol gibt es viel Komplizenschaft mit den Unternehmen« (a15: 23). Der leicht abwertende Ton einiger radikalerer Mapuche aus Galvarino gegenüber ihren Nachbar*innen aus Cholchol, die mit den Forstunternehmen kooperieren, ist nicht zu übersehen.

Zusammenfassend lässt sich in Cholchol eine engere wirtschaftliche Verflechtung zwischen den Forstunternehmen und den ländlichen Mapuche-Haushalten feststellen. Diese reicht von Pacht- und Nutzungsverträgen des Mapuche-Lands durch die Forstunternehmen über Nutzungsvereinbarungen zwischen comunidades und Eigentümern großer Forstplantagen bis zur Gründung von Klein(st)betrieben durch Mapuche, die für die Forstwirtschaft Fäll- und Transportarbeiten durchführen. Die Politik und insbesondere das Forstunternehmen Bosques Cautín möchte Mapuche-Haushalte in Exporteure forst- und landwirtschaftlicher Produkte verwandeln. Gleichzeitig ist aufgrund der geografischen Trennung der Landbesitzes, die sich aus einer relativ homogenen Flächen der großen Forstplantagen im Westen und kleinen Grundstücken der ländlichen Haushalte im restlichen Teil der Kommune ergibt, davon auszugehen, dass es in geringerem Maße zu kompetitiven ökologischen Verflechtungen zwischen Forstindustrie und ländlicher Bedarfsökonomie kommt. Die geringeren ökologischen und die stärkeren ökonomischen Verflechtungen tragen dazu bei, dass die Mapuche-Haushalte vereinzelter und weitaus weniger kämpferisch sind als in Galvarino, was ihnen den Vorwurf der »Komplizenschaft« mit den Forstunternehmen einbringt. Während in Cholchol dennoch die ländliche Bedarfswirtschaft eine bedeutende Rolle einnimmt, ist die Expansion der Forstindustrie in anderen Kommunen so weit fortgeschritten, dass es kaum noch zu landwirtschaftlichen Aktivitäten kommt. Dies wird im Folgenden im Falle von Curanilahue deutlich.

4.4.3 Curanilahue – Leben in der grünen Wüste

Abb. 4.8
figure 8

Curanilahue: Eine Stadt eingezwängt zwischen Forstplantagen – Eigene Aufnahme

Forstindustrie und Bedarfsökonomie in Curanilahue

Curanilahue liegt nordwestlich von Galvarino und Cholchol mitten in der Küstenkordillere (Abbildung 4.8). In der Kommune, die zur Region Biobío gehört, leben über 30.000 Menschen. Sie wohnen vorwiegend in der gleichnamigen Stadt Curanilahue. Diese entstand ursprünglich als Siedlung im Zuge des Steinkohleabbaus. Einst lebten hier indigene Lafkenche, die der Stadt ihren Namen gaben, der übersetzt »steinige Furt« bedeutet. Als die Spanier*innen das Gebiet eroberten, kam es auch hier zu schweren Kämpfen. Tausende Mapuche starben oder flohen. Dies ist einer der Gründe dafür, dass heute in Curanilahue kaum noch Mapuche leben. Laut offiziellen Angaben zählen sich heute nur rund 14 Prozent der Bewohner*innen der Kommune zu den Mapuche.Footnote 241

Im 20. Jahrhundert war Curanilahue durch die Landwirtschaft geprägt. Neben großen Latifundien gab es viele kleinbäuerliche Haushalte, die Kartoffeln, Bohnen und Weizen anbauten sowie große Viehherden auf weiten Grasflächen hielten. Auch damals fand aber schon Forstwirtschaft in der Kommune statt, die begleitend neben anderen Aktivitäten praktiziert wurde (Paredes 2019: 15). In den Jahren 1964/1965 waren dann schon 19 Prozent der Fläche mit Forstplantagen, aber auch noch 26 Prozent der Fläche der Kommune mit Urwald bedeckt. Zudem waren 18 Prozent Weidflächen und 15 Prozent wurden für den Ackerbau und sonstige Landwirtschaft genutzt (ebd.: 16). Die kleinbäuerlichen Haushalte, die teilweise an Großgrundbesitzer*innen gebunden und in anderen Fällen aber auch freie Bauernfamilien waren, produzierten vorwiegend für die Großgrundbesitzer*innen, für den Eigenbedarf sowie in einigen Fällen in gewissem Umfang auch für lokale Märkte (ebd.: 17).

Fährt man heute auf den langen Schotterstraßen durch die Hügel Curanilahues, ist von den alten landwirtschaftlichen Verhältnissen nichts mehr übrig. Vielmehr durchquert man in alle Himmelsrichtungen pausenlos riesige Plantagen aus Eukalyptus und Kiefern. Auf einer Forschungsreise nach Trongol Bajo im Süden Curanilahues kommen wir auf dem etwa 20 Kilometer langen Weg beispielsweise erst nach einer schier endlosen Fahrt durch Forstplantagen entlang des Flußes Trongol an ein paar wenigen kleinen Häuschen vorbei, um die herum ein kleines offenes Land liegt, das kleinbäuerlich genutzt wird. Die letzten verfügbaren Daten des Zensus von 2007 bestätigen den Eindruck, dass kleinbäuerliche Landwirtschaft in Curanilahue vollkommen an den Rand gedrängt wurde. 89 Prozent der gesamten Nutzfläche der Kommune waren schon 2007 mit Forstplantagen bedeckt.Footnote 242 Die wenigen Menschen, die geblieben sind, leben eingezwängt zwischen riesigen Flächen der Monokulturen aus Forstplantagen. Aber auch die wenigen übrigen landwirtschaftlichen Betriebe sind durch eine ungleiche Landverteilung gekennzeichnet. Betriebe unter 10 Hektar kommen nur auf 3,4 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche und die Betriebe mit Land zwischen 10 bis 50 Hektar auf weniger als 16 Prozent der Fläche. Der Großteil von fast 81 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche wird von Unternehmen mit über 50 Hektar Flächen betrieben.Footnote 243 Den Zahlen ist zu entnehmen, dass es in Curanilahue nicht nur hinsichtlich der Landnutzung, sondern auch bezüglich der Landverteilung in den letzten Jahrzehnten zu einer erheblichen Konzentration bei der großen Betrieben und Forstunternehmen gekommen ist.

Die ehemals ländliche Bevölkerung der Kommune ist in der Folge der Ausdehnung der Forstplantagen nahezu vollständig in die Stadt Curanilahue gezogen, die sich entlang des gleichnamigen Flusses erstreckt. Heute leben nur noch etwa 5 Prozent im ländlichen Raum, sagt Luis (d2), der in der Gemeinde Curanilahues beschäftigt ist und das kommunale Projekt UDEL, das für Unidad de Desarollo Economico Local (übers.: Einheit für die Entwicklung der lokalen Wirtschaft) steht, leitet. Diese Entwicklung bestätigt auch Pamela (d7), die einen kleinen Allzweckbedarfsladen an einer der Schotterpisten betreibt, die durch die Hügel führt. Sie verkauft Lebensmittel, Schreibwaren und Produkte des täglichen Bedarfs. Früher hätte sie hier in einem relativ großen Dorf gelebt, doch schon in ihrer Kindheit seien immer mehr Häuser leer gestanden, berichtet die Ende 30-Jährige. Die meisten, die noch nicht in die Stadt gezogen sind, würden heute kaum noch Landwirtschaft betreiben, kein Brot mehr selber backen und von Gelegenheitsjobs, die die Gemeinde vergibt, leben (d7). Auch ihr eigener Laden scheint kein boomendes Geschäft darzustellen, die meisten Regale sind fast leer, Wechselgeld hat sie gerade nicht und in den Gemüseboxen liegen lediglich zwei schwarz gewordene Bananen.

In der Stadt Curanilahue bewohnen die Menschen kleine Hütten, die sich an die steilen Hänge des Tals anschmiegen. Der Historiker Pedro (d3), der in Curanilahue lebt und eine NGO betreibt, berichtet im Interview, dass die Männer der Familien in den 1980er Jahren noch Arbeit in der aufkommenden Forstwirtschaft oder in den damals noch bestehenden Kohlebergwerken gefunden hätten. Frauen hingegen konnten abgesehen von einigen wenigen Dienstmädchen-Tätigkeiten kaum Arbeitsmöglichkeiten finden. Sie hätten in ihren kleinen städtischen Grundstücken deshalb Gärten angelegt und Hühner gehalten und hätten so informelle Märkte der Lebensmittelversorgung geschaffen (d3). Heute würden diese bäuerlichen Aktivitäten im urbanen Raum zwar abnehmen, ihnen käme aber weiterhin eine große Bedeutung zu, so Pedro. Unter den jüngeren Generationen gingen die kleinbäuerlichen Kontinuitäten heute allerdings verloren. Die jüngeren Bewohner*innen der Kommune würden sich auf staatliche Beschäftigungsprogramme verlassen. Dies seien schlecht bezahlte Übergangstätigkeiten wie beispielsweise das Reinigen von öffentlichen Plätzen und Straßen.Footnote 244 Zudem gebe es auch noch einen ganzen Bereich aus Klein(st)betrieben, der allerdings das enorme Pensum an Unterbeschäftigung in der Kommune auch nicht auffangen könnte, weil dafür die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen fehlte, so Pedro (d3).

In Bezug auf die Beschäftigungsstruktur würde die Wirtschaft der Kommune durch kleinbetriebliche Aktivitäten bestimmt. Selbständigkeit, Klein- und Kleinstunternehmen seien die Basis der lokalen Wirtschaft, erklärt der Gemeindemitarbeiter Luis (d2). Er betreut in seiner Arbeit die wenigen verbliebenen ländlichen Haushalte beispielsweise in ihren handwerklichen Tätigkeiten oder beim Anbau von Gemüse. Es gehe häufig zunächst darum, die einzelnen Produzent*innen in Kontakt untereinander zu bringen, um danach Möglichkeiten für den Verkauf ihrer Produkte zu finden, so Luis. Allerdings hätten es die ländlichen Haushalte in Curanilahue heute äußerst schwer. Die dominante Forstwirtschaft machte kleinbäuerliche Landwirtschaft immer mühseliger und die Menschen hofften auch heute noch auf ein besseres Leben in der Stadt. Allerdings gibt es auch gegenteilige Entwicklungen, erklärt er. So würden sich die kleinbäuerlichen Produzent*innen zuletzt zunehmend zusammenschließen, weshalb es heute täglich Märkte in der Stadt gebe, auf denen die Bevölkerung Lebensmittel erwerben könnte. Um diese bedarfswirtschaftlichen Aktivitäten zu fördern, plane die Gemeinde derzeit eine große Markthalle, so Luis. Auch seien Gastronomie und Tourismus zunehmend wichtige wirtschaftliche Bereiche im ländlichen Raum, die sie als Gemeinde weiter fördern wollten. Luis plant die kleinbäuerliche Gemüseproduktion in der Kommune touristisch nutzbar zu machen, indem Tourist*innen bei der biologischen Lebensmittelerzeugung mithelfen und lernen könnten, wie ihre Nahrung produziert wird. Der Tourismus hat in den Augen von Luis zudem ein großes Potenzial in Curanilahue, weil die Kommune »das Tor« zur Küstenkordillere sei. Dabei bilden die staatlichen Naturschutzgebiete in den höheren Lagen, wo sich noch heimische Wälder und Urwälder befinden, die wichtigste touristische Attraktion der Kommune. Der Schutz dieser Gebiete sei deshalb von großer Bedeutung für die lokale Bevölkerung, beteuert Luis (d2).

Territoriale Macht zweier Forstunternehmen und lokaler Widerstand

Heute gehören über 63 Prozent der nicht-urbanen Flächen CuranilahuesFootnote 245 einem einzigen Unternehmen: Forsteal Arauco. Zusammen mit Forestal Mininco, dem fast 17 Prozent der ländlichen Fläche der Kommune gehören, entfällt auf die beiden Forstunternehmen 80 Prozent der gesamten Fläche Curanilahues (Paredes 2019: 29 f., 83). 89 Prozent der gesamten Nutzfläche der Kommune werden laut dem bereits zitierten Censo Agropecuario schon 2007 forstwirtschaftlich genutzt.Footnote 246 Diese Zahl hat sich seitdem vermutlich noch erhöht (ebd.: 89). Die massive flächenmäßige Ausdehnung in der Kommune steht in starkem Kontrast zum verschwindend geringen Beschäftigungsvolumen, das die beiden Forstunternehmen schaffen.

Die wenigen Bewohner*innen, die heutzutage in Curanilahue einer Arbeit in der Forstwirtschaft nachgehen, haben meist nur befristete Verträge und arbeiten stets bei Subunternehmen. Viele der gering oder unqualifizierten Erwerbstätigen Curanilahues haben die Hoffnung, bei diesen Subunternehmen eine dauerhafte Beschäftigung zu finden. Den wenigen, denen dies gelingt, ermöglicht das Einkommen eine gewisse soziale Sicherheit und die Möglichkeit, die Bildung ihrer Kinder zu finanzieren, erklärt Luis (d2). Die outgesourcten Aktivitäten in den Plantagen werden von kleinen Unternehmen vor Ort übernommen. Sie bieten vorwiegend temporäre Arbeitsplätze an, die mit einer Bezahlung von etwas über dem Mindestlohn schlecht entgolten werden, berichtet Pedro (d3).Footnote 247 Da sich die Vertragsbedingungen zwischen den großen Forstunternehmen und den kleinen Zulieferern vor Ort wirtschaftlich immer weiter zu Ungunsten der Subunternehmen entwickelten, käme es zudem ständig zu Pleiten der lokalen Betriebe, so der Interviewte weiter (d3). Dabei drückten die Großunternehmen jährlich die Preise für die Zuliefertätigkeiten. Neben den direkt von den Forstunternehmen beauftragten Subunternehmen, sind in der Kommune darüber hinaus eine Reihe von Klein(st)betrieben indirekt von der Forstindustrie abhängig, da sie Fahrzeuge und Maschinen instandhalten oder reparieren, so Luis (d2). Im Zuge der fortschreitenden Mechanisierung der Erntearbeiten im Forstbereich seien in den Jahren allerdings viele Beschäftigte des Sektors arbeitslos geworden, so Pedro (d3). Heute seien in der Forstindustrie nur noch rund 2000 Personen beschäftigt und in Curanilahue herrsche auch deshalb eine große Arbeitslosigkeit, so der Interviewte.

Vor allem den zwei großen Forstunternehmen Forestal Arauco und Forestal Mininco kommt damit nicht nur eine enorme Dominanz in Bezug auf die Nutzung von Land zu, vielmehr konzentrieren sich in ihren Händen auch die Märkte in der Kommune, auf die nahezu die gesamte wirtschaftliche Wertschöpfung Curanilahues entfällt. Darüber hinaus wird die territoriale Macht der beiden Forstunternehmen dadurch gesteigert, dass sie auch große Teile der Wasserrechte besitzen und für weite Teile der Straßen der Kommune, die durch die Plantagen führen, verantwortlich sind, erklärt Pedro (d3). Am Rande der Stadt Curanilahue gehört Forestal Arauco selbst das Grundstück, auf dem der städtische Park liegt, der von vielen als Erholungsort genutzt und von der Gemeinde verwaltet wird. Der Einfluss des Forstunternehmens zeigt sich zudem darin, dass das Sportstadium, das zu diesem Komplex gehört, fast vollständig von Forestal Arauco finanziert wurde. Außerdem arbeitet das Unternehmen bei Förderprojekten der Klein- und Kleinstbetriebe immer wieder mit der Gemeinde zusammen, so Luis (d2). Dann würden Gelder des Unternehmens und der Gemeinde zusammengelegt und ein gemeinsamer Fördertopf aufgesetzt. Allerdings seien diese Gelder keine verlässliche und dauerhafte Finanzierungsquelle, so der Interviewte (d2). Der enormen Landkonzentration und damit einhergehenden Konkurrenz um Zugänge zu ökologischen Ressourcen versucht die Gemeinde zudem derzeit mit einem Programm zu begegnen, das es der ländlichen Bevölkerung erlaubt, wenigstens nach den großflächigen Ernten der Forstplantagen das übrig gebliebene Holz und Wurzelwerk zu sammeln, um es zu trocknen und schließlich zu verkaufen, so Luis (d2).

Es gibt in Curanilahue allerdings auch eine Bewegung gegen die seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts so dramatisch sich entwickelnde Konzentration aller Ressourcen in den Händen der Forstunternehmen und gegen die Vertreibung der ländlichen Bevölkerung. Einerseits sei die Bevölkerung der Kommune zunehmend politisiert und das Modell der Forstindustrie sei ein vereinender „Gegner“ des einfachen Volkes, so Pedro (d3). Andererseits findet auf dem Gebiet des ehemaligen fundo Mundo Nuevo (übers.: neue Welt), das sich Forestal Arauco in der Militärdiktatur mutmaßlich illegal aneignete und deren Bewohner*innen das Unternehmen 1974 mit Einsatz des Militärs vertrieb, seit Januar 2018 eine Landbesetzung statt. Auf dem besetzten Grundstück, das insgesamt fast 5000 Hektar umfasst, haben sich seither 35 Familien aus Curanilahue niedergelassen (d3; vgl. auch Paredes 2019: 31 ff., 61; Abu Chouka/Thiele 2020: 30). Bei den Familien handelt es sich größtenteils um ehemalige Bewohner*innen dieses Landes, die Opfer der Vertreibung von 1974 sind, so Pedro (d3).Footnote 248 In das nun vollkommen von Kiefernplantagen bedeckte Land transportierten die ehemaligen Bewohner*innen ein mobiles Sägewerk, bauten aus den gefällten Kiefernbäumen Häuser und legten Gemüse- und Obstgärten an (d3; vgl. auch Abu Chouka/Thiele 2020: 30 f.). Die Genossenschaft von Mundo Nuevo, die die Landbesetzung durchführte, hat in der Kommune eine große Bedeutung. Sie steht für die Hoffnung der ehemaligen ländlichen Bevölkerung, das verlorene Land und somit Ernährungssouveränität und ein gewisses Maß an Selbstbestimmung zurückzuerlangen, erklärt Pedro (d3). Laut dem Gemeindemitarbeiter Luis (d2) gebe es bei vielen Menschen, die einst in die Stadt zogen, um bessere Zukunftschancen zu haben, heute Ernüchterung und sie suchten nach Möglichkeiten, wieder aufs Land zu ziehen, wo ihre Eltern einst lebten. Das dies nicht einfach ist, zeigt der Fall von Mundo Nuevo. Dennoch gibt sich die Kooperative auch heute sehr zuversichtlich.Footnote 249

Mundo Nuevo ist nicht der einzige Ort, an dem es in Curanilahue zu Landbesetzungen kommt. Rund um den urbanen Bereich der Stadt Curanilahue besetzen Gruppen der lokalen Bevölkerung immer wieder Gebiete von Forestal Arauco, woraufhin sie angezeigt und juristisch verfolgt würden sowie mit staatlichen Repressionen rechnen müssten, erklärt Pedro (d3). Die Besetzungen der pobladores geschähen vorwiegend aufgrund des enormen Landmangels der lokalen Bevölkerung und um Platz für eigene Häuser zu schaffen: »sie haben einfach keinen Ort, an dem sie leben können« (d3). Die meisten Viertel am Rande der Stadt seien im Rahmen solcher illegaler Landbesetzungen entstanden – auch dasjenige, in dem Pedro heute wohnt, das in den 1970ern entstand und ursprünglich den Namen Población Ernesto Che Guevara trug. Kämpfe um Land nehmen auch in Curanilahue in den letzten Jahren zu. Dabei sei Mundo Nuevo allerdings der erste Fall in ganz Chile, an dem eine Rückeroberung von Land für kleinbäuerliche Zwecke von Nicht-Mapuche in größerem Umfang und so lange Zeit erfolgreich sei. Es handelt sich daher um einen emblematischen Fall.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die ländliche Bedarfsökonomie in Curanilahue in extremem Maße zurückgedrängt wurde. So leiden die kleinbäuerlichen Praktiken stark unter der enormen Dominanz der Forstindustrie und wurden durch deren Expansion in hohem Maße um ihre Ressourcen gebracht. Dadurch sind immer mehr Menschen von öffentlichen Beschäftigungsprogrammen und urbanen klein(st)betrieblichen Aktivitäten abhängig. Verflechtungen zwischen bedarfsökonomischem Sektor und Forstindustrie finden auf der ökonomischen Ebene in relativ geringem Maße mittels Arbeitsmärkten und Subunternehmen sowie auf der ökologischen Ebene als konfliktreiche Verflechtung statt, die sich aus der Konkurrenz um Land und Ressourcen ergibt. Gleichzeitig finden jedoch auch eine Reihe von Gegentendenzen statt, die die bedarfsökonomischen Aktivitäten stärken. So werden letztere durch die kommunale Politik unterstützt, die beispielsweise Vermarktungsmöglichkeiten für kleinbäuerliche Aktivitäten ausbaut. Gleichzeitig kommt es zu Kämpfen um Wiederaneignung von Land, die darauf zielen, bedarfsökonomische Praktiken zu stärken. Der zentrale kämpferische Akteur besteht dabei nicht aus comunidades, sondern aus ehemaligen Kleinbauerfamilien, die mittlerweile in der Stadt wohnen und wieder landwirtschaftlichen Praktiken nachgehen wollen. Dabei kommt es zu einer Konfliktlinie zwischen lokaler Bevölkerung und den großen Forstunternehmen, deren territoriale Macht vor Ort nur in begrenztem Maße der Konfliktdynamik beizukommen vermag. Im Vergleich zu vielen Mapuche-Gebieten ist die Konfliktivität in Curanilahue dennoch insgesamt relativ gering.

4.4.4 Arauco – Der Industriekomplex am Pazifik und sein Hinterland

Die territoriale Macht von Forestal Arauco

Die Kommune Arauco, in der heute über 36.000 Menschen leben, liegt in einer breiten Bucht am pazifischen Meer im südwestlichen Teil der Region Biobío. Auf dem Gebiet der heutigen Gemeinde, deren Namen auf Mapudungun »kreidiges Wasser« bedeutet, bauten die Spanier schon im 16. Jahrhundert mehrere militärische Forts im Kampf gegen die Mapuche. 1852 wurde in der Folge die Stadt Arauco gegründet. Laut offiziellen Daten erklären sich heute nur etwas über 16 Prozent der Bewohner*innen der Kommune Arauco den Mapuche zugehörig.Footnote 250 Auch wenn sich noch immer viele Bewohner*innen als Mestizen und in irgendeiner Form als Mapuche fühlen, erklärt Robinson (d5), der in der Gemeinde von Arauco arbeitet, ist der Alltag in der Kommune heute im Vergleich zu Galvarino oder Cholcol weniger stark durch die Mapuche geprägt. Lediglich einige Parolen an Hauswänden der Stadt Arauco zeugen von den auch hier präsenten Kämpfen der Mapuche.

Augenfällig sind hingegen die rauchenden Schlote des Industriekomplexes Horcones, die schon bei der Ankunft in Arauco kaum zu übersehen sind. Der Bau dieser 1972 fertiggestellten großen Zellstofffabrik begann Ende der 1960er Jahre und wurde von der staatlichen Behörde für Wirtschaftsförderung CORFO initiiert. Seitdem ist ihr Produktionsvolumen stetig gestiegen.Footnote 251 Neben der Produktionslinien für Zellstoff besteht das Werk zudem aus einem großen Sägewerk, einem Bereich für Energieerzeugung aus Holzabfällen sowie einer Produktionslinie für Pressspanplatten (Pino/Carrasco 2019: 216 f.). Zentrales Ziel ihrer Produkte sind die Weltmärkte (ebd.: 217). Für die energie- und wasserintensive Zellstoffproduktion braucht die Fabrikanlage einen immer größeren, konstanten Zustrom an Rohmaterialien aus den Forstplantagen. Dies spiegelt sich auch in der Landnutzung und -verteilung in der Kommune wider. Waren Mitte der 1970er Jahre nur etwas über 12 Prozent der Fläche der Araucos von Forstplantagen bedeckt, so stieg die Zahl – je nach Angaben – auf heute zwischen 36 und 50 Prozent der Gesamtfläche der Kommune an (Pino/Carrasco 2019: 216). Andere sprechen von 60 Prozent (Grosser 2018: 111). Robinson (d5) schätzt, dass 60 bis 70 Prozent der Fläche der Kommune alleine Forestal Arauco gehört. Aber nicht nur in Bezug auf das Eigentum und die Nutzung von Land dominiert Forestal Arauco das wirtschaftliche und soziale Geschehen in der Kommune. Forestal Arauco ist in der Kommune mit Abstand der wichtigste Arbeitgeber.

Viele derjenigen, die die kleinbäuerliche Landwirtschaft aufgeben, versuchen bei Forestal Arauco eine Arbeit zu bekommen, erklärt Robinson (d5). Einige arbeiten direkt für das Großunternehmen, die meisten aber für Subunternehmen, so der Interviewte. In der Nähe der Stadt Arauco unterhält Forestal Arauco außerdem einen großen Campus für höhere technische Ausbildung im Bereich forstindustrieller Berufe. Dieser ist Teil eines Bildungsprogramms des Unternehmens, in dessen Rahmen Forestal Arauco insgesamt 18 solcher Bildungseinrichtungen in Chile unterhält, die über 70 Studiengänge anbieten.Footnote 252 Damit bilde das Unternehmen – laut weiteren Interviewten (d3; d6) – seine eigenen qualifizierten Arbeitskräfte direkt im Umfeld seiner großen Fabrikkomplexe aus. Außerdem sei das Unternehmen mittels seiner Stiftung sehr aktiv dabei, Weiterbildungen und Qualifizierungsprogramme für eine Reihe anderer Berufe wie beispielsweise Lehrer*innen auszurichten, die dann in den kommunalen Schulen arbeiteten, berichtet Pedro (d3), der in Arauco selbst eine höhere Bildung in der Privatschule absolvierte, die Forestal Arauco gehört.

In mehreren Bereichen übernimmt das Forstunternehmen staatliche Funktionen. Dass Forestal Arauco die Gemeinde von Arauco in vielen Fällen finanziell bei der Einrichtung von Schulen, dem Wiederaufbau nach Umweltkatastrophen, Beschäftigungsprogrammen oder der Errichtung von Straßenbeleuchtung unterstützt, um Konflikten und Kritik vorzubeugen, bestätigen auch vorliegende Studien (Pino/Carrasco 2019: 220 f.).Footnote 253 Ganz in diesem Sinne weihte Forestal Arauco am 9. September 2016 inmitten der Stadt Arauco zwischen kleinen einstöckigen Wohnhäusern mit Wellblechdächern ein pompöses Kulturzentrum ein, das das alte Stadttheater sowie die Stadtbibliothek ersetzte, die beim großen Erdbeben 2010 zerstört wurden. Das vom Forstunternehmen finanzierte und in Zusammenarbeit mit der Gemeinde geplante, designte und errichtete kommunale Kulturzentrum beherbergt heute ein Theater mit 250 Sitzplätzen, eine Bibliothek und offene Veranstaltungsflächen. Das Gebäude, dessen Erscheinungsbild von den vielzähligen Firmenlogos Forestal Araucos bestimmt wird, sei Teil des öffentlichen Raums, heißt es aus dem Mund eines der Architekten auf der Unternehmenshomepage.Footnote 254 Im Kulturzentrum richtet Forestal Arauco zusammen mit staatlichen Behörden und Unternehmensverbänden auch »rondas de negocios« (offene Treffen der Unternehmen) aus, zu denen die kleinen und mittleren Betriebe der Gegend eingeladen werden. Bei derartigen Veranstaltungen gehe es – laut Mauricio Leiva, einem Manager von Forestal Arauco – darum, derzeitigen und künftigen Subunternehmern und Zulieferern Geschäftsmöglichkeiten zu eröffnen oder die bestehende Zusammenarbeit zu stärken. Dabei ziele man gerade auf die kleinen und mittleren Unternehmen und ihre »lokale Entwicklung«, so der Manager des Unternehmens.Footnote 255

Obwohl sich Forestal Arauco nach Außen als »Entwicklungsmotor« der Kommune darstellt, kommt es vor Ort zu einer Reihe von Problemen und Konflikten. So stehen die Arbeitsbedingungen innerhalb der Forstindustrie immer wieder in der Kritik. Ende der 2000er Jahre forderten die Leiharbeiter*innen von Forestal Arauco in großen Protesten die Angleichung ihrer Beschäftigungsbedingungen an diejenigen der direkt Angestellten, berichtet Pedro (d3). Wiederholt kam es dabei zu Zusammenstößen mit Sicherheitskräften. Im Jahr 2007 wurde Rodrigo Cisterna im Umfeld einer Straßenblockade am Rande der Stadt Arauco von der Polizei ermordet.Footnote 256 Heute – viele Jahre nach den großen Protesten – sei die Gewerkschaftsbewegung der Arbeiter*innen in der Forstindustrie deutlich geschwächt, erklärt Pedro (d3). Aber nicht nur um die Arbeitsbedingungen gibt es in Arauco Konflikte. Im Rahmen des großangelegten Projektes MAPA wird der Industriekomplex von Forestal Arauco derzeit ausgebaut. Ziel ist es, sein Produktionsvolumen von 650.000 auf 2.1 Millionen Tonnen Zellstoff jährlich zu steigern (Zwischenzeit 2020: 28). Insgesamt sollen im neuen Werk schließlich bis zu 1000 Personen direkt beschäftigt werden, so das Unternehmen.Footnote 257 Der Industriekomplex liegt günstig sowohl an der Mündung des großen Flusses Carampangue, aus dem Süßwasser abgeleitet wird sowie an der pazifischen Küste, von der aus die großen Mengen an Kiefern- und Eukalyptusbäumen aus dem Inland – nach ihrer Verarbeitung zu Zellstoff – direkt nach Übersee exportiert werden können. Künftig wird das Werk täglich rund 200 Millionen Liter Wasser verbrauchen (Zwischenzeit 2020: 29). Schon in der Bauphase des Projekts erzeugte dies Proteste.Footnote 258 Mit der Erweiterung der Produktion im Rahmen des Plan MAPA muss sich auch die Zuführung des Rohstoffs Holz deutlich erhöhen. Da es kaum noch Flächen für die Expansion der Forstplantagen im Umfeld des Werks gebe, würde der Druck auf die wenigen noch nicht forstwirtschaftlich genutzten Flächen erhöht und durch Versuche begleitet, die bisherigen Plantagen dichter sowie mit noch schneller wachsenden Baumarten zu bepflanzen, so Pedro (d3). Unter anderem würden Kiefernplantagen durch Eukalyptusplantagen ersetzt, die nach nur zehn bis zwölf Jahren geerntet werden können (insbesondere Eucalyputs nitens).

Nur ein Bruchteil der 36.000 Bewohner*innen Araucos ist direkt bei dem gleichnamigen Großunternehmen der Forstindustrie beschäftigt. Generell gebe es nur eine begrenzte Zahl dieser besser bezahlten und häufig qualifizierten Arbeitsplätze in der Kommune, erklärt Ursula (d6), die für die Gemeinde Arauco in der Arbeitsvermittlung tätig ist, im Interview. Der Bausektor hingegen spiele eine große Rolle für Gelegenheitstätigkeiten oder Projektaufträge, die Selbständige in der Kommune übernehmen können. Die Aufträge reichten von großen privaten Initiativen wie dem Projekt MAPA über den Straßenbau bis hin zur Errichtung einer Bushaltestelle im Auftrag der Gemeinde, erläutert die Gemeindemitarbeiterin (d6). Derzeit ist dafür auch die Erweiterung des Industriekomplexes von Forestal Arauco verantwortlich, zu dessen Baustellen sie mehr als 900 Zeitarbeiter*innen vermittelt hätte. Dort arbeiteten derzeit vorübergehend insgesamt rund 8.000 Personen, wovon aber eine bedeutende Zahl von außerhalb herbeigeholt wurde, so Ursula (d6). Dies sei aber ein Sonderfall. Normalerweise würden sie jährlich nur rund 500 Personen vor allem in die Bereiche Handel und Forstplantagenwirtschaft vermitteln. Aufgrund der geringen Zahl fester und gut bezahlter Beschäftigungsmöglichkeiten würde ein großer Teil der Erwerbstätigen selbständig, im tertiären Sektor und häufig informell arbeiten, erklärt Ursula (d6). Derzeit verbreiten sich beispielsweise die Essensauslieferdienste stark. Neben den Auslieferungen für die Restaurants bestünde ein Geschäftsmodell darin, dass Frauen zuhause Speisen zubereiteten, die die jüngeren Familienmitglieder dann auf Bestellung an Kund*innen ausliefern (d6).

Der bedarfsökonomische Sektor, Verflechtungen und Konflikte in Arauco

In der Kommune Arauco gibt es nicht nur rauchende Schornsteine und Forstplantagen. Eine Vielzahl an touristischen Attraktionen und breiten Sandstränden sowie eine aktive kleinbäuerliche Wirtschaft und Fischerei prägen die Region. Seit jeher spielt neben der kleinbäuerlichen Landwirtschaft vor allem die traditionelle Fischerei in der Kommune eine große Rolle. Dieser große Bereich der Wirtschaft ist vollkommen durch kleine Familienbetriebe geprägt, erklärt die bereits zitierte Ursula (d6). Auch der vor allem entlang der Küste zunehmend wichtig werdende Tourismus schaffe Einkommen für Selbständige, Klein- und Kleinstbetriebe. Die kleinbäuerlichen Produzent*innen sowie die Fischer*innen liefern einen großen Teil ihrer Produktion an lokale Märkte sowie an die Restaurants, Bars und Kleinhändler*innen des Tourismusbereichs, erläutert Robinson (d5).

Ähnlich zu den vorherigen Fällen ist auch Araucos Landwirtschaft vorwiegend durch kleine Betriebe gekennzeichnet. Klassische Großgrundbesitzerfamilien gibt es hier weit weniger als in anderen Kommunen, erklärt Robinson (d5). Robinsons ist in Arauco für das Programm PRODESAL des INDAP verantwortlich und konzentriert sich auf die Förderung kleinbäuerlicher Produktion in der Kommune. Heute arbeitet er im Rahmen des Programms mit 432 kleinbäuerlichen Haushalten zusammen, insgesamt gebe es aber weitaus mehr Kleinbäuer*innen in der Kommune, so der Interviewte (d5). Der in Arauco dominante landwirtschaftliche Haushaltstyp kombiniere die Produktion für den Eigenbedarf mit dem Verkauf von Überschüssen. Die Mehrheit der ländlichen Haushalte, die Robinson betreut, gehören der Kategorie »Selbstversorger« an, danach folgten Haushalte, die er der Kategorie »Unternehmer« zuordnet, weil sie ihre Produktion in relevantem Umfang auf den Verkauf ausrichten. Die »Selbstversorger« seien häufig ältere Ehepaare, die eine staatliche Rente erhielten und die Landwirtschaft für den Eigenbedarf als »Zuverdienst« nutzten. Insgesamt ginge es im Rahmen des Projekts PRODESAL einerseits darum, die Produktion vor Ort – beispielsweise durch tierärztliche Versorgung oder durch den Bau von Hühnerställen – zu unterstützen und andererseits darum, lokale Märkte für den Verkauf von Lebensmitteln zu schaffen, die Produktpalette zu diversifizieren sowie Hygienestandards einzuführen, erklärt Robinson (d5).

In Arauco wird zudem traditionell viel Käse aus Kuhmilch hergestellt, was klassischerweise ein Wirtschaftszweig der Frauen auf dem Lande ist. Die Frauen verkaufen den Käse überall auf lokalen Märkten der Kommune. Allerdings verboten die lokalen Behörden im Jahre 2003 aufgrund von neuen Hygienestandards den Verkauf des traditionellen Käses. Seitdem ist der Käseverkauf in der Region komplett in die informellen Märkte verbannt (Soto et al. 2007: 147 f.). Da dieser Käse mit einem Kilopreis von zwischen 2800 und 3500 Pesos – das heißt, umgerechnet etwa zwischen drei und 3,80 Euro – im Vergleich zu industriell produziertem Käse sehr billig ist, verkauft er sich dennoch sehr gut, wie Robinson (d5) berichtet. Damit besteht ein großer informeller Markt für traditionellen Käse – nicht nur auf kommunaler Ebene, sondern in der ganzen Region –, der für die ländlichen Haushalte in Arauco eine wichtige Einkommensquelle bildet. Die Männer der kleinbäuerlichen Haushalte widmen sich demgegenüber mehr der Haltung der Tiere und dem Verkauf von Tieren an die lokalen Metzgereien, erklärt Robinson (d5). Gleichzeitig würde Honig produziert sowie verschiedene Bohnen und Kartoffelarten und zunehmend auch Blumen und Früchte für den Verkauf angebaut. Viele ländliche Haushalte pflanzten auch kleine Flächen mit schnell wachsenden Baumarten, um diese in Zeiten der finanziellen Not oder zur Finanzierung der Bildung ihrer Kinder an Zwischenhändler, Sägewerke oder direkt an Forestal Arauco zu verkaufen, so Robinson (d5).

Ziel der Förderungspolitik von PRODESAL in Arauco ist es, die ruralen Haushalte auf dem Land zu halten, ihre wirtschaftlichen Aktivitäten zu verbessern und sie von der Subsistenzwirtschaft auf die Produktion für den Verkauf umzuorientieren, erklärt der zitierte Gemeindemitarbeiter (d5). Dafür müsste die Mentalität der Kleinbäuer*innen verändert werden – so Robinson (d5) –, sie müssten aus selbstbezogenen Einheiten in Unternehmer*innen verwandelt werden. Deshalb organisierten sie im Rahmen der Programme auch wöchentliche ferias campesinas (Bauernmärkte) in der Stadt, auf denen die Produzent*innen direkt – ohne Zwischenhändler*innen – verkaufen können. Da die Produktionsvolumina der kleinbäuerlichen Produzent*innen sehr gering sind, können sie größere, kapitalistische Abnehmer*innen nicht beliefern. Dafür fehlten ihnen auch die kooperative Organisationsformen, die die Produzent*innen vereinen, um für größere Märkte attraktiv zu werden, erklärt Robinson (d5). Die kleinen Produktionsvolumina haben vor allem damit zu tun, dass die Haushalte bei ihrer Arbeit nur auf kleine Flächen und nur auf einen geringen Einsatz von Technik zurückgreifen können.

Die starke wirtschaftliche Dominanz der Forstbranche ist in Arauco gleichzeitig kaum zu übersehen. Probleme schafft dies insbesondere für solche wirtschaftliche Aktivitäten, die von intakten Ökosystemen in der Region abhängen (Pino/Carrasco 2016: 221 f.). Das betrifft neben dem Tourismus und der Fischerei vor allem die kleinbäuerliche Landwirtschaft. Wasser- und Landmangel stellen wie in den vorherigen Kommunen auch in Arauco ein großes Problem dar. Hinzu kommen noch Verschmutzungen durch die große Industrieanlage, was insbesondere die Fischerei beeinträchtigt. Zudem würde die ländliche Bevölkerung im Durchschnitt immer älter und die jungen Generationen würden vielfach in die Städte ziehen, auch weil sie häufig besser qualifiziert seien als ihre Eltern, so Robinson (d5). In vielen Fällen würden die Nachkommen ehemaliger Bauernfamilien in der Stadt ihr Land aber behalten, um dort Tiere zu halten oder Lebensmittel für den Eigenbedarf anzubauen. Auf dem Land ließe sich – rein wirtschaftlich betrachtet – in vielen Fällen besser leben als in der Stadt, wo auf die Familien neben Ausgaben für Wasser, Heizen und Miete eine Reihe von Zusatzkosten zukämen, die sie sich auf dem Land sparten, so Robinson (d5). Auch seien die Löhne im Forstbereich niedrig und mit einer guten Ernte Kartoffeln, könnte man häufig mehr einnehmen als mit der Lohnarbeit. Die Menschen zöge es aber auch aufgrund der Suche nach einem modernen Lebensstil und der Nähe zu Gesundheits- und Bildungseinrichtungen für die Kinder in die Städte, so der Gemeindemitarbeiter (d5).

Einerseits ist der ländliche Raum der Kommune Araucos folglich durch die Gleichzeitigkeit einer riesigen exportorientierten Forstindustrie und einer ländlich geprägten auf lokale Märkte ausgerichteten klein(st)betrieblichen Bedarfswirtschaft gekennzeichnet. Andererseits bestehen diese aber nicht nur nebeneinander, sondern sind durch unterschiedliche ökonomische Verflechtungen gekennzeichnet: Erstens arbeiten im Vergleich zu den bisher untersuchten Kommunen eine bedeutendere Zahl an Personen vor Ort in den Industrieanlagen oder bei der – wenn auch oft an Subunternehmen ausgelagerte – Rohstoffbeschaffung von Forestal Arauco. Zweitens sind auch in Arauco kleinbäuerliche Betriebe mit der Forstindustrie verflochten. So pflanzen kleine Landbesitzer*innen teilweise Kiefern und Eukalyptus und verkaufen ihre Holzernte an die Forstindustrie. Andere lassen ihr Vieh auf den Forstplantagen weiden oder holen sich eine Erlaubnis von Forestal Arauco, auf dessen Grundstücken Früchte, Kräuter oder Pilze zu sammeln.Footnote 259 Zudem arbeitet Forestal Arauco im Rahmen ihrer Corporate Social Responsability-Politiken auch mit Nachbarschaftsvereinigungen zusammen, repariert Brücken und unterstützt die Trinkwasserversorgung: »Wenn die lokalen Gemeinschaften etwas brauchen, reden sie mit Forestal Arauco«, so beispielsweise Robinson (d5). Andererseits konkurrieren die bedarfsökonomisch orientierten Akteure mit der Forstwirtschaft um natürliche Ressourcen wie Wasser und Land. Dabei kommt es in der Kommune auch zu konfrontativeren Konfliktformen, die von der illegalen Holzentnahme aus Plantagen über Blockaden von Straßen und Fällarbeiten bis hin zu militanten Aktionsformen reichen (Pino/Carrasco 2019: 223).

In Arauco bilden sich in der Folge bezüglich der wirtschaftlichen Verflechtung mit der Forstindustrie deutliche Spaltungslinien in der Bevölkerung. Einige halten die Industrie für einen wichtigen Bestandteil der »wirtschaftlichen Entwicklung«, der Arbeitsplätze, Steuereinnahmen und Wachstum generiere, während andere vor allem die negativen sozialen und ökologischen Auswirkungen und die ungenügenden bzw. die Unangemessenheit der Kompensationen beklagen (Pino/Carrasco 2019: 218 f.). Teil der letztgenannten Gruppe sind unter anderem indigene comunidades, die keinerlei Dialog, Kompensationen und Zusammenarbeit mit den Forstunternehmen wollen (ebd.: 219). Aber auch die lokalen Fischer*innen und Taucher*innen protestieren immer wieder gegen Forestal Arauco, dem sie vorwerfen, mit der Fabrik vor Ort nicht nur die Luft zu verschmutzen, sondern auch das Meer, wodurch die Fischbestände zurück gingen.Footnote 260 Die Gräben zwischen den Beschäftigten in der Forstindustrie und den ökologischen Bewegungen sowie den comunidades sind tief. So blockierten Ende August 2021 Beschäftigte des großen Zellstoffindustriekomplexes von Forestal Arauco mit einem Streik das Werk und eine Autobahn, wobei 4000 Beschäftigte ihre Arbeit aussetzten. Die Proteste wollten darauf aufmerksam machen, dass immer wieder Personen und Arbeiter*innen der Forstindustrie durch Attacken radikaler Organisationen auf Fahrzeuge und Maschinen zu Schaden kämen. Sie forderten die Regierung und die Unternehmensleitung dazu auf, für Sicherheit zu sorgen, damit die Beschäftigten »ohne Angst an ihre Arbeitsplätze zurückkehren« könnten.Footnote 261

Insgesamt lässt sich zusammenfassend sagen, dass die Integration der lokalen Bevölkerung in die Forstindustrie mittels Lohnarbeit in Arauco zwar bedeutender als in den bisher untersuchten Kommunen, sie allerdings auch hier weitgehend prekär ist und nur einen Bruchteil der Erwerbstätigen betrifft. Dennoch bestimmt Forstindustrie die Dynamik auf den lokalen Arbeitermärkten in der Kommune. Ein weitaus größerer Teil der Privathaushalte reproduziert sich auch in Arauco im bedarfsökonomischen Sektor, der vorwiegend aus landwirtschaftlichen Aktivitäten, städtischem Kleinhandel und häufig in Selbständigkeit durchgeführten Dienstleistungen besteht. Gleichzeitig ist der bedarfsökonomische Sektor jedoch einerseits über Holzlieferungen und Flächennutzungspraktiken mit der Forstindustrie verflochten und wird andererseits staatlich gefördert. Schließlich kommt Forestal Arauco vor Ort ein erheblicher Einfluss auf das soziale und politische Leben in Arauco zu. Dies hat mit der Dominanz des Unternehmens auf den Arbeits- und Zuliefermärkten, seinem großen Landbesitz sowie den engen Kontakten zur lokalen Politik und den eigenen unternehmerischen Sozialleistungen des Forstunternehmens in der Kommune zu tun. In besonderem Maße zeigt der Fall der Kommune Arauco, wie entlang von wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen bedarfsökonomischen und kapitalistischem Sektor Spaltungen und Konflikte innerhalb der lokalen Bevölkerung entstehen.

4.4.5 Exkurs: Temuco und die Verflechtung von Stadt und Land

Die regionale Hauptstadt der Araucanía hat sich in den vergangenen Jahrzehnten im Zuge der Urbanisierung immer weiter ausgedehnt (Rojo/Hidalgo 2021: 838 f.). Heute leben in Temuco über 280.000 Einwohner*innen. Regelmäßig finden rund um Temuco tomas (Landbesetzungen) statt, in denen sich neue Familien am Stadtrand ansiedeln.Footnote 262 Temuco konzentriert dabei den wirtschaftlichen Reichtum der Region und seine relativ kleine ökonomisch herrschende Klasse aus alten Großgrundbesitzer*innen und Unternehmer*innen. Die Stadt ist durch die sie umgebende Landwirtschaft historisch geprägt. Dies zeigt sich auch in Temucos Beschäftigungsverhältnissen. Qualifizierte technische Ingenieure und Büroarbeiten spielen zwar eine Rolle, allerdings sind ein Viertel der wirtschaftlichen Aktivitäten unqualifizierte Tätigkeiten und über 18 Prozent der Erwerbstätigen sind selbst im urbanen Raum im landwirtschaftlichen Bereich aktiv (Rojo/Hidalgo 2021: 839 f.). Handel, Transport und Dienstleistungen aller Art machen den Großteil seiner wirtschaftlichen Dynamik aus.

Das Besondere an Temuco bleibt jedoch seine starke Eingebundenheit in die landwirtschaftliche Umgebung und der damit verbundene Handel mit Lebensmitteln. So gibt es in bestimmten Straßen in allen Vierteln der Stadt ferias, wöchentliche Lebensmittelmärkte, auf denen die ländlichen Produzent*innen der Region ihre Produkten anbieten. Neben diesen Wochenmärkten und dem Straßenhandel spielt die Feria Pinto für den preiswerten Einkauf von Lebensmitteln eine große Rolle. Nicht nur die Privathaushalte, sondern auch Restaurants und die Lebensmittelläden der Stadt sind auf den Bezug billiger landwirtschaftlicher Produkte angewiesen. Doch der bedarfsökonomische Handel im öffentlichen Raum Temucos ist gleichzeitig äußerst prekär. Nicht nur die Konkurrenz zwischen den Straßenhändler*innen um gute Verkaufsplätze, sondern vor allem staatliche Repression setzt den Kleinhandel unter Druck (Anchio 2013: 73). Dies gilt insbesondere für die informellen Händler*innen, die häufig Mapuche sind.

Die Verflechtungen von Stadt und Land lassen sich in Temucos Straßenbild täglich beobachten. Am Morgen des Frühsommers 2019 fährt ein Pferdewagen, auf dem sich frisches Gemüse türmt, durch die Straßen eines sozial gehobeneren Wohngebiets Temucos. Vorne auf dem Wagen sitzt ein älteres Ehepaar. Ab und an hält der Wagen an bestimmten Häusern, eine Person steigt ab, klingelt und bietet Lebensmittel zum Verkauf an. Etwas weiter Richtung Zentrum fährt erneut ein schwer beladener Wagen. Zwei Ochsen ziehen den Wagen, der mit Cochayuyo beladen ist, einer Alge, die die Mapuche traditionell an der Küste ernten. Die getrocknete Alge gilt als sehr gesund und wird meist auf Ochsenkarren transportiert, die direkt als Verkaufsstände dienen. Auch das Zentrum Temucos ist voll von informellem Handel. Rund um den alten Markt und die Feria Pinto, dem traditionellen Lebensmittelmarkt der Stadt, drängen sich die Straßenhändler*innen. Sie verkaufen selbstgemachten Käse, Kleidung mit gefälschten Marken aus entfernten Textilfabriken, selbstgekochtes Essen, Blumen oder chinesische Plastikwaren, vor allem aber Gemüse, Eier, Beeren, Kräuter und Obst aus eigener Produktion, zudem auch Fleisch und lebende Küken und Hühner. Die Waren werden – im Vergleich zu den Supermärkten – allesamt zu sehr billigen Preisen angeboten und wer sich auskennt, kann hier seinen täglichen Bedarf decken.

Neben dem Lebensmittelhandel spielen vor allem Dienstleistungen eine große Rolle. So fährt beispielsweise ein selbständiger Gärtner mit dem Wagen durch die Straßen der Wohnviertel und bietet seine Dienste an. Der Messerschleifer tut es ihm nach und macht mit einem speziellen immer gleichen Pfeifenklang auf sich aufmerksam. Ein Straßenmusiker spielt auf einem Platz Gitarre und ein Laden in der Nähe bietet einen guten Wechselkurs für den Tausch von Euro in chilenische Pesos. Gegenüber steht ein kleines Tourismusbüro, das Fahrten zu den Flüssen in der Region anbietet, ein anderes Geschäft offeriert Tanzkurse. Klassische personenbezogene Dienstleistungen von Friseuren und Waschsalons über Gastronomie bis zur Massage und dem Legen von Tarot-Karten werden in Läden oder in Wohnhäusern angeboten. Viele dieser klein(st)betrieblichen Aktivitäten sind keineswegs traditionelle Überbleibsel, sondern Produkt jüngerer Entwicklungen. So sind die Straßen voller kleiner Essensauslieferer*innen und Fahrradkurieren von Ubereats und Pedidosya, die mit ihren Fahrzeugen durch den engen Verkehr rasen. Tourist*innen können sich nicht nur in den vielen kleinen Hostels einmieten, sondern auch überall über Online-Dienste wie Airbnb billig in Privatwohnungen übernachten und bescheren damit chilenischen Familien ein Extraeinkommen. Auch der Personentransport ist ein wichtiges Geschäft im Umbruch. So werden die klassischen Taxifahrer*innen durch die vielen Uber-Fahrer*innen herausgefordert, die an allen Ecken der Stadt rund um die Uhr halten. Alte und neue Formen klein(st)betrieblicher Aktivitäten finden sich überall in Temuco und prägen die Reproduktion der Privathaushalte nahezu aller sozialer Gruppen in der Stadt und bieten zugleich Erwerbsmöglichkeiten für einen Großteil der städtischen Bevölkerung.

Städtische Verordnungen haben es dem Straßenhandel in Temuco in den letzten Jahren allerdings zunehmend schwer gemacht, erklärt Verónica (d1) im Interview. Verónica, die als Sozialwissenschaftlerin mit den Straßenhändler*innen zusammenarbeitet, erklärt, dass dies insbesondere die sogenannten hortaliceras mapuches, vorwiegend Frauen der indigenen Mapuche, die in der ländlichen Umgebung der Stadt Gemüse anbauen und es auf den Straßen des Zentrums verkaufen, betreffe. Ihr Gemüse ist besonders preiswert und gilt als sehr gesund, weil in der Regel ohne Einsatz von Chemie produziert wird. Allerdings werden die informellen Händler*innen immer wieder von den städtischen Behörden und der chilenischen Polizei drangsaliert und weggejagt. Verónica berichtet, dass es unter dem Bürgermeister Miguel Becker, der der konservativen chilenischen Partei Renovación Nacional angehört und das Amt zwischen 2014 und 2020 bekleidete, zu einer Reihe von Verschlechterungen für den Straßenhandel und dauerhaften Repressionsmaßnahmen gekommen sei. So sei um einen Teil des Zentrums der Stadt eine gelbe Linie gezogen, die an unterschiedlichen Stellen mit dem Schriftzug »zona de exklusion« (Exklusionszone) markiert ist, innerhalb der es neuerdings verboten ist, Straßenhandel zu betreiben. Ständig besteht die Gefahr, dass Polizeikräfte die Händler*innen verjagen und ihre Produkte konfiszieren.Footnote 263 Außerdem seien in den Straßen Kameras und Lautsprecher aufgestellt worden, aus denen Stimmen schallen, die den informellen Handel als Raub denunzierten und die Bevölkerung darüber informiert, dass der Kauf im informellen Handel eine Straftat darstelle, so Verónica (d1). Paradoxerweise werden die hortaliceras, die auf städtischer Ebene starken Repression ausgesetzt sind, gleichzeitig von staatlichen Programmen unterstützt. Die horaliceras mapuches in Temuco würden allesamt von Programmen des PDTI gefördert, so die Interviewte. In den letzten Jahren sei es unter den hortaliceras zudem zu einer zunehmenden Organisierung und Konfliktbereitschaft gekommen (d1). Nicht nur die hortalizeras mapuches, sondern auch andere Gruppen des Kleinhandels haben sich zusammengeschlossen. So seien die formalen Kleinhändler*innen zu großen Teilen gewerkschaftlich organisiert (Contreras/Krivonos/Sáez 2014: 372 f.). Andererseits gibt es in der chilenischen Bevölkerung eine Grundsympathie gegenüber den formellen und informellen Kleinhändler*innen. Demnach überrascht es wenig, dass das Vorgehen der Behörden auf Kritik stößt. Auf einem Plakat, das im Sommer 2019 an vielen Wänden des Zentrums Temucos hing und das sich gegen den damaligen Bürgermeister der Stadt richtete, steht, »Kleinhandel ist kein Verbrechen, sondern wichtige Erwerbsmöglichkeit! […] Der Straßenhandel ist ein Werkzeug des Volkes gegen dem Hunger und der Arbeitslosigkeit. […] Organisieren wir den Klassenkampf der Straßenhändler!«.Footnote 264

4.4.6 Kurze Zusammenfassung

Die dargestellten empirischen Fälle zeigen deutlich, wie bedeutend der bedarfsökonomische Sektor in den ruralen und urbanen Gebieten des ehemaligen Wallmapus ist. Sie zeigen allerdings auch die Prekarität dieses Sektors, die aus knappen Ressourcen wie Land und Wasser sowie aus fehlenden Marktzugängen und einer schlechten Infrastruktur, aber auch – und das gilt insbesondere im urbanen Zentrum Temucos – aus der Repression staatlicher Behörden gegenüber informellen Produzent*innen resultiert. Alle der vier untersuchten ländlichen Kommunen sind dabei durch eine massive Dominanz der Forstindustrie über die ökologischen Kreisläufe gekennzeichnet. Gleichzeitig kann der kapitalistische Sektor in den Kommunen die lokale Bevölkerung kaum mittels Lohnarbeit integrieren. Diese spielt für die meisten Privathaushalte eher innerhalb des bedarfsökonomischen Sektors selbst sowie in Form von Arbeitsmigration zu saisonalen Tätigkeiten in die nördlichen Regionen Chiles eine Rolle. Die staatlichen Sozialtransfers und Armutsprogramme in den Kommunen ändern an der prekären wirtschaftlichen Situation nur wenig, helfen vielen Haushalte gerade einmal für das dürftige Überleben oder stützen die bedarfsökonomischen Tätigkeiten leicht ab. Insgesamt sind die untersuchten Kommunen auf dem Land mit Blick auf ein öffentliches Ressourcenmanagement und die Bereitstellung sozialer Infrastrukturen damit durch einen abwesenden Staat gekennzeichnet. Neben diesem sind die untersuchten Fälle durch eine strukturelle Überbevölkerung sowie eine große Bedeutung des bedarfsökonomischen Sektors und die Konkurrenz um ökologische Ressourcen charakterisiert.

Die untersuchten Kommunen zeigen gleichzeitig auch, dass es vor allem die Mapuche sind, die in organisierter Form gegenüber den Forstunternehmen wirtschaftliche Verflechtungen und Ressourcen erstreiten. In der Folge können sie ihre eigene economía mapuche dadurch teilweise erheblich stärken. Die Bedeutung der kulturellen Dimension in Bezug auf sozialökologische Verteilungskonflikte ist daher offensichtlich. Zwar besteht in allen untersuchten Kommunen ein großes Konfliktpotenzial, allerdings zeigte sich, dass die Konflikte in Galvarino ein besonderes Ausmaß annehmen. Auf diesen Fall wurde in der empirischen Arbeit der Schwerpunkt gelegt. Die besondere Konfliktivität hat sicherlich einerseits mit kämpferischen Führungsfiguren wie dem mehrfach interviewten Lautaro zu tun. Andererseits aber auch damit, dass sich die Forstplantagen in Galvarino im Unterschied beispielsweise zu Cholchol äußerst zerklüftet und überall in direkter Nachbarschaft zu kleinen landwirtschaftlichen Produzent*innen befinden sowie dass es in weitaus geringerem Maße zu wirtschaftlichen Arrangements zwischen Mapuche und der Forstindustrie kommt. Die daraus resultierende intensive ökologische Verflechtung und die geringe ökonomische Verflechtung zwischen bedarfsökonomischem und kapitalistischem Sektor in Galvarino befeuert anscheinend die Konfliktivität.

Im nachfolgenden Auswertungskapitel stellt sich damit die Frage, wie ökologische und wirtschaftliche Verflechtung jeweils unterschiedlich auf das Konfliktpotenzial zwischen lokaler Bevölkerung und Forstindustrie wirken. Außerdem werde ich prüfen, inwiefern die erhebliche soziale Ungleichheit in den untersuchten Kommunen als Klassenverhältnis und die damit einhergehenden Grenzkämpfe trotz der großen Bedeutung indigener Zugehörigkeit in diesen dennoch als Klassenkonflikte verstanden werden müssen. Diese Fragen stellen sich auch deshalb, weil selbst in Kommunen mit geringerem Anteil an Mapuche ein großes Konfliktpotenzial besteht. Dies hat der Fall Curanilahue gezeigt, in dem die Enteignung der lokalen Bevölkerung von ihren ökologischen Ressourcen maximal fortgeschritten ist. Die kurz geschilderte Kooperative Mundo Nuevo in Curanilahue bezeugt mit ihrer Landbesetzung, dass auch Nicht-Mapuche nach wie vor radikale Grenzkämpfe für bedarfsökonomische Aktivitäten führen. Der Fall der Kommune Arauco – ähnlich wie der zuvor dargestellte Fall Cholchol – zeigt schließlich, dass es mit zunehmenden ökonomischen Verflechtungen zwischen bedarfsökonomischem und dem kapitalistischen Sektor aber auch zu erheblichen Spaltungen in der lokalen Bevölkerung entlang der Frage der Zusammenarbeit mit der Forstindustrie kommt. Im Folgenden werde ich daher die Grenzkämpfe insbesondere mit Blick auf die Variablen der ökonomischen und ökologischen Verflechtungen sowie der indigenen Zugehörigkeit untersuchen und sie schließlich in die gesamtgesellschaftlichen Klassenverhältnisse einordnen. Dadurch können abschließend Erkenntnisse darüber gewonnen werden, wie sich die Kämpfe der Mapuche zu den Grenzkämpfen in der chilenischen Gesellschaft insgesamt verhalten.