Im folgenden Kapitel lege ich das methodische Vorgehen dar, mit dem ich in dieser Arbeit sozialökologische Konflikte in Chile untersuche. Es handelt sich dabei um eine qualitativ ausgerichtete Studie mit explorativem Charakter. Für diese orientiere ich mich hinsichtlich der Konkretisierung des Forschungsinteresses, der Fallauswahl sowie der Erhebungs- und Auswertungsmethoden an der »klassischen Grounded Theory« (Reichertz/Wilz 2016: 50) nach Strauss/Corbin (1996). Im Folgenden stelle ich zunächst die Spezifizierung meiner Fragestellung sowie des Forschungsdesigns als Ergebnis eines längeren Forschungsprozesses (3.1) und die Fallauswahl (3.2) dar. Anschließend gehe ich auf die Erhebungsmethode und den Auswertungsprozess sowie darauf ein, wie sich dieser in den folgenden Kapiteln widerspiegelt (3.3).

3.1 Forschungsfragen und methodisches Vorgehen

Die vorliegende Arbeit ist Produkt eines längeren Forschungsprozesses, der seit Mitte 2015 unter anderem im Zusammenhang mit dem an der Friedrich-Schiller-Universität Jena angesiedelten soziologischen Teilprojekt Widersprüche kapitalistischer Landnahme in der Peripherie: Soziokulturelle Konflikte in der chilenischen Holzwirtschaft (2015–2021) durchgeführt wurde.Footnote 1 Das konkrete Forschungsdesign und die Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit ergaben sich dabei aus einem fortdauernden Prozess wiederholter Erhebungsphasen und langen Feldaufenthalten im südlichen Chile und entsprangen damit selbst erst dem Forschungsprozess. Von Beginn an stand dabei die übergeordnete Frage im Mittelpunkt, inwiefern der Konflikt zwischen den indigenen Mapuche und der Forstindustrie im Süden Chiles ein Resultat global integrierter kapitalistischer Landnahmen ist. Die damit implizit aufgeworfene allgemeine Frage danach, inwiefern der genannte sozialökologische Konflikt entlang der kapitalistischen Innen-Außen-Verhältnisse geführt wird, bildet auch den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit.

Gleichzeitig wurde diese allgemeine Fragestellung im Prozess der Forschung kontinuierlich spezifiziert. Erste Forschungsergebnisse zeigten, dass die ökologische, die sozioökonomische und die politisch-kulturelle Ebene die drei zentralen Dimensionen des Konflikts zwischen Mapuche und Forstindustrie darstellen (Graf/Schmalz/Sittel 2019; Schmalz et al. 2023). Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass private Zertifizierungsmechanismen wie der FSC eine zentrale Rolle in der politischen Regulierung der Forstindustrie und seiner Beziehung zu den Mapuche zukommt (Graf 2020a). Der empirische Forschungsprozess bestätigte, dass während die kulturellen und historischen Dimensionen des Konflikts im südlichen Chile mittlerweile relativ gut erforscht sind, die sozioökonomische und sozialökologische Fragestellungen auf Forschungslücken verweisen. Der Fokus auf die kapitalistischen Innen-Außen-Verhältnisse als Erklärungsvariable der Konflikte im Süden Chiles ist damit keine theoretische Setzung im Vorhinein, sondern Resultat des empirischen Forschungsprozesses (Graf 2019c; Graf/Schmalz/Sittel 2019; Graf/Puder 2022). Empirische Erkenntnisse machten es aber auch notwendig, bestehende Literatur und eine theoretische Reflexion meiner Befunde in meinen Forschungsprozess einzubeziehen: dies betrifft Literatur, die sich erstens kapitalismustheoretisch mit den sozioökonomischen Innen-Außen-Verhältnissen in den Peripherien des Weltsystems (Abschnitt 2.3), zweitens mit der damit einhergehenden Pluralität der Naturverhältnisse (Abschnitt 2.4) sowie drittens der strukturellen Heterogenität entsprechenden kulturellen Differenzen (Abschnitt 2.5) auseinandersetzt. Diese verschiedenen Ebenen wurden in der Heuristik (Abschnitt 2.6) zusammengeführt und dadurch ein eigener Begriff von »Grenzkämpfen« entwickelt. Die empirische Forschung induzierte in diesem Sinne eine theoretische Synthesearbeit, die gerade in der letzten Auswertungsphase entscheidend dazu beitrug, empirische Phänomene zu strukturieren, analysieren, kodieren und zu »benennen« (Strauss/Corbin 1996: 45; Aghamiri/Streck 2016: 201 f.). Auf diese Weise soll der Forschungslücke beigekommen werden, die bezüglich einer gewissen Leerstelle zwischen den kapitalismustheoretischen Erkenntnissen über das kapitalistische Innen-Außen-Verhältnis (Harvey 2003: 141; De Angelis 2007: 225 ff.; Dörre 2009a: 42; ebd. 2013a; ebd. 2019; Backhouse 2015; Saave 2022) auf der einen und eher politikwissenschaftlichen Forschungen zu sozialökologischen Konflikten in extraktivistischen Peripherien (Martínez-Alier 2004; Borras/Franco 2009; Borras et al. 2012; Martínez-Alier/Walter 2016; Svampa 2019; Prause 2020; Dietz/Engels 2020) auf der anderen Seite besteht.

Im Unterschied zu einer großen Zahl an kulturwissenschaftlichen, historischen und politischen Studien über den Konflikt zwischen Mapuche und Forstindustrie wähle ich in dieser Arbeit – wie angesprochen – eine stärker politökonomische Fragestellung. Eine solche besteht in den Worten Joshua Clovers (2021: 72) darin, dass sie bei der Untersuchung gesellschaftlicher Konfliktdynamiken ihren Blick darauf richtet, »[…] auf welche Weise sich das Problem der Reproduktion für die Masse der Menschen stellt«. Mit dem »Problem der Reproduktion« ist dabei – wie Kapitel 2 zeigte – nicht nur auf ökonomische Makrostrukturen verwiesen, sondern auch auf die sozialen Thematiken der »Produktion des Lebens« (Mies 2015: 18), der ökologischen »Produktionsbedingungen« (O’Connor 1996: 197 f.), der »moralischen Ökonomie« (Thompson 1980) und der »peripheren Regulation« (Alnasseri 2004). Sozialökologische Konflikte entlang des kapitalistischen Innen-Außen-Verhältnisses werden in der vorliegenden Arbeit folglich ausgehend von den (Re)Produktionsverhältnissen der »Masse der Menschen« untersucht, was mich im Laufe der empirischen Forschung und theoretischen Reflexion auf die Begriffe und die besondere empirische Bedeutung des »bedarfsökonomischen Sektors« und der »Verflechtung« stieß. Dabei verfällt meine Argumentation keineswegs in einen Ökonomismus, da sie – wie in Kapitel 4 und 5 deutlich wird – erstens beispielsweise Geschlechterverhältnisse keineswegs als abgeleitete Phänomene untersucht, sondern diese in der Analyse unmittelbar innerhalb der genannten (Re)Produktionsverhältnisse verortet. Zweitens, weil die ökologische, die ökonomische und die politisch-kulturelle Dimensionen als drei gleichberechtigte Analyseebenen gewertet werden, jedoch aufgrund einer bestehenden Forschungslücke der Fokus auf eine politisch-ökonomische und klassentheoretische Fragestellung gelegt wurde. Drittens, weil ökonomische Verhältnisse nicht nur als »determinierend«, sondern – wie Kapitel 6 zeigt – auch als Ergebnisse von Grenzkämpfen und Kräfteverhältnissen begriffen werden.

In Folge oben angedeuteter erster Befunde und Veröffentlichungen, die dieser Arbeit vorausgingen sowie eines kontinuierlichen Erkenntnisfortschritts im Rahmen des Forschungsprozesses, der die sukzessive Gewinnung von Primärdaten, den Abgleich mit Sekundärdaten und -literatur sowie die Einarbeitung in relevante theoretische Debatten einschloss, konnte die ursprüngliche Formulierung des Forschungsinteresses konkretisiert werden (Helfferich 2011: 27). Diese spezifischeren Forschungsfragen lauten nun: Welche Rolle spielt der bedarfsökonomische Sektor in der Untersuchungsregion und zu welchen ökonomischen und ökologischen Verflechtungen mit dem kapitalistischen Sektor kommt es? Inwiefern stellen die ökologischen und die ökonomischen Verflechtungen dabei die zentralen Konfliktgegenstände dar? Konvergieren soziale, ökologische und kulturell-ethnische Ungleichheiten entlang der sektoralen Trennung? Inwiefern lassen sich die Konflikte zwischen der Forstindustrie und den indigenen Mapuche im zentralen Süden Chiles als sektorale Grenzkämpfe verstehen? Lassen sich die Grenzkämpfe als Konflikte entlang einer Klassenachse analysieren? Inwiefern kommt es zwischen den Grenzkämpfen der Mapuche und der Nicht-Mapuche zu Allianzen?

Da die Analyse der genannten Fragen empirisch die (Re)Produktionsverhältnisse chilenischer Privathaushalte mit Fokus auf die Untersuchungsregion La Araucanía im südlichen Chile als Ausgangspunkt wählt und zu den bedarfsökonomischen Praktiken und deren Verflechtungen mit der Forstindustrie nur vereinzelte Forschungen vorliegen, handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit um eine explorativ angelegte Studie. Das Interesse meiner Forschung besteht dabei darin herauszufinden, wie die bedarfsökonomischen Praktiken und deren Verflechtungen mit der chilenischen Forstindustrie funktionieren und welche Schlussfolgerungen dies für sozialökologische Konflikte zulässt. Damit steht wie bei qualitativer Forschung im Allgemeinen das »Verstehen« und die Frage nach dem »Wie« im Mittelpunkt (Helfferich 2011: 26 ff.; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 4 f.). Deshalb geht es bezüglich der zu gewinnenden Primärdaten um qualitative Erhebungsmethoden. Dafür nutze ich – wie im Folgenden dargelegt – vor allem die Methode des problemzentrierten Interviews und der teilnehmenden Beobachtung (Witzel 1985; Przyborski/Wohlrab-Sahr: 2014: 44 ff.). Die Daten wurden in fünf Feldaufenthalten zwischen 2016 und 2022 erhoben. Vier ländliche Kommunen wurden dabei eingehender beforscht und die Kommune Galvarino als Hauptfall ausgewählt, da es von den untersuchten Fällen in ihr am stärksten zu Konflikten zwischen Forstindustrie und Mapuche kommt.

Insgesamt orientiere ich mich sowohl bei der Fallauswahl, der Datenerhebung als auch der Auswertung an der Grounded Theory nach Anselm Strauss. Diese ermöglicht es, aus der Empirie relevante Kategorien und deren Beziehungen zueinander herauszuarbeiten (Strauss/Corbin 1996: 32). Sie liefert in den Worten von Strauss eine Methodologie, die es ermöglicht, eine Theorie »aus den Daten heraus zu entdecken« (Legewie/Schervier-Legewie 2004). Auch wenn die Kapitelreihenfolge dieser Arbeit den Anschein erweckt, die theoretische Reflexion in Kapitel 2 sei a priori erfolgt, handelt es sich dabei vielmehr um ein empirisch-theoretisches Wechselverhältnis, bei dem die relevante Forschungsliteratur und die Kategorien erst mittels empirischer Befunde aus dem laufenden Forschungsprozess »entdeckt« wurden. Es handelt sich in diesem Sinne bei der Heuristik (Abschnitt 2.6) um einen »theoretischen Rahmen«, der erst »im Forschungsprozess selbst« entstand (Strauss/Corbin 1996: 32). Diese »Parallelisierung der Arbeitsschritte« ist keine Besonderheit meiner Forschung, sondern in an der Grounded Theory angelehnten Vorgehen üblich (Strübing 2014: 461 f.). Dieses Vorgehen dient auch dazu, anschließend an die aus den empirischen Untersuchungsfällen gewonnenen Erkenntnisse (Kapitel 5), theoretische Verallgemeinerungen und relevante allgemeingültige Konzepte herauszuarbeiten (ebd.: 463; Aghamiri/Streck 2016: 214 f.) und generalisierbare Aussagen über den Forschungsgegenstand machen zu können (Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013: 24). In meinem Fall bedeutet dies, zu theoretischen Schlussfolgerungen über Grenzkämpfe, Klassenverhältnisse und Verflechtungen in extraktivistischen Peripherien zu gelangen (Kapitel 6).

3.2 Fallauswahl und -darstellung

Die Untersuchungsregion, auf die sich meine Forschung konzentriert, befindet sich im sogenannten »zentralen Süden« Chiles (siehe Abbildung 3.1).Footnote 2 Weil sich die Konflikte zwischen Forstindustrie und Mapuche vor allem auf dieses Gebiet konzentrieren, zielte die Forschung insbesondere auf den südwestlichen Bereich der Region Biobío und den Norden der Araucanía. Da allerdings die meisten quantitativen und qualitativen Daten nur jeweils für die offiziellen Regionen verfügbar sind, fokussiere ich mich in Abschnitt 4.3, das den sozialökologischen Kontext des Konflikts erörtert, auf die Araucanía (in der Karte schraffiert), in der auch der überwiegende Teil der empirischen Forschung stattgefunden hat. Diese Region entspricht auch deshalb dem geschilderten Forschungsinteresse, weil sie nicht nur durch eine große Bedeutung der Forstindustrie und mit dieser einhergehenden Konflikten, sondern auch durch einen großen Anteil an Mapuche gekennzeichnet ist.

Abb. 3.1
figure 1

(Quelle: NordNordWest – Eig. Bearbeitung)

Lage der Araucanía in Chile.

Bei der Fallauswahl ging ich im Sinne des »theoretischen Samplings« vor (Strauss/Corbin 1996: 148 ff.; Strübing 2014). Dabei wurde der zentrale Fall, mit dem die Forschungsarbeit begann, nach »theoretischer Relevanz« ausgewählt (Strauss/Corbin 1996: 148; Breuer 2009: 58). Die drei zentralen Variablen, die diese Fallauswahl prägten, bestanden erstens in der Relevanz der Forstindustrie, zweitens dem hohen Bevölkerungsanteil der Mapuche und drittens bestehenden Konflikten zwischen beiden Akteuren. Erste Expert*inneninterviews und durch diese generierte Feldkontakte sowie eine Kooperationsbeziehung lokaler Projektpartner*innen begünstigten die Auswahl Galvarinos als empirischen Kernfall (siehe Abbildung 3.2).

Abb. 3.2
figure 2

(Quelle: openstreetmap.de – Eigene Bearbeitung)

Ausschnitt der Untersuchungsregion.

Galvarino ist eine land- und forstwirtschaftlich geprägte Kommune mit etwa 12.000 Einwohner*innen, von denen ein Großteil den indigenen Mapuche angehört. Die Kommune liegt am Fuße der Küstenkordillere im stark durch die Forstindustrie dominierten Nordosten der regionalen Hauptstadt Temucos. Während der Süden der Region (südlich Temucos) stärker kleinbäuerlich geprägt ist, kennzeichnet den Norden eine enorme Landkonzentration bei den Forstunternehmen und eine vergleichsweise ärmere ländliche Bevölkerung. Dies hat – wie wir sehen werden – Konsequenzen für die Konfliktdynamik zwischen der lokalen Bevölkerung und den Forstunternehmen. So nimmt die Militanz und Konfliktivität der Gemeinschaften der Mapuche in Richtung Norden der Araucanía deutlich zu. Die Vorteile Galvarinos für die Erforschung der sozialen, ökologischen und politischen Verhältnisse vor Ort liegen darin, dass die Zone einerseits nicht zu sehr von staatlichen Sicherheitskräften militarisiert ist, sodass eine Erhebung von Daten trotz Konflikten möglich ist. Andererseits ist die Zone dennoch in einem hohen Maße von Auseinandersetzungen zwischen Gemeinschaften der Mapuche und Forstunternehmen geprägt, was für das Forschungsinteresse sowie für die Gewinnung einer größeren Menge an Daten über die Konfliktdynamik von Bedeutung ist.

In Galvarino konnten im Zuge der empirischen Arbeit eine Reihe von Konflikten zwischen lokalen Mapuche-Gruppen und Forstunternehmen festgestellt werden. Dies führte im laufenden Forschungsprozess zur Hypothese, dass die stärkere Ausprägung der Variable der ökologischen Verflechtungen tendenziell die Konfliktivität steigert sowie den der Sekundärliteratur entsprechenden vorläufigen Befund, dass zudem ein hoher Anteil an Mapuche an der lokalen Bevölkerung sozialökologische Konflikte mit der Forstindustrie wahrscheinlicher machen. Diese empirischen Erkenntnisse der ersten Auswertungsphasen prägten im Sinne der Grounded Theory den weiteren Forschungsprozess sowie die nachfolgende Fallauswahl (Strübing 2014: 461 f.). In diesem Sinne wurden anschließend kontrastierende Fälle gewählt, die es im weiteren Forschungsprozess ermöglichen sollten, die ersten Befunde zu prüfen (Strauss/Corbin 1996: 148 ff.; Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013: 95): Erstens wurde Cholchol als weiterer Untersuchungsfall festgelegt, wo es trotz ähnlich ausgeprägter Variablen (Anteil der Mapuche in der Bevölkerung und Präsenz der Forstindustrie) zu einer weitaus geringeren Konfliktivität kommt. Neben Galvarino und Cholchol wurden zudem die ebenfalls stark forstwirtschaftlich geprägten Kommunen Curanilahue und Arauco, in denen weitaus weniger Mapuche leben, als kontrastierende Fälle ausgewählt. Dennoch besteht auch dort ein großes Konfliktpotenzial. Die Auswahl der kontrastierenden Fälle richtete sich folglich nach den unterschiedlichen Ausprägungen der Variablen »Dominanz der Forstindustrie«, »Anteil der Mapuche an der lokalen Bevölkerung« sowie der »Konfliktivität«. Diese Ausprägungen wurden im Vorfeld mittels Sekundärliteratur, Presseberichten und (Expert*innen)Interviews in Erfahrung gebracht. Außerdem ist der Fall Arauco von besonderer Bedeutung, da die Forstindustrie dort nicht nur in Form von Forstplantagen, sondern auch in Gestalt einer großen Zellstofffabrik präsent ist. Dies erzeugt in Arauco eine besondere Spaltung der lokalen Bevölkerung entlang der Variablen Mapuche/Nicht-Mapuche aber auch mit Blick auf die Frage, ob ein entsprechender Haushalt ökonomisch – beispielsweise mittels Lohnarbeit – in die Forstindustrie eingebunden ist oder nicht. Dieser Frage gehe ich insbesondere in Abschnitt 5.2 nach.

3.3 Erhebungs- und Auswertungsmethoden

3.3.1 Erhebungsmethoden

Die dieser Arbeit zugrundeliegende empirische Forschung fand seit dem Jahr 2015 in fünf Feldforschungsaufenthalten in Chile statt. Diese bestanden in teilweise mehrmonatigen Besuchen des Untersuchungsgebiets (hauptsächlich La Araucanía). Dabei wurden zunächst Expert*inneninterviews geführt sowie Interviews in der Kommune Galvarino, mit Behördenmitarbeiter*innen in Temuco und mit Unternehmensvertreter*innen in Santiago. Vor und während der Erhebungsphasen wurde auch bestehende Sekundärliteratur und Sekundärdaten gesichtet, auf die im weiteren Forschungsprozess zurückgegriffen wurde. Die Feldforschung war außerdem durch eine dauerhafte teilnehmende Beobachtung begleitet. Im fortschreitenden Forschungsprozess wurden – wie oben dargelegt – die Forschungsfragen konkretisiert sowie neue Interviewkontakte generiert. Im Folgenden lege ich dar, welche Primär- und Sekundärdaten in dieser Forschung genutzt und wie diese erhoben wurden.

Primärdaten durch qualitative Interviews

Die Erhebung qualitativer Daten wurde in den ersten Erhebungsphasen im Frühjahr 2016 entsprechend des »offenen Samplings« und des »offenen Kodierens« (Strauss/Corbin 1996: 148, 153 f.) durchgeführt. Die zentrale Erhebungsmethode bestand hierfür in qualitativen und offenen leitfadengestützten Interviews (Witzel 1985; Strauss/Corbin 1996: 151 f.; Kleemann/ Krähnke/Matuschek 2013: 208 ff.). Das offene, teilstandardisierte Leitfadeninterview eignet sich für mein Forschungsinteresse in besonderem Maße, weil es ermöglicht, bei allen Interviews einer bestimmten Akteursgruppe konkrete Themengruppen zu behandeln und gleichzeitig offen genug zu sein, neue Thematiken zu erschließen (Przyborski & Wohlrab 2014:126 ff.). Interviews stellen sich als geeignete Methode für die Generierung von Daten über sozioökonomische Praktiken und ökologische Probleme prekärer Haushalte sowie das Vorgehen der Forstunternehmen und private und die staatliche Regulierungen in den Untersuchungsregionen heraus. Dabei waren zunächst weder die genauen Interviewpartner*innen, comunidadesFootnote 3 oder Kommunen noch die konkreten Leitfragen der Untersuchung festgelegt. Das Sampling richtete sich nach dem Prinzip der Offenheit und wurde wie die Forschungsfragen, Codes und Konzepte im Zuge des Forschungsprozesses immer stärker konkretisiert (ebd.: 151 ff.). Den Forschungsprozess charakterisierte damit eine »problemzentrierten« Vorgehensweise (Witzel 1985), in der das Forschungsinteresse als leitend für die Auswahl von Interviewpartner*innen sowie für die Interviewführung gilt. Während in den ersten Erhebungsphasen noch unterschiedliche Fragestellungen – beispielsweise nach der konkreten Rolle des Zertifizierungsmechanismus FSC in der chilenischen Forstindustrie – eine Rolle spielten, wurde die Datenerhebungen in den Feldforschungsaufenthalten 2019 und 2021/2022 schon auf der Basis »relevanter Konzepte« (Strauss/Corbin 1996: 157) eingegrenzt. Dabei richtete sich die Datenerhebung maßgeblich auf die Frage der Rolle, Funktionsweise und Probleme des bedarfsökonomischen Sektors, seinen Verflechtungen mit der Forstindustrie sowie nach den Konflikten entlang der kapitalistischen Innen-Außen-Verhältnisse. Die Operationalisierung dieser Forschungsfragen wurde je nach Interviewpartner*in, seien es lokale Bewohner*innen, Forstunternehmer*innen oder Behördenmitarbeiter*innen, angepasst. Die Datenerhebung wurde bis zum Eintritt einer »theoretischen Sättigung« fortgesetzt (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 181 f.).

Tabelle 3.1 Darstellung der Interviews. (Eigene Darstellung)

Über den ganzen Zeitraum des oben angesprochenen soziologischen Teilprojekts wurden mit Bezug zur Forstindustrie 94 Interviews durchgeführt. Von diesen sind 81 Interviews für den hier dargelegten Forschungsgegenstand relevant (siehe Tabelle 3.1). 75 von ihnen wurden ausgewertet und 66 in dieser Arbeit zitiert. Die Namen der Interviewten wurden für die vorliegende Arbeit stets anonymisiert und die Interviews in einer Übersichtstabelle aufgeführt.Footnote 4 Die Interviews wurden in ihrer großen Mehrzahl mit einem Aufnahmegerät aufgenommen, was stets transparent gemacht wurde. In Fällen, in denen dies nicht möglich war, fand die Dokumentation mittels Notizen und Protokollen statt, die unmittelbar nach dem Interview angefertigt wurden. Die Kontaktaufnahme unterschied sich dabei je nach Rolle der Interviewten. So wurden Mitarbeiter*innen von Behörden, NGO, Unternehmen sowie wissenschaftliche Expert*innen nahezu immer per E-Mail oder telefonisch angefragt. Dabei kamen Kontakte zu Forstingenieuren und teilweise auch zu den qualifizierten Beschäftigten der Forstindustrie durch persönliche Beziehungen und telefonische Kontaktaufnahme zustande. Hier kam mir ein internationales wissenschaftliches Netzwerk, das sich im Zuge des oben angesprochenen Forschungsprojekts entwickelte und zu einem engen Austausch mit Kolleg*innen an unterschiedlichen chilenischen Universitäten führte sowie persönliche Kontakte zu Forstingenieuren und zu deutschstämmigen Personen, die in Chile leben, zugute. Die Kontakte zu Interviewpartner*innen innerhalb der Forstindustrie, NGO, staatlichen Behörden oder wissenschaftlichen Expert*innen entstanden meist nach dem »snowball sampling« (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 184 f.). Die ländliche Bevölkerung hingegen wurde stets direkt angesprochen und in ihrem Lebensalltag in Kleinstädten, Dörfern oder bei der landwirtschaftlichen Arbeit aufgesucht. Das Forschungsinteresse an der Frage nach der Relevanz des bedarfsökonomischen Sektors und dessen Verflechtungen mit der Forstindustrie wurde so operationalisiert, dass zunächst relativ offen danach gefragt wurde, wie die betreffenden Haushalte ihre Einkommen generieren und was für den Eigenkonsum produziert wird. Dadurch konnte ein Eindruck der zentralen ökonomischen Praktiken des betreffenden Haushalts gewonnen werden (Bedarfsökonomie). Durch die Interviews wurde implizit oder explizit in Erfahrung gebracht, wie die (geschlechtsspezifische) Arbeitsteilung innerhalb der Haushalte ist (income pooling) sowie ob sich der Haushalt zu den Mapuche zugehörig fühlt oder nicht (kulturelle Identität). Darüber hinaus wurde gefragt, welche Probleme es diesbezüglich gibt und schließlich wie sie ihr Verhältnis mit der Forstindustrie beschreiben würden (Verflechtung und Konfliktivität). Bei diesen Besuchen ländlicher Gebiete ging die Erhebung von Daten durch Interviews fließend in teilnehmende Beobachtung über (ebd.: 44 ff.).

Teilnehmende Beobachtung

Die längste Zeit meiner Forschungsaufenthalte verbrachte ich in den Jahren 2016, 2017, 2019 und 2021/2022 in Temuco – der regionalen Hauptstadt der Araucanía. Diese Aufenthalte sind von großer Bedeutung für diese Forschung, erstens, weil Temuco ein Ort ist, an dem unterschiedliche Teile der Mapuche-Bewegung zusammenkommen sowie an dem sich diese mit übrigen sozialökologischen Bewegungen verbinden, aber auch an dem sie auf die staatlichen Institutionen treffen. Daher kommt es in Temuco auch häufig zu Protesten vor Behörden und Gefängnissen, in denen Mapuche-Aktivisten inhaftiert sind sowie zu stundenlangen gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei im Zentrum der Stadt. Zweitens ist Temuco ein Ort, an dem sich zwei Bereiche des bedarfsökonomischen Sektors verbinden: die ländliche kleinbäuerliche Landwirtschaft und die städtische Bedarfsökonomie. Die Relevanz dieser Verbindung stelle ich in einem kurzen Exkurs in Abschnitt 4.4.5 dar. Außerdem wurden in Temuco eine Reihe von Interviews mit Expert*innen, Mitarbeiter*innen von Unternehmen, staatlichen Behörden sowie NGO und Arbeitgeberverbänden geführt. Von Temuco aus organisierte ich die oben angeführten Feldaufenthalte in den ausgewählten ländlichen Dörfern und Kleinstädten. So wurden die Kommunen Cholchol und Galvarino mehrfach im Jahr 2016 und Galvarino zudem Anfang 2019 zu Forschungszwecken besucht. In die Kommunen Arauco und Curanilahue reiste ich Ende 2019. Neben diesen gezielten Feldaufenthalten kam es zu einer Reihe weiterer Fahrten durch die ländlichen Gebiete der Araucanía, kurzen Aufenthalten in kleinen Städten und Dörfern und Besuchen ländlicher Bewohner*innen außerhalb der oben dargestellten vier Hauptfälle ländlicher Kommunen.

Empirische Daten wurden folglich längst nicht nur mittels Interviews erhoben. Teilnehmende Beobachtung spielte von Beginn an eine große Rolle. Diese dient einerseits dazu, das soziale und ökonomische Leben der Bevölkerung – von den lokalen Lebensmittelmärkten über informelle Händler*innen bis hin zu Handwerksläden oder Essenslieferant*innen – und damit den bedarfsökonomischen Sektor und andererseits die Dynamiken sozialökologische Konflikte in der Araucanía zu verstehen. Dabei nahm ich als Forscher selbst sozial und ökonomisch alltäglich am chilenischen bedarfsökonomischen Sektor teil, da ich dort meine täglichen Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs erwarb. Auf diese Weise kam ich auch mit Händler*innen in Kontakt, die über ihr Erwerbsleben und damit verbundene Schwierigkeiten berichteten sowie darüber Auskunft gaben, woher sie ihre Waren bezogen, ob sie sie selbst produzierten und an wen sie üblicherweise verkauften. Außerdem besuchte ich in Temuco eine Reihe von Demonstrationen wie diejenige des »marcha por el agua« (übers.: Marsch für das Wasser) sowie eine Vielzahl an Demonstrationen der Mapuche und des estallido social von 2019. Wie es bei der teilnehmenden Beobachtung üblich ist, fanden diese Forschungen im Gegensatz zu den Interviews, in denen meine Rolle als Forscher transparent war, häufig »verdeckt« statt (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 42 f.). Hierbei wurden zu Dokumentationszwecken Forschungsprotokolle und teilweise Fotografien angefertigt. Neben offenen Protesten wurden auch Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und informellen Verkäufer*innen dokumentiert.

Teilnehmende Beobachtungen spielten auch bei den Fahrten durch die ländlichen Gebiete eine große Rolle. Dabei nahm ich beispielsweise an kulturellen Veranstaltungen teil, wie etwa Anfang März 2016 in Galvarino an der »fiesta del chancho« (Fest des Schweins). Darüber hinaus besuchte ich kleinere und größere Fabriken (beispielsweise Spanplattenwerke in Lautaro), Sägewerke (beispielsweise in Los Angeles) und eine Blaubeerplantage (Galvarino) sowie Forstplantagen rund um Galvarino, Cañete und in Curanilahue sowie die Küstengebiete rund um die Industrieanlagen der Forstindustrie in Arauco. Außerdem lernte ich Urwälder (beispielsweise Naturschutzgebiete Nahuelbuta), das Leben auf dem Land in der Araucanía und eine Reihe von comunidades in Galvarino kennen. Zudem besuchte ich im Jahr 2016 für einige Tage die großen Proteste der Fischer*innen gegen die Lachsindustrie auf dem Inselarchipel Chiloé im Süden Chiles. Einen besonderen Fokus bildeten bei der teilnehmenden Beobachtung aber stets Orte und Stationen entlang der Transportroute der Exportprodukte des Forstbereichs. Das bedeutete auch, die konfliktreichen Strecken zu befahren, auf denen das Holz aus den Plantagen in der Küstenkordillere zu den Sägewerken und Zellstofffabriken und schließlich zu den Häfen transportiert wird. Entlang dieser Infrastruktur der Forstindustrie kommt es vielfach zu Auseinandersetzungen. So stießen wir Ende 2019 entlang der Straße zwischen Curanilahue und Galvarino – insbesondere rund um Cañete – auf besonders große Zahlen an Straßenbarrikaden, Polizeikontrollen und blockierten Straßenabschnitten.Footnote 5 All diese Beobachtungen wurden in Notizen, Forschungsprotokollen und vielfach auch fotografisch dokumentiert.

Sekundärdaten

Die vorliegende Forschung nutzte seit Beginn des Forschungsprozesses auch Sekundärquellen. Diese beruhen nicht nur auf international verfügbaren Datenbanken die von der OECD, der ILO (ilostat) oder der Weltbank (WITS) bereitgestellt werden. Ich nutzte vor allem Daten chilenischer Behörden wie des nationalen Statistikinstitutes (INE), des nationalen Forstinstitutes (INFOR) oder die nationalen Umfragen zur sozioökonomischen Situation von Haushalten (CASEN) oder Klein(st)betrieben (EME). Außerdem wurden in dieser Arbeit vielfach Daten des chilenischen Ministeriums für Soziales und Familien (MDS) sowie von Programmen der Vereinten Nationen (PNDU) genutzt. Darüber hinaus wurden teilweise Daten von Videos ausgewertet. Dies betrifft beispielsweise Videos, die auf youtube hochgeladen wurden und sozialökologische Proteste dokumentieren, aber auch Werbevideos von Forstunternehmen sowie ein Vortrag mit einem Forstunternehmer über seine besonderen Verbindungen zu den comunidades (siehe Abschnitt 4.4.2). Zudem wurden auch Zeitungen, Zeitschriften und Online-Portale für die Informationsbeschaffung genutzt. Dies gilt für chilenische Zeitungen (beispielsweise La Tercera, El Mercurio, El Mostrador, Biobiochile), aber auch Blogs der Mapuche-Bewegung (beispielsweise Mapuexpress) oder Online-Zeitschriften der chilenischen Linken (El Desconcierto). Des Weiteren wurden politische Erklärungen von Mapuche-Organisationen genutzt und eigens ausgewertet. Zuletzt wurde auch die bestehende wissenschaftliche Literatur zum Forschungsthema in den Forschungsprozess integriert.

3.3.2 Reflexion der eigenen Rolle im Feld

Forschende gehen stets mit eigenen persönlichen, beruflichen aber auch wissenschaftlichen Erfahrungen ins Feld (Strauss/Corbin 1996: 21, 25 ff.). Darüber hinaus bedeutet Feldforschung als Prozess immer auch, sich in irgendeiner Form im Feld zu positionieren (Breuer 2009: 30 ff.; Przyborski/Wohlrab 2014: 44 ff.). Dies gilt gerade beim Erforschen von sozialen Konflikten. So erzeugt diese Situation ein Spannungsfeld zwischen dem Gewinnen des Vertrauens sowie der Annäherung an zu interviewende oder interviewte Personen, die häufig einer Konfliktpartei zugerechnet werden können und damit einhergehend zwischenmenschliche Prozesse, die für die Interviewsituation von Nöten sind einerseits sowie andererseits der Wahrung einer wissenschaftlich gebotenen »kritischen Distanz« (Breuer 2009: 30 ff.). Die deshalb notwendige Reflexion der eigenen spezifischen Rolle im Feld (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 46 f.) gilt bei der vorliegenden Forschung in besonderem Maße, da sie nicht nur in einer Konfliktregion, sondern auch in einem dem Forscher kulturell und sprachlich »fremden« Kontext durchgeführt wurde (Kruse et al. 2012: 15 ff.). Als Europäer in einem Gebiet, das vielfach von europäischen Siedler*innen kolonisiert wurde, stehe ich in einer historischen Kontinuität, in der Macht- und Herrschaftsverhältnisse sowie Stereotype und gewisse Feindschaften fortwirken. Nach wie vor sind die Mapuche Diskriminierungen ausgesetzt (siehe Abschnitt 4.3.3) und grenzen sich andererseits gegenüber den Nicht-Mapuche (winkas) ab. In diesem Sinne werde auch ich als Forschender als winka gesehen, der entweder die Sache der Mapuche aktivistisch unterstützen solle oder aber skeptisch beäugt wird, weil er mit den deutschen Großgrundbesitzer*innen in der Nachbarschaft von comunidades assoziiert wird.Footnote 6 Von mir als Forschendem wurde in diesem Sinne häufig implizit eine Positionierung erwartet oder einfach vorausgesetzt. Dies galt nicht nur mit Blick auf Aktivist*innen der Mapuche oder Bewohner*innen in comunidades, sondern noch stärker hinsichtlich der politischen Gegenseite – den Vertreter*innen von Forstunternehmen und Arbeitgeberverbänden. Insbesondere bei Interviewpartner*innen, die selbst in gewisser Weise eine Konfliktpartei bilden, bekamen die Interviewgespräche immer wieder vorübergehend die Tendenz, dass der/die Interviewte versuchte, den Interviewer politisch zu überzeugen. Mit Blick auf die Auswertung derartiger Interviews ist es von großer Bedeutung, diese politischen Intentionen der Interviewten im Hinterkopf zu behalten.

Die Rolle als europäischer und damit »kulturfremder« Forscher im postkolonialen Kontext birgt jedoch noch weitere Schwierigkeiten: Erstens, weil eigene »Vorannahmen, die auf kulturellen Sichtweisen basieren, […]« für die Forschenden besonders schwer zu bemerken sind, weil sie ihnen als »allgemein geteilte Annahmen« gelten (Strauss/Corbin 1996: 70). Folglich muss ich als forschender Europäer fortwährend eigene »Vorurteile« prüfen, kulturelle Spezifika als solche entdecken sowie andererseits verhindern, etwas vorschnell als »kulturspezifisch« zu betiteln, das möglicherweise tiefergehende oder aber vielleicht auch unausgesprochene rein ökonomisch praktische Gründe hat. In besonderer Weise gilt dies hinsichtlich einer zweiten Problematik: So ist es unter den Mapuche und teilweise auch in der historischen, ethnologischen und kulturwissenschaftlichen Forschung zu den Mapuche üblich, deren Kultur und Lebensweise in gewisser Weise zu »essenzialisieren«, das heißt, deren Identität und Kultur als relativ einheitlich darzustellen und von einer Entsprechung der konkreten Lebensweise mit den kulturellen Normen auszugehen. Diese diskursive Homogenisierung dient den Mapuche selbst dazu, im Sinne eines »strategischen Essenzialismus« (Spivak 1985) politisch handlungsfähig zu werden. In der aufmerksamen empirischen Forschung stellt sich aber weder die Identität, die Kultur noch die Lebensweise der Mapuche wirklich als homogen dar (Kaltmeier 2004: 391 ff.). Der Diskurs darüber, was eine Mapuche-Kultur heute ist (siehe Abschnitt 4.3.3), der auch viele Interviews mit Mapuche prägt, muss im Sinne der reinvented tradition (Hobsbawm 1983: 1 f.) und nicht als Abbild einer realen Lebensweise verstanden werden. Dieser Problematik wurde durch eine Reihe von Fahrten in comunidades, Besuche von Haushalten und Fragen nach konkreten sozialen und ökonomischen Alltagspraktiken begegnet.

Zuletzt muss allerdings auch festgehalten werden, dass mein Status des Ausländers auch Vorteile im Forschungsprozess hatte. Dies gilt einerseits inhaltlich: So können bestimmte Praktiken, die innerhalb des erforschten Feldes als »natürlich« gelten und unhinterfragt bleiben, von einem »Außenstehenden« womöglich als Spezifika erkannt und als besondere erklärende Variable entdeckt werden. Andererseits ergaben sich auch forschungstechnische Vorteile: Beispielsweise konnte die Bitte um die Möglichkeit der Audioaufzeichnung der Interviews stets mit der Erleichterung der sprachlichen Verständnis beim späteren Nachhören des Interviews durch den Interviewer begründet werden. Darüber hinaus erleichterte meine europäische Herkunft auch manchmal Feldzugänge. So empfing mich der damalige Sprecher des Arbeitgeberverbandes der Forstunternehmen zu einem Interview, der sich für einen chilenischen Promovenden niemals Zeit genommen hatte, aber für einen Forscher aus Europa einen Termin von über einer Stunde einrichtete. Zudem hatten gerade Akteure, die eher den Forstunternehmen oder der politischen Rechten zuzuordnen sind, häufig Interesse am Austausch mit einem deutschen Forscher, den sie in Bezug auf die chilenische politische Landschaft und den Konflikt zwischen Forstindustrie und Mapuche als »politikfremd« und »unbeschriebenes Blatt« wahrnehmen. Dabei trauten sie sich im anonymisierten Interviewrahmen mit einem ausländischen Forscher teilweise auch, sehr offen zu sprechen und radikale Ansichten zu äußern, die sie in der chilenischen Öffentlichkeit womöglich so nicht tätigen würden. Damit diente meine ausländische Herkunft in einigen Fällen als privilegierter Türöffner für Feldkontakte in die chilenische besitzende Klasse und öffnete Diskursfelder innerhalb der Interviews, die in der Öffentlichkeit geltende Tabus ignorieren. Es lässt sich schlussfolgern, dass meine Rolle als europäischer Forscher nicht nur eine kultursensible Vorgehensweise im Feld notwendig machte, sondern darüber hinaus selbst eine Wirkung auf das Sampling sowie die beforschten Akteure hatte, die ihre Aussagen teilweise verzerrten, um einen bestimmten politischen Eindruck beim Interviewten zu hinterlassen. Diese »reaktiven Effekte« und ihre Auswirkungen auf die Daten gilt es in der Auswertung zu beachten (Breuer/Muckel 2016: 73 ff.).

3.3.3 Auswertungsmethode und Darstellungsform

Der Forschungsprozess ist in der Grounded Theory durch einen Wechselprozess zwischen Datenerhebung, Auswertung und Theoriebildung gekennzeichnet. Auch in der vorliegenden Forschung dienten erste Erkenntnisse dafür, die Interviewleitfäden nachzubessern, Forschungsfragen zu konkretisieren sowie die weitere Fallauswahl zu bestimmen und auf diese Weise in die nächste Erhebungsphase zu starten. In diesen Prozess wurden immer wieder auch Sekundärdaten und -literatur einbezogen. Dabei treten Forschende unweigerlich mit einem eigenen empirischen und theoretischen Vorwissen an einen Untersuchungsgegenstand heran (Witzel 1985; Strauss/Corbin 1996: 25 ff., 31 ff.). Um in diesem Spannungsfeld theoretische Konzepte nicht einfach auf den Forschungsgegenstand zu übertragen, ist es notwendig, kritisch mit der bestehenden Literatur umzugehen, die Empirie ernst zu nehmen und immer mal wieder »einen Schritt zurück zu gehen« (Strauss/Corbin 1996: 27 ff.). Damit bedeutet Grounded Theory nach Strauss/Corbin nicht, ohne theoretische Vorannahmen empiristisch zu interpretieren, sondern »theoretische Vorannahmen« skeptisch zu behandeln und die Daten möglichst »selbst sprechen zu lassen«, aber gleichzeitig das Vorwissen, die Kreativität und die Eigenleistung des/der Forscher*in ernst zu nehmen, die auch gewisse Techniken umfasst (ebd.: 27 ff.; Breuer/Muckel 2016: 71). Es geht in den Worten der Grounded Theory um »theoretische Offenheit« und »theoretische Sensibilität«, das heißt die Fähigkeit, »zu erkennen, was in den Daten wichtig ist, und dem einen Sinn zu geben« (Strauss/Corbin 1996: 30). Der/die Forschende versucht dabei soweit wie möglich, Codes, Kategorien und Konzepte aus der Empirie »emergieren« zu lassen (Breuer/Muckel 2016: 70).

»Offenes Kodieren« steht damit am Anfang der Auswertung und geschieht noch während des Erhebungszeitraums (Strauss/Corbin 1996: 43 ff.). Diese Form des Kodierens bildet einen Prozess, der weniger darauf zielt, bestimmte Abhängigkeiten zwischen Variablen zu prüfen, als darauf, aus dem empirischen Material neue Kategorien zu entwickeln, »Phänomene zu benennen« und deren Beziehungen zueinander zu verstehen (ebd.: 32, 43 ff.). In der vorliegenden Arbeit haben sich vor allem die Konzepte des »Innen-Außen-Verhältnisses«, des »bedarfsökonomischen Sektors«, der »kulturellen Identität« und damit zusammenhängend der »politischen Ökonomie der Enteigneten« sowie der »ökologischen« und der »ökonomischen Verflechtung« als zentrale Kategorien aus dem empirischen Forschungsprozess herausgeschält. Während einige Begriffe wie das »Innen-Außen-Verhältnis« aus theoretischen Debatten übernommen werden, stellen andere, wie derjenige des »bedarfsökonomischen Sektors«, eigene Kreationen dar. Diese Kategorien dienen – wie angesprochen – dazu, empirisch festgestellte, sozial relevante Phänomene »zu benennen«.

Teil des Kodierungsprozesses kann zudem auch eine Typenbildung sein. Im Forschungsprozess wurde beispielsweise schnell deutlich, dass den Variablen der »indigenen Zugehörigkeit« eine besondere Rolle bezüglich der strukturellen Dichotomie entlang der kapitalistischen Innen-Außen-Verhältnisse im zentralen Süden Chiles zukommt. Zu diesem Ergebnis kam ich im Rahmen der Auswertung erster erhobener Daten sowie mittels der Reflexion dieser Ergebnisse anhand der Sekundärliteratur über die Mapuche in Chile. Um den Zusammenhang zwischen »kultureller Identität« und »Konfliktivität« zu überprüfen, wurde im weiteren Forschungsprozess damit auch zwischen Mapuche und Nicht-Mapuche unterschieden. Letztere werden dabei in der Regel einfach als »Chilen*innen« bezeichnet, weil dies auch der Wortwahl der Mapuche in den Interviews entspricht, mit der sie die kulturelle und historische Differenz ihrer kulturellen Gruppe gegenüber den chilenischen Nicht-Mapuche markieren (Höhl 2022). In diesem Sinne wird in Abschnitt 5.2.3 auch eine Typenbildung ländlicher Haushalte vollzogen. Die vier Felder (Mapuche/Nicht-Mapuche, konfliktiv/fatalistisch) stellen dabei keine starren Identitäten dar, sondern idealtypische Kategorien, mittels derer ich Zusammenhänge innerhalb der Daten aufdecke.Footnote 7 Es handelt sich folglich um eine »heuristische Typologie« (Kluge 1999: 60 ff.), die dazu dient, die Fragen zu beantworten, ob und in welchem Zusammenhang die Unterscheidungen zwischen konfliktiven und fatalistischen sowie indigenen und nicht-indigenen Haushalten im Zusammenhang zu jeweils spezifischen Verflechtungen mit der Forstindustrie stehen sowie inwiefern es mit Blick auf die Grenzkämpfe in Chile zu vereinenden Momenten zwischen Chilen*innen und Mapuche entlang der klassenspezifischen sozialen Polarisierung und der sektoralen Grenze gegenüber der Forstindustrie kommt. Damit wird schon deutlich, dass auf die Phase der »offenen Kodierung«, in der »Konzepte« herausgearbeitet wurden (Strübing 2014: 466 f.), Auswertungsschritte folgen, die Verbindungen, kausale Zusammenhänge und Antagonismen offenlegen können. Diese Schritte bezeichnet die Grounded Theory als »axiales« und »selektives Kodieren« (Strauss/Corbin 1996: 75 ff., 94 ff., 157).

Wurden zuvor in einem inhaltsanalytischen Verfahren Codes, Konzepte und Kategorien aus der Empirie gewonnen, werden nun mittels weiterer Auswertungsschritte und eines fortschreitenden Samplingprozesses die Beziehungen zwischen den gewonnenen Kategorien und Variablen untersucht. Dabei kommt es mit Blick auf die Auswertung zu einem dauerhaften induktiv-deduktivem Wechselverhältnis (Witzel 1985; Strauss/Corbin 1996: 156 f.). Dem »axialen Kodieren« (Strauss/Corbin 1996: 75 ff.) geht es dabei darum, »erklärende Bedeutungsnetzwerke« und Hypothesen hervorzubringen (Strübing 2014: 467). In unserem Zusammenhang ließe sich beispielsweise die Konvergenz von Klassenachse und sektoraler Trennung in Form der »sozialen Polarisierung« (Abschnitt 5.1.1) als eine Hypothese mit Blick auf die Verbindung zentraler Auswertungskategorien bezeichnen. Der rote Faden wird in die Auswertung der Empirie allerdings erst durch das »selektive Kodieren« gebracht (Strauss/Corbin 1996: 94 ff.). Dabei geht es unter anderem darum, die Empirie mit Blick auf zentrale Schlüsselkategorien noch einmal zu überdenken (Strübing 2014:468 f.). Im vorliegenden Fall wäre dies die Kategorie der »sektoralen Grenzkämpfe«, die als Schlüsselkategorie zu einer theoriegenerierenden Reinterpretation des empirischen Materials beitrug.

Der Forschungsprozess als abwechselnder Prozess aus Erhebungs- und Auswertungsphasen generiert damit sukzessive Kategorien, Konzepte und Zusammenhänge. Zunehmend rücken dabei bestimmte zentrale Kategorien in den Fokus. In der vorliegenden Arbeit, die von der Frage nach dem Zusammenhang von sozialökologischen Konfliktdynamiken und den kapitalistischen Innen-Außen-Verhältnissen ausging, stellten allmählich die Variablen des »bedarfsökonomischen Sektors«, der »ökonomischen« und »ökologischen Verflechtung«, der »politischen Regulierung« sowie der »sektoralen Grenzkämpfe« zentrale Kategorien dar. In Abschnitt 2.6 wurden diese Kategorien auf Basis einer breiten Forschungsliteratur zu einer Heuristik verbunden. Im Folgenden bilden diese Kategorien zudem die Basis der Struktur der Darstellung meines empirischen Materials. Im nachfolgenden vierten Kapitel wird beispielsweise nicht nur der chilenische Kapitalismus als extraktivistische Peripherie beschrieben (Abschnitt 4.1.1 bis 4.1.3), sondern ein besonderer Fokus auf die Frage gelegt, wie sich der bedarfsökonomische Sektor in Chile historisch entwickelte (4.1.2) und wie er aktuell zu charakterisierten ist (4.1.4). Für diese Kapitel nutze ich im Wesentlichen wissenschaftliche Sekundärliteratur, quantitative Daten chilenischer Behörden und Unternehmensberichte, Veröffentlichungen staatlicher Behörden sowie teilweise auch Presseberichte. In Abschnitt 4.1.5 stelle ich die politische Regulierung der jeweiligen wirtschaftlichen Sektoren dar und nutze dafür erste Expert*inneninterviews, durch die insbesondere an Informationen darüber gelangt werden konnte, welche Ziele, konkrete Prozesse und Probleme mit der staatlichen Förderung bedarfsökonomischer Prozesse einhergehen. Grenzkämpfe stehen dann in Abschnitt 4.1.6 im Mittelpunkt, wofür ich teilnehmende Beobachtung, Sekundärliteratur und eigene Vorarbeiten nutze. Ab Abschnitt 4.2, in dem es um die chilenische Forstindustrie geht, nutze ich vermehrt meine Primärdaten. Dies gilt auch für Abschnitt 4.3, in dem ich mittels Sekundär- und Primärdaten insbesondere auf die soziale und ökologische Situation in der Araucanía eingehe. In Abschnitt 4.4 werden dann anhand der in den ländlichen Kommunen erhobenen Daten meine konkreten Fälle dargestellt. In Kapitel 5 arbeite ich heraus, wie die in Abschnitt 4.4 beschriebenen Konflikte zwischen der lokalen Bevölkerung und dabei insbesondere den Mapuche und der Forstindustrie mit spezifischen ökonomischen und ökologischen Verflechtungen im Zusammenhang stehen und inwiefern die sektorale Spaltung zwischen bedarfsökonomischem Sektor und der Forstindustrie in den untersuchten Kommunen mit Klassenverhältnissen in Chile im Allgemeinen konvergiert. Dies bringt mich in Kapitel 6 zu einer Einschätzung darüber, ob die Konflikte der Mapuche mit der Forstindustrie eine besondere Form der chilenischen Grenzkämpfe darstellen und was wir daraus für ein allgemeineres Verständnis über die kapitalistischen Innen-Außen-Verhältnisse lernen können.