Dieser theoretische Teil meiner Arbeit gibt einen Überblick über Debatten, die sich aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Traditionen heraus mit der Frage des »Innen-Außen-Verhältnisses« kapitalistischer Gesellschaften des globalen Südens beschäftigen. Zunächst beginnt er mit einem Problemaufriss (2.1), der verdeutlicht, dass von einer globalen Vereinheitlichung sozioökonomischer Verhältnisse nicht ausgegangen werden kann. Es lässt sich in der Mehrheit der Länder des globalen Südens vielmehr von einer bleibenden und zentralen Rolle des bedarfsökonomischen Sektors ausgehen. Nichtsdestotrotz ist dieser nicht-kapitalistische Bereich nur in geringem Maße Gegenstand soziologischer Theoriebildung geworden. Unter denjenigen Ansätzen, die sich eingehender mit diesem beschäftigen, besteht zudem kaum Einigkeit, wie er analytisch zu fassen ist. Deshalb werden im Folgenden die Modernisierungstheorien (2.2), das Dependenz- und Weltsystemdenken (2.3.1), sozialanthropologische und feministische Debatten (2.3.2), politökologische und postkoloniale (2.4.1 und 2.4.2) sowie regulationstheoretische (2.5) Theoriestränge verfolgt, die in unterschiedlicher Weise die strukturellen Heterogenitäten von Gesellschaften des globalen Südens diskutieren. Zwar lassen sich die dabei gewonnenen Begrifflichkeiten nicht eklektisch kombinieren, allerdings können wichtige Erkenntnisse zu einer eigenen Heuristik beitragen, die ich in Kapitel (2.6) entwerfe.

2.1 Theoretischer Problemaufriss

2.1.1 »Entwicklung« als Industrialisierung und Proletarisierung

»The world is entering a new age – the age of total industrialization«, schrieb ein US-amerikanisches Forscherteam Mitte der 1960er Jahre in einer Studie mit dem Titel »Industrialism and Industrial Man« und kam zu dem Schluss: »Some countries are far along the road; many more are just beginning the journey« (Kerr et al. 1960: 3). Unter »Industriegesellschaften« verstanden sie solche Gesellschaften, die sich mittels Industrialisierungsprozessen aus der traditionellen Gesellschaft herausbildeten (ebd.: 14). Industrialisierung stellten sich die Autoren ganz im Sinne des damaligen Zeitgeistes als den sukzessiven Aufbau eines maschinendominierten, modernen Fertigungssektors in Großunternehmen, einer Verbreitung der abhängigen Beschäftigung als Einkommensquelle der breiten Bevölkerung sowie eine zunehmende wissenschaftliche Durchdringung der wirtschaftlichen Rationalität vor (ebd.: 16–25; Lutz 1989: 104 f.). Das Industrialisierungsparadigma, welches Fortschritt und Industrialisierung gleichsetzte und mit Produktivitätssteigerungen, Effizienz und Wachstum des Bruttoinlandsproduktes identifizierte, verbreitete sich damals in der Gesellschaft, Politik und Wissenschaft. Implizit wirkt es bis heute fort. Industrialisierung sei der unaufhaltsame Entwicklungsweg aller »fortschrittlichen« Gesellschaften und würde alle Kulturen assimilieren. Überall würden die Menschen mehrheitlich innerhalb von Großunternehmen beschäftigte lohnabhängige Anhängsel der Maschinen. Sie würden gleichzeitig in stetig größeren Genuss von Freiheiten, Qualifizierung und Konsum kommen (Kerr et al. 1960: 16–27). Industrialisierung gilt bis heute als Fortschritt und nicht-industrielle Produktionsweisen als überkommene Relikte.Footnote 1

Ausgangspunkt dieser sozialen und wirtschaftlichen »Entwicklung durch Industrialisierung« bildet historisch ein Prozess, den Karl Marx als »ursprüngliche Akkumulation« (Marx 1973: 741 ff.) bezeichnete. Damit beschreibt er die »Scheidung« der »unmittelbaren Produzent*innen« von ihren Produktionsmitteln, das heißt, vor allem die Enteignung von Kleinbäuer*innen von ihrem Land (ebd.: 742). Marx beschrieb diese zentrale Entstehungsphase der kapitalistischen Industriegesellschaft mit Blick auf England weniger als eine »Entwicklungsgeschichte« im normativen Sinne als vielmehr kritisch als eine Geschichte der »Eroberung, Unterdrückung, Raubmord, kurz der Gewalt«, die wesentlich von staatlichen Akteuren vorangetrieben wurde (ebd.: 742). Die kleinen Produzent*innen wurden dabei weitgehend um ihre Grundstücke und ihre Gemeindeflächen gebracht, sodass die alten ländlichen (Re)Produktions- und Lebensweisen unmöglich wurden (Wood 2002: 108 f.). In der Folge vagabundierten die Enteigneten als Arbeitslose durch die Städte und Dörfer, auf der Suche nach Gelegenheitsarbeiten, um dann mittels staatlicher Zwangsgesetzgebung in der industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts allmählich als eine neu entstehenden Klasse der »doppelt freien« Lohnarbeiter*innen wirtschaftlich integriert zu werden (ebd. 416 ff., 761 ff.).Footnote 2 In dieser Hinsicht lässt sich in der Entstehung des westeuropäischen Kapitalismus eine doppelte Proletarisierung ausmachen, die einerseits aus »passiver Proletarisierung« – der Trennung der Produzent*innen von ihren produktiven Ressourcen – und andererseits aus »aktiver Proletarisierung« – der Integration der »freigesetzten Arbeitskräfte« in Lohnarbeit – besteht (Lenhardt/Offe 1977: 102). Diese doppelte Proletarisierung großer Teile der Bevölkerungen wurde historisch in mehrfacher Hinsicht als eine strukturelle Voraussetzung für die Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus westeuropäischer Prägung verstanden: Erstens, weil sich damit eine Masse an Menschen herausbildete, die bereit war, ihre Arbeitskraft auf Märkten zu verkaufen; zweitens, weil sich dadurch eine kapitalistische Landwirtschaft ausdehnte, die die wachsenden Städte mit Lebensmitteln belieferte und drittens, weil dadurch ein Binnenmarkt entstand, auf dem produzierte Waren abgesetzt werden konnten (Wood 2002: 95 ff., 142 ff.; Dörre 2009a: 36 f.).

Marx ging grundsätzlich davon aus, dass passive und aktive Proletarisierung für einen großen Teil der Enteigneten langfristig zusammenfallen und trotz seiner kritischen Perspektive, vertrat auch er in seinen jungen Jahren die These, dass es eine »Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen« darstelle, die »neuen Industrien« einzuführen (Marx/Engels 1959: 466). Die Entwicklung der Industrieproduktion mit ihren Zyklen würden im Anschluss die Grundlage für die entscheidenden Beschäftigungseffekte und die Dynamik am Arbeitsmarkt aller kapitalistisch dominierten Länder bilden (Marx 1973: 648 f., 658–661).Footnote 3 Industrielle Konjunktur und die Generierung von Beschäftigung schien in einem kausalen Verhältnis zu stehen. Die im 20. Jahrhundert entstehende Modernisierungstheorie und »Entwicklungspolitik« machte daraus ein normatives Modell sozioökonomischer »Entwicklung«. Gesellschaftliche Wohlfahrt und formelle lohnabhängige Beschäftigung seien durch Industrialisierung zu induzieren und die im landwirtschaftlichen Sektor »überzählig« vorhandenen Arbeitskräfte in den sekundären Sektor zu integrieren (Lewis 1954; Enke 1962). »Entwicklung« wird dabei klassischerweise als kaskadenförmiger sektoraler Wandel verstanden, bei dem die zentralen Beschäftigungseffekte vom primären zum sekundären – und später zum tertiären – Sektor übergehen (siehe Abschnitt 2.2.1). Industrialisierung und aktive Proletarisierung werden dabei folglich in einen kausalen Zusammenhang gebracht. Die gewaltvolle Proletarisierung der unmittelbaren Produzent*innen schien vielen daher eine notwendige Voraussetzung nicht nur für Kapitalismus und Industrialisierung überhaupt, sondern auch für dessen mitunter erfolgreiche »soziale Entwicklung« darzustellen (Kerr et al. 1960; Rostow 1966; Kocka 2017: 79 ff.).Footnote 4

Fortschritt und Modernisierung, Industrialisierung und Angleichung des Lebensstandards an den »Westen« waren demnach auch die großen Versprechungen, die den sogenannten »Entwicklungsländern« gemacht wurden (Escobar 2016). Die diesem Versprechen zugrundeliegenden Modernisierungstheorien, die Mitte des 20. Jahrhunderts aufkamen, erklärten, dass »Fortschritt« und »Entwicklung« im Sinne der »westlichen Welt« für alle möglich sei, die sich in ihre Welt und ihre »freien Märkte« eingliederten. Das verbreitete Entwicklungsdenken dieser Zeit ging dabei von zwei Grundprämissen aus: Erstens, dass »Entwicklung« Industrialisierung bedeutete und diese in einer sukzessiven Ausdehnung des sekundären Fertigungssektors bestand (Tregenna 2016: 710; Escobar 2016: 340; Menzel 2010: 20 f.) und zweitens, dass sich die gesamte Erwerbsbevölkerung allmählich immer mehr proletarisiere (Bhattacharyya 2018: 177). Das heißt, dass sich die vielzähligen Handwerker*innen, die bäuerlichen Haushalte oder die informellen Dienstleister*innen in lohnabhängige Beschäftigte verwandelten.Footnote 5 Industrialisierungsparadigma und Proletarisierungsthese kennzeichnen in diesem Sinne eine modernisierungstheoretische Zielvorstellung für alle Länder der Welt.Footnote 6

Diese »Fortschrittsgeschichte« der frühindustrialisierten Länder Europas scheint nicht nur von den westeuropäischen Ländern, wo sich die soziale »Homogenisierung« im Zuge der Proletarisierung am stärksten durchgesetzt hat (Hirsch/Roth 1986: 51; Aglietta 2015: 24), sondern in den letzten Jahrzehnten auch durch den wirtschaftlichen Aufstieg ostasiatischer Länder gestützt zu werden. Die low road der Industrialisierung in einigen Regionen des globalen Südens, die durch die Verlagerung von arbeitsintensiver unqualifizierter Fertigung oder Montage in diese Länder geprägt war, führte vielerorts zumindest zwischenzeitlich zu einem Bedeutungszuwachs lohnabhängiger Beschäftigung im sekundären Sektor (Sengenberger/Pyke 1992: 12 f.; Rodrik 2015). Einige Länder – insbesondere des ostasiatischen Raums – konnten damit auch Wohlstandsgewinne erzielen, weil sie zunehmend qualifizierte und technologischere Fertigungstätigkeiten leisteten (Lipietz 1998: 136 ff.). Industrialisierung scheint damit auf den ersten Blick nach wie vor ein »Entwicklungsphänomen« darzustellen.Footnote 7 Allerdings verharren eine Reihe industrialisierungsbemühter Länder auf der sogenannten low road, weil kein upgrading entlang der Güterkette und damit keine Aneignung steigender Wertschöpfungsanteile gelingt, weshalb sich die Länder weiterhin als Niedriglohnländer profilieren müssen (Smith 2016). Derartige Industrialisierungswege sind durch Phänomene »fragmentierter Industrialisierung« und »industrieller Enklaven« (Fröbel/Heinrichs/Kreye 1977: 24) geprägt, die eine Entkoppelung global integrierter Fertigung von den lokalen wirtschaftlichen Aktivitäten bezeichnen. In einer Vielzahl von Regionen ist der erhoffte Übergang von einer arbeitsintensiven und tendenziell proletarisierenden low road der Industrialisierung zu einer high road mit besserer Qualifikation und Beschäftigungsbedingungen ausgeblieben.Footnote 8 Eine »soziale Entwicklung« durch Industrialisierung ist damit keinesfalls verallgemeinerbar. Dies gilt nicht nur aufgrund der Beschränktheit globaler Märkte, sondern auch aufgrund ökologischer Grenzen (Altvater 1987). Industrialisierungsprozesse in Volkswirtschaften stellen damit immer »positionelle Entwicklungswege« dar, die ihre Exklusivität wahren müssen, wollen sie nicht einen Preisverfall ihrer Produktpaletten oder gesteigerten Konkurrenzkampf um nötige Rohstoffe erleiden (ebd.: 37). Ein bedeutender Teil der ärmeren Länder ist dementsprechend weiterhin nahezu ausschließlich durch Rohstoffexporte dominiert (Goldberg 2015: 37 f.; Graf et al. 2020: 22).Footnote 9 Andere Länder wie beispielsweise Russland, Südafrika oder auch Brasilien, die zwischenzeitlich als neue, aufstrebende Industrienationen gehandelt wurden, sind zuletzt durch Prozesse der »vorzeitigen Deindustrialisierung« gekennzeichnet (Arrighi/Aschoff/Scully 2010: 428 f., 433; Schmalz/Ebenau 2011: 55; Jaitner 2015; Rodrik 2015; Tregenna 2016: 712 f.).Footnote 10 Die Folge ist weniger eine globale Konvergenz als eine relativ stabile internationale Arbeitsteilung, in der unterschiedliche Länder und Regionen sehr verschiedene Güter und Dienstleistungen erzeugen.

Gerade Lateinamerikas Ökonomien sind zuletzt anstelle einer schrittweisen Industrialisierung und Proletarisierung durch eine »Reprimarisierung«, das heißt einen Bedeutungszuwachs landwirtschaftlicher, fossiler und unverarbeiteter naturintensiver Exportgüter gekennzeichnet (Jäger/Leubolt 2011; Schincariol/Barbosa/Yeros 2017; Staritz/Reiner/Plank 2021: 371 f.). Neben den klassisch relevanten Rohstoffexportsektoren wird im Zuge der sogenannten »grünen Revolutionen« auch die Weltmarktintegration des landwirtschaftliche Bereichs verstärkt. Diese Prozesse der Reprimarisierung werden von internationalen »Entwicklungsorganisationen« zur »erfolgsversprechenden Entwicklungsstrategie für das 21. Jahrhundert aufgewertet« (Peters 2015: 150, 158 f.) und markieren einen gewissen Abschied vom alten Gedanken der Industrialisierung als einzig möglichem »Entwicklungsweg«.Footnote 11 Zu einer globalen Konvergenz sozialer und ökonomischer Verhältnisse scheint es damit selbst in den Augen der neueren »Entwicklungspolitik« nicht zu kommen.

Doch selbst in denjenigen Weltregionen, in denen es im 20. Jahrhundert zu Industrialisierungsprozessen kam, konnten diese das entwicklungstheoretisch diagnostizierte Problem der Unterbeschäftigung nicht lösen. Gunnar Myrdal (1966: 66) gestand schon Mitte der 1960er Jahren ein, dass das industrielle Wachstum keinesfalls immer zu ausreichenden Beschäftigungseffekten führt. Er kam vielmehr zu der Einsicht, dass die Steigerung der Beschäftigung im sekundären Sektor vielerorts nicht einmal mit dem Bevölkerungswachstum mithalten konnte (ebd.: 67).Footnote 12 Das Beschäftigungsproblem im industriellen Sektor, führt zum Phänomen der dauerhaften Unterbeschäftigung im kapitalistischen Sektor insgesamt. Dieses kapitalistische »Entwicklungsproblem« ließe sich nach Myrdal nur lösen, indem ein Großteil der Bevölkerung weiter Beschäftigung im landwirtschaftlichen Sektor fände (ebd.). Das »Myrdal Dilemma« (Mattick 1974) besteht in der Folge darin, dass »Entwicklung« zwar einerseits durch die Ausdehnung der industriellen Produktion erzielt werden soll, andererseits die Ökonomie weiterhin landwirtschaftlich geprägt bleiben muss, um dem Beschäftigungsproblem entgegenzuwirken.Footnote 13 Myrdal kommt letztlich zu dem Schluss, dass es vor dem Hintergrund des oben geschilderten Dilemmas nur den Ausweg gebe, die Landwirtschaft stärker in den Fokus staatlicher Förderungspolitik zu nehmen, ihn protektionistisch gegen den Weltmarkt abzuschirmen und gleichzeitig darauf zu setzen, dass sich keine arbeitssparenden Technologien durchsetzen (Myrdal 1968: 70–74; Mattick 1974: 274 ff.).

Seit Myrdals Diagnose der Unterbeschäftigung sind viele Jahrzehnte vergangen. Doch er scheint über die Zeit Recht behalten zu haben. Die Industrialisierungsprozesse in einer Großzahl von Ländern in Lateinamerika, Nordafrika und Asien konnten die überwiegende Mehrheit der Erwerbsbevölkerung dieser Länder nicht integrieren. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall (Kay 1975: 127 f.; Sanyal 2007: 185; Graf 2019: 112–115). Beobachter*innen sprechen angesichts der Gleichzeitigkeit häufig hoher Wachstumsraten der Volkswirtschaften und wenn überhaupt geringem Anstieg der Beschäftigungsmöglichkeiten von einem jobless growth (Sanyal 2007: 245 ff.; Bhaduri 2018). Selbst dort, wo der sekundäre Sektor wuchs, führten importierte Technologien schon früh dazu, dass mögliche Beschäftigungseffekte zunichte gemacht werden (Kay 1975: 129; Rodrik 2015). Die damit aufklaffende Beschäftigungslücke hatte zur Folge, dass die landwirtschaftlichen Tätigkeiten für große Teile der Bevölkerung ärmerer Länder bis heute von großer Bedeutung bleiben und sich in den Slums der Megametropolen gleichzeitig der informelle Sektor ausweitet (Roberts 2014). In einigen Ländern geht die ländliche Beschäftigung direkt in den tertiären Sektor über. Es kommt zu einer »frühen Tertiärisierung« und einem dienstleistungsgetriebenen Wachstum (Córdova 1971: 48; Beerepoot/Lambregts/Kleibert 2017). Die Folge ist, dass die Beschäftigungsverhältnisse rund um den Globus nicht konvergieren und statt sich immer mehr den frühindustrialisierten Staaten anzugleichen, je nach Position und Spezialisierung im Weltsystem sehr unterschiedlich ausfallen. Dies hat auch Folgen für die Klassenverhältnisse und Konfliktdynamiken der betroffenen Länder.

»The degree of proletarianization in a state », schreibt der chinesische Politökonom Minqi Li, »appears to be correlated with the state’s position in the world-system hierarchy« (Li 2008: 102). Die innere Sozialstruktur eines Landes hängt demnach wesentlich von der Position eines Landes in der internationalen Arbeitsteilung ab. Während in China in einigen Regionen eine weitgehende Proletarisierung seiner Erwerbsbevölkerung stattfinde, seien beispielsweise in Lateinamerika nur etwa 20 bis 30 Prozent der Beschäftigten vollständig proletarisiert (ebd.: 2008: 102 ff., 107 ff.). Proletarisierungsprozesse scheinen folglich regional sehr unterschiedlich zu verlaufen. In low income countries sind beispielsweise rund 60 Prozent der Beschäftigten im landwirtschaftlichen Sektor und nur weniger als sechs Prozent in der industriellen Fertigung tätig.Footnote 14 Nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch im städtischen informellen Sektor vieler Großstädte des globalen Südens dominiert statt formeller Lohnarbeit in großen Fabriken die informelle Arbeit in kleine Betrieben und Selbständigkeit (Worldbank 2016). Diese Länder sind folglich nicht durch eine Homogenisierung der Sozialstruktur im Zuge einer umfassenden Proletarisierung, sondern durch die bleibende Bedeutung kleiner informeller und in vielen Fällen landwirtschaftlicher Betriebe gekennzeichnet. Industrialisierung scheint aber in jedem Fall nurmehr in immer geringerem Maße als Proletarisierungstreiber zur Verfügung zu stehen. In einer Reihe von Weltregionen lässt sich von einem Ausbleiben oder einem Rückgang der Industrialisierung als pull-Faktor der Proletarisierung sprechen.Footnote 15 Dies hat auch damit zu tun, dass die Entwicklung arbeitssparender Technologien rund um den Globus ganze Sektoren betrifft, was zuletzt durch die Digitalisierung industrieller Fertigung noch beschleunigt wurde und tendenziell zu einem Rückgang industrieller Beschäftigung führt (Bennholdt-Thomsen 1982: 249 f.; OECD 2017; Butollo 2018).

Der ungarisch-österreichische Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi konnte in diesem Sinne schon für die Zentrumsländer zeigen, dass Proletarisierung nicht nur kein global einheitliches Phänomen, sondern darüber hinaus auch kein linearer Prozess ist. Proletarisierung – so könnte man im Anschluss an Polanyi sagen – ist eher eine Pendelbewegung. Polanyi beschrieb die Entstehung des industriellen Kapitalismus in Westeuropa als »große Transformation« (1978). Er beleuchtete dabei insbesondere die staatlichen Politiken, durch die Arbeitskräfte in »fiktive Waren« und die Gesellschaft in Marktgesellschaften, die immer stärker den Gesetzen der Märkte unterliegen, transformiert wurden (Polanyi 1978: 87 ff., 113 ff., 244 ff.).Footnote 16 Polanyi verdeutlicht, dass Proletarisierung einen krisenhaften und konfliktreichen Prozess der Kommodifizierung darstellt, der allerdings durch Gegenbewegungen der Dekommodifizierung begleitet werden kann (Hermann 2021: 28, 101 ff.).Footnote 17 Diese Prozesse sind in den industriellen Revolutionen der westeuropäischen Gesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts nicht an ihr Ende gekommen. Proletarisierung bildet damit keinen linearen Prozess, sondern ein Pendeln zwischen Auslieferung und Schutz der Ware Arbeitskraft gegenüber den Dynamiken der Märkte (Polanyi 1978: 180–182, 185). Der widersprüchliche und prozesshafte Charakter der Proletarisierung zeigt sich auch daran, dass die Enteignung der westeuropäischen Lohnabhängigen von produktiven Ressourcen sowie deren Urbanisierung und Trennung vom ländlichen Leben ihr größtes Ausmaß erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreichte (Hirsch/Roth 1986: 48 ff.; Lutz 1989; Aglietta 2015; Raphael 2019: 35 ff.). Gleichzeitig konnten aber insbesondere die westeuropäischen Industriearbeiter*innen ihre Beschäftigungsverhältnisse zunehmend verbessern, den Fabrikbesitzer*innen sowie den Staaten soziale Sicherungsleistungen abringen und damit wieder eine stückweise Dekommodifizierung erreichen (Castel 2000: 236 ff.; ebd.: 2005: 40 ff.; Dörre 2020: 312 f.). Waren die Industriearbeiter*innen in den frühindustrialisierten Ländern zwar von ihren Produktionsmitteln enteignet, verfügten sie damit allerdings dennoch zunehmend über gesellschaftliche Teilhabe, gewerkschaftliche Machtressourcen und ein relativ gesichertes Sozialeigentum (Castel 2005: 33 f., 41 f.; Schmalz/Dörre 2014).Footnote 18

In vielen Ländern des globalen Südens lässt sich allerdings weniger von Proletarisierung als von »Semiproletarisierung« sprechen (Arrighi 1973; Wallerstein 1983: 27, 64). Dabei kommt nicht-kapitalistischen Einkommen in der sozialen Reproduktion »semiproletarischer« Haushalte eine bleibende Rolle zu.Footnote 19 Damit verwandelt sich die Thematik der Proletarisierung in Ländern des globalen Südens in eine Frage nach der Fortdauer nicht-kapitalistischer (Re)Produktionsbedingungen und Einkommensformen. Fasst man das Verhältnis zwischen Kapitalistischem und Nicht-Kapitalistischem im Anschluss an Polanyi ebenfalls als Pendelbewegung auf, so stellt sich die Frage, welche Kräfte hierbei in welcher Form und Richtung zu einer Verschiebungen der Grenze zwischen dem kapitalistischen und dem nicht-kapitalistischen Bereich beitragen (Silver 2005: 35 f., 39). Damit stehen wir gezwungenermaßen vor der Frage, wie das Verhältnis zwischen kapitalistischem und nicht-kapitalistischem Bereich auf einer theoretischen Ebene konzeptualisiert werden kann und welche Kräfte das Pendel jeweils auf die eine oder andere Seite ausschlagen lassen.

2.1.2 Das Innen-Außen-Verhältnis und seine Leerstelle

Die Beziehung zwischen dem kapitalistischem und nicht-kapitalistischen sozioökonomischen Bereich wurde kapitalismustheoretisch als ein »Innen-Außen-Verhältnis« (Harvey 2003: 141; De Angelis 2007: 225 ff.; Dörre 2009a: 42; Saave 2022) gefasst, dessen Dynamik auf der Seite des kapitalistischen Sektors durch Prozesse bestimmt wird, die im Anschluss an Marx als »fortgesetzte ursprüngliche Akkumulation« (Werlhof 1978: 21 f.), »Akkumulation durch Enteignung« (Harvey 2003) oder als »kapitalistische Landnahmen« (Dörre 2013a; 2013b) bezeichnet wurden. Während Marx kapitalistisches Wachstum als »Produktionsprozess auf erweiterter Stufenleiter« (Marx 1973: 605 ff.) dachte, machte David Harvey ein Phänomen wirtschaftlichen Wachstums aus, dass er »Akkumulation durch Enteignung« nannte (Harvey 2003: 145–152). Unter diesem Terminus versteht Harvey die Geschäftspraktiken kapitalistischer Unternehmen, die auf Raub, Betrug und Gewalt basieren (ebd.: 144). Der Kapitalismus beruht im Modus der »Akkumulation durch Enteignung« damit auf der Generierung von Profiten mittels der Privatisierung, Enteignung oder Kommodifizierung des Nicht-Kapitalistischen (ebd.: 145 f.). Für Klaus Dörre (2013a; 2013b) ist nicht nur eine bestimmte Akkumulationsform, sondern jeder makroökonomische kapitalistische Wachstumszyklus durch eine Bewegung der Landnahme des Nicht-Kapitalistischen gekennzeichnet. Wachstumsprozesse kapitalistischer Wirtschaften müssen daher als dynamische Prozesse der Landnahme, der Vereinnahmung sowie der Zerstörung begriffen werden. Die Landnahme verläuft »[…] im Medium der Zeit, außerhalb wie innerhalb nationaler Gesellschaften, sektoral, feldspezifisch und sie erfasst unterschiedliche Produktionsweisen, soziale Gruppen, Lebensformen und selbst Persönlichkeitsstrukturen« (Dörre 2013a: 67). Dörre begreift die kapitalistische Wirtschaft folglich als eine Wachstumswirtschaft, deren jeweilige Wachstumsschübe als spezifische Landnahmen verstanden werden. Historisch war es vor allem der Staat, der die Durchsetzung solcher kapitalistischer Landnahmen ermöglichte (ebd.: 67 f.). Allerdings setzte sich die kapitalistische Rationalität des warenförmigen Äquivalententausches nie in allen Bereichen durch (Dörre 2013b: 113). Sie bleibt vielmehr in unterschiedliche Rationalitäten und Verhältnisse eingebettet, »[…] zu denen sich die Kommodifizierung expansiv, vereinnahmend, ja geradezu imperialistisch verhält oder zumindest verhalten kann« (ebd.). Der Kapitalismus ist damit auf ein nicht-kapitalistisches Außen angewiesen. Darüber hinaus enthält jede Phase kapitalistischer Landnahme auch eine spezifische »Landpreisgabe« (Dörre 2012: 106; ebd. 2013b: 118 f.), in der soziale oder ökologische Bereiche der kapitalistischen Verwertung entzogen werden. Folglich muss die Expansion kapitalistischer Akkumulation stets als ein »empirisch identifizierbares Wechselspiel von Landnahme und Landpreisgabe« verstanden werden (ebd. 2013b: 118). Landnahmen und Landpreisgaben kapitalistischer Produktion stellen – und dies ist für unseren Forschungsgegenstand von großer Bedeutung – dabei ein Feld konfliktreicher Auseinandersetzungen dar.

Harvey und Dörre beziehen sich in ihren Forschungen gleichermaßen auf die Pionierarbeit Rosa Luxemburgs (1975). Luxemburg arbeitete als erste systematisch den dauerhaft expansiven, kolonisierenden und zerstörerischen Charakter des Kapitalismus und seine gleichzeitige Abhängigkeit vom Nicht-Kapitalistischen theoretisch auf. Erweiterte Akkumulation ließe sich nicht auf Prozesse innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise selbst beschränken – so ihre These –, sondern müsse in ihrer geografischen Expansion betrachtet werden: »Das Kapital kann ohne die Produktionsmittel und die Arbeitskräfte des gesamten Erdballs nicht auskommen, zur Entfaltung seiner Akkumulationsbewegung braucht es die Naturschätze und die Arbeitskräfte aller Erdstriche«, schreibt Luxemburg (1975: 314) zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die kapitalistische Expansion zerstöre und ersetze die »nicht-kapitalistischen Milieus« (ebd.: 314) aber nicht einfach. Vielmehr sei deren Existenz eine essenzielle Voraussetzung für das Fortbestehen des Kapitalismus selbst, weil er in jenen seine überschüssigen Waren absetzen muss und gleichzeitig aus ihnen billige Rohstoffe und günstige Arbeitskräfte bezieht (ebd.: 303–315). Der globale Kapitalismus untergräbt daher seine eigenen Grundlagen, wenn er aufgrund seines Bedarfs an billigen Inputs und zur Lösung seines Überproduktionsproblems die »nicht-kapitalistischen Milieus« gleichzeitig zerstört (ebd.: 315, 772–778).

Während Luxemburg die kapitalistischen Landnahmen im Wesentlichen als äußere, geografisch expansive Landnahmen verstand, zeigte Burkart Lutz (1989) später, dass es auch zu »inneren Landnahmen« kommen kann. Lutz unterscheidet bezüglich des Deutschen Reiches Anfang des 20. Jahrhunderts den traditionell-handwerklichen und den industriellen Sektor. Dabei stellt er das überraschend zählebige Fortdauern des »traditionellen Sektors« fest, den die Orientierung an der Bedarfsdeckung anstelle der Rentabilität und an der Dominanz familiärer Kleinbetriebe anstelle der Lohnarbeitsverhältnisse kennzeichnet (Lutz 1989: 115). Diesem sogenannten traditionellen Sektor gehörten damals kleine Familienbetriebe, das Handwerk, der Einzelhandel und Dienstleistungen sowie die Hauswirtschaft an (ebd.: 105 f.). Der Sektor erweise sich entgegen aller Vorurteile als äußerst vital und stabil (ebd.: 106 ff.). Gleichzeitig stünden industrieller und traditioneller Sektor nicht einfach nur nebeneinander, sondern seien durch verschiedene Austauschbeziehungen und Rückkopplungen miteinander verbunden: Der traditionelle Sektor bilde erstens das Rekrutierungsreservoir für Lohnabhängige des industriellen Sektors, zweitens produziere jener den Großteil der Lebensmittel für die genannten Lohnabhängigen und drittens bezöge der traditionelle Sektor Ausrüstungsgüter aus dem industriellen (ebd.: 110). Dabei könnte es zu einer positiven Rückkopplung kommen, das heißt, dass sich das Wachstum des industriellen Sektors und dasjenige des traditionellen Sektors gegenseitig fördern (ebd.: 112). Kapitalismus und traditioneller Sektor gingen in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts demnach eine relativ funktionale Beziehung ein. Noch in der Zwischenkriegszeit entfielen auf den traditionellen Sektor mit 17,8 Millionen Arbeitstätigen rund die Hälfte aller Beschäftigten (ebd.: 132).Footnote 20 Doch nach dem Zweiten Weltkrieg kolonisierte der kapitalistische Sektor den »traditionellen Sektor« schrittweise in Form von »inneren Landnahmen«, was ihm einen Wachstumsschub ermöglichte, aber auch die funktionale Verflechtung der beiden Bereiche beendete (ebd.: 210 ff.). Aus der funktionalen Dualität aus traditionellem und industriellem Sektor wurde eine stärker homogene Wirtschaftsstruktur.

Die Theorien der »kapitalistischen Landnahme« sowie der »Akkumulation durch Enteignung« thematisieren kapitalistische Expansion folglich im Sinne eines Innen-Außen-Verhältnisses, das im Wesentlichen als eine dynamische Beziehung aus Aneignung, Enteignung und Konflikt verstanden wird. Autor*innen aus dem globalen Süden haben in diesem Sinne auch von »Entwicklung durch Enteignung« oder »räuberischem Wachstum« gesprochen (Bhaduri 2008; ebd. 2018; Composto/Navarro 2014). Die »Innen-Außen-Dialektik« (Harvey 2003: 141) zwischen Kapitalistischem und Nicht-Kapitalistischem darf dabei – wie dargelegt wurde – allerdings nicht nur einseitig im Sinne des zerstörerischen Charakters des kapitalistischen Wachstum aufgefasst werden. Da dieses zugleich abhängig vom Überleben des Nicht-Kapitalistischen ist, braucht es die Aufrechterhaltung seines Gegenspielers – des »nicht-kapitalistischen Außen« (Dörre 2013b: 113). Jede Landnahme und jede Akkumulation durch Enteignung wird in diesem Sinne von Prozessen begleitet, die selbst immer wieder ein nicht-kapitalistisches Außen aktiv herstellen (Harvey 2003: 140 ff.; Dörre 2009a: 44 f.). Damit stellt sich die Frage nach den Gründen für dieses zweite Moment des Innen-Außen-Verhältnisses: Wie kommt es zur Aufrechterhaltung und Reproduktion des nicht-kapitalistischen Außen? Welche Gegenbewegungen lassen sich feststellen? Außerdem rückt damit auch ein drittes Moment in den Blick: Wie lassen sich die Beziehungen zwischen »Innen« und »Außen« beschreiben? Sind sie zerstörerisch oder eher funktional? Finden sie auf der ökonomischen oder auf der politischen oder eher der ökologischen Ebene statt? Kritische Analysen kapitalistischer Entwicklung konzentrieren ihre Untersuchung in der Regel vorwiegend auf die erste Seite der Dialektik des (Nicht-)Kapitalistischen, welches durch die expansive Dynamik des »räuberischen Wachstums« oder der Verschiebung der »commodity frontier« bestimmt wird (Bhaduri 2008; Harvey 2003: 145 ff.; Dörre 2009a; Moore 2000; ebd. 2015b: 144). Das zweite Moment – die immer wieder zu beobachtende Hervorbringung nicht-kapitalistischer Bereiche – und das dritte Charakteristikum – die spezifischen Verhältnisse zwischen Innen und Außen – werden meist nur als Effekt, funktionale Entsprechung oder zu überwindendes Hindernis des Kapitalistischen betrachtet. Dementgegen fordert der Ökonom Kalyan Sanyal (2007: 56 ff.) ein theoretisch-analytisches Verständnis, das die Perspektive des Nicht-Kapitalistischen als theoretischen Ausgangspunkt nimmt (ebd.: 5). Die Spezifika des Nicht-Kapitalistischen, dessen eigene Logiken und die Weisen der (Re)Produktion dieses Bereichs stellt innerhalb des kapitalismustheoretischen Denkens – mit wenigen Ausnahmen – allerdings eine weitgehende Leerstelle wissenschaftlicher Forschung dar.Footnote 21 In diesem Sinne diagnostizierte der Soziologe Aníbal Quijano (1974: 313) schon in den 1970er Jahren einen »Mangel adäquater Begrifflichkeiten« und der Politikwissenschaftler Massimo de Angelis (2007: 229) ein »key problem in the conceptualisation of the ‚outside‘«. Folglich sind eigene Kategorien für die spezifische Logik, die fortdauernde konfliktive und krisenhafte Reproduktion des Nicht-Kapitalistischen sowie seine Beziehungen zum kapitalistischen Sektor nötig. Die bisherigen Kandidaten von Exklusion, Marginalität, Semiproletarisierung und Überbevölkerung stellen – wie ich im Folgenden zeigen werden – theoretische Chiffren dar, die diese Leerstelle in der geschilderten analytischen Problematik bezeichnen, sie aber noch nicht ausreichend füllen. Deshalb werde ich in Abschnitt 2.6 eigene Kategorien für das Verständnis des »Nicht-Kapitalistischen« sowie dessen Verflechtung mit dem »Kapitalistischen« vorschlagen. Hierfür wird im Weiteren der bisherige Stand der Forschung dargestellt und die zentralen Ergebnisse sowie Vorzüge und Schwächen verschiedener Strömungen, Diskussionen und Ansätze herausgearbeitet.

2.2 Modernisierungstheorien: Vom »traditionellen« zum »informellen Sektor«

Das modernisierungstheoretische Denken, auf das im Folgenden eingegangen wird, ist der älteste der hier diskutierten Ansätze. Er ist allerdings von besonderer Relevanz, da er wie kein anderer von dem dargestellten Industrialisierungs- und Proletarisierungsparadigma ausgeht und nach wie vor die Koordinaten entwicklungstheoretischen Denkens bestimmt (Kößler 2022). Darüber hinaus hat zum Ende des 20. Jahrhunderts hin der Begriff des »informellen Sektors« Verbreitung erfahren. Auch er prägt nach wie vor die Debatten um »Entwicklung« (Denning 2010; Sittel 2022: 32 ff.). Im Folgenden werde ich darlegen, warum ich für das Verständnis des Nicht-Kapitalistischen weder das modernisierungstheoretischen Konzept des »traditionellen Sektors« noch dasjenige des »informellen Sektors« für geeignet halte.

2.2.1 Dualismus aus modernem und traditionellem Sektor

In den Augen des US-amerikanischen Ökonom W. W. Rostow lässt sich die moderne Geschichte der Menschheit seit dem späten 18. Jahrhundert in allen Ländern rund um den Planeten in fünf Stadien einteilen. Laut dem Rostow-Modell beginnen die Länder mit der Phase der traditionellen, landwirtschaftlichen Gesellschaft und schreiten dann bis zum Zeitalter des hohen Massenkonsums voran (Rostow 1966: 4). Die traditionelle Gesellschaft sei durch begrenzte produktive Mittel und »vornewtonsche Technik« und »vornewtonsches Denken« gekennzeichnet. Letzteres erlaube den Menschen noch nicht, die Naturgesetze zu durchschauen und sich diese zu Nutze zu machen (ebd.). Deshalb sei die Entwicklung der Produktivität in diesen Gesellschaften sehr eingeschränkt. Als erstes trete Westeuropa in der Zeit der Wende zum 18. Jahrhundert in die Phase der »Vorbedingungen des wirtschaftlichen take-offs« (ebd.: 6). Zwar sei diese Phase weiterhin durch wenig produktive Technik gekennzeichnet (ebd.: 7), doch hier entstünde schon ein wirtschaftliches Denken, das – wie es Pierre Bourdieu später ausdrückte – durch das »ökonomische Kalkül« geprägt sei (Bourdieu 2000: 26 f., 30 f., 51). Aus dieser Phase trete die Gesellschaft in das Stadium des take-off über, in dem wirtschaftliches Wachstum, Verbreitung der Industrie in weite Bereiche der Ökonomie und steigende produktive Reinvestitionen zur neuen Normalität würden (Rostow 1966: 7 f.). Dies ist die Zeit der Industrialisierung, der technologischen Innovationen, der großen Fabriken, des neuen Unternehmertypus und der Proletarisierung (ebd.: 8). Die folgende Phase der »Entwicklung zur Reife« sei eine Zeit des andauernden, wenn auch fluktuierenden Fortschritts, in der die Wirtschaft komplexer sowie unabhängiger von Exporten und Importen würde und all jenes selbst produzieren könnte, dessen sie bedürfe (ebd.: 9 f.). Schließlich ende die »Entwicklung« im Stadium des »hohen Massenkonsums«, in dem die breite Masse der Bevölkerung die Früchte der Ökonomie ernten könne, soziale Sicherungsnetze entstünden und sich der Wohlfahrtsstaat durchsetze (ebd.: 10 f.). Die genannten Stadien würden nach Rostow von jedem Land unabhängig von seiner Position in der globalen Arbeitsteilung oder vom jeweiligen politischen Regime durchschritten (kritisch: Baran/Hobsbawm 1961: 235 ff.). Die »Entwicklung« der Gesellschaften stellt hier eine parallele Evolution dar, bei der sich schließlich alle Länder dem angelsächsischen Idealtyp der Modernisierung und Industrialisierung annähern (Menzel 2010: 93). Dieser lineare Fortschrittsgedanke prägte nicht nur Rostow, sondern die gesamte Modernisierungstheorie, welche unter »Entwicklung« das schrittweise Aufschließen einer Volkswirtschaft zu den sogenannten entwickelten Ländern verstand (kritisch: Ziai 2010: 400).

Ein lineares Verständnis von »Entwicklung« und »Fortschritt« kennzeichnet nicht nur die Entwicklungstheorien (Kößler 1998: 13 f.). Die klassische Soziologie erblickte im »Fortschritt« die »Rationalisierung« und »Entzauberung der Welt« auf dem Weg von der Vergemeinschaftung zur Vergesellschaftung (Weber 1972: 21 f., 308; kritisch Habermas 1988: 449 ff.; Hauck et al. 2016: 148 f.). Spätere Soziolog*innen wie Talcott Parsons und Niklas Luhmann sahen die Zunahme sozialer oder »funktionaler Differenzierung« als Zeichen der Steigerung der »Komplexität« und »gesellschaftlicher Evolution« (Habermas 1988: 420 ff.; Reese-Schäfer 1999: 19 f., 23 f., 26; Degele/Dries 2005: 56 ff.). »Entwicklung« bedeutete insofern Rationalität und zunehmende Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Rollen und sozialer Bereiche (Menzel 1995: 19, 81, 84). Die Herausbildung eines »Funktionsraums der Ökonomie« durch die Ausdehnung einer Marktwirtschaft als selbständiger Bereich stellte insofern ein »Entwicklungsziel« dar und führte immer wieder zu kapitalistischen Landnahmen (Lutz 1989: 23 f.). Die grundsätzliche Trennung der Sphären von Ökonomie und Politik – ein Wesensmerkmal des Kapitalismus (Polanyi 1978: 106; Gerstenberger 1991: 470 f.; Wood 2010: 29 f., 38–45) – bildete insofern ein normatives Ideal eines derartigen Fortschrittsdenkens (Kößler 1998: 12 f.).

Modernisierungstheoretisches Denken musste allerdings immer wieder feststellen, dass in den meisten Ländern ein umfassender »Fortschritt« im dargelegten Sinn nicht feststellbar war. Das Modernisierungsdenken schob dies einerseits auf einen makroökonomischen »Teufelskreis der Rückständigkeit« in »unterentwickelten« Ländern.Footnote 22 Andererseits spielten für die »Rückständigkeit« in den Augen der Modernisierungstheorien auch kulturelle Faktoren eine Rolle (König 1969). Außerdem käme es in vielen Ländern zu einem Dualismus aus »modernem« und »traditionellem Sektor« (Boeke 1953). In diesem Sinne argumentierte der ehemalige niederländische Kolonialbeamte Julius Herman Boeke bei seiner Betrachtung der indonesischen Kolonialgesellschaft, dass diese durch eine Struktur der »dualen Ökonomie« gekennzeichnet sei. Der moderne Sektor – so seine Feststellung – absorbiere den traditionellen Sektor in den Kolonien nicht, damit entstehe auch kein homogenes, sondern ein dualistisches soziales System (Menzel 2010: 76 f.). Deshalb sei eine eigene theoretisch-methodische Herangehensweise für diese Länder zu wählen, die sowohl die Eigenheiten beider Subsysteme sowie deren Interaktion verstehen könne (ebd.: 78).Footnote 23 Dabei unterschied Boeke die Funktionsweisen des modernen und des traditionellen Sektors als Marktwirtschaft auf der einen und Subsistenzlandwirtschaft auf der anderen Seite (kritisch: Breman 1976: 1870 f.). In der Folgezeit erfuhr Boekes »duale Ökonomie« weite Verbreitung.

Einer von denen, die an Boekes Konzept der dualen Ökonomie anknüpften, war der Ökonom Arthur Lewis. Lewis entwickelte spezifisch für Länder des globalen Südens, die er als »überbevölkerte Länder« begriff, ein Modell der Arbeitsmärkte, das von einem unbegrenzten Angebot billiger Arbeitskraft ausgeht (Lewis 1954: 142; Enke 1962: 158). Dabei unterschied er zwischen kapitalistischem Sektor und Subsistenzproduktion (Lewis 1954: 146 f.). Ersterer bestehe aus Unternehmen, die Lohnarbeiter*innen einstellen und letzterer aus kleinen Produzent*innen, die kein Kapital verwendeten und deshalb vergleichsweise unproduktiv seien (ebd.: 147). Für diese Länder diagnostizierte er eine fortwährende versteckte Arbeitslosigkeit, da ein Großteil der Tätigkeiten im Subsistenzbereich von zu vielen Arbeitstätigen ausgeführt würde, sodass deren Grenzproduktivität gleich Null sei (ebd.: 141). Dies gelte für einen großen Teil der in der Landwirtschaft Tätigen sowie weibliche Arbeitskräfte in den Haushalten und Gelegenheitsarbeiter*innen, die im kleinen produzierenden und dienstleistenden Gewerbe arbeiten (ebd.: 141 ff.). Der Subsistenzbereich sei durch sehr kleine Familienbesitze strukturiert, deren Produktion nicht abnehme, wenn Arbeitskräfte abgezogen würden – alles Arbeiten, deren Beschäftigtenzahl laut Lewis halbiert werden könne, ohne dass sich der Output reduziere (ebd.: 140). Damit lässt sich Lewis als ein früher Theoretiker der politischen Ökonomie der »Überflüssigen« verstehen.

Von zentraler Bedeutung sind für Lewis die Beschäftigungsdynamiken, die sich aus dem Verhältnis zwischen kapitalistischem Sektor und dem Subsistenzbereich ergeben (Lewis 1954: 146 f.). Der kapitalistische Sektor bilde sich in einigen kapitalintensiven Branchen wie dem Bergbau oder kapitalistischen Plantagen heraus, die im scharfen Kontrast zu dem sie umgebenden »Meer aus traditionellen Produzenten, Händlern und Bauern« stünden (ebd.: 147). Dem kapitalistischen Sektor nützt dabei eine möglichst niedrige Produktivität im Subsistenzbereich, da dies zu geringen Einkommen in diesem Bereich führe und damit zu großen Anreizen, ihn zu verlassen (ebd.: 148 f.). Die Prekarität des Subsistenzbereichs ist folglich eine Grundvoraussetzung für billige Arbeit im kapitalistischen Sektor (ebd: 149), welche wiederum den entscheidenden Grund dafür darstellt, warum der kapitalistische Sektor in diesen Ländern mittels niedriger Löhne international konkurrenzfähig sein konnte (Lewis 1954; Menzel 2020: 79). Damit wird das Verhältnis zwischen den Sektoren als funktionaler Dualismus gedacht. Diese Interpretation taucht – wie im Weiteren deutlich wird – in verschiedenen theoretischen Strömungen implizit oder explizit wieder auf.

Mit steigenden Reinvestitionen von Kapital und daraus resultierender Kapitalbildung nehmen in Lewis Modell die Beschäftigungseffekte im kapitalistischen Sektor über die Dauer zu (Lewis 1954: 161 f., 171 f.).Footnote 24 Wachse die Beschäftigung schneller als die Bevölkerung, führe dies zur Kontraktion des Arbeitsangebots und zu steigenden monetären Einkommen der Lohnabhängigen im kapitalistischen Sektor. Letzteres habe steigende Lebensmittelpreise zur Folge, was höhere Einnahmen des Subsistenzsektors bedeute. Darüber hinaus könnte dies im Fortgang wiederum zu einer Erhöhung der Produktivität im Subsistenzsektor führen (ebd.: 173 f.). Beide Entwicklungen würden zu steigenden terms of trade des Subsistenzbereichs gegenüber dem kapitalistischen Sektor und damit zu einer Verknappung des Arbeitsangebots im kapitalistischen Sektor und damit zu weiter steigenden Löhnen führen (ebd.: 172–174). Der Lewis turning point wäre dann erreicht, wenn das entsprechende Land den Zustand des »unlimited supply of labour« verlasse und dadurch von einem »Entwicklungsland« in die Phase der »entwickelten« Ländern mit endlichem Arbeitskraftangebot übergehe (Enke 1962: 159 f.).Footnote 25

Modernisierungstheoretisches Denken wurde häufig dafür kritisiert, dass in ihm der moderne und der traditionelle Sektor relativ beziehungslos nebeneinander stehen (Córdova 1971: 33, 64; Meillassoux 1975: 116). Wie wir gesehen haben, trifft dies auf Lewis’ Modell nicht zu. Vielmehr beleuchtet er explizit die dauerhaften Verflechtungen über den Arbeitsmarkt sowie über Lebensmittelmärkte und die daraus resultierende Funktionalität des Dualismus für die kapitalistische Entwicklung. Später wurde in ähnlicher Weise von kritischen Autor*innen immer wieder die These ausgearbeitet, dass der Subsistenzbereich den kapitalistischen Sektor durch die Versorgung mit billiger Arbeit subventioniere (Marini 1974; Meillassoux 1975: 135 ff.; Burawoy 1976; Werlhof/Mies/Bennholdt-Thomsen 1983: 16 f., 83 ff.; Arrighi/Aschoff/Sculli 2010: 412). Allerdings offenbart Lewis Modell der dualen Ökonomie auch eine Reihe von Schwachstellen: Erstens findet darin Entwicklung, Veränderung und Dynamik nur innerhalb des einen, des kapitalistischen Sektors statt. Dieser induziere Entwicklung sowohl im eigenen Bereich als auch vermittelt über steigende Lebensmittelpreise und andere sekundäre Effekte innerhalb der kleinbäuerlichen Landwirtschaft (Lewis: 1954: 162, 171 f.; ebd. 1979: 212–214). Der Subsistenzbereich ist ein rein passives Reservoir an Arbeitskräften, in dem keine »Entwicklung« stattfände (kritisch: Sanyal 2007: 146 f.). Die eigene Dynamik des nicht-kapitalistischen Bereichs wird vollständig unterschlagen, da dieser als notorisch unproduktiv und stagnierend verstanden wird (Breman 1976: 1871). Zweitens scheint der Subsistenzbegriff alles zu umfassen, was nicht »modern« ist (Schultz 2016: 70 f.). Seine Verwendung irritiert zudem, da Subsistenz auf Eigenkonsum hindeutet, die kleinbäuerlichen Produzent*innen aber in Lewis Modell in die Lebensmittelmärkte eingebunden sind. Das Entwicklungsmodell bricht drittens in sich zusammen, wenn man die Grundannahme fallen lässt, dass kapitalistische Akkumulation und Kapitalformation automatisch zu steigender Beschäftigung aus dem Subsistenzsektor führen.Footnote 26 Viertens ist die Theorie der dualen Ökonomie Ausdruck eines ökonomistischen Modellierens, welches Verflechtungen und Beziehungen durch Preissignale und Transaktionen in Betracht zieht, anderen Ebenen – wie derjenigen sozialer und politischer Konflikte – jedoch keine ursächliche Wirkmächtigkeit und damit auch keine Erklärungskraft im Verhältnis der Sektoren beimisst. Zuletzt muss Lewis später selbst feststellen, dass sich die Unterteilung in modernen und traditionellen Sektor nicht halten lässt, da ein informeller Sektor entsteht, der selbst Produkt der Modernisierung ist und damit nicht im Sinne eines »traditionellen Sektors« als historisches Überbleibsel verstanden werden kann (Lewis 1979: 222).

2.2.2 Der Informalitätsbegriff und die bleibende Leerstelle

In den 1970er Jahren wurde offensichtlich, dass sich die modernisierungstheoretische Vision der allmählichen Integration der gesamten Bevölkerung in formelle und stabile Arbeitsverhältnisse nicht bestätigte und sich anstelle dessen prekäre und ungeregelte Erwerbsverhältnisse ausdehnten (Breman 1976: 1870; Komlosy 2015: 36). Dies ging unter anderem auf stark zunehmende Urbanisierungsprozesse in Ländern des globalen Südens zurück, wo informelle ökonomische Aktivitäten zunehmend Teil einer neuen Überlebensstrategie ärmerer Haushalte wurden (Komlosy 2015: 39 f.). Rund 60 Prozent der Weltbevölkerung und etwa vier Fünftel aller Unternehmen sind in der informellen Ökonomie tätig.Footnote 27 Dabei ist die Kombination verschiedener formeller und informeller Einkommensarten mit Tätigkeiten in der Subsistenzproduktion ein charakteristisches Merkmal (Komlosy 2015: 46 f.). Dass nur etwa die Hälfte der global Beschäftigten überhaupt in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen tätig ist und diese Zahl vielerorts rückläufig ist, während beispielsweise selbständige Aktivitäten an Bedeutung gewinnen (ILO 2015: 13), bestätigt die schon oben angemerkten Zweifel an der klassischen Proletarisierungsthese.

»Informalität« entstand in den 1970er Jahren zunächst als sozialwissenschaftlicher Begriff. Keith Hart (1973) und andere Wissenschaftler*innen aus dem Umfeld der ILO stellten in den 1970er Jahren fest, dass die großen Gruppen an Neuankömmlingen in afrikanischen Städten nicht einfach Teil der urbanen Arbeitsmärkte wurden, sondern eigene, informelle und meist selbständige ökonomische Aktivitäten herausbilden (Hart 1973: 62). Folglich argumentierte er, dass weniger formelle Lohnarbeitsverhältnisse als vielmehr der informelle Sektor Einkommen ermögliche und dieser ökonomische Bereich daher nicht als Restgröße behandelt werden dürfe, sondern als dynamischer Sektor mit eigenen Wachstumspotenzialen begriffen werden müsse (ebd.: 61, 87 f.). In der Studie wurde deutlich, dass Selbständigkeit, Kleinunternehmertum, niedrige Zugangshürden, arbeitsintensive Tätigkeiten, Wissensweitergabe außerhalb der formalen Institutionen und unregulierte, kompetitive Märkte zentrale Merkmale der Informalität darstellten (ebd.: 62 f.; Denning 2010: 89; Sanyal 2007: 200 f.). Weitere Untersuchungen bestätigten, dass die Urbanisierung weder einfach zu einem Anwachsen des städtischen Arbeitsmarktes führte noch zu bloßer Arbeitslosigkeit in Armenvierteln, sondern zu vielfältigen Formen der Erwerbstätigkeit (King/Man 1979; Elwert/Evers/Wilkens 1983: 282).

Mehr und mehr wurde der »informelle Sektor« dabei aber auch zu einem Sammelbegriff für informelle Aktivitäten aller Art (Denning 2010: 89). Weil es dem Konzept des informellen Sektors deshalb an empirischer Schärfe mangelte, wurde er von Beginn an flankiert durch Begriffe, die die sozioökonomischen Spezifika der empirisch festgestellten Phänomene betonten. T.G. McGee argumentierte etwa, es handle sich um eine Fortsetzung der bäuerlichen Ökonomie in den Städten und sprach deshalb von den »peasants in the city« (McGee 1973). Diese stellten ein »proto-Proletariat« dar, das durch periodische Stadt-Land-Migration gekennzeichnet sei sowie ein bäuerliches Produktionssystem in die Städte integriere (ebd.: 140 f.). Letzteres sei wie das Leben auf dem Land durch kleine Unternehmen, verwandtschaftliche Beziehungen und Arbeit mit Familienangehörigen gekennzeichnet (ebd.: 137). Sowohl bei Keith Hart als auch bei Vorschlägen wie demjenigen von T. G. McGee wird deutlich, dass sie implizit von einer dualistischen Auffassung der Ökonomie ausgehen, die sich wahlweise in formell-informell oder städtisch-bäuerlich unterteilen ließe. Eine große Mehrheit der Informalitätsforschung scheint einer derartigen Dualitätsvorstellung anzuhängen (kritisch: Evers/Korff 2000: 134 f.; Sittel et al. 2015: 60 ff.; Sittel 2022: 33 f., 56 ff.).

Georg Elwert, Hans-Dieter Evers und Werner Wilkens charakterisierten den informellen Bereich Ende der 1980er Jahre als eine »Schicht der Ungesicherten«, in der die »[…] Suche nach Sicherheit eine absolute Priorität vor der Einkommensmaximierung hat. Das strategische Handeln ist in dieser Sicht auf die Kombination verschiedenartiger Einkommensquellen gerichtet, bei denen der Subsistenzproduktion […] besondere Bedeutung zukommt« (Elwert/Evers/Wilkens 1983: 281). Wichtig sei dabei, die Individuen und Haushalte nicht als Einkommensmaximierer*innen zu begreifen, sondern den Aspekt der Sicherheitsstrategien und Risikostreuung zu verstehen (ebd.; Ray 2007). Informalität – so machen neuere Forschungen deutlich – dient den Haushalten dazu, zusätzliche Einkommen zu den formellen Löhnen zu erzielen sowie Kosten bezüglich der Lebenshaltung durch informelle Tätigkeiten wie Subsistenzarbeiten einzusparen (Sittel et al. 2015: 71 f.). Gerade in Krisenzeiten und den daraus folgenden Beschäftigungsrückgängen in den formellen Sektoren, sind die informellen Tätigkeiten von entscheidender Bedeutung (ebd.: 64, 72 f.). Eine Reihe von Autor*innen hat den informellen Sektor im Zuge dessen als Auffangbecken verstanden, das in Krisenzeiten des kapitalistischen Sektors und des kontrahierten Arbeitsmarktes einen Puffer bilde, der die Einkommensrückgänge der Privathaushalte abfedere (Loayza/Rigolini 2011; Zhan/Scully 2018: 1019 f.; kritisch: Chen 2013).

Allerdings wird das Adjektiv »informell« keineswegs einheitlich für eine bestimmte Beschäftigtengruppe verwendet. Meist werden all diejenigen Tätigkeiten als informell bezeichnet, die nicht registriert oder vertraglich abgesichert sind und nicht in staatliche Sozialversicherungssysteme einzahlen. Dabei wurde diese Definition zunehmend komplexer.Footnote 28 Neben dem informellen Sektor wurden in zunehmendem Maße auch Formen informeller Beschäftigung innerhalb formeller Unternehmen relevant. Damit unterschied die ILO ab den 2000er Jahren zwischen informellem Sektor und informeller Beschäftigung in formellen Unternehmen und fasste beide Formen unter dem Begriff der informellen Ökonomie zusammen.Footnote 29 Informalität gilt dabei auch heute noch weithin als Kennzeichen für die »Unterentwicklung« wirtschaftlicher Strukturen (kritisch: Cerda-Becker et al. 2015: 4). Doch in den 1980er Jahren wurde die Ausdehnung des Informellen auch durch Outsourcing-Strategien vorangetrieben und betraf deshalb zunehmend auch die Länder des globalen Norden (Komsloy 2015: 38 f.). Damit schien das modernisierungs- und entwicklungstheoretisches Leitbild eines sich kontinuierlich ausbreitenden formellen kapitalistischen Sektors, durch den Löhne und Produktivität erhöht und Wachstum generiert würde, gescheitert (Breman/van der Linden 2014; Komsloy 2015: 51; Mahnkopf/Altvater 2015: 21; Mayer-Ahuja 2017: 266).

Damit wandelte sich auch der Blick auf den informellen Sektor. Dem zunächst dominanten Verständnis des informellen Sektors als defizitärer und zu überwindender Zustand stand bald die optimistischere Auffassung neoliberaler Autor*innen entgegen, die im informellen Sektor – insbesondere ab den 1990er Jahren – ein Sammelbecken innovativer Kleinunternehmer*innen entdeckten. In diesen erblickte beispielsweise Hernando de Soto eine »Marktwirtschaft von unten«, von der er sich positive »Entwicklungsimpulse« erhoffte (de Soto 1992: 288 f.). Von Teilen der ILO wurde dieser Ansatz schon in den 1970er Jahren geteilt (Breman 1976: 1874). Der informelle Sektor sei demnach nicht »Entwicklungshemmnis«, sondern eine Chance für die wirtschaftliche »Entwicklung«. Erst der informelle Sektor integriere einen Großteil der Bevölkerung in die monetäre Wirtschaft. Darüber hinaus enthielt er das Potenzial für einen wirtschaftlichen take off, der lediglich durch fehlerhafte Institutionen unterbunden würde (de Soto 1992: 288 ff.). Gleichzeitig gestand auch de Soto ein, dass der informelle Sektor ein prekäres Leben und Arbeiten im Graubereich der Legalität festschreibt und mit defizitären Eigentums- und Besitzgarantien einhergeht (ebd.: 5 f.). Die Informalität stelle daher weiterhin einen langfristig zu überwindenden Zustand dar (ebd.: 18 f., 44). Schließlich wurde der informelle Sektor zum Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend Gegenstand internationaler »Entwicklungs-« und Armutsbekämpfungspolitik (Sanyal 2007: 204 ff.).

Zusammenfassend gesagt erweist sich die Verwendung des Informalitätskonzepts schon von Beginn an als so heterogen, wie die Phänomene, die damit empirisch gefasst werden sollten (Breman 1976: 1871 f.; Sittel 2022: 32 ff.). Aus einem sozialwissenschaftlich Konzept entwickelte sich der informelle Sektor darüber hinaus eher zu einem Gegenstand internationaler »Entwicklungspolitik«. Für die einen stellt Informalität dabei ein kleinbetrieblich geprägtes Innovations- und »Entwicklungspotenzial« bereit und für die anderen bleibt sie ein Symptom »gescheiterter Entwicklung«. Insgesamt bildet der »informelle Sektor« damit einen Sammelbegriff, der Aktivitäten zusammenfasst, die sich zumindest partiell außerhalb des staatlichen Rechts befinden.Footnote 30 Der Begriff sagt damit weniger über die konkrete Art und Weise der wirtschaftlichen Aktivität, als über deren staatliche Regulierung (Denning 2010: 90).

Milton Santos und die oberen und unteren Kreisläufe

Eine begrifflich und analytisch deutlich ausdifferenziertere Erforschung bedarfsökonomischer Tätigkeiten lieferte der brasilianische Geograf Milton Santos in seinem Buch »The Shared Space« (1975). Darin geht er Phänomenen nach, die unter dem Begriff des informellen Sektors diskutiert werden und analysiert diese mit sozialgeografischen und ökonomischen Begriffen. Gerade die Dimension des geografischen Raumes ist für ihn dabei von großer Bedeutung, um die neuen Städte der »dritten Welt« zu verstehen (Santos 1975: 3 f., 7 ff.). Diese seien – so die zentrale These – durch die Existenz zweier eng miteinander verbundener, aber sozioökonomisch und räumlich deutlich zu unterscheidender Kreisläufe gekennzeichnet: den »upper circuit« und den »lower circuit« (ebd.: 8 f.). Die beiden Kreisläufe stellen – laut Milton Santos – zwei verbundene, aber verschiedene ökonomische Systeme dar, die sich bezüglich ihrer Produktionsformen, Technologie, ihrer Einkommenshöhen, der Art des Handels sowie der Konsumtion unterscheiden (ebd.: 7 ff.). Spezifische städtische Räume können den jeweiligen wirtschaftlichen Kreisläufen zugeordnet werden. Santos geht damit deutlich über die auf die staatliche Regulierung fokussierte Unterscheidung zwischen formell und informell hinaus und bildet konkretere Kategorien, die die Differenzen der jeweiligen sozioökonomischen Aktivitäten in den entsprechenden Bereichen erhellen.

Der obere Wirtschaftskreislauf (upper circuit) umfasst die technisch entwickelten, häufig überregional oder international orientierten industriellen, kommerziellen und finanziellen Aktivitäten, die meist von größeren und sehr großen Unternehmen betrieben werden (Santos 1975: 8, 18). Der untere Wirtschaftskreislauf (lower circuit) beinhaltet Klein(st)betriebe, die »traditionellen« und meist arbeitsintensiven produktiven Wirtschaftsaktivitäten sowie Transport, Kleinhandel und Dienstleistungen nachgehen (Santos 1975: 8, 10, 18). Der untere Wirtschaftskreislauf bildet damit eine Parallele zum informellen Sektor sowie zur »bäuerlichen Ökonomie der Städte« (McGee 1973: 138 f.). Der grundsätzliche Unterschied zwischen den Kreisläufen liege allerdings in einer technologischen und organisationalen Differenz, so Santos. Während der obere Kreislauf importierte, hochentwickelte und kapitalintensive Technologie nutze, sei der untere Kreislauf durch arbeitsintensive und häufig im Haushalt stattfindende Arbeitsformen geprägt (Santos 1975: 20 f., 103 f.). Santos begreift den unteren Wirtschaftskreislauf allerdings nicht einfach als unreguliert, sondern verweist auf die Bedeutung »extralegaler Normen« und »eigener Rechtssysteme« (ebd.: 44, 46). Zugleich unterschieden sich die jeweiligen Kreisläufe durch spezifische Konsumtionsweisen (ebd.: 17, 20). Santos geht dabei von drei Klassen aus – die privilegierten, die Mittel- und Arbeiterklasse sowie die marginale Klasse – deren Konsumformen sich in unterschiedlichem Maße auf die beiden Kreisläufe verteilen (ebd.: 19 f., 24 f.). Während sich die privilegierten Klassen kaum auf den unteren Wirtschaftskreislauf stützen, reproduzieren sich die Mittel-, Arbeiter- und vor allem die marginale Klasse in entscheidendem Maße durch die Konsumprodukte, die innerhalb des unteren Wirtschaftskreislaufs zur Verfügung gestellt werden (ebd.: 20).

Die beiden ökonomischen Subsysteme stehen für Santos jedoch nicht nebeneinander, sondern sind intensiv miteinander verflochten (Santos 1975: 19 f.). Die Verbindungen zwischen den Kreisläufen finden unter anderem mittels »gemischter Aktivitäten« statt, die in beiden Kreisläufen aktiv sind (ebd.: 18). So kaufen Großhändler von kleinen Produzenten oder Kleinhändler verkaufen Waren von Großhändlern auf lokalen Märkten weiter. Zwischenhändler spielen hier eine entscheidende Rolle (ebd.). Gleichzeitig lässt sich – insbesondere in der Stadt – eine Dominanz des oberen Wirtschaftskreislaufs über die ganze Ökonomie feststellen (ebd.: 24). Der untere Wirtschaftskreislauf ist dabei abhängig, untergeordnet und eher lokal integriert (ebd.). Der städtische Raum bindet die beiden Sphären nicht nur ökonomisch, sondern auch räumlich eng aneinander (ebd.: 8). Damit widerspricht Santos den dualistischen Theorien, die sich auf die technischen Entwicklungsgrade in der Produktion versteiften und die sie verschiedenen Epochen zuwiesen (ebd.: 26 f.). Der untere Wirtschaftskreislauf sei nicht »traditionell« und »vormodern«, sondern ein dynamisches Produkt der »Modernisierung« selbst (ebd: 27).

Santos arbeitet in seiner Studie folglich zentrale Charakteristika der Arbeits- und Regulationsformen des bedarfsökonomischen Sektors heraus. Er verweist dabei auf die Rolle von Betriebsgrößen, arbeits- oder technikintensiven Tätigkeiten sowie die Eingebundenheit in lokale oder internationale Märkte. Sein Blick ist gleichzeitig nicht auf staatliche Regulierung verengt, sondern fragt nach den Spezifika der jeweiligen Regulierung wirtschaftlicher Aktivitäten in den entsprechenden Kreisläufen. Gleichzeitig arbeitet er heraus, welche gesellschaftlichen Klassen- und Konsumverhältnisse damit verbunden sind und dass sich Teile der Arbeiterklasse sowie der Marginalen vorwiegend innerhalb des unteren Wirtschaftskreislaufs reproduzieren. Darüber hinaus weist Santos auf Verbindungen zwischen den beiden Wirtschaftskreisläufen hin, auf die wir im Weiteren zurückkommen werden. Allerdings scheint das Unterscheidungskriterium der Wirtschaftskreisläufe als »unten« und »oben« etwas unspezifisch und die Frage nach dem verbindenden Spezifikum der Märkte, des Handels und der Organisationsformen innerhalb des unteren Wirtschaftskreislaufes bleibt unbestimmt. Zuletzt bleiben darüber hinaus bei Santos die Widersprüche und Konfliktdynamiken unterbelichtet, die sich entlang der Verflechtungen zwischen den verschiedenen Wirtschaftskreisläufen entwickeln. Mit Blick auf den Begriff des »informellen Sektors« wird bei Santos allerdings eine folgenreiche Verschiebung deutlich. Seine Einteilung der Wirtschaftskreisläufe muss sich keinesfalls mit derjenigen in formell/informell überschneiden. Damit werden, sobald die sozioökonomischen Kategorien konkreter werden, Widersprüche zwischen der empirischen Forschung und den ursprünglichen Begriffen der Informalitätsforschung deutlich.

Informeller Sektor als analytische Kategorie?

Begriffe wie derjenige des »informellen Sektors« oder des »bäuerlichen Produktionssystems« in den Städten sowie die Unterscheidung zwischen »oberem« und »unterem Wirtschaftskreislauf« verdeutlichen, dass die »Modernisierung« im Zuge der fortschreitenden kapitalistischen Entwicklung immer wieder eine wirtschaftliche Heterogenität und unterschiedliche sozioökonomische Bereiche hervorbringt. Es handelt sich bei den bedarfsökonomischen Bereichen damit nicht um historische Relikte oder Symptome der gesamtgesellschaftlichen »Rückständigkeit«, vielmehr wird die »strukturelle Heterogenität« (Córdova 1971) als ein Produkt der wirtschaftlichen Entwicklung selbst erkennbar (de Soto 1992: 35). Die Studien, die sich der Erforschung des »informellen Sektors« widmeten, erreichten dabei wichtige empirische Erkenntnisgewinne: Erstens verschwand tendenziell die teleologisch-modernisierungstheoretischen Auffassung des »modernen« und des »traditionellen Sektors«, die die betrachteten Phänomene nur als Übergangsformen fassen konnten. Zweitens gerieten mit dem Konzept des informellen Sektors die nicht-kapitalistischen urbanen Räume in den Blick, die selbst häufig das Ergebnis der sogenannten Modernisierung waren.Footnote 31 Ein dritter Verdienst des Informalitätskonzepts besteht darin, den informellen Bereich nicht mehr als Sammelsurium der Arbeitslosen zu betrachten, sondern diesen als Komplex einer vielfältig ökonomisch aktiven Bevölkerung zu verstehen (Breman 1976: 1871). Ein vierter Vorteil des Informalitätsansatzes liegt darin, die Verhältnisse der staatlichen Regulation spezifischer wirtschaftlicher Aktivitäten in den Blick zu nehmen. Zunächst stellte die Informalitätsforschung damit einen wichtigen Erkenntnisfortschritt dar.

Die Schwachstellen des Konzeptes liegen – so wurde deutlich – zum einen in dessen theoretischer Unklarheit. Dies betraf vor allem die Frage, was aus den äußerst verschiedenen ökonomischen Aktivitäten, die unter dem Begriff gefasst werden, einen gemeinsamen ökonomischen Sektor macht (Sanyal 2007: 201). Dieses Problem stellt sich insbesondere deshalb, weil deutlich wurde, dass es zunehmend auch innerhalb des kapitalistischen Sektors zu informeller Arbeit kommt.Footnote 32 Mehr als sozioökonomische Besonderheiten verbindet die informelle Ökonomie die Eigenschaft, der staatlichen Regulierung nicht oder nur in beschränktem Maße zu unterliegen. Anstelle einer Definition durch sozioökonomische Gemeinsamkeiten ist die informelle Ökonomie folglich negativ durch eine (fehlende) Regulationsform bestimmt. Einerseits soll unter dem Begriff des informellen Sektors alles gefasst werden, was nicht zum formellen Sektor gehört (Breman 1976: 1871), andererseits ist der Begriff eher die Antipode der staatlichen Bürokratie als des formellen Sektors (Evers/Korff 2000: 132; Denning 2010: 90). Er beschreibe als deskriptive Kategorie den Grad an Durchdringung der Ökonomie durch staatliches Handeln (Elwert/Evers/Wilkins 1983: 281 ff.). Insofern spiegelt der Ansatz eher eine steuerungstheoretische Perspektive der Sozialstaats- und »Entwicklungspolitik« wider als eine empirische Analyse (Sanyal 2007: 193 ff., 200 ff.; Sittel 2022: 58).Footnote 33 Landwirtschaftliche Subsistenzarbeiten und die Reproduktionsarbeit im Haushalt fallen genauso unter diesen Begriff wie eine Taxifahrt ohne Taxameter durch eine Millionenmetropole oder informelle Lohnarbeit in einem Industriebetrieb. Das Konzept entpuppt sich als Sammelbegriff, der wahlweise ein urbanes Auffangbecken, ein Arbeitskräftereservoir, die informellen Selbständigen und Kleinunternehmer, die kleine Warenproduktion, den informellen Handel oder Beschäftigung ohne soziale Absicherung bezeichnen kann (Breman 1976: 1870; Peattie 1987: 856; Elwert/Evers/Wilkins 1983: 281 f.). Schließlich bleiben dem »informellen Sektor« mit seinem rechtlich-regulatorischen Zuschnitt auch sozioökonomische Verflechtungen zwischen den Sektoren verborgen. Damit kann das Konzept weder die Beziehungen zwischen informellem und formellem Sektor, dem urbanen und dem ländlichen Bereich, Stadt-Land Arbeitsmigration noch mögliche sozioökonomische Spezifika der bedarfsökonomischen Aktivitäten fassen (Breman 1976: 1873 f.).

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass das Konzept des informellen Sektors erhebliche Unschärfen aufweist. Im Folgenden werde ich mittels unterschiedlicher theoretischer Strömungen und empirischer Forschungsrichtungen darlegen, dass die Phänomene, auf die der Begriff des informellen Sektors verweist, mit anderen Begriffen und Konzepten besser analysiert und verstanden werden können. Diese ermöglicht es, wie ich zeigen werde, einerseits die Heterogenität in den ökonomischen Logiken, in den Organisations- und Arbeitsweisen, in der Beziehung zu den ökologischen Kreisläufen und der politischen Kultur in den Blick zu nehmen. Andererseits müssen die makroökonomischen Bedingungen verstanden werden, in die die zu betrachtenden sozioökonomischen Einheiten eingebettet sind. Nur so können schließlich auch die sozioökonomischen Verflechtungen, Klassenverhältnisse sowie die dominanten Konfliktdynamiken eingeordnet werden, die nur in begrenztem Maße entlang der Linie formell-informell verlaufen. Diese Perspektive auf regionale und nationale »Entwicklungen« nahmen ab Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem lateinamerikanische Autor*innen ein, die unter anderem den Begriff der »strukturellen Heterogenität« prägten und eine Diskussion um wirtschaftliche »Abhängigkeit« von den Weltmärkten anstießen.

2.3 Ökonomische Verflechtung und globale Abhängigkeit

Das bisher dargelegte Entwicklungsdenken verstand nicht-kapitalistische Bereiche entweder als historische Überbleibsel und fasste sie unter die Kategorie des »traditionellen Sektors« oder untersuchte sie mit dem Sammelbegriff des »informellen Sektors« als neu aufkommende empirische Phänomene. Im Folgenden widme ich mich drei unterschiedlichen Forschungstraditionen, die das Fortbestehen bedarfsökonomischer Aktivitäten als elementaren Bestandteil der Entwicklung des globalen Kapitalismus begreifen und damit einer Leerstelle der bisher dargestellten Ansätze beikommen. Diese Perspektive ist besonders im dependenz- und weltsystemtheoretischen Denken zentral (2.3.1). Anschließend gehe ich auf die französische Sozialanthropologie ein, die von der »Artikulation« verschiedener Produktionsweisen spricht (2.3.2). Schließlich widme ich mich dem feministischen Bielefelder Verflechtungsansatz (2.3.3), dem ich die Kategorie der »Verflechtung« entnehme, der in der vorliegenden Arbeit anschließend große Bedeutung beigemessen wird.

2.3.1 Das Dependenz- und Weltsystemdenken

Abhängigkeit statt »Modernisierung«

Das dependenztheoretische Denken entstand in den 1960er Jahren in Lateinamerika als eine fundamentale Kritik am modernisierungstheoretischen Denken. Der Kritik lag die Diagnose zugrunde, dass die stärkere Integration der lateinamerikanischen Länder in die Weltmärkte nicht zu einer Annäherung an westliche Produktions- und Konsumstandards führte. Die dependentistasFootnote 34 bildeten eine heterogene Gruppe an Autor*innen, die von radikalen und marxistischen Theoretiker*innen wie André Gunder Frank und Ruy Mauro Marini bis zu keynesianisch orientierten Bediensteten öffentlicher Institutionen wie Raúl Prebisch und dem späteren brasilianischen Präsidenten Fernando Cardoso reichte. Seit Prebisch (1950) war das dependenztheoretische Denken durch die Einsicht verbunden, dass Lateinamerika in der Folge des Kolonialismus die Rolle eines Produzenten von Rohstoffen und billigen Lebensmitteln für die frühindustrialisierten Länder eingenommen hatte und diese Rolle trotz unterschiedlicher Industrialisierungsbemühungen nicht ablegen konnte: »[…] the specific task that fell to Latin America, as part of the periphery of the world economic system, was that of producing food and raw materials for the great industrial centres. There was no place within it for the industrialization of the new countries« (Prebisch 1950: 1). Damit war für die dependentistas klar, dass die abhängigen Länder durch die Einbettung in den Weltmarkt in eine Dynamik der »Unterentwicklung« (Frank 1969) gedrängt würden, die unmittelbar mit der »Entwicklung« der Zentrumsländer zusammenhinge. Laut André Gunder Frank (1969) fand in Asien, Afrika und Lateinamerika keine den westeuropäischen Ländern entsprechende Industrialisierung statt, sondern eine »Entwicklung der Unterentwicklung«. Franks radikale These lautete, dass sich diese »Unterentwicklung« nicht trotz, sondern gerade wegen der Integration der (post)kolonialen Länder in den globalen Kapitalismus vollzog. Die »Unterentwicklung« der Länder, die Frank »die Satelliten« nennt, steht in einem notwendigen Zusammenhang mit der Entwicklung der »Metropolen« (Frank 1969: 35 f.). Die »Unterentwicklung« der einen ist damit das Resultat der »Entwicklung« der anderen.

Wie die »Entwicklung der Unterentwicklung« als eigener »Entwicklungsweg« innerhalb der globalen Arbeitsteilung genau aussehe und wie das Problem der »Unterentwicklung« begründet wurde, war unter den dependentistas allerdings umstritten. Die zentrale Kategorie, auf die sich alle einigen konnten, stellte diejenige der »Abhängigkeit« dar. Diese verweist auf ein vorwiegend einseitig vorteilhaftes wirtschaftliches Verhältnis, das durch politische Machtasymmetrien abgesichert wird. Es handelt sich um eine Situation, in der die Wirtschaft der peripheren Länder dominiert wird durch die Entwicklung, Akkumulation, und Expansion der Zentren (Dos Santos 1970: 231). Neben schwankenden terms of trade und globaler Nachfrage auf den Rohstoffmärkten hingen abhängige Länder unter anderem bezüglich Investitionsgütern, Devisengenerierung, technischem Know-How, Investitionen transnationaler Unternehmen und Absatzmärkten von den Zentrumsökonomien ab (ebd.: 232 ff.; Graf et al. 2020: 15 f.). Die Abhängigkeit peripherer Länder von den globalen Zentren führe damit zu einer Asymmetrie in den internationalen Beziehungen und zur wirtschaftlichen »Unterentwicklung« der abhängigen Länder. Entgegen der Modernisierungstheorien ist »Unterentwicklung« damit nicht auf endogene, innere Spezifika der postkolonialen Länder zurückzuführen, sondern vorwiegend auf exogene Faktoren der ungleichen globalen Arbeitsteilung in der kapitalistischen Weltwirtschaft. Diese strukturiere von außen die inneren Verhältnisse wie beispielsweise die Klassenbeziehungen in den abhängigen Länder (Frank 1969: 30, 34, 38; Amin 1975: 236).

Einer der dependentistas, der den Zusammenhang von globaler Abhängigkeit und inneren Klassenverhältnissen am stärksten herausarbeitete, war Ruy Mauro Marini.Footnote 35 Er unterschied die Klassenverhältnisse in den frühindustrialisierten Ländern von denjenigen in den Peripherien der Weltwirtschaft. Während die industrielle Entwicklung der Zentren dazu geführt hätte, dass deren Unternehmen ihre Akkumulation und ihre Gewinnsteigerung in zunehmendem Maße durch Produktivitätssteigerungen, neue Technologien und qualifiziertere Arbeit erlangten, spezialisierten sich die Unternehmen in den (post)kolonialen Ländern auf das Erzielen von Gewinnen und Wettbewerbsvorteilen durch niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten, massenhafte Verfügbarkeit von Arbeitskräften und niedrige Arbeits- und Lebensstandards (Marini 1974: 105, 113 ff.). Entgegen der Länder der Zentren, die sich auf die Gewinnung des relativen Mehrwerts fokussierten, konzentrierten sich die abhängigen Länder damit auf die Maximierung des absoluten Mehrwerts (ebd.: 105 ff., 112–119).Footnote 36 Diese Dynamik werde durch Gewinn- und Wertabflüsse aus den Peripherien in die Zentren noch verstärkt (ebd.: 114 f.). All dies führe zur »Überausbeutung« der Arbeit in den Peripherien, welche nicht nur mit niedrigen Löhnen, sondern zeitweise auch mit Formen gebundener und sklavenartiger Arbeitsregime einhergehe (ebd.: 115 ff.).Footnote 37 Damit präge die globale kapitalistische Arbeitsteilung die Ausbeutungs-, Klassen- und Produktionsverhältnisse im Inneren der abhängigen Länder. Gleichzeitig führe dies auch zu spezifisch »eigenen Zirkulationsformen« (ebd.: 119) im abhängigen Kapitalismus. Dies habe laut Marini damit zu tun, dass die Löhne in den betroffenen Ländern derart niedrig sind, dass sich dort kein umfassender kapitalistischer Binnenmarkt herausbilde, der ausschlaggebend für eine autozentrierte kapitalistische oder eine importsubstituierende »Entwicklung« sein könnte (ebd.: 120 ff.). Marini unterscheidet – ganz ähnlich zu Milton Santos – in der Folge zwei Zirkulationsformen: eine obere, auf den Export ausgerichtete und eine untere, auf den heimischen Konsum ausgerichtete Zirkulationssphäre (ebd.: 128). Damit macht Marini einen systematischen Zusammenhang zwischen globaler Abhängigkeit auf der einen Seite und der inneren Überausbeutung sowie einer nicht-kapitalistischen Reproduktion der Ware Arbeitskraft und einem begrenzten Binnenmarkt mit einer spezifischen Zirkulationssphäre für den heimischen Konsum auf der anderen Seite deutlich.

Das dependenztheoretische Denken lässt sich schließlich in drei Kernaussagen zusammenfassen: Erstens sind »Unterentwicklung« und »Entwicklung« keine historischen Phasen, sondern zwei gleichzeitig, funktional aufeinander bezogene Seiten eines globalen historischen Prozesses, der mit dem Kolonialismus seinen Anfang nahm und bis heute reicht; zweitens ist »Unterentwicklung« nur unter Berücksichtigung externer Faktoren zu erklären; drittens hat »Unterentwicklung« auch interne Auswirkungen auf die Sozialstruktur abhängiger Länder. Kapitalistische Entwicklung ist damit kein linearer und teleologischer historischer Prozess der kulturellen, politischen und ökonomischen Entwicklung endogener Faktoren, der bestimmte »Stadien« durchläuft, sondern je nach Position in der internationalen Arbeitsteilung muss von unterschiedlichen Entwicklungspfaden ausgegangen werden, deren Kontinuitäten von exogenen wie endogenen Faktoren geprägt sind (Becker et al. 2007). Die alte Terminologie der Modernisierungstheorie wird im dependenztheoretischen Denken damit durch strukturalistische Kategorien der Klassenverhältnisse sowie der Weltwirtschaft und der internationalen Arbeitsteilung ersetzt (Menzel 2010: 115 f.; Cardoso 2016: 187). Die inneren Verhältnisse abhängiger Länder können damit auch nicht mehr unabhängig von ihrer Einbettung in die kapitalistische Weltwirtschaft analysiert werden. Wie die inneren Verhältnisse allerdings analytisch genau verstanden werden müssen, darüber bestand auch unter den dependentistas keine Einigkeit.Footnote 38 Im Folgenden gehe ich auf unterschiedliche Vorschläge ein und messe dabei dem Konzept der »strukturellen Heterogenität« besondere Bedeutung zu.

Marginalität und strukturelle Heterogenität

Fernando Cardoso und Enzo Faletto stellen die aus der internationalen Abhängigkeit folgende »Unterentwicklung« als einen Komplex wirtschaftlicher Verhältnisse dar, der durch einen »[…] vorherrschenden Primärsektor, hohe Einkommenskonzentration, geringe Diversifikation der Produktion und vor allem dadurch gekennzeichnet ist, daß der Außenmarkt erheblich mehr Gewicht hat als der Binnenmarkt« (Cardoso/Faletto 1976: 25 f.).Footnote 39 Armando Córdova (1971: 167) ergänzte, dass diese sozioökonomische Situation zu einem umfassenden Beschäftigungsmangel führe. Aus dem Beschäftigungsproblem resultiere in lateinamerikanischen Ökonomien eine verbreitete »Unterbeschäftigung« und »Marginalität« großer Bevölkerungsteile (ebd.: 87; Quijano 1974). Der starke Fokus auf Unterbeschäftigung erklärt sich dadurch, dass in den 1960er Jahren deutlich wurde, dass der sekundäre Sektor die großen Massen an Arbeitskräften nicht aufnehmen konnte, die aus den ländlichen Gebieten in die Städte migrierten (Delfino 2012: 19).Footnote 40 Lateinamerikanische Gesellschaften seien – laut Córdova – in der Folge durch eine permanente Unterbeschäftigung gekennzeichnet. Diese habe mit verschiedenen angebots- und nachfragespezifischen Faktoren auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt zu tun. Einerseits sei die Qualifizierung der Arbeitskräfte häufig niedrig und das Bevölkerungswachstum sowie die Landflucht und Urbanisierung hoch. Auf der anderen Seite führe der Rückgang der Akkumulation, stark fluktuierende Beschäftigung, technische Neuerungen, die Arbeit einsparen sowie das Ausbleiben von intersektoralen Wachstumsimpulsen zu keiner kontinuierlichen Steigerung von Beschäftigungsangeboten (Córdova 1971: 10 ff., 65). Resultat dieser strukturellen Unterbeschäftigung ist eine extreme soziale Ungleichheit sowie das Ausbleiben der vollständigen Proletarisierung der arbeitenden Bevölkerung (ebd.: 21 f.). Anstatt einer umfassenden Verwandlung dieser in Lohnabhängige seien große Teile der Bevölkerung in verschiedenen Sektoren der Wirtschaft tätig, die durch sehr unterschiedliche Produktionsverhältnisse gekennzeichnet seien (ebd.: 26 f.). »Unterentwicklung« kann folglich nicht verstanden werden, »[…] ohne die nicht-kapitalistischen Produktionsverhältnisse in Betracht zu ziehen« (ebd.: 167). Die abhängigen Länder seien intern folglich durch eine strukturelle Heterogenität zu charakterisieren, worunter Córdova das gleichzeitige Bestehen verschiedener Produktionsweisen, Eigentumsverhältnisse, Produktivitätsentwicklungen und »Organisationsformen der gesellschaftlichen Arbeit« (ebd.: 26 f., 63) als parallele Bestandteile einer Wirtschaft versteht. Damit werden die lateinamerikanischen Länder und Gesellschaften des globalen Südens den »homogenen« sozialen Verhältnissen der Zentrumsländer gegenübergestellt (Hurtienne 1981: 111 f.).Footnote 41 Die strukturelle Heterogenität betreffe zudem nicht nur die sozioökonomische Ebene, sondern gehe mit einem »heterogenen Klassensystem« und einem »heterogenen Überbau« einher (Córdova 1971: 27). Diese Heterogenitäten ergeben sich wiederum nicht aus den endogenen Strukturen alleine, sondern seien durch den Kolonialismus begründet und durch die äußere Abhängigkeit fortgeführt worden (ebd.: 28 f., 32 ff.). Die herrschenden Klassen der lateinamerikanischen Länder trügen zudem aktiv zur Reproduktion dieser Heterogenität bei (ebd.: 60, 63, 72 f.).Footnote 42

Córodova (1971: 64) wendet sich mit seinem Begriff der »strukturellen Heterogenität« zudem explizit gegen das modernisierungstheoretische Dualitätsdenken. Strukturelle Heterogenität dürfe nicht als ein zeitlich beschränktes Phänomen einer »Übergangsgesellschaft« konzipiert werden (ebd.). Dass die herrschenden Klassen abhängiger Länder ein Interesse an der strukturellen Heterogenität haben, zeugt vielmehr davon, dass das Zusammenwirken der verschiedenen Produktionsweisen als ein für den kapitalistischen Sektor funktionales Verhältnis zu verstehen sei (ebd.: 32 f.). So stelle der nicht-kapitalistische Bereich der Subsistenzwirtschaft ein permanentes Reservoir an billigen Arbeitskräften für den kapitalistischen Exportsektor dar, aus dem beliebig Lohnabhängige attrahiert werden können, insofern Bedarf besteht (ebd.). Gleichzeitig biete der Subsistenzsektor den Arbeitskräften einen Rückzugsort in Zeiten, in denen ihre Arbeitskraft nicht gebraucht wird. Allerdings werde diese funktionale Heterogenität durch push- und pull-Faktoren der Proletarisierung gestört. Push-Faktoren bilden vor allem die Zerstörung der Subsistenzlandwirtschaft (ebd.: 41). Die pull-Faktoren seien Urbanisierung und phasenweise gestiegene Beschäftigungsmöglichkeiten (ebd. 98 f.). Gleichzeitig sei aber auch diese Entwicklung durch eine bleibende Pendelbewegung aus Attraktion und Repulsion von Arbeitskräften in den nicht-kapitalistischen Subsistenzsektor gekennzeichnet, da neue Technologien immer wieder Beschäftigung einsparten, das Wachstum unzureichend und das Angebot an Arbeitsplätzen in der Industrie häufig rückläufig sei (ebd.: 48, 52 f.). Immer mehr bilde sich deshalb ein prekärer tertiärer Sektor heraus (ebd.: 48 f.). Die »[…] Unfähigkeit der nicht-landwirtschaftlichen Sektoren unserer Wirtschaft, der nicht beschäftigten aber potentiell aktiven Bevölkerung sichere und angemessen entlohnte Arbeitsplätze zu bieten […]« (ebd.: 51) bezeugt damit in anderen Worten, dass der Kapitalismus das Problem der Unterbeschäftigung nicht lösen kann. Damit entstehe eine »wirtschaftliche, soziale und politische Marginalität« der Mehrheit der Bevölkerung in Lateinamerika (ebd.: 87).

Aníbal Quijano argumentiert ähnlich wie Córdova. Er charakterisiert die lateinamerikanischen Länder als »abhängige, ungleiche und kombinierte Gesellschaftsformationen« (Quijano 1974: 300 FN3). Ihre innere Heterogenität sei durch kapitalistische und »vorkapitalistische« Produktionsverhältnisse, sehr verschiedene Nutzung von Technologie, Elemente aus verschiedenen kapitalistischen Organisationsweisen – kompetitiver vs. monopolistischer Kapitalismus – sowie eine »strukturelle Abhängigkeit« der inneren sozialen Verhältnisse von der Entwicklung anderer Länder bedingt (ebd.: 299 ff.). Das zentrale Merkmal abhängiger Länder besteht für Quijano damit in der »[…] Kombination von kapitalistischen und vorkapitalistischen Produktionsverhältnissen unter der Hegemonie und zum Nutzen der ersteren« (ebd.: 299 f.). Die Wirtschaft ist damit zwar kapitalistisch, aber nicht homogen kapitalistisch (ebd.: 300). Die kapitalistischen Sektoren entwickelten sich nicht organisch aus den inneren Verhältnissen und dem technologischen Niveau der jeweiligen Gesellschaft heraus und im Zusammenspiel mit den anderen Sektoren, sondern werden vielmehr »aufgepfropft« (ebd.: 301 f.), das heißt, sie würden immer wieder als neue sozioökonomische »Elemente« aus den globalen Zentren in die abhängigen Länder »transplantiert« (ebd.: 312), was einer organischen und allmählichen »Entwicklung« zuwiderlaufe (ebd.: 303 f.). In Lateinamerika könne daher höchstens von einem »langsamen diskontinuierlichen und bruchstückhaften Verlauf ‚historischer Homogenisierung‘ der Gesamtstruktur« gesprochen werden (ebd.: 308). Diese »Homogenisierung« werde allerdings durch die heterogenen Herrschaftsverhältnisse verhindert (ebd.).

Abhängigkeit in der wirtschaftlichen Entwicklung wird von Quijano (1974: 298, 305 ff.) folglich mit einer »prekären inneren Strukturierung« assoziiert. Der Kapitalismus entsteht nicht als breiter kompetitiver Kapitalismus kleiner und mittlerer Unternehmen, sondern von Beginn an als »Monopolkapitalismus« (ebd.: 302). Dabei werden die nicht-kapitalistischen Bereiche ständig untergraben, ohne vollständig zerstört zu werden. Zwar stünden sie in keiner organischen Verbindung zu den kapitalistischen Sektoren, allerdings dauerten sie auch nicht einfach in ihrem alten, »traditionellen« Modus fort, sondern erhielten neue Funktionen (ebd.: 303, 312). Anstatt zu verschwinden, weite sich die handwerkliche Erzeugung von Gütern und Dienstleistungen aus und bilde eine neue Ebene der wirtschaftlichen Tätigkeit (ebd.: 312). Diese Tendenz hätte eine eigene »abgesunkene Wirtschaftsebene« hervorgebracht, welche durch »residuale Produktionsressourcen«, »charakteristische Organisation- und Beschäftigungsformen« sowie einen eigenen Markt gekennzeichnet sei (ebd.: 313). Um diese Verhältnisse begrifflich zu fassen, bestehe allerdings ein »Mangel adäquater Begrifflichkeiten« (ebd.). Der Begriff der Subsistenzwirtschaft sei nicht angemessen, weil er von einer relativen Stabilität der Selbstversorgung sowie einer Unabhängigkeit von monetären Marktverhältnissen ausginge (ebd.). Es sei aber gerade der fehlende Zugang zu den grundlegenden Produktionsressourcen, der den großen Teil der Bevölkerung charakterisiere. Deshalb schlägt Quijano den Begriff »marginaler Pol« vor, der »[…] zur Kennzeichnung dieser neuen, sich in einem Expansions- und Ausformungsprozess befindenden Ebene der lateinamerikanischen Wirtschaftstätigkeit« (ebd.: 313 f.) dienen solle. Dieser sei durch eine »[…] bruchstückhafte, äußerst dürftige Beziehung zu den grundlegenden Produktionsmitteln […]« (ebd.: 314) sowie die Unterordnung unter eine indirekte Herrschaft der »dominierenden Organisationsweisen« gekennzeichnet (ebd.). Daraus ergebe sich aber kein Dualismus, da den beiden Bereichen eine gemeinsame geschichtliche Logik zugrunde liege (ebd.).

Die strukturell heterogenen lateinamerikanischen Gesellschaften bestünden folglich aus drei sozioökonomischen Ebenen: der monopolistischen, der konkurrenzkapitalistischen und der marginalen Ebene (Quijano 1974: 337). Letztere bilde den marginalen Pol, der die mehrheitlich überflüssigen Arbeitskräfte auffange (ebd.: 331). Der marginale Pol sei keine »industrielle Reservearmee« im Marxschen Sinne, da der industrielle, monopolkapitalistisch geprägte Sektor mittlerweile durch eine relativ geringe Zahl an qualifizierten Arbeitskräften gesättigt sei, was einen geschlossenen Arbeitsmarkt besser bezahlter Arbeitsplätze hervorbringe, von dem die marginale Bevölkerung ausgeschlossen sei (ebd.: 331 ff.). Die stark sozial differenzierte arbeitende Bevölkerung wird damit als ein Ergebnis der differenzierten Arbeitsmärkte und Organisationsweisen in der Gesamtwirtschaft verstanden (335 ff.).Footnote 43 Auffällig ist, dass für Quijano die Entwicklung der Produktivität und arbeitssparender Techniken, die bei Marini ein Privileg der »entwickelten Länder« seien, auch in den abhängigen Ländern stattfinde, allerdings nur für einen beschränkten »monopolistischen« Bereich, aus dem die Mehrheit der Bevölkerung ausgeschlossen bleibt und der von den technischen Neuerungen und Organisationsformen der Zentren geprägt und abhängig ist. Die Verbindungen zwischen den drei sozioökonomischen Ebenen verlaufe erstens dadurch, dass ein Werttransfer von der unteren Ebene zur mittleren und von dieser wiederum zur monopolistischen Ebene stattfinde und zweitens dadurch, dass der marginale Pol eine konstante, kostenlose Reservearmee für den weit weniger kapital-, sondern vorwiegend arbeitsintensiven »konkurrenzkapitalistischen« Sektor bereitstelle (ebd.: 337 ff.). Für Quijano verlaufen die Verknüpfungen zwischen den unterschiedlichen sozio-ökonomischen Bereichen – ähnlich wie bei Córdova – vorwiegend über den Arbeitsmarkt. Weitere Verbindungen über Märkte und den Kapitaltransfer deutet er nur an. Zudem bleibt auch bei Quijano der marginale Pol eine black box, dessen Produktions- und Lebensverhältnisse nicht empirisch untersucht werden. Es wird lediglich auf die prekärer werdenden Bedingungen der Subsistenzwirtschaft verwiesen.

Kritisch gegenüber dem Konzept der Marginalität wurde eingewandt, es lege wider Willen einen Dualismus nahe, da damit ein konstruierter Graben zwischen den Marginalen und der integrierten Gesellschaft gezogen würde (Delfino 2012: 27). Dementgegen seien auch »marginale« Stadtbewohner*innen an vielfältigen Prozessen der Gesamtgesellschaft beteiligt, sei es durch ihre Arbeit, ihre Loyalität zu Autoritäten oder ihre kulturelle Orientierung (Perlman 2010: 149 ff.). Marginalität sei weniger eine sozioökonomische Grundstruktur als vielmehr ein politisch hergestelltes Unterdrückungsverhältnis, eine Stigmatisierung, ein sozialer Ausschluss, der immer wieder hergestellt werden müsse (ebd.: 150). Der von Quijano vorgeschlagene Begriff der »Marginalität« verschwand in den 1980er Jahre aus den Debatten, als das Informalitätskonzept einen Aufwind erlebte (Delfino 2012: 22 f.). Da im Zuge der neoliberalen Strukturanpassungen der 1990er Jahre soziale Heterogenitäten und Fragmentierungen des Arbeitsmarktes allerdings wieder zunahmen, erlebte der Begriff seitdem wieder einen Aufwind (Delfino 2012: 28 ff.).Footnote 44 Die Stärke des Marginalitätsbegriffs besteht meines Erachtens darin, die Exklusionsbeziehung zum dominanten kapitalistischen Sektor und den fehlenden Zugang der »Marginalen« zu »grundlegenden Produktionsressourcen« zu betonen (Quijano 10974: 313 f.). Allerdings nimmt auch er die Eigenlogiken des Nicht-Kapitalistischen nicht spezifisch in den Blick.

Insgesamt führt das dependenztheoretische Denken zu einem Verständnis globaler Zusammenhänge, in dem sich abhängige Länder auf gänzlich anderen »Entwicklungswegen« wiederfinden, als die Zentrumsländer. Die »abhängige Entwicklung« führt zur Exportorientierung, einem starken Einfluss externer Faktoren, einer spezifischen Produktspezialisierung, zu »struktureller Heterogenität«, einem »begrenzten Binnenmarkt«, dem »Ausschluss« eines marginalen Pols, besonderen Klassenverhältnissen und kolonialen Kontinuitäten in den Herrschaftsverhältnissen. In Marinis Worten spezialisieren sich die abhängigen Länder in der Folge auf die Ausbeutung des absoluten Mehrwerts (Marini 1974: 113 ff.) und seien – laut Córdova – durch einen allmählichen Zerfall des Subsistenzbereichs, die Auflösung der »ländlichen Gesellschaft« sowie eine frühen Tertiärisierung gekennzeichnet (Córdova 1971: 41 f., 48, 51).Footnote 45 Während die Dualitätstheorien auf endogene Faktoren und Strukturen abhoben, zeigten die dependentistas, dass diese inneren Heterogenitäten nur als Teil der globalen Weltwirtschaft verstanden werden können. Der Behauptung, dass es sich bei diesen Erscheinungen um Phänomene einer Phase von »Übergangsgesellschaften« handle, die auf dem Weg von vormodernen zu modernen Gesellschaften seien, widersprachen die dependentistas vehement (Córdova 1971: 64). Es ging ihnen darum, die Kontinuitäten kolonialer und wirtschaftlicher Art als dauerhaften Teil abhängiger Entwicklungspfade in der Weltwirtschaft aufzuzeigen. In diese Fußstapfen trat seit dem Abflauen der Diskussionen um Abhängigkeit der Weltsystemansatz, der eine Reihe der angeführten Begriffe erweiterte.

Das Weltsystemdenken und der Haushaltsansatz

Aufbauend auf das dependenztheoretische Denken entwickelte Immanuel Wallerstein in den 1970er Jahren in seinem vierbändigen Werk Das moderne Weltsystem in engem Austausch mit einigen seiner Zeitgenossen – insbesondere dem erwähnten André Gunder Frank, dem ägyptisch-französischen Ökonom Samir Amin und dem italienischen Soziologen Giovanni Arrighi – die Weltsystemanalyse (Schmalz 2016: 55 f.). Zentrale Bezugsgröße soziologischer, politischer sowie ökonomischer Studien ist hierbei das Weltsystem als Ganzes, von dem die entsprechenden Verhältnisse und Regionen nur Bestandteile bildeten. Das Weltsystemdenken ist für diese Arbeit von Bedeutung, da hierbei die großen internationalen Unterschiede der inneren ökonomischen Strukturen sowie Klassenverhältnisse und -konfliktdynamiken in Zusammenhang mit der globalen Arbeitsteilung gebracht werden. Phänomene der strukturellen Heterogenität werden damit – ähnlich wie beim Dependenzansatz – nicht als historische Überbleibsel der »Unterentwicklung«, sondern als relativ dauerhafter, struktureller Bestandteil des modernen Weltsystems begriffen.

Das heutige kapitalistische Weltsystem sei im langen 16. Jahrhundert – etwa zwischen 1450 und 1640 – entstanden, als sich die europäische Weltwirtschaft immer mehr ausdehnte, ohne jedoch unter eine gemeinsame politisch zentralisierte Macht gestellt zu werden (Wallerstein 1986: 99 ff.). Der Kapitalismus entstehe somit auf Weltebene als eine über Märkte verbundene Wirtschaft, in der den unterschiedlichen Ländern verschiedene Positionen zukommen und die durch eine gemeinsame Arbeitsteilung gekennzeichnet sei (ebd.: 1979: 34 f.). In dieser gemeinsamen Arbeitsteilung seien die verschiedenen Regionen auf den wirtschaftlichen Austausch untereinander angewiesen, »[…] um die Bedürfnisse des eigenen Gebiets reibungslos und kontinuierlich zu befriedigen« (ebd.: 34). Innerhalb der globalen Arbeitsteilung spezialisieren sich die jeweiligen Länder auf die Produktion, den Export und den Import verschiedenartiger Produktpaletten. Zentrumsländer exportierten höherwertigere, technisch komplexere und häufig patentierte Güter und Dienstleistungen, deren Produktion, Fortentwicklung und Schutz durch deren Nationalstaaten gewährleistet wird. Damit spezialisierten sie sich auf die oberen Stufen globaler Güterketten und seien durch die Unternehmensform der weltweit agierenden Quasi-Monopole gekennzeichnet (ebd. 2019: 31 ff.). Starke Nationalstaaten seien ein weiteres Merkmal der Zentrumsländer und unter anderem Ergebnis einer größeren Konvergenz der Interessen relevanter sozialer Gruppen innerhalb dieser Länder (ebd. 1986: 520 ff.; 1979: 47 ff.).

Im Unterschied zum Dependenzansatz geht die Weltsystemanalyse nicht von einer dualen Spaltung der Weltwirtschaft aus, sondern unterscheidet neben Zentrum und Peripherie auch die Semiperipherie. Diese sei dadurch gekennzeichnet, dass sie bezüglich ihrer gemischten Produktionsstruktur, der Stärke des Staates sowie der »kulturellen Integrität« zwischen Zentrum und Peripherie stünde (Wallerstein 1986: 520; ebd.: 2019: 35). Die Semiperipherie ist aber keineswegs nur eine statistische Zwischengröße, sondern ein strukturnotwendiger Bestandteil des Weltsystems, da ihr die politische Funktion zukommt, politische Spannungen und desintegrative Konflikte zwischen Zentrum und Peripherie abzufedern (ebd. 1986: 520 f.). Neben dieser politischen Funktion ist die Semiperipherie ökonomisch notwendig, weil sie dem Kapital der Zentren, das von steigenden Löhnen betroffen ist, neue profitable Anlagemöglichkeiten bietet (ebd. 2010: 182 f.). Gleichzeitig versuchen die semiperipheren Staaten häufig aufzusteigen, indem sie protektionistische Interventionsmaßnahmen betreiben, die ihre Märkte, Unternehmen und eigenen Exporte sowie Auslandsinvestitionen schützen und fördern (ebd. 2019: 36). Diese Prozesse bringen eine Dynamik in die Weltwirtschaft, welche einerseits zu Wachstumszyklen und andererseits zu Auf- und Abstiegsprozessen von Zentren und Semiperipherien führt (ebd.: 36 f.). Einerseits ist der Begriff der Semiperipherie damit – wie das Weltsystemdenken insgesamt – funktionalistisch angelegt und umfasst eine recht heterogene Gruppe von Ländern. Andererseits sind diese durch Ähnlichkeiten mit Blick auf die Stärke des Nationalstaats, ihrer geopolitischen Rolle, Bevölkerungsgröße, qualifizierten Fachkräfte, diversifizierten (Industrie-)Produktion und ihrer Pro-Kopf-Einkommen gekennzeichnet (Li 2008: 96; Schmalz 2016: 58). Schließlich ist aus Sicht des Weltsystemdenkens die globale Ordnung flexibler, dynamischer, aber auch differenzierter als im dependenztheoretischen Denken.

Mit der jeweiligen Position in der globalen Arbeitsteilung gehen im Weltsystemdenken nicht nur unterschiedlich starke Nationalstaaten, ökonomische Spezialisierungen und Binnenverhältnisse, sondern auch verschiedene Sozialstrukturen und Klassenverhältnisse einher. Aus Wallersteins Sicht ist auch die Formation dieser inneren Strukturen der jeweiligen Länder ein Moment des Weltsystems (Wallerstein 2010: 186 ff.). Soziale Klassen stellen für Wallerstein nicht vorwiegend nationale Akteure dar, sondern sind sozial gesehen »Phänomene der Weltwirtschaft« (ebd. 1979: 52). So rückte in den Zentrumsländern die Landwirtschaft seit dem 19. Jahrhundert als Quelle des Profits immer mehr in den Hintergrund und machte den Fertigungsindustrien Platz. Damit entstand dort ein sozial und politisch relevantes Industrieproletariat (ebd.: 190 f.). Die Folge sei, dass sich »die Arten von Bourgeois und Proletariern« in Zentrum, Semiperipherie und Peripherien unterscheiden. So sei beispielsweise »[…] der Anteil der lohnabhängigen Proletarier in den Kernländern systematisch höher« (ebd.: 202), was damit zu tun hätte, dass »[…] das Funktionieren der Weltökonomie zu sehr unterschiedlichen Zusammensetzungen der jeweiligen nationalen Klassen führt« (ebd.). Die Relevanz der Lohnarbeit unter der gesamten arbeitenden Bevölkerung sowie die Art ihrer Organisierung und Qualifizierung unterscheidet sich damit je nach Position in der Weltwirtschaft (Li 2008: 102 ff.). Daraus resultieren zudem sehr unterschiedlich ausgeprägte Machtressourcen der arbeitenden Bevölkerung in sozialen Konflikten (ebd.: 100). All dies bringe wiederum die »[…] vielfältigen Formen des Klassenkonflikts in der kapitalistischen Weltwirtschaft« hervor (Wallerstein 2010: 203). Diese Pluralität der Klassenstrukturen und -konflikte hat auch damit zu tun, dass sich Klassenbewusstsein auf der Ebene der sehr verschiedenartig ausgeprägten Nationalstaaten bilde (ebd.: 187 f.). Dies begründet Wallerstein damit, dass sich die Verfassung des Proletariats in den jeweiligen Ländern des Weltsystems wesentlich aus deren Position in der Weltwirtschaft ergebe: »Da industrielle Tätigkeiten in bestimmten Teilen der Weltwirtschaft unverhältnismäßig stark konzentriert sind, sind industrielle Lohnarbeiter prinzipiell in bestimmten geografischen Regionen anzutreffen. Ihre Interessen als syndikalistische Gruppe werden durch ihr kollektives Verhältnis zur Weltwirtschaft bestimmt« (ebd. 1979: 52; ebd.: 2010: 192). In den Peripherien stellen sich Klassenkonflikte vor dem Hintergrund einer andersgearteten Wirtschafts- und Sozialstrukturanders dar und artikulieren sich häufig nicht diskursiv als Klassenkonflikte.Footnote 46

Insbesondere in peripheren Gebieten der Weltwirtschaft sind soziale Klassen durch Verhältnisse charakterisiert, die bei industrieproletarischen Haushalten in den Zentren nur eine untergeordnete Rolle spielen. Diese spezifischen Verhältnisse bezeichneten die Dependenztheoretiker*innen als strukturelle Heterogenität. Das Weltsystemdenken fasst dies mit Blick auf die Ökonomie der Privathaushalte genauer. Arbeiter*innen leben insbesondere in peripheren und ländlichen Räumen nicht als individuelle, vereinzelte ökonomische Entitäten, sondern als Mitglieder von Haushalten, die mehrere Einkommen und Einkommensarten bündeln (Wallerstein 2019: 38 f.). Ein Haushalt wird ökonomisch durch die Verpflichtung konstituiert, Einkommen zu erzielen und den Konsum aus diesem Einkommen in irgendeiner Form zu teilen.Footnote 47 Im heutigen kapitalistischen Weltsystem gibt es – laut Wallerstein – grundsätzlich fünf verschiedene Einkommensarten (ebd: 39): Erstens den Lohn, der regelmäßig oder auch nur in einem gewissen Zeitraum sowie als Zeit- oder Stücklohn bezogen werden kann. Für die Unternehmen hat die Lohnform den Vorteil, dass sie keine Verpflichtung für den generellen Fortbestand des Haushalts und die Reproduktion der Arbeitskraft eingehen. Die Reproduktion zu ermöglichen, ist Aufgabe der Privathaushalte selbst. Eine zweite Einkommensquelle der Haushalte stellt die Subsistenzarbeit dar (ebd.: 39 f.), die gebrauchswertorientierte Tätigkeiten im und in Bezug auf die Konsumtion im Haushalt umfasst. Eine dritte Einkommensform stellen die einfache Warenproduktion und der einfache Warenhandel dar. Diese beinhalten Tätigkeiten wie die Produktion von Gütern für den Verkauf oder den Kauf und Weiterverkauf von Waren durch Haushaltsmitglieder (ebd.: 40). Darüber hinaus bilden viertens Rentenzahlungen eine weitere Einkommensform. Diese bezieht sich auf die Möglichkeit, Einkommen aus der Verfügung über Gebrauchsgegenstände oder Kapitalbesitz zu ziehen. Diese kann sich aus der Vermietung eines Stücks Land, eines Zimmers oder aus einem vergebenen Kredit ergeben (ebd.). Eine fünfte Einkommensform stellen Transferzahlungen dar. Sie können aus Überweisungen von Familienmitgliedern aus dem Ausland, staatliche Leistungen oder zwischen Haushalten bestehen. Letzteres kann Schenkungen, Mitgiften, aber auch Ausbeutungsbeziehungen zwischen Haushalten implizieren (ebd.). Laut Wallerstein gebe es praktisch weltweit wenige Haushalte, die nicht in irgendeiner Form diese fünf Einkommensformen beziehen, allerdings ist die relative Bedeutung der Einkommensform in den verschiedenen Haushalten klassenspezifisch, aber auch geografisch sehr unterschiedlich (ebd.: 41). Wallerstein unterscheidet je nach Bedeutung der jeweiligen Einkommensquelle verschiedene Haushaltstypen: Proletarische Haushalte sind solche Haushalte, bei denen das Lohneinkommen mehr als 50 Prozent des Gesamteinkommens ausmacht. Semiproletarische Haushalte sind solche, bei denen die Lohneinkommen einen geringeren Anteil ausmachen (ebd.). Semiproletarische Haushalte seien laut Wallerstein für die Unternehmen funktionaler, da diese in diesem Kontext Löhne einsparen könnten und indirekt die »Haushaltsökonomie« mitausbeuten können (ebd.: 41 f.). Aus dieser Situation erklärt sich auch, warum die Haushalte selbst ein Interesse daran haben können, sich von semiproletarisierten in voll proletarisierte Haushalte zu verwandeln (ebd.: 42), da sie mit höheren Löhnen die Haushaltsökonomie selbst entlasten. Andererseits verteidigen semiproletarische Haushalte – wie ich in der vorliegenden Arbeit empirisch zeigen werden – auch ihre nicht lohnbasierten Einkommensformen. Proletarisierung ist damit stets ein Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, bei denen weder die Haushalte noch die Unternehmen ein eindimensionales Interesse haben (ebd.). Andererseits stellt die Tendenz zur Durchkommodifizierung der gesamten Welt eine Eigenheit des kapitalistischen Weltsystems dar, welche auch zu einem systematischen Untergraben nicht-kommodifizierter Einkommensformen führe (ebd.: 1984: 17, 21 f.).

Einer der wichtigsten Befunde ihrer haushaltsbezogenen Forschung – schreiben Immanuel Wallerstein und Joan Smith zu Beginn der 1990er Jahre – sei die Erkenntnis, dass bezüglich des Weltsystems zwischen den zwei oben angeführten Typen von Haushalten zu differenzieren ist (Wallerstein/Smith 1992b: 255 f.). Semiproletarische Haushalte fänden sich vorwiegend in den peripheren Gebieten des Weltsystems und seien auf verschiedene Einkommensarten und ökonomische Aktivitäten angewiesen (Wallerstein/Smith 1992a: 15 f.; ebd. 1992b: 256 ff.). Lohneinkommen aus dem kapitalistischen Sektor sind hier häufig nur saisonal, prekär und durch niedrige Entlohnung gekennzeichnet. Die Notwendigkeit des income pooling innerhalb der Haushalte wird von den strukturell gegebenen Beschäftigungsbedingungen im kapitalistischen Sektor abhängiger Länder verstärkt. Die Aktivitäten außerhalb der kapitalistischen Lohnarbeit müssen die Haushalte mitfinanzieren und damit die gezahlten Löhne subventionieren (Wallerstein 2019: 42).Footnote 48 Allerdings sei es immer weniger die Subsistenzproduktion als vielmehr die einfache Warenproduktion, der kleine Warenhandel und andere kommodifizierte Tätigkeiten, welche als zusätzliche Einkommensmöglichkeit an Bedeutung gewännen (Wallerstein/Smith 1992b: 256 f.).Footnote 49

Der beschriebene Haushaltsansatz ermöglicht es, den Blick auf das income pooling und damit auf unterschiedliche ökonomische Praktiken zu lenken und so Verflechtungen verschiedener ökonomischer Aktivitäten auf Haushaltsebene zu analysieren, ohne sich dabei auf einer rein mikrosoziologische Ebene zu bewegen.Footnote 50 Die Privathaushalte werden im Weltsystemansatz unmittelbar im ökonomischen Kontext der Weltwirtschaft verortet, in dem die Haushalte nach Überlebensstrategien suchen (Wallerstein/Smith 1992b: 254). Der Haushalt wird dabei wesentlich als Ort der Reproduktion der Arbeitskraft verstanden, welche potenziell zu jeder Zeit dem kapitalistischen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehe. Haushalte sind gleichermaßen keine isolierten Akteure, sondern immer Mitglieder von Klassen, Ständen, kultureller oder religiöser Gemeinschaften und Identitäten (Wallerstein 2019: 42 f.). Ethnische Gruppen seien weiterhin ein maßgeblicher und bleibender Faktor, der nicht nur eine gemeinschaftliche Bindung, Identität und ökonomische Praktiken zwischen den Haushalten erzeugt, sondern auch deren Verhältnis zur globalen Wirtschaft prägt (Wallerstein/Smith 1992a: 20; ebd. 1992b: 253). Gerade mit Blick auf diese Verhältnisse zwischen semiproletarischen Haushalten in (semi)peripheren Ländern stellt sich die Frage, wie sich diese nicht-kapitalistischen Praktiken mit dem Weltsystemdenken verstehen lassen, die von anderen unter Begriffen wie »Subsistenzproduktion« (Lewis 1954: 146 f.), »informellem Sektor« (Hart 1973), dem »unteren Wirtschaftskreislauf« (Santos 1975), der »unteren Zirkulationssphäre« (Marini 1974: 128) oder dem »marginaler Pol« (Quijano 1974) zusammengefasst wurden. Wie wir im Folgenden sehen werden, lehnte Wallerstein diese angeführten Konzeption der strukturellen Heterogenität allesamt ab.

Indem Wallerstein das Weltsystem als Totalität fasst, deren Bestandteile eine strukturfunktionale Rolle im Ganze spielen, kann aus seiner Sicht innerhalb des globalen Weltsystems nicht zwischen nicht-kapitalistischen und kapitalistischen Produktionsweisen unterschieden werden. Vielmehr seien all jene ökonomischen Verhältnisse und Praktiken kapitalistisch, die in irgendeiner Weise in einem relevanten Austausch mit dem Weltsystem stehen. Damit wendet sich Wallerstein (1979: 33 f.) auch gegen marxistische Autor*innen, die behaupten, es gäbe noch semi-feudale oder subsistenzwirtschaftliche Bereiche.Footnote 51 Es handele sich ab dem Zeitpunkt um eine kapitalistische Weltwirtschaft, als die »[…] Produktion zum Zweck des Absatzes auf einem Markt mit dem Ziel, den größtmöglichen Profit zu realisieren« (ebd.: 43), stattfinde. Dafür sei charakteristisch, dass die Produktion möglichst ständig ausgeweitet, neue Produkte und Märkte geschaffen und die Gewinnspanne maximal ausgedehnt würde (ebd.). Kapitalistische Produktionsweise ist für Wallerstein damit auch nicht primär eine Frage der konkreten Klassenverhältnisse in der Produktion, des technischen Standes der Produktion oder der Produktivitätssteigerung und auch nicht der Größe der Betriebe oder der Eigentümerstruktur, sondern der Ausrichtung der Produktion auf den Markt und den Zweck, Profit zu erzielen (ebd.: 43 ff.). Einzelne Unternehmen, die in großem Maße für den Verkauf produzieren und auch Lohnarbeit hätte es in der Geschichte der Menschheit immer wieder gegeben, von einem kapitalistischen System sollten wir – laut Wallerstein – aber erst dann sprechen, wenn »[…] die unendliche Akkumulation von Kapital in dem System Priorität hat« (ebd. 2019: 29). Sobald das »Weltsystem« seit dem 16. Jahrhundert kapitalistisch ist, seien auch all die darin eingebundenen ökonomischen Einheiten von der Totalität durchdrungen und damit als kapitalistisch zu charakterisieren.Footnote 52 Aus diesem systemischen Blick resultiert eine mangelnde begriffliche Schärfe, die dazu führt, dass mittels des Konzepts des income poolings auf Haushaltsebene zwar zwischen unterschiedlichen Einkommensformen differenziert, die strukturelle Heterogenität in den Ökonomien insgesamt aber nicht gefasst werden kann. Diese Problematik wird anhand der folgenden Kontroverse deutlich herausgearbeitet.

Verschiedene Produktionsweisen in den Peripherien?

Ähnlich wie Wallerstein argumentierte schon zuvor André Gunder Frank (1969: 40 f.; 1980: 35 ff.), dass die lateinamerikanischen Ökonomien ab dem 16. Jahrhundert auf die globalen Märkte ausgerichtet wurden und damit umfassend kapitalistisch strukturiert seien (Beigel 2015: 15). Ernesto Laclau (1971) kritisierte in den 1970er Jahren diese Konzeption des globalen Kapitalismus, insbesondere weil dadurch die verschiedensten ökonomischen Praktiken und Bereiche unterschiedslos unter den Begriff des Kapitalismus subsumiert würden. Kapitalismus würde außerdem implizit mit der Kommodifizierung der Arbeitsprodukte und der Integration von Ökonomien in globale Märkte assoziiert, anstatt ihn als eine Produktionsweise mit besonderen Produktionsverhältnissen aufzufassen (Laclau 1971: 24 ff.). Wallerstein wendet sich gegen diese Kritik Laclaus an Frank und hält an dessen Definition des Kapitalismus fest, die diesen »[…] als Produktion für den Markt mit dem Ziel eines Profits, bei der der Profit nicht an den direkten Produzenten geht, […]« versteht (Wallerstein 1986: 150). Gleichzeitig müsse differenziert und geprüft werden, in welchem Umfang für den Markt produziert werde und welche Qualität diesem Markt zukäme (ebd.: 151). So bestünden die Unterschiede zwischen vorkapitalistischer und kapitalistischer Marktorientierung der Produktion darin, ob erstens ein kleiner oder ein »Löwenanteil des Surplus für den Markt« bestimmt sei, ob zweitens für den lokalen oder den Weltmarkt produziert würde und ob drittens die »ausbeutenden Klassen« die Profite ausgeben oder maximieren und reinvestieren (ebd.). Damit ist der Kapitalismus als Produktionsweise bestimmt, in der gezielt für überregionale Märkte produziert sowie Gewinne maximiert und reinvestiert werden.

In Abgrenzung dazu definiert Laclau die kapitalistische im Unterschied zur vorkapitalistischen Produktionsweise durch die Dominanz der »doppelt freien« Lohnarbeit, bei der die Arbeiter*innen keinen Besitz mehr an ihren Produktionsmitteln hätten (Laclau 1971: 25). Die »coerced cash crop production« (Wallerstein 1979: 45), bei der mit unfreier Arbeit für die globalen Märkte produziert wird,Footnote 53 stellt für Laclau demnach keine Form kapitalistischer Produktionsweise dar, weil die Produktionsverhältnisse hier gerade durch erzwungene statt »freie« Arbeit, also nicht-kapitalistische Produktionsverhältnisse gekennzeichnet seien. Die lateinamerikanischen Gesellschaften seien deshalb lange Zeit durch vorkapitalistische Produktionsverhältnisse dominiert, auch wenn die Gesellschaften schon Teil des globalen kapitalistischen Weltsystems geworden waren (Laclau 1971: 30 f.). Die Integration in den Weltmarkt hätte anstelle einer Durchkapitalisierung zu einer Refeudalisierung beigetragen (ebd.: 31). Damit fasst Laclau das Verhältnis von Produktionsweisen ähnlich, wie es französische Autor*innen ab den 1960er Jahren zu tun begannen (siehe Abschnitt 2.3.2), welche Laclau schon damals rezipierte: Innerhalb einer Ökonomie können mehrere Produktionsweisen zugleich existieren (ebd.: 31 f., 33; ebd. 1981: 39 ff.). Laclau kritisiert, durch Wallersteins »theoretische Homogenisierung« aller ökonomischen Aktivitäten im Begriff des kapitalistischen Weltsystems, die als eine Produktionsweise aufgefasst und welche auf das subjektive Gewinnstreben der Akteure reduziert würde, sei die Komplexität des Konkreten, die vielfältigen sozialen Verhältnisse auf ein abstraktes Begriffsinstrumentarium eingedampft (Laclau 1981: 42). Durch diese Abstraktion würde gar nicht versucht, die Artikulation nicht-kapitalistischer Produktionsweisen in den Weltmarkt theoretisch zu fassen (ebd.: 43). Allerdings wird auch bei Laclau nicht deutlich, wie diese unterschiedlichen Produktionsweisen in einer Ökonomie miteinander zusammenhängen, was bei ihm eine augenfällige Leerstelle bildet.

Einen Ausweg könnte Geoffrey Kays Versuch bieten, die Rolle von Handelskapital und industriellem Kapital in den Zentren und (Semi)Peripherien zu unterscheiden. In den kapitalistischen Gesellschaften der Zentren gäbe es eine grundsätzliche Überschneidung der Interessen zwischen kommerziellem und industriellem Kapital und die Dynamik des Handelskapitals würde vom industriellen Kapital bestimmt. In vielen (semi)peripheren Gesellschaften ist dies anders. Dort lässt sich kapitalistisches Handelskapital ausmachen, aber nur in geringem Maße industrielles Kapital (Kay 1975: 93). In diesen heterogenen Ökonomien dominiert das Handelskapital die Produktion (ebd.: 99 f.). Die Produktion funktioniere dort zwar in der Regel nicht-kapitalistisch, dennoch werde der Profit – mittels der Zirkulationssphäre der Märkte – kapitalistisch abgeschöpft (ebd.: 93). Kay argumentiert, man könne von einer Gleichzeitigkeit kapitalistischer Zirkulationsverhältnisse und nicht-kapitalistischer Produktionsweisen sprechen. Dabei habe das Handelskapital erstens keine direkte Kontrolle über den Arbeitsprozess und sei damit selbst dort, wo es die »produktiven Klassen« dominiere von diesen abhängig. Er beruhe darüber hinaus fundamental auf »ungleichem Tausch« und sei drittens durch die kapitalismustypische Eigenheit gekennzeichnet, zu expandieren und seine Märkte – sowohl der zuliefernden Produzenten als auch des Absatzes – so gut es geht auszudehnen (ebd.: 94). Damit komme dem Handelskapital historisch aber langfristig auch die Rolle zu, die lokalen Produktionsweisen zu unterminieren und sie in völlig auf den Markt ausgerichtete und schließlich in kapitalistische Produktionsweisen zu verwandeln (ebd.: 94 f.). Gleichzeitig bestünden stets Tendenzen des Handelskapitals, die Entwicklung der Produktion zu lähmen (ebd.: 95), da die Abschöpfung des Mehrprodukts geringe Investitionsmöglichkeiten innerhalb der Produktion zur Folge hat. Dies wird nochmals dadurch verstärkt, dass die Monopolbildung im Bereich des Handels die zentrale Strategie der Unternehmen darstellt, welche deren Verhandlungsmacht gegenüber den Produzenten um ein Vielfaches steigert (ebd.: 96 f.). Kays Betonung der Rolle des Handelskapitals verdeutlicht, dass kapitalistische Dominanz auch mittels der Zirkulation verlaufen kann und Kapitalismus hier als Aneignungsweise anstelle einer Produktionsweise verstanden werden muss. Die Schwachstelle dieses Ansatzes besteht jedoch darin, dass damit über das innere Funktionieren der nicht-kapitalistischen Produktionsweise noch nichts ausgesagt ist. Klar ist nur, sie ist zentral dadurch gekennzeichnet, dass sie ein tendenziell steigendes Mehrprodukt für externe Märkte produziert, das vom Handelskapital angeeignet wird, was historisch auch schon vor dem Entstehen des kapitalistischen Weltsystems vorzufinden war. Es bleibt unklar, unter welchen Bedingungen die Artikulation aus kapitalistischem Handel und nicht-kapitalistischer Produktion reproduziert wird und unter welchen Bedingungen die Produktion vom Industriekapital landgenommen wird (Sanyal 2007: 17). Dennoch liefert Kays Verständnis der Verflechtung zwischen nicht-kapitalistischer Produktion und kapitalistischem Handelskapital einen wichtigen Ansatzpunkt auf den ich später zurückkommen werde.

Ein starker Kritiker derartiger zirkulationsorientierter Definitionen kapitalistischer Produktionsweise war neben Laclau auch Robert Brenner (1977). Aus seiner Sicht folgte diese Argumentation einem problematischen Modell aus Adam Smiths The Wealth of Nations. Dieser argumentierte, dass die Spezialisierung der Arbeit auf Teilschritte innerhalb der Produktion sowie die Ausdifferenzierung der Arbeitsteilung in der Gesellschaft im Gleichschritt mit der Ausdehnung von Märkten zu einer Erhöhung der Produktivität und damit zu einer gesamtgesellschaftlichen Steigerung des Reichtums führe (Smith 1963: 10 ff., 22 ff.). Zunehmende Kommodifizierung hat dann eine wachsende Produktivität zur Folge (ebd.: 25 ff.). Diesem »Smithian Model« folgten – laut Brenner (1977) – auch Frank und weitere Dependenz- und Weltsystemtheoretiker*innen. Allerdings sei das Modell fehlerhaft. Zwar möge es stimmen, dass Spezialisierung in einigen Fällen die Produktivität erhöht, allerdings führe die Ausdehnung von Märkten alleine noch lange nicht zur konstanten Produktivkraftsteigerung und zudem hänge diese entscheidend von der Herausbildung einer der kapitalistischen Entwicklung angemessenen Klassenstruktur ab (Brenner 1977: 34 f.). Der konstante Drang zur Produktivkraftentwicklung sei erst Resultat der Konkurrenz der Unternehmen um Innovationen und Marktanteile und würde nur durch die massenhafte Verfügbarkeit von »doppelt freien« Lohnarbeiter*innen ermöglicht (ebd.: 36 ff.). Kapitalismus dürfe nicht mit der Ausdehnung des Handels und kapitalistischem Handelskapital identifiziert werden, sondern vielmehr mit der Durchsetzung spezifischer und für die kapitalistische Akkumulation günstiger Klassenverhältnisse (ebd.: 38 ff.). Brenner kritisiert somit einerseits, dass das Dependenz- und Weltsystemdenken – zumindest teilweise – einer neo-Smithianischen Auffassung der Ausdehnung des Kapitalismus durch Märkte folge und die zugrundeliegenden Klassenverhältnisse, die die Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse ermöglichen oder verhindern, zu kurz kommen oder nicht als zentraler Ausgangspunkt der Analyse dienen. Darüber hinaus kritisiert er, dass die Art der Aneignung fremder Arbeit durch die kapitalistischen Unternehmen in den Kolonien, das Kontrollregime der Arbeit – sei es durch Lohn-, Leibeigenen- oder Sklavenarbeit –, als eine freie Entscheidung des jeweiligen Unternehmers konzipiert würde und nicht als ein Ergebnis von intensiven Klassenkämpfen (ebd.: 78 f.). Die Entwicklung des Kapitalismus ist aus Brenners Sicht folglich ein Ergebnis der Klassenstrukturen und -kämpfe (ebd.: 62 f., 91 f.; Sanyal 12 f.).

Die Debatte zwischen Frank, Laclau, Wallerstein und Brenner zeigt, dass sowohl die Begriffe dessen, was »kapitalistisch« bedeutet, umstritten sind, als auch, dass das Zusammenwirken verschiedener Produktions- und Zirkulationsweisen äußerst unklar bleibt. Kays Vorschlag in (semi)peripheren Kontexten von einem Zusammenwirken von kapitalistischem Handelskapital und nicht-kapitalistischer Produktion auszugehen, muss sich Brenners Kritik gefallen lassen, dass die Produktionsverhältnisse selbst dabei nicht verstanden werden und damit Klassenverhältnisse und Konfliktdynamiken unverständlich bleiben. Einen Versuch gerade die Verflechtungen verschiedener Produktionsweisen zu verstehen, unternahmen in der Folge insbesondere französische Sozialanthropolog*innen im Anschluss an das Denken von Louis Althusser.

2.3.2 Die Artikulation der Produktionsweisen als ökonomische Verflechtung

Es ist die Stärke des Dependenz- und Weltsystemdenkens, die strukturelle Heterogenität (semi)peripherer Gesellschaften in einen globalen Kontext einzuordnen und damit die historischen, politischen und ökonomischen Gründe für fortbestehende Ungleichheiten im globalen aber auch nationalen Maßstab in den Zusammenhang einer Jahrhunderte alten, etablierten globalen Arbeitsteilung zu stellen. Damit werden die strukturellen Ursachen für das Forstbestehen von Unterbeschäftigung, spezifischen Klassenverhältnissen und bedarfsökonomischen Praktiken und Einkommensformen insbesondere in den Peripherien des Weltsystems benannt. Allerdings fehlte dabei eine Einigkeit über die Frage, wie das Verhältnis zwischen einer kapitalistischen Weltwirtschaft und lokalen nicht-kapitalistischen Produktionsweisen zu verstehen ist. Dieser Frage widmeten sich explizit Forschungen, die im Anschluss an das Denken von Louis Althusser von der Artikulation unterschiedlicher Produktionsweisen sprachen. Diese Ansätze stelle ich im Folgenden dar.

Gesellschaftsformation als Artikulation verschiedener Produktionsweisen

Um den französischen Philosophen Louis Althusser entstand im Frankreich der 1960er Jahre eine eigene Schule des Denkens, die die Frage nach den Bedingungen der Reproduktion der kapitalistischen Produktionsweise in den Blick nahm. Sie baute auf der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie auf, welche sich laut Althusser zwar der Reproduktion der Produktivkräfte, das heißt der Arbeitskraft und der Produktionsmittel, nicht aber der Frage nach der Reproduktion der Produktionsverhältnisse gewidmet hätte (Althusser 2012: 18). Dabei stützten sie sich einerseits auf die klassische Interpretation der Produktionsweise als Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen (ebd.: 46). Produktionsverhältnisse wurden dabei als Art und Weise verstanden, die Produktivkräfte anzuwenden, sie mit den Arbeitskräften zu verbinden und die Herrschaft einer bestimmten Klasse über die arbeitende Bevölkerung durchzusetzen (ebd.: 62 ff.). Die Reproduktion der Produktionsverhältnisse finde nicht alleine innerhalb der ökonomischen Sphäre statt, sondern gründe sich auf die Aufrechterhaltung bestimmter »Existenzbedingungen« jeder Produktionsweise (ebd. 1968: 65).Footnote 54 Allerdings wurde dabei deutlich, dass die Produktionsverhältnisse aufgrund der Gleichzeitigkeit verschiedener Produktionsweisen innerhalb von Gesellschaften keinesfalls einheitlich und homogen waren. Dies war insbesondere für solche Forscher*innen relevant, die an Althusser anschlossen, allerdings (post)koloniale Gesellschafen betrachteten.

Im Gegensatz zu Immanuel Wallerstein und dem hegelianischen Marxismus im Anschluss an Georg Lukács (1968: 71 ff.) denkt Althusser ökonomische Verhältnisse nicht als Totalität. Er fasst die Gesellschaft vielmehr als ein »überdeterminiertes komplexes Ganzes«, in welchem die Ökonomie stets Teil einer »Gesellschaftsformation« sei, die zwar von einer Produktionsweise beherrscht wird, in der sich aber stets verschiedene Produktionsweisen und eine Reihe von Widersprüchen finden (Althusser 1968: 137 ff.; ebd. 2012: 44 ff.). Anders als Wallerstein sind damit nicht alle gesellschaftlichen Verhältnisse von der Totalität der kapitalistischen Verwertungsdynamik bestimmt. Vielmehr stellt das »komplexe Ganze« erst das Ergebnis der »Artikulation« der verschiedenen, heterogenen Logiken und Widersprüche dar (ebd. 1968: 146 ff.).Footnote 55 Diese Artikulation wird auch nicht als eine funktionale Verflechtung aufgefasst. Statt einer ökonomischen Funktionalität handelt es sich eher um ein politisch umstrittenes Verhältnis der Artikulation in den Produktionsverhältnissen (ebd.: 163 f.; Demirović 2007: 25). Konkrete soziale Verhältnisse sind aus Althussers Sicht damit nie durch eine einfache Totalität oder Kausalität determiniert, sondern stets durch multiple Strukturen, Faktoren und Kausalitäten überdeterminiert (Althusser 1968: 64 ff.). Für ihn vollzieht sich die Reproduktion des komplex strukturierten, überdeterminierten Ganzen im Rahmen eines Dominanzverhältnisses der kapitalistischen Produktionsweise über die anderen Bereiche. Ökonomisch geschieht dies durch die Dominanz des kapitalistischen Marktes (Althusser 2012: 59). Gleichzeitig »induziert« (ebd.: 48) jede Produktionsweise auch ihre eigenen politischen und ideologischen »Überbauten«, die für sich eine »relative Autonomie« beanspruchen können (ebd.: 93) – eine Erkenntnis, die uns auch schon in Armando Córdovas »struktureller Heterogenität« begegnete (Córdova 1971: 27). Die kapitalistische Gesellschaftsformation umfasst folglich heterogene politische Bereiche sowie die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Produktionsweisen, die jedoch von der kapitalistischen Produktionsweise dominiert werden.Footnote 56

Die Widersprüche innerhalb jeder Gesellschaft drücken sich demnach als Konflikte und Widersprüche innerhalb der Produktionsverhältnisse aus. Die Reproduktion der Produktionsverhältnisse bedeutet unter kapitalistischen Bedingungen dabei die Reproduktion sowohl ganz verschiedener ökonomischer Verhältnisse, unterschiedlicher Produktionsverhältnisse als auch der Dominanz kapitalistischer Verhältnisse über die restlichen Produktionsweisen. Dabei kommt es keinesfalls zu einer einfachen Tendenz der allmählichen Zerstörung der nicht-kapitalistischen Produktionsweisen wie es die Konvergenztheorien nahelegen, sondern zu einer Gleichzeitigkeit von »Auflösung-Bewahrung« (Poulantzas 1975: 22). Das komplex strukturierte Ganze erweist sich folglich – in all seinen Bereichen – als ein dynamischer und widersprüchlicher Zusammenhang, der von einer bestimmten Produktionsweise dominiert wird und dessen relative, phasenweise Stabilität einer eigenen Erklärung bedarf. Allerdings war die empirische Erforschung verschiedener Produktionsweisen den eher philosophisch ausgerichteten Althusserianer*innen fremd. Für sie waren »Produktionsweise« und »Produktionsverhältnisse« abstrakte theoretische und keine konkret-empirischen Begriffe (Haug 2003: 33 f.). Im empirischen Begriff der »Gesellschaftsformation« – so wurde kritisch eingewandt – hätten die »Artikulationen« immer schon stattgefunden (Alnasseri 2004: 25 f.; Lipietz 1992: 26; Weber, T. 1994). Produktionsweisen selbst existierten in diesem Sinne empirisch nicht eigenständig, sondern nur als artikulierte soziale Formationen (Wolpe 1980: 9). Viele der sozialanthropologischen Studien, die dieser Heuristik aus Produktionsweisen, Artikulation und Gesellschaftsformation folgten, fassten die Produktionsweisen dennoch empirisch und nicht nur als abstrakte Strukturkategorie. Mit der Hinwendung zur Empirie treten allerdings grundlegende Probleme auf. Sie betreffen – wie wir sehen werden – die Fragen, wie die verschiedenen Produktionsweisen überhaupt voneinander unterschieden werden und was überhaupt das definierende Merkmal der kapitalistischen Produktionsweise darstellt.

Die Sozialanthropologie und Artikulation im französischen (Neo)Kolonialismus

In den 1960er Jahren begannen in Frankreich sozialanthropologische Forschungen über das Verhältnis lokaler ökonomischer Praktiken bestimmter ethnischer Gruppen zur kapitalistischen Exportwirtschaft im südlichen Afrika. Daraus entspann sich eine Debatte über die Artikulation von Produktionsweisen, die die Art und Weise, wie im Weiteren über das Verhältnis zwischen Kapitalismus und nicht-kapitalistischen Bereichen nachgedacht wurde, maßgeblich prägte (Evers/Korff 2000: 140; Hall 2012: 93 ff.). Laut Aidan Foster-Carter wurde das Konzept der »Artikulation von Produktionsweisen« von den Althusserianern selbst nicht explizit durchdacht und es sei die new economic anthropology gewesen, die diese Formulierung erst bekannt gemacht hätte (Foster-Carter 1978: 52 ff.). Die Diskussionen, die das Konzept hervorbrachten, fanden hauptsächlich in den 1960er und 1970er Jahren in der Zeitschrift Economy and Society statt. Sie bezogen sich auch auf vorangehende Debatten wie die dargestellte Kontroverse zwischen Frank, Laclau, Brenner und Wallerstein (Wolpe 1980: 1; Berman 1984: 408). Die Problematik wurde in der Forschung zu Afrika vor allem durch die bleibende Bedeutung der Bauernschaft als größte Bevölkerungsgruppe aufgeworfen (Berman 1984: 407). Dabei war umstritten, ob diese Artikulation eine statische oder eine dynamische Verbindung darstelle sowie ob auf die Phasen des sich zu Nutze-Machens der nicht kapitalistischen Produktionsweisen durch den Kolonialismus eine Phase des Verschwindens der nicht-kapitalistischen Produktionsweisen folgen werde (Bradby 1975: 139 f., 159 f.; Foster-Carter 1978: 56).

Im Unterschied zum Dependenz- und Weltsystemdenken wurde »Unterentwicklung« in diesen sozialanthropologischen Debatten weniger als ein Moment der kapitalistischen Weltwirtschaft analysiert als vielmehr ein Resultat der Artikulation der kapitalistischen Wirtschaft mit vorkapitalistischen Strukturen (Foster-Carter 1978: 58). Während damit der Zusammenhang der Spezifik der kapitalistischen Akkumulation in der jeweiligen Gesellschaft und ihrer Position in der internationalen Arbeitsteilung verloren geht, lenkt dieser Ansatz dafür den Blick auf die Besonderheiten der konkreten Artikulationsverhältnisse vor Ort. Dabei lassen sich verschiedene Arten der Artikulation unterscheiden: Einige machen diese vor allem in der politischen Sphäre aus (Engelken 2001: 1221), andere zeigen dementgegen anhand von west-afrikanischen Gesellschaften ökonomische Beziehungen auf, bei denen die nicht-kapitalistischen Produktionsweisen dem kapitalistischen Sektor billige Rohstoffe und Arbeitskräfte liefern (Foster-Carter 1978: 59). Barbara Bradby betont beispielsweise, dass es der kapitalistische Bedarf nach Rohstoffen und Land sei, der die Artikulation für die kapitalistische Produktionsweise funktional mache (Bradby 1975: 139 f.). Es handelt sich dabei allerdings um eine einseitige Funktionalität, da die Artikulation für die »vorkapitalistischen« Produktionsweisen äußerst zerstörerisch wirke (ebd.: 159 f.). Laut einigen Autor*innen folge auf die allmähliche ökonomische Unterminierung eine gewaltvolle politische und konfliktreiche Zerstörung der »vorkapitalistischen Produktionsweisen«. Diese gewaltvolle Zerstörung des »Vorkapitalistischen« sei die Rolle, die dem Kolonialismus zukomme (Foster-Carter 1978: 60). Insgesamt dominiert bei den sozialanthropologischen Forschungen allerdings eine eher ökonomische und funktionalistische Perspektive, die die Artikulation zwischen den Produktionsweisen explizit aus den Erfordernissen der kapitalistischen Logik begründet (Bradby 1975; Berman 1984: 407). In gewisser Weise gilt dies zwar auch für Claude Meillassoux, auf den ich im Folgenden eingehe, allerdings ist ihm zu Gute zu halten, dass er den nicht-kapitalistischen Bereich mit einem eigenen begrifflichen Instrumentarium beschrieb, an dem sich später viele orientierten.

Claude Meillassoux: Die häusliche Produktion und die Arbeiterreservate

Einer der herausragendsten Partizipanten an der beschriebenen anthropologischen Diskussion war Claude Meillassoux, der in seinem Buch Die wilden Früchte der Frau einen Ansatz verfolgte, der die ökonomisch-anthropologischen Fragestellungen mit solchen verband, die der feministischen Forschung zuzurechnen sind. Ins Zentrum seiner anthropologischen Forschung stellte er den Begriff der »Reproduktion«. Allerdings fasste er diese als soziale Reproduktion der Arbeitskraft im »ökonomischen und sozialen System der Hausgemeinschaft« (Meillassoux 1975: 7 ff.). Um die soziale Reproduktion einer Bevölkerung zu verstehen, müsse man die häusliche Gemeinschaft mit ihren häuslichen Produktionsverhältnissen verstehen, so Meillassoux (ebd.: 9 f.). Kapitalistische Gesellschaften seien nirgends auf der Erde vollkommen »integrale Produktionsweisen«, die auf sich gestellt funktionieren könnten, vielmehr seien sie stets angewiesen auf die Fortdauer der Hauswirtschaft, also eine jeweilige Form, beziehungsweise Institutionalisierung der häuslichen Produktionsweise (ebd.: 10, 116).

Dem Begriff der Reproduktion kommt bei Meillassoux – wie schon angedeutet – eine zentrale Rolle zu. Er versteht darunter die alltägliche Erhaltung der Bevölkerung sowie ihre generationelle Ersetzung durch Nachkommen (ebd.: 118). Soziale Reproduktion bedeutet folglich den sozialen und physischen Erhalt der Arbeitskräfte im Haushalt. Die häusliche Reproduktion sei dabei Teil von Reproduktionsverhältnissen, die keinesfalls einfach durch die Produktionsverhältnisse determiniert seien.Footnote 57 Die soziale Reproduktion sei in vielen Teilen der Welt die »vorherrschende Sorge« nicht nur der Hausgemeinschaften, sondern auch der wichtigsten sozialen Institutionen (ebd.: 51, 62, 106). Damit entstünde in vielen Gemeinschaften die soziale Herrschaft auch aus der Beherrschung der Reproduktionsverhältnisse, das heißt beispielsweise der Heiratsgüter oder der Kontrolle von Sexualpartner*innen, also nicht – wie häufig angenommen – aus den Produktionsverhältnissen (ebd.: 89 ff., 100). In solchen Gemeinschaften existiere eine häusliche Produktionsweise im vollen Sinne des Wortes, als ein autonomer und unabhängiger Bereich der sozialen Reproduktion. Dies gelte nicht mehr, sobald die häusliche Produktionsweise der kapitalistischen untergeordnet wird (ebd.: 113 ff.). Innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise entstehe eine Gleichzeitigkeit aus Zerstörung und Erhaltung der Hauswirtschaft als notwendige, eingegliederte und untergeordnete Produktionsform (ebd.: 106, 116).

Die Beständigkeit der zur Produktionsform degradierten häuslichen Produktionsweise begründet Meillassoux in unterschiedlicher Weise. Ganz allgemein finde mittels einer permanenten ursprünglichen Akkumulation eine Wertübertragung vom häuslichen auf den kapitalistischen Sektor statt (Engelken 2001: 1221). Dieser »ungleiche Tausch« zwischen den Produktionsweisen werde insbesondere durch den kolonialen Staat ins Werk gesetzt (Meillassoux 1975: 109 ff.).Footnote 58 Er gehe im Wesentlichen dadurch vonstatten, dass die Arbeitskräfte, die im kapitalistischen Sektor beschäftigt seien, äußerst niedrige Löhne erhielten, was nur möglich sei, weil die Reproduktion der Arbeitskräfte nicht nur durch die Lohneinkommen, sondern ganz wesentlich durch die häusliche Ökonomie abgesichert werde. Deshalb spare der kapitalistische Unternehmer Lohnkosten und werde prinzipiell durch die häusliche Ökonomie subventioniert (ebd.: 111, 113 f.). Makroökonomisch sei dies in vielen afrikanischen Ländern schon alleine dadurch zu erkennen, dass die Nahrungsmittel produzierende Landwirtschaft nahezu ausschließlich nicht-kapitalistisch funktioniere (ebd.: 113).

Diese Situation der funktionalen Artikulation aus kapitalistischer Lohnarbeit und nicht-kapitalistischer Hauswirtschaft stellt Meillassoux (1975: 117 f., 121) dem »integrierten Proletariat« der Zentrumsländer gegenüber. Der »integrale Kapitalismus« sei dadurch gekennzeichnet, dass nahezu alle Lebensmittel zu Waren geworden und die indirekten und direkten Löhne hoch genug seien, um annähernd die gesamte Reproduktion abzusichern – das heißt, gesamtgesellschaftlich auch die Zeit der Arbeitslosigkeit zu finanzieren (ebd.: 117 f., 130). Dies sei die Art des Kapitalismus, die Marx im Kapital beschreibe und über den Marx sagte: »Hat die Produktion kapitalistische Form, so die Reproduktion« (Marx 1973: 591). Dies gelte aber nicht in peripheren Ländern. Im »Kolonialkapitalismus« finde die Reproduktion gerade außerhalb des kapitalistischen Sektors statt (Meillassoux 1975: 120 f., 130). Dies liege einerseits an der »Überausbeutung« im kapitalistischen Sektor und darüber hinaus am (post)kolonialen Kontext in Afrika, in dem immer neue Arbeitskräfte aus den »Reservaten« bezogen werden können (ebd.: 135). Diese dienten dabei in Boomphasen als Quelle und in Krisenzeiten als Puffer überschüssiger Arbeitskräfte (ebd.: 135 f.). Die funktionalistische Begründung könnte damit folgendermaßen zusammengefasst werden: Die niedrigen Löhne in peripheren Ländern subventionieren erstens deren kapitalistischen Sektor, führen zweitens zu einer Reproduktionslücke, die durch den nicht-kapitalistischen Sektor und dessen häusliche Ökonomie geschlossen wird und werden drittens durch kostenlose »Arbeiterreservate« ergänzt (ebd.: 135), das heißt Orte, aus denen zu jeder Zeit Arbeiter*innen bezogen werden können. Damit ist die Artikulation der kapitalistischen und der häuslichen Produktionsweise aus der Sicht Meillassouxs innerhalb der peripheren Länder auch kein Übergangsphänomen, sondern stelle eine systematische und dauerhafte Verknüpfung dar. Deshalb würde sie auch durch staatliche Gesetze – wie Verbote von Lohnarbeit und Ertragswirtschaft innerhalb der Reservate – aufrechterhalten und abgesichert sowie durch gleichzeitige Monetarisierungszwänge die Bereitschaft zur Lohnarbeit erzwungen (ebd.: 135, 137). Damit entstehe ein mit den »Arbeiterreservaten« verbundener Arbeitsmarkt, der durch Apartheid, Passsysteme oder andere rassistische Klassifizierungen klar von dem übrigen Arbeitsmarkt abgegrenzt sei (ebd.: 138 ff.). Für Meillassoux stellt der Arbeitsmarkt damit auch die zentrale Artikulationsinstanz zwischen den Produktionsweisen dar.

Gleichzeitig finden sich in den afrikanischen Ländern auch Entwicklungsprozesse, die die funktionale Beziehung zwischen dem kapitalistischen Sektor und den »Arbeiterreservaten« langsam untergraben. Ein Grund sei die Landflucht und Urbanisierung, welche die Reservate langsam auflöse, aber auch breite Dynamiken der Akkumulation durch Enteignung, ökologische Zerstörung und neoliberale Strukturanpassungsmaßnahmen (Meillassoux 1975: 145 f.; Arrighi/Aschoff/Scully 2010: 426–433; Zhan/Scully 2018: 1019). Auch die zunehmende Kommodifizierung und Monetarisierung der häuslichen Wirtschaft, die Verbreitung von Lohnarbeit, aber auch staatliche Privatisierungspolitiken trügen dazu bei (Meillassoux 1975: 147 ff.; Zhan/Scully 2018: 1019). Die Anschaffung produktiverer Technik führe gleichzeitig aber zu einer Kontraktion der industriellen Beschäftigung, zu einer rassifizierten Spaltung der Arbeitsmärkte in prekäre, unqualifizierte Arbeiten für die Mehrheit und qualifizierte, dauerhafte mit wohlfahrtsstaatlichen Privilegien ausgestattete Beschäftigung für die vollständig proletarisierte, weiße, städtische Lohnarbeiterschaft (Arrighi/Aschoff/Scully 2010: 421 f., 424 f., 427 f.).Footnote 59 Demografisches Wachstum trüge zudem gepaart mit einem Mangel an Landfläche und dem Eintritt der kapitalistischen Logik in die Landwirtschaft zu einer Krise der häuslichen Produktion bei (Meillassoux 1975: 148 ff.). Insgesamt ließe sich aber dennoch nicht von einem vollkommenen Verschwinden der häuslichen Produktion ausgehen, sondern eher von einer Doppelbewegung aus Zerstörung und Wiederaufbau als Überlebensstrategie der Unterbeschäftigten (ebd. 158).

Artikulation als Aufrechterhaltung funktionaler Arbeits- und Rohstoffreservate?

So gewinnbringend es ist, bezüglich nicht-kapitalistischer Bereiche in peripheren Gesellschaften den Begriff der sozialen Reproduktion und damit die Zielsetzung des Überlebens als dominante Logik im Rahmen von Haushalten in den Mittelpunkt zu stellen, scheint das Konzept der »häuslichen Produktionsweise« dennoch nicht überzeugend. Zwar ist Meillassouxs These, dass jede dominante Produktionsweise auf irgendeiner Form der Reproduktion beruht, plausibel, allerdings ist unklar, ob die nicht-kapitalistisch (Re)Produktion stets nur innerhalb der ökonomischen Einheit des Haushalts verbleibt. Es stellt sich die Frage, warum Meillassoux nicht auf Beziehungen zwischen den Haushalten eingeht und ob die häusliche Produktion nicht mit eigenen Zirkulationsformen einhergeht. Wenngleich Meillassoux (1975: 133) an einer Stelle von lokalen Märkten spricht, wird nicht klar, wie die Selbstversorgung und die verwandtschaftlichen Beziehungen in den Reservaten funktionieren, die für den kapitalistischen Sektor Arbeitskraft und Rohstoffe liefern. Damit bleibt es vage, ob die Zunahme der Kommodifizierung, Monetarisierung und der Lohnarbeit eine Auflösung der nicht-kapitalistischen Bereiche oder aber vielmehr nur deren Wandlung und zunehmende Verflechtung mit dem kapitalistischen Sektor bedeuten.

Wie Bruce J. Berman und Harold Wolpe behaupten, leidet die dargestellte anthropologische Debatte insgesamt darunter, dass sie auf keine explizite und einheitliche Konzeption von »Produktionsweisen« zurückgreifen kann. Einige Autor*innen setzen die Dominanz der kapitalistischen Produktionsweise mit der Ausbreitung von Lohnarbeit oder von Märkten gleich (Wolpe 1980: 28 f.). Andere unterscheiden empirisch eine kaum zu überblickende Vielzahl an Produktionsweisen (Berman 1984: 408). Wolpe (1980: 7 f.) unterteilt diesbezüglich zwischen einem »beschränkten« und einem »umfassenden« Konzept der Produktionsweise. Ersteres versteht Produktionsweise lediglich auf der Ebene der Produktionseinheit – dem einzelnen Unternehmen, Betrieb oder Haushalt. Letzteres integriert die äußeren Verhältnisse sowie die Weise der Reproduktion in das Konzept. Dies hat Folgen für das Verständnis der Artikulation von Produktionsweisen. Mit dem Verständnis der »beschränkten« Produktionsweise wird Artikulation weniger im ökonomischen und vielmehr im politischen Raum verortet. Demgegenüber besteht das »umfassende« Konzept der Produktionsweise darauf, dass die Artikulation im Bereich der Reproduktion der Arbeitskräfte abläuft und damit auf der Ebene der (Re)Produktionsweisen (ebd.: 10). Die Reproduktion der Existenzbedingungen der kapitalistischen Produktionsweise – hier der Verfügbarkeit billiger Arbeitskräfte – wird damit als ein Artikulationsverhältnis entschlüsselt (ebd.: 20 ff.). Ein deutlicher Vertreter dieser Position ist Meillassoux. Einige Autor*innen verstanden die häusliche Produktion in der Folge allerdings weniger als eigenständige (Re)Produktionsweise, sondern als eigene »(Re)Produktionsform« innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise (Berman 1984: 409). Jedoch stellte sich diesbezüglich in der Sozialanthropologie kein Konsens ein. So verwarfen Andere das Konzept der »Produktionsweisen« gänzlich und sprachen von Artikulation verschiedener Gesellschaftsformationen oder Ökonomien (ebd.: 408 f.).

Insgesamt ist die Debatte der Anthropolog*innen rund um den Artikulationsbegriff von einer funktionalen Sichtweise beherrscht, in der die nicht-kapitalistischen Bereiche meist als abhängige Variable verstanden werden, deren Dynamik von den Interessen der Akkumulation, nicht aber durch eigene Prozesse und Entwicklungen bestimmt ist. Während Althusser die Artikulation noch vorwiegend auf der Ebene des Politischen dachte, interpretierten die meisten Anthropolog*innen in der dargestellten Debatte das zu erforschende Problem als eines der Beziehungen von Produktionsweisen auf der ökonomischen Ebene. Der Artikulationsbegriff erwies sich dabei als genauso undeutlich wie derjenige der Produktionsweise, auf die er aufbaute. Auf einige dieser Unzulänglichkeiten antwortet der im Folgenden dargestellte Bielefelder Verflechtungsansatz. Er kombiniert die Erkenntnisse des Dependenz- und Weltsystemdenkens mit denjenigen zur häuslichen Reproduktion Meillassouxs. Dabei wird auch deutlich, warum es sinnvoll ist, an Begriffen der Produktionsweise beziehungsweise Produktionsform festzuhalten, da sie auf Arbeitsprozesse, relativ stabile zwischenmenschliche (häufig auch hierarchische) Beziehungen im sozialen Nahbereich sowie spezifische Verhältnisse zwischen Mensch und Natur verweisen.

2.3.3 Der Bielefelder Ansatz der Verflechtung

Im Anschluss an die Berufung Hans-Dieter Evers zum Professor für »Entwicklungsplanung« und »Entwicklungspolitik« im Jahr 1974 an die Universität Bielefeld entstand im Umfeld seines Lehrstuhls ein Arbeitszusammenhang, der später als »Bielefelder Ansatz«, »Verflechtungsansatz« oder »Bielefelder Schule« bekannt wurde (Bierschenk 2002; Schultz 2016; van der Linden 2017). Die Vertreter*innen des Ansatzes teilen grundsätzliche Thesen des Dependenz- und Weltsystemdenkens, insbesondere diejenige der systematischen »Entwicklung der Unterentwicklung« als Konsequenz der Integration in globale Wirtschaftskreisläufe. Gleichzeitig schließen sie an die französischen Diskussionen über die »Artikulation verschiedener Produktionsweisen« an (Bierschenk 2002: 4). Auch stimmen sie der Kritik an den Modernisierungstheorien zu, die den Subsistenzbereich als »traditionellen« oder »vorkapitalistischen« Sektor konzipierten. Anders als Modernisierungstheorien und auch die meisten kritischen Entwicklungstheorien gehen die Bielefelder*innen allerdings davon aus, dass der Kapitalismus in jeder Gesellschaftsformation – also auch in Ländern des Zentrums – notwendigerweise Subsistenzbereiche beinhaltet, die einer jeden Produktionsweise vorgelagert sind (ebd.: 5). Die grundlegenden Thesen der Bielefelder*innen bestanden darin, dass erstens die Subsistenzproduktion mit der Ausbreitung kapitalistischer Märkte und Akkumulation zwar ihre Form ändere, aber keinesfalls kontinuierlich zurück gehe (Baier 2008: 76 f.); zweitens, dass diese Ausdehnung des kapitalistischen Sektors damit auch nicht überall eine umfassende Proletarisierung zur Folge habe (Bierschenk 2002: 5). In einer Formulierung bei Claudia von Werlhof heißt es gar, die »freie« Lohnarbeit würde nach und nach sogar wieder abgeschafft und die Arbeitenden müssen wieder vermehrt selbst direkt für ihre Grundbedürfnisbefriedigung sorgen (Werlhof 1983a: 114 f., 134). Entgegen des französischen Artikulationsansatzes stelle die Subsistenzproduktion zudem drittens keine eigene Produktionsweise, sondern eine Teilstruktur beziehungsweise eine »Produktionsform« dar, die sich einerseits in allen Gesellschaften auf jeweils eigene Art finde und die andererseits heute nur in ihrer Verflechtung mit dem kapitalistischen Sektor verstanden werden kann (Bennholdt-Thomsen 1982: 244; Bierschenk 2002: 5; van der Linden 2017: 358).

Die Bielefelderinnen Claudia von Werlhof und Veronika Bennholdt-Thomsen schlossen sich zudem Forschungen und gemeinsamen Projekten mit Maria Mies an, die Professorin für Soziologie in Köln war und schon seit den frühen 1970er Jahren über Frauen in der indischen Landwirtschaft forschte.Footnote 60 Diese feministische Forschungsgruppe bildet eine besondere Strömung innerhalb des Verflechtungsansatzes, der insbesondere betont, dass neben der Produktion von Lebensmitteln und anderen Gütern die »Produktion des Lebens« – welche gebrauchswertorientiert und weitgehend nicht warenförmig stattfinde (Mies 2015: 18) –, die Grundlage einer jeden Gesellschaft bildet und wesentlich von Frauen verrichtet werde (Mies 1983a: 86; ebd. 1983b: 167 ff.). Begründet wird dies damit, dass »[…] Frauen zu allen Zeiten die Produzentinnen neuer Männer und Frauen sind und daß ohne diese Produktion alle anderen Produktionen und Entwicklungen hinfällig wären« (Mies 1983b: 175). Sichtbar sei allerdings in der Regel nur die monetäre – männlich konnotierte – Ökonomie (Mies 2015: 13–15). Doch unter der kommodifizierten Spitze des Eisbergs kapitalistischer Gesellschaften, das heißt unter der »Wasseroberfläche«, befinde sich der weitaus größere Teil der ökonomischen Tätigkeiten und der systematisch ausgeschlossenen Gruppen der Weltbevölkerung: die Frauen und Kolonisierten (Werlhof/Mies/Bennholdt-Thomsen 1983: 137; Mies 2011: 275 f.).

Eine besondere Rolle spielt bei den drei Autorinnen der Begriff der Hausfrauisierung. Dieser bezeichnete die – zumindest diskursive – Verdrängung von Frauen aus der öffentlichen Sphäre in den häuslichen Bereich im Rahmen der Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse (Werlhof/Mies/Bennholdt-Thomsen 1983: x, 83 f.; Custers 1997: 19). Damit fassen sie das Geschlechterverhältnis als ökonomisches Verhältnis, das heißt als Produktionsverhältnis innerhalb des Kapitalismus (Baier 2008: 75 f.). Andererseits betonen sie, dass die umfassende Proletarisierung der Lohnabhängigen in den Zentren nicht bedeute, dass Subsistenzarbeit verschwinde, sondern dass diese in einen privaten Bereich rücke, der allerdings nicht entlohnt, anerkannt und dessen Arbeit sich dennoch kapitalistisch angeeignet würde (Bennholdt-Thomsen 1982: 244 f.):Footnote 61

»Notwendige Arbeit ist Kochen, Putzen, Windeln waschen; […] ist das Flicken von Kleidung an Stelle des Kaufs neuer Kleider und der lange Fußweg an Stelle einer Busfahrt, die bezahlt werden muß; ist ein gedeckter Tisch und die Blumen darauf, ist das Servieren des Essens und das Lächeln dabei; notwendige Arbeit ist jene Arbeit, die notwendig ist zum Überleben oder, in anderen Worten ausgedrückt, die notwendig ist, die Subsistenz zu sichern. […] Es ist dies der riesige Sektor der meist selbstgeschaffenen Dienste (Schuhputzer, Wäscher), des selbstgeschaffenen Handels (Straßenhandel) und Handwerks (meist Reparaturhandwerk) der Verarmten in den Städten, in dem ein großer Teil der ‚städtischen Hausarbeit‘ geleistet wird. Es ist dies der bäuerliche Sektor, der Lebensmittel und Arbeitskräfte produziert und insgesamt den Subsistenzhintergrund für die Masse der Bevölkerung in den Ländern der sogenannten Dritten Welt bildet.« (Werlhof/Mies/Bennoldt-Thomsen 1983: 84 f.)

In diesem Zitat wird schon implizit die von den drei Autorinnen hervorgebrachte, kontroverse These deutlich, dass Hausfrauen in den Ländern des Nordens gleichermaßen wie bäuerliche Haushalte, Schuhputzer*innen, Straßenhändler*innen und Reparaturhandwerker*innen der (Semi)Peripherien zum Subsistenzbereich gehören. Außerdem – so die darauf aufbauende These – eignete sich der kapitalistische Sektor diese Subsistenzarbeiten an. Dies geschehe dadurch, dass sich die Arbeitskräfte im Subsistenzbereich reproduzieren, ohne dass deren Arbeit bezahlt würde. So könnten die Löhne für die kapitalistischen Unternehmen insbesondere in bäuerlichen Gesellschaften weitaus niedriger sein, als wenn sie die gesamte Reproduktionsarbeit bezahlen müssten (Bennholdt-Thomsen 1982: 243; Bierschenk 2002: 4; van der Linden 2017: 373). Diese These entspricht der schon oben erwähnten Subventionsthese: Die Reproduktion der Arbeitskräfte wird billig oder kostenfrei durch die Arbeit im Subsistenzbereich bewerkstelligt und vom Kapital ausgebeutet (Elwert/Evers/Wilkens 1983: 287; Custers 1997: 183 f.). Im Gegensatz zu männlichen Arbeitsverhältnissen in den Ländern des Zentrums, die durch Lohnarbeit und Verträge gekennzeichnet sind und bezüglich derer sich im Anschluss an Marx von Äquivalententausch sprechen ließe, werde die Subsistenzarbeit nicht gekauft.Footnote 62 Es handle sich bei der Ausbeutung der Subsistenzproduktion vergleichbar mit der kostenfreien Aneignung der Natur um ein gewaltvolles Aneignungsverhältnis, das vermittelt über die männliche Lohnarbeit als patriarchales Verhältnis Eingang in die Privathaushalte finde. Kommodifizierung und Proletarisierung bedeute häufig, dass die Männer monetäre Einkommen erzielen und Frauen in die Subsistenzsphäre geschoben werden (Bennholdt-Thomsen 1983a: 48 f., 56 f.; ebd. 1983b: 204; Werlhof 1983c: 66 ff.). Die Lohnform etabliert damit ein Herrschaftsverhältnis im Haushalt. Die Hausfrauisierung gemeinsam mit der patriarchalen Ideologie – Frauen sollten sich primär um den privaten Bereich der Reproduktion kümmern – seien damit ein systematischer Bestandteil der Ausbreitung des Kapitalismus (Werlhof/Mies/Bennholdt-Thomsen 1983: 138 f.; Werlhof 1983b: 140 ff.). Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt ist damit auch nicht nur ein psychisches, individuelles oder privates Problem, sondern ein in die Haushalte reichendes ökonomisches Verhältnis: die gewaltvolle, kostenfreie Aneignung der vorwiegend weiblichen Subsistenzarbeit sowie der Natur ist notwendiger Bestandteil der kapitalistischen Produktionsweise (Werlhof/Mies/Bennholdt-Thomsen 1983: vii, 16 f., 137 f.; Mies 1983c: 22 ff.; vgl. auch Dück 2022: 63 ff.). Damit wird deutlich, dass der Haushalt nicht als ein herrschafts- und ausbeutungsfreier Raum, sondern als ein von personalen und gesamtgesellschaftlichen Machtverhältnissen durchdrungenes Ensemble begriffen werden muss (Mies 1983a: 109 f.; Werlhof 1983c: 75 f.). Entgegen der Ausbeutung mittels vertraglich »freier« Lohnarbeitsverhältnisse gelte bezüglich der Aneignung von Arbeit der bäuerlichen Ökonomie und der Frauen mit der Ausbreitung des Kapitalismus ein »rule of might« statt eines »rule of right« (Mies 1983c: 26; 2011: 261 ff.). Gewalt ist folglich nicht nur als Geburtswehe des Kapitalismus präsent, sondern ein dauerhafter ökonomischer Faktor der konstanten Aneignung von weiblicher Arbeit und Natur (Mies 2011: 266 f.).Footnote 63

Die Bielefelder*innen wenden sich gleichzeitig gegen die in der Modernisierungstheorie verbreitete Annahme, mehr monetäre Einkommen, das heißt eine Zunahme von Warenverkauf und/oder Lohnarbeit, führe zu weniger Subsistenzarbeit und vice versa. Dieses Annahme eines Nullsummenspiels zwischen Produktion für die Subsistenz und Produktion für den Markt erweise sich als empirisch falsch (van der Linden 2017: 355).Footnote 64 Zwar lässt sich annehmen, dass gerade bäuerliche Haushalte in Krisenphasen der Märkte durchaus verstärkt auf die Subsistenzproduktion zurückgreifen (Elwert/Wong 1979: 262). Allerdings ist Subsistenzproduktion auch sehr voraussetzungsvoll. Immer wieder wird festgestellt, dass Subsistenzarbeit große Mengen an Ressourcen benötigt, die unter anderem aus Land, Wohnraum, Vieh, Saatgut, Werkzeugen, Wissen, Tradition und Zeit bestehen, sodass sehr arme Haushalte viele Subsistenzarbeiten gar nicht ausführen können (ebd.: 365 ff.; Elwert/Evers/Wilkens 1983: 287; van der Linden 2017: 367 f.). Folglich lässt sich keine positive Korrelation von Armut und Subsistenzproduktion feststellen. Vielmehr – so argumentieren Elwert/Evers/Wilkens indirekt – führe größere Armut und damit auch Überausbeutung eher zu weniger Subsistenzproduktion, da dabei die knappen Ressourcen zusätzlich untergraben würden (Elwert/Evers/Wilkens 1983: 287, 291 ff.; Schultz 2016: 71 f.). Laut dem »Subsistenzparadox« sei es so, dass die ärmsten der Armen nicht einmal mehr genügend Mittel haben, um eine Subsistenzproduktion zu unterhalten (Elwert/Wong 1979: 271). Dies bestätigten auch spätere Forschungen (Evers/Korff 2000: 140 ff.). So seien es häufig die sehr armen Haushalte, die alle ihre Zeitressourcen in die Erzielung monetärer Einkommen investierten und denen schließlich keine Zeit mehr für Subsistenzarbeit bliebe (van der Linden 2017: 367).

Eine besondere Rolle spielt bei den Bielefelder*innen allerdings die These, der Subsistenzbereich bilde gegenüber dem kapitalistischen Sektor ein permanentes und ausgeprägtes Reservoir an billigen Arbeitskräften. Dieser »Reservearmeemechanismus« (Dörre 2010: 210 f.) geht auf Analysen der Arbeitsmärkte zurück, die Karl Marx im Kapital vornahm. Für Marx stellt es ein »allgemeines Gesetz der kapitalistischen Akkumulation« dar, dass der kapitalistische Sektor in jeder Gesellschaft selbst aktiv zu einer Hervorbringung einer relativen Überschussbevölkerung beitrage. Unter dem Begriff der »industriellen Reservearmee« fasst er die arbeitslosen oder unterbeschäftigten Menschen zusammen, die einem Sammelbecken gleichen, aus dem der kapitalistische Sektor je nach Bedarf Arbeitskräfte ziehen oder in den er sie zurückstoßen kann (Marx 1973: 670 ff.). Auf Phasen hoher Beschäftigung und eventuell steigender Löhne folgen Phasen der Ersetzung von Arbeitskräften durch Maschinen und damit wieder einer Vergrößerung der Reservearmee. Dieser dynamische Prozess habe zweierlei positive Folgen für die kapitalistischen Unternehmen. Einerseits führe er dazu, dass Löhne und Marktmacht der Lohnabhängigen nicht zu sehr stiegen, andererseits wirke das Heer der Unter- bzw. Unbeschäftigten als ein konstanter disziplinierender Zwang von außen auf die Beschäftigten (ebd.: 674 ff.). Nach diesem Reservearmee-Mechanismus produziert der kapitalistische Sektor selbst periodisch immer einen Teil der arbeitenden Bevölkerung, der sich durch Einkünfte außerhalb der kapitalistischen Lohnarbeit finanzieren muss. In den Augen von Werlhof/Mies/Bennoldt-Thomsen stellen die Hausfrauen und die ehemaligen Kolonien einen permanenten und immer größeren Pool an Reservearbeitskräften dar, auf den der kapitalistische Sektor bei Bedarf kostenlos zurückgreifen kann (Bennholdt-Thomsen 1982: 249 f., 251; Mies 1983a: 86 f., 108; Werlhof/Mies/Bennholdt-Thomsen 1983: 17). Derartige ökonomische Beziehungen zwischen dem Subsistenzbereich und dem kapitalistischen Sektor verstehen die Bielefelder*innen – wie im Folgenden ausgeführt wird – als Verflechtungen.

Verflechtung von Subsistenz und kapitalistischem Sektor

Während sich die Verflechtung von Subsistenzarbeit und kapitalistischem Sektor bei vollständig proletarisierten Haushalten der Zentrumsökonomien relativ einfach darstellt, lassen sich bei landwirtschaftlich aktiven Haushalten verschiedene Arten der Verflechtung feststellen. Die Spezifik bäuerlicher Produktion liege – laut Bennholdt-Thomsen – darin, dass bäuerliche Haushalte keine Akkumulation, sondern eine »einfache Reproduktion« anstrebten und im Gegensatz zum »landwirtschaftlichen Unternehmer« keine Orientierung an einer Expansion des Betriebes, des Geschäftsvolumens oder ihres Marktanteils aufwiesen. Gleichzeitig sei die heutige bäuerliche Produktion in (semi)peripheren Ländern durch Außenbeziehungen gekennzeichnet, die sie abhängig von der gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsstruktur machten, sie in Kapitalkreisläufe einbetteten und die von ihnen einen Mehrwert aneigneten (Bennholdt-Thomsen 1983a: 60). Daher stellt sich die Frage, wie die Verflechtung der bäuerlichen Haushalte mit der kapitalistischen Produktionsweise funktioniert. Auch sie fänden auf Haushaltsebene statt (Bennholdt-Thomsen 1982: 142). So seien Mitglieder von bäuerlichen Haushalten erstens häufig lohnabhängig, das heißt die Haushalte beziehen zumindest phasenweise einen Teil ihrer monetären Einkommen aus dem Verkauf ihrer Arbeitskraft auf kapitalistischen Arbeitsmärkten. Zweitens verkauften Bauernhaushalte ihre Produkte teilweise auf Märkten. Eine diesbezügliche Verflechtung mit dem kapitalistischen Sektor besteht, wenn die landwirtschaftlichen Produkte vom kapitalistischen Handel gekauft werden. Die Abnehmerpreise seien allerdings häufig derart niedrig, dass sich die landwirtschaftlichen Haushalte durch den Verkauf nicht finanzieren könnten. Aufgrund der äußerst niedrigen Preie handele es sich hierbei um eine marktvermittelte Subventionierung des kapitalistischen Sektors durch den Subsistenzbereich (Elwert/Projektgruppe Westafrika 1979: 32 ff.). Diese asymmetrischen Marktbeziehungen könnten nur durch ein latentes Gewaltverhältnis aufrechterhalten werden (ebd.: 43).Footnote 65 Ähnliches stellte Maria Mies bezüglich der handwerklichen Produktion fest, die von bäuerlichen Haushalten geleistet und sich von kapitalistischem Handel angeeignet wird (Mies 1983a: 96–99). Darüber hinaus lässt sich – laut Bennholdt-Thomsen – noch eine dritte Form der Verflechtung feststellen (1982: 142): So kontrolliere das Kapital die bäuerliche Produktion zunehmend auch durch Kreditvergabe, die ebenfalls ein Mittel darstelle, Mehrwert abzuschöpfen.

Damit werden die Verflechtungen zwischen (semi)proletarischen sowie bäuerlichen Haushalten und dem kapitalistischen Sektor als ein prinzipiell funktionales Passungsverhältnis aufgefasst, bei denen es sich um potenziell konfliktive und prinzipiell »ausbeuterische Verflechtungszusammenhänge« (Elwert/ Projektgruppe Westafrika 1979: 44) handelt. Diese funktionale Verflechtung wird durch drei zugrundeliegende Thesen begründet: In Anlehnung an die Argumentation des Dependenz- und Weltsystemdenkens gehen auch die Bielefelder*innen erstens von der Überausbeutungsthese aus: (Semi)periphere Länder zeichnen sich häufig durch lohnabhängige Haushalte aus, deren Lohnniveau nicht die Reproduktion ermöglicht und deshalb die Erwirtschaftung zusätzlicher nicht-kapitalistischer Einkommen – sei es aus einfacher Warenproduktion und -handel oder aus Subsistenzproduktion – notwendig mache (Custers 1997: 182, 187, 258; Bierschenk 2002: 4; van der Linden 2017: 373). Die Subventionsthese besagt zweitens, dass diese anderen produktiven Aktivitäten, welche die Subsistenz der Haushalte sichert, die niedrigen Löhne erst ermöglichten und deren Arbeit deshalb den kapitalistischen Sektor subventioniere, der sich einen Teil der Lohnkosten spare (Elwert/Evers/Wilkens 1983: 287; Custers 1997: 183 f.; Arrighi/Aschoff/Scully 2010: 412). Drittens liegt der Argumentation – wie schon bei Meillassoux – die Reservepool-These zugrunde, die besagt, der Subsistenzsektor bilde einen gesellschaftlichen Bereich, der die Arbeitskräfte auch in Phasen geringer Beschäftigung permanent reproduziere (Elwert/Wong 1979: 262 f.). Dadurch seien die Lohnabhängigen äußerst flexibel, aber auch prekär und müssten in Phasen der Unterbeschäftigung nicht finanziert werden, wofür in den meisten (semi)peripheren Ländern auch kaum staatliche Strukturen zur Verfügung stünden. Bennholdt-Thomsen spricht deshalb auch von »marginaler Subsumtion« dieser Beschäftigtengruppe unter die kapitalistischen Kreisläufe (Bennholdt-Thomsen 1982: 249 f., 251).

Obwohl dies in der Sekundärliteratur häufig missverstanden wird, sprechen die Bielefelder*innen vom Subsistenzbereich nicht als einer eigenen »nicht-kapitalistischen Produktionsweise«.Footnote 66 Ihr Verständnis der funktionalen Verflechtung zwischen Subsistenzbereich und kapitalistischem Sektor auf der Haushaltsebene ist der Vorstellung des Subsistenzbereichs als eigener Produktionsweise explizit entgegengesetzt. Subsistenzproduktion stelle vielmehr eine eigene »Produktionsform« dar, die innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise vorzufinden sei (Elwert/Wong 1979: 257 f.; Evers/Schiel 1979: 281 f.).Footnote 67 Die Subsistenzproduktion dauere innerhalb der »Situation strukturell dominanter Warenproduktion« (Elwert/Wong 1979: 269) fort. Dabei richten sich die Bielefelder*innen auch explizit gegen das Verständnis der Verflechtung als eine »Artikulation von Produktionsweisen«. Dabei würde verdeckt, dass die Hausarbeit sowie weite Teile der Subsistenzproduktion als funktionales Äquivalent zum Kapitalismus von diesem hervorgebracht würde und weder der kapitalistische Sektor noch die Subsistenzproduktion auf sich allein gestellt überleben könnten (Bennholdt-Thomsen 1982: 244). Um eine eigene Produktionsweise handele es sich nur dann, wenn der Produktionsprozess spezifische Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse sowie eigene Formen der Verteilung und des Austauschs impliziert (ebd.: 245). Weil diese Produktionsformen erst selbst mit dem Kapitalismus entstanden, sei es auch falsch, von »vorkapitalistischen« Bereichen zu sprechen (ebd.: 248; Mies 1983a: 107 f.). Anstelle einer äußerlichen Artikulation eigener Produktionsweisen handele es sich um einen Gesamtzusammenhang, bei der beide Bestandteile zwei Seiten ein und derselben Medaille seien. Es geht den Bielefelder*innen folglich nicht um eigenständige »Produktionsweisen«, sondern um die »Produktion des Lebens«, die als Bestandteil des Kapitalismus in Privathaushalten stattfindet (van der Linden 2017: 358).

Damit zwingen uns die Bielefelder*innen, den Blick auf die Ebene des Haushalts als Ort der Verflechtung zu richten. Hierbei unterscheiden sie verschiedene Überlebensstrategien und – anschließend an Wallerstein – unterschiedliche Einkommensquellen der Haushaltsmitglieder. Der Informalitätsbegriff wird dabei als ein »Reste-«, »Container-« oder »catch-all-Begriff« verworfen (Bierschenk 2002: 5 f.; Werlhof 1983a: 118; Elwert/Evers/Wilkens 1983: 281). Elwert/Evers/Wilkens schlagen vielmehr vor, die »Handlungsstrategien der Betroffenen« unter die Lupe zu nehmen (1983: 284). Damit stellen sich die Fragen, wann und warum diese formell oder informell agieren und wie diese »Schicht der Ungesicherten« (Elwert 1981) durch »konstantes strategisches Handeln« ihre Einkommen zu sichern versucht (Elwert/Evers/Wilkens 1983: 284). Zwei prinzipielle Strategien lassen sich aus Sicht der Autor*innen ausmachen: Erstens identifizieren sie das erwähnte income pooling verschiedener ökonomischer Aktivitäten und Einkommen: Lohnarbeit, Warenproduktion, Warenhandel, Subsistenzproduktion, Vermietung und Verpachtung (ebd.: 285 f.). Diese verschiedenen Einkommensquellen gehören aus Sicht der Autor*innen unterschiedlichen Produktionsformen an (ebd.: 286). Zweitens bemühen sich die betrachteten Haushalte um Netzwerke der sozialen Absicherung (ebd.: 284 f.).Footnote 68 Diese Haushaltsstrategien sind – wie schon angesprochen – nicht auf Einkommensmaximierung, sondern auf Sicherheit ausgerichtet (ebd.: 281, 286). An diese differenzierte Forschung, welche die Sicherheits- und Überlebensstrategien von Haushalten in den Blick nimmt und damit die Verflechtung verschiedener ökonomischer Ebenen auf der Haushaltsebene beleuchtet, wurde vielfach angeschlossen (Smith/Wallerstein/Evers 1984a; Wallerstein/Smith 1992a; Kößler/Hauck 1999; Evers/Korff 2000; Sittel 2022: 229 ff.). Im Folgenden stelle ich die Frage, was diese Verflechtungsperspektive für ein Verständnis von Konflikten bedeutet.

Konflikte und Kämpfe um den Subsistenzbereich

Die Arbeiten der Bielefelder*innen aus den 1970er und 1980er Jahren verstehen den Zusammenhang zwischen Subsistenz und Kapitalismus als eine »strukturell-synchrone« Verflechtung (Bennholdt-Thompsen 1982: 242), die – wie oben mehrfach angedeutet – für den kapitalistischen Sektor auf unterschiedliche Weise funktional ist. Diese Funktionalität ist allerdings äußerst einseitig und höchst widersprüchlich. So schreibt Maria Mies beispielsweise, das Kapital führe »[…] seit mehr als 200 Jahren einen Krieg gegen die Subsistenz« (2011: 282). Auch Georg Elwert und Diana Wong betonen, dass insbesondere der koloniale Staat einerseits die Subsistenzbereiche aktiv zerstörte, während andererseits in Krisenphasen oder in Auseinandersetzungen um ökonomische oder soziale Autonomiegewinnung Prozesse der Subsistenzproduktion gestärkt wurden (Elwert/Wong 1979: 260 f.). In dieser konfliktiven Pendelbewegung der Einschränkung und Ausdehnung der Subsistenzproduktion wurden die Prozesse der Zerstörung von Ressourcen der Subsistenzproduktion als zentraler Konfliktgegenstand ausgemacht (ebd.: 274). Dabei tendieren die »Subsistenzbauern-Arbeiter« häufig zum »gewaltsamem Umsturz«, der sich an praktischen Zielen orientiere, die meist in der Sicherung der (Re)Produktionsmittel bestünden (Evers/Schiel 1979: 322 f.). Subsistenzproduktion ist hierbei nicht nur eine bedrohte Quelle ökonomischen Einkommens, sondern auch eine Machtressource, die den Konfliktakteuren eine gewisse Autonomie ihrer Kämpfen ermöglicht (Elwert/Evers/Wilkens 1983; Mies 2011: 282 f.).

Aus Sicht der Bielefelder*innen seien die Verflechtungen damit durch einen grundlegenden Widerspruch gekennzeichnet, der zwischen dem Kapitalismus und dem Subsistenzbereich liege (Bennholdt-Thomsen 1982; Werlhof 1983a: 113). Die Verflechtungen zwischen subsistenzorientiertem, lohnabhängigem Haushalt und kapitalistischer Ökonomie verlaufen bei den Bielefelder*innen über den kapitalistischen Arbeits- oder Warenmarkt. Obwohl sie Konflikte um Lohnarbeit dabei nicht ausschließen, finden die zentralen Auseinandersetzungen aus ihrer Sicht nicht am Arbeitsplatz statt. Dies hat damit zu tun, dass die Arbeitskräfte mehrheitlich nicht »freie« Lohnarbeiter*innen sind, sondern teilweise selbständig produzieren sowie häufig in mehr oder weniger starken familiären Bindungen oder anderen personalen Abhängigkeiten stehen (Werlhof/Mies/Bennholdt-Thomsen 1983: 14 f.; Werlhof 1983a: 115; ebd. 1983c: 75 f.). Für Werlhof/Mies/Bennholdt-Thomsen (1983: 113, 137) finden die zentralen Konflikte der kapitalistischen Produktionsweise daher nicht zwischen Kapital und Lohnarbeit in der kapitalistischen Produktion, sondern auf Haushaltsebene zwischen dem Kapital und Subsistenzarbeit statt. Dabei betonen sie, dass Frauenkämpfe die wahren Klassenkämpfe seien (Bennholdt-Thomsen 1982, 1983a: 57 ff.). Unter diese Frauenkämpfen werden dann sowohl Kämpfe gegen Gewalt innerhalb der Haushalte, gegen die Überausbeutung weiblicher Arbeitskräfte sowie gegen die Enteignung der Gemeingüter zusammengefasst. Was diese eint und inwiefern sie als Frauenkämpfe mit den Kämpfen bäuerlicher Haushalte gleichgesetzt werden können, bleibt dabei jedoch relativ vage.

Gleichzeitig wird von den Bielefelder*innen der Haushalt als eine Produktionsstätte begriffen. Diese arbeite dem kapitalistischen Sektor zu, subventioniere ihn und diene als Auffangbecken einer relativen Überbevölkerung. Konflikte bezüglich des Verflechtungszusammenhanges zwischen Subsistenz- und kapitalistischem Bereich werden aus Sicht der Bielefelder*innen über die männliche Lohnarbeit in den Haushalt getragen. Daher finden sie auch als Konflikte zwischen Männern und Frauen auf der Haushaltsebene statt (Werlhof/Mies/Bennholdt-Thomsen 1983: 137 f.; Werlhof 1983b: 151 f.; Mies 1983a: 109 f.). Dabei stellt sich die Frage, inwiefern dies für (semi)periphere Länder zutrifft, in denen – wie die Autorinnen selbst feststellen – auch große Teile der männlichen Bevölkerung keine Beschäftigung im kapitalistischen Sektor finden. Hier ließe sich – anschließend an das zuvor dargestellte – eher von Konflikten zwischen bäuerlichen Gemeinschaften auf der einen und staatlichen oder kapitalistischen Akteuren auf der anderen Seite ausgehen. Da die Bielefelder*innen lange Forschungsaufenthalte in Lateinamerika, Afrika und Asien absolvierten, blieben ihnen die Dynamiken bäuerlicher Ökonomien nicht verborgen. Dennoch zogen sie kaum konfliktanalytische Konsequenzen aus ihren Analysen der spezifischen Verflechtung bäuerlicher Haushalte mit der kapitalistischen Ökonomie. Vermutlich hat dies mit der häufig kritisierten These zu tun, die eine Parallelität zwischen den Interessen bäuerlicher Haushalte und proletarischer Hausfrauen betont, durch die die Konflikte entlang der Geschlechterachse und diejenigen zwischen Subsistenz und kapitalistischem Sektor zusammenfallen sollten. Es blieb Nancy Frasers (2016: 103 f.; ebd. 2017: 154 ff.) Konzept der »Grenzkämpfe« vorenthalten, diese Einheit der unterschiedlichen Orten der sozialen Reproduktion im Kampf gegen die kapitalistische Produktionsweise wieder zu betonen und neu zu konzipieren (siehe Abschnitt 2.6.4).

Erkenntnisse und Kritik des Bielefelder Verflechtungsansatzes

Den Bielefelder*innen gelang es, die ökonomischen Verflechtungen auf der Haushaltsebene wesentlich genauer zu fassen als der Weltsystemansatz oder die dargestellten Studien zur Artikulation von Produktionsweisen. Außerdem zeigten sie in ihren Analysen der Beziehungen zwischen kapitalistischer Produktionsweise und der subsistenzwirtschaftlichen »Produktion des Lebens«, dass diese Verflechtungen durch ein spezifisches Geschlechterverhältnis aufrechterhalten werden. Sie legten gleichzeitig dar, dass der Kapitalismus – sei es in den Zentrumsländer oder in den Peripherien – stets auf die Subsistenzproduktion in den Privathaushalten angewiesen ist. Außerdem arbeiten sie drei verschiedene Formen der funktionalen Verflechtung heraus, die als Subventions- und Reservepoolthese sowie als die Aneignung billiger Waren bezeichnet werden können. Hier finde eine massive und gewaltvolle Ausbeutung der Nicht-Lohnarbeiter*innen statt, die schließlich dazu führe, dass die radikalen Klassenkämpfe im Kapitalismus als Frauenkämpfe geführt würden. Der Bielefelder Verflechtungsansatz hat folglich große Stärken, die die Systematisierung des Verhältnisses zwischen kapitalistischem Sektor und Subsistenzbereich betreffen. Ich werde im Folgenden deutlich machen, warum ich allerdings den breiten Begriff des Subsistenzbereichs bei den Bielefelder*innen für die Analyse des Nicht-Kapitalistischen für ungeeignet halte.

Der Begriff der Subsistenzproduktion wird von den Bielefelder*innen uneinheitlich und teilweise widersprüchlich verwendet (Custers 1997: 277; van der Linden 2017: 360 ff.).Footnote 69 Je nachdem, welche Tätigkeiten unter die Subsistenzproduktion fallen und in welchem Verhältnis dieser Begriff zur »Produktion des Lebens« sowie zur »Gebrauchswertorientierung« steht, lässt sich von einem engeren oder weiteren Begriff sprechen. Für Evers (1990: 471) umfasst Subsistenzproduktion »[…] jede Herstellung von Gütern und Dienstleistungen, die nicht für den Markt, sondern für den Eigenkonsum der Produzenten bestimmt sind. Subsistenzproduktion ist daher gebrauchswert- und nicht tauschwertorientiert […]«. Diesem eher engen Verständnis von Subsistenzproduktion steht bei den Bielefelder*innen ein meist deutlich weiterer Begriff der Subsistenz entgegen (Custers 1997: 257 f.; Mies 2015: 18; van der Linden 2017: 360 ff.). So subsumiert Mies (2011: 283; ebd. 2015: 18) all jene Aktivitäten unter Subsistenzproduktion, die sich am Ziel der »Produktion des Lebens« orientieren. Der Subsistenzbereich schien schon in dem oben angeführten Zitat der drei Autorinnen auch den informellen Sektor, bestehend aus den »selbstgeschaffenen Diensten«, dem »selbstgeschaffenen Handel« sowie dem Handwerk der »Verarmten in den Städten« und den »bäuerlichen Sektor« zu umfassen (Werlhof/Mies/Bennholdt-Thomsen 1983: 85). Für Bennholdt-Thomsen (1982: 245) scheint das wesentliche Kriterium der Subsistenzproduktion in der Gebrauchswertorientierung zu bestehen, weshalb sie selbst den Kleinproduzenten, der Produkte am Markt verkauft und an einer konkreten Menge nützlicher Dinge anstatt einer abstrakten Menge Geld interessiert ist, in den Subsistenzbereich mit einbezieht (ebd. 1982: 246).Footnote 70

Haushalte kombinieren – dies haben anschließend an das Weltsystemdenken auch die Bielefelder*innen festgestellt – stets verschiedene Einkommensformen. Die Art dieser Kombination und das Ausmaß der Rolle der Subsistenzproduktion ist dabei nicht zuletzt von der Dynamik des kapitalistischen Arbeitsmarktes abhängig. Forschungen zum informellen Sektor weisen allerdings darauf hin, dass dabei eine Reihe von Einkommen auf den häufig informellen und lokalen Märkten erwirtschaftet wird. Subsistenzarbeit im engen Sinne ist folglich zwar eine relevante, aber nur eine von vielen Aktivitäten, die darauf zielen, die Reproduktion des Haushalts zu sichern.Footnote 71 Schon mit Wallerstein/Smith wurde beispielsweise auf die »petty market operations« hingewiesen, die Haushalte unterhalten, um zusätzliche Einkommen zu erzielen (Wallerstein/Smith 1992b: 256 ff.). Der implizite Dualismus des Subsistenzansatzes, der ökonomische Aktivitäten entweder unter Subsistenzproduktion oder in den kapitalistischen Sektor einordnet, überzeugt daher nicht. Entweder müsste der Subsistenzbegriff sehr weit gefasst werden und kleine Warenproduktion und -handel mit einbeziehen, wie es die Bielefelder*innen teilweise tun. Dies würde allerdings dazu führen, dass der Subsistenzbegriff seine zentrale Bestimmung als Produktion für den Eigenbedarf verliert (Baier 2008: 78). Oder eine Reihe von nicht-kapitalistischen Aktivitäten, die Teil der Warenproduktion sind, fallen aus dem Analyseraster der »Subsistenzproduktion« gänzlich heraus. Damit scheint ein alternativer Begriff für die »nicht-kapitalistischen Produktionsformen« nötig zu sein.

Darüber hinaus scheint Subsistenzproduktion bei den Bielefelder*innen nur innerhalb von Haushalten stattzufinden. Gerade in bäuerlichen Kontexten lassen sich »nicht-kapitalistische Produktionsformen« jedoch nicht auf den häuslichen Bereich beschränken (Bennholdt-Thomsen 1982: 246 ff.; ebd.: 1983a: 48). Reziprozitätsbeziehungen, gemeinsame Arbeiten und Schenkungen finden auch innerhalb von Gemeinschaften und zwischen Haushalten statt (Smith/Wallerstein/Evers 1984b: 9). »Mutualistische Praktiken« sind nicht nur bezüglich des Konsums oder der Produktion, sondern auch bei Finanzen, Krediten und Versicherungen von Bedeutung (Wong 1984: 60 f.; van der Linden 2017: 99 ff.). Ökonomische Praktiken sperren sich folglich vielfach gegen die dualistische Zuordnung entweder innerhalb des Haushalts oder innerhalb des global integrierten Kapitalismus. Da nicht alle Zirkulations- und Tauschakte den kapitalistischen Märkten zugeordnet werden können, ist auch ein eigenes Verständnis der Marktbeziehungen nötig, die sich zwischen Haushalten, kleinen Produzent*innen und Händler*innen auf lokalen, nicht-kapitalistischen Märkten abspielen. Diese fallen bei den Bielefelder*innen teilweise aus der Analyse oder werden höchstens als »Grenzfälle« behandelt (Elwert/Wong 1979: 257). Da Subsistenz- und Warenproduktion als komplementäre Begriffe verstanden werden, rücken nicht-kapitalistische Bereiche, die warenförmig und über Marktbeziehungen verlaufen, aus dem Blick. Dies erklärt auch, warum Verflechtungen von den Bielefelder*innen nur auf der Haushaltsebene verortet und vorwiegend auf den Arbeitsmarkt als vermittelnde Instanz reduziert werden. Verflechtungen über Märkte mit unterschiedlichen Logiken werden weit weniger stark untersucht. Darüber hinaus fehlt dem Bielefelder Verflechtungsansatz eine Theoretisierung des Zusammenhangs zwischen Verflechtungen und Konflikt, der über die Verteidigung der konkreten Produktionsmittel der Subsistenzwirtschaft hinaus geht. Der Artikulationsansatz sprach hier von einem Dominanzverhältnis zwischen kapitalistischer Produktionsweise und nicht-kapitalistischen Bereichen, welches nicht zuletzt über die politische Ebene und den Staat ausgetragen wird.

Die genannten Kritikpunkte sollen allerdings nicht den großen Erkenntnisfortschritt überdecken, zu dem die Bielefelder*innen bezüglich der Analyse von Verflechtungsverhältnissen beigetragen haben. Ihre Diagnose der funktionalen und konfliktreichen Verflechtung wird von vielen feministischen Autor*innen direkt oder indirekt auch heute geteilt (Federici 2012; Fraser 2016). Der Begriff der Verflechtung wird allerdings ähnlich wie derjenige der Subsistenz kaum noch gebraucht.Footnote 72 Statt von Verflechtung spricht Nancy Fraser in Bezug auf den Zusammenhang zwischen nicht-kapitalistischer Reproduktion und kapitalistischer Produktion beispielsweise als »separation-cum-dependence-cum-disavowal« (Trennung plus Abhängigkeit plus Verleugnung) oder einfach als Abhängigkeit des kapitalistischen Sektors von der nicht-kapitalistischen Reproduktion (Fraser 2016: 102 f.; ebd. 2017: 145 f.). Ich werde demgegenüber an dem Begriff der Verflechtung festhalten, den ich – wie ich in dieser Arbeit zeige – für analytisch äußerst fruchtbar halte. Allerdings dürfen Verflechtungsverhältnisse nicht auf die ökonomische Ebene reduziert werden: Schon bei den Bielefelder*innen wurde deutlich, dass der ökologischen Ebene eine zentrale Rolle zukommt (Werlhof/Mies/Bennholdt-Thomsen 1983: 137 ff.; Custers 1997: 228 ff.). Das prinzipiell konfliktive Verhältnis zwischen bedarfsökonomischer Produktion und kapitalistischem Sektor verläuft wesentlich über die Konkurrenz um Zugänge zu und Kontrolle über natürliche Ressourcen sowie der Zerstörung ökologischer Kreisläufe und Biodiversität durch kapitalistische Landnahmen. Diese Verhältnisse werde ich in dieser Arbeit als ökologische Verflechtungen thematisieren. Dafür ist – wie im Folgenden deutlich wird – ein Verständnis gesellschaftlicher Naturverhältnisse nötig.

2.4 Die Heterogenität der gesellschaftlichen Naturverhältnisse

Wie gesellschaftliche Prozesse im Allgemeinen so sind auch Produktionsweisen und -formen stets in ökologische Kreisläufe eingebettet. Folglich können wir Gesellschaften immer auch als eine spezifische »Kopplung eines kulturellen Systems mit biophysischen Elementen« im Rahmen eines sozialen Stoffwechsels mit der Natur verstehen (Fischer-Kowalski/Mayer/Schaffartzik 2011: 98). Im Kontext der strukturellen Heterogenität müssen wir allerdings davon ausgehen, dass es zu einer Gleichzeitigkeit sehr unterschiedlicher solcher »Kopplungen« kommt. Im Folgenden frage ich danach, wie wir die »Pluralität der Naturverhältnisse« (Graf 2022a) in strukturell heterogenen Gesellschaften verstehen können (2.4.1), inwiefern wir die dominanten Naturverhältnisse als Teil der internationalen Arbeitsteilung begreifen müssen (2.4.2) und welche Schlussfolgerungen dies für die Analyse von Konflikten zulässt (2.4.3).

2.4.1 Politische Ökologie: Produktionsverhältnisse sind Naturverhältnisse

Menschheitsgeschichtlich waren die verschiedenen Produktions- oder Subsistenzweisen von Jäger- und Sammlergemeinschaften bis zur Industrialisierung und der Nutzung fossiler Energieträger durch sehr unterschiedliche sozialmetabolische Stoffwechsel mit der Natur gekennzeichnet (Fischer-Kowalski/Mayer/Schaffartzik 2011: 102 f.). Gesellschaften stellen aus dieser Sicht einerseits »kommunikativ geschlossene Systeme« dar. Andererseits sind sie durch Bindeglieder stets mit dem »naturalen System« verbunden und existieren damit keinesfalls außerhalb von ökologischen Kreisläufen (ebd.: 98–100).Footnote 73 Produktion, Konsumtion und Distribution bedeuten immer die Transformationen von Stoffen und Energien (Altvater 1992a: 240), welche als »Stoffwechsel« wissenschaftlich ermittelt werden können (Fischer-Kowalski 1997). Das Konzept des »gesellschaftlichen Stoffwechsels« oder des »sozialen Metabolismus« bezeichnet die relativ stabilen »materiellen und energetischen Austauschbeziehungen zwischen Gesellschaft und Natur« (Fischer-Kowalski/Mayer/Schaffartzik 2011: 98) und ermöglichst es so, Inputs wie Ressourcen und Energie und gleichzeitig Outputs wie Abfälle und Emissionen sowie stoffliche Importe und Exporte einer Volkswirtschaft als notwendigen Bestandteil von Gesellschaften auf nationaler und internationaler Ebene zu fassen (ebd.: 97; Toledo 2013: 47 f.). Für die Fragestellung dieser Arbeit ist es von Bedeutung, dass diese enge Eingebundenheit sozialer Praktiken und Verhältnisse in ökologische Kreisläufe mit Blick auf die strukturelle Heterogenität auch eine Heterogenität der Verhältnisse zwischen Mensch und Natur impliziert. Der gesellschaftliche Stoffwechsel mit der Natur, der Rückgriff auf Ressourcen und die Belastung ökologischer Kreisläufe können innerhalb von Volkswirtschaften je nach sozialen und geografischen Bereichen damit sehr unterschiedlich ausfallen (Toledo 2013: 46 f.). In anderen Worten gehen verschiedene Produktionsweisen und -formen innerhalb einer Gesellschaft mit gänzlich unterschiedlichen sozialen Metabolismen einher (Foster/Clark/York 2011: 332; Toledo 2013: 55 f.). Inwiefern mit diesen verschiedenen Naturverhältnissen auch spezifische Konfliktdynamiken einhergehen, hat die Disziplin der Politischen Ökologie ergründet.

Aus der Sicht der Politischen Ökologie stellt der soziale Metabolismus keine einfache natürliche Beziehung zur Umwelt, sondern ein politisches Verhältnis und eine konfliktive Verteilungsfrage dar. Der interdisziplinäre Ansatz entstand in den 1960er und 1970er Jahren als die ökologische Krise durch erste Anzeichen von Klimawandel, Ressourcenknappheit und planetarischen Belastungsgrenzen sichtbar wurden. Er bildete sich unter anderem als Kritik an der Politischen Ökonomie heraus, der er eine Naturvergessenheit und ein systematisches Übersehen stofflich-materieller, ökologischer Zusammenhänge vorwarf (Leff 2015: 30 f., 33). Ökologie wurde dabei nicht mehr einfach als außermenschliche »Umwelt«, sondern als gesellschaftliches und politisch umstrittenes Feld verstanden (ebd.: 33). Die Grundthese der Disziplin besteht darin, dass das Soziale, das Ökonomische und das Politische nicht verstanden werden können, ohne deren stofflich-materielle, ökologische und territoriale Dimension miteinzubeziehen und gleichzeitig ökologische Krisen, ökologische Verteilungsfragen und ökologische Probleme auch als politische Anliegen und Konflikte zu verstehen (Leff 2003: 19; Alimonda 2011: 40–46; Dietz 2014b: 10 f.; Backhouse 2015: 32). Insbesondere Verteilungsfragen bezüglich des Zugangs zu natürlichen Ressourcen, aber auch die verschieden Ebenen der Mensch-Natur-Beziehung sozialer, materieller und kultureller Art bilden Gegenstand der Disziplin (Alimonda 2011: 42 f.). Laut Joan Martínez-Alier (2002: 12 f., 54, 70) bestünde das zentrale Thema der Politischen Ökologie demnach in der Erforschung »ökologischer Verteilungskonflikte«. Diese seien Konflikte um Belastungen durch Verschmutzungen, durch extraktive oder industrielle Wirtschaftsaktivitäten, durch ökologische Krisenerscheinungen oder aufgrund von Ungleichheiten im Zugang zu und der Verfügung über natürliche Ressourcen (Martínez-Alier 2004: 14 f.; Leff 2015: 46; Martínez-Alier/Walter 2016: 60). Insbesondere nicht-nachhaltige Nutzung ökologischer Kreisläufe im Rahmen von ökonomischen Prozessen befeuerten derartige Konflikte (Scheidel et al. 2018: 586). Für die vorliegende Forschung spielen zudem die häufig vorkommenden Ungleichheiten bezüglich des Zugangs zu natürlichen Ressourcen oder bezüglich der Belastung durch ökologische Kosten eine besondere Rolle (ebd.: 587).

In diesem Sinne lassen sich laut Joan Martínez-Alier und Ramachandra Guha vor allem in Ländern des globalen Südens Konfliktdynamiken ausmachen, die sie als »environmentalism of the poor« charakterisieren (Guha/Martínez-Alier 1997: xxi). Dabei wird deutlich, dass die ärmere ländliche Bevölkerung in (semi)peripheren Ländern meist nicht-kapitalistische Produktionsweisen praktizieren, die in der Regel weitestgehend in Einklang mit den sie umgebenden Ökosystemen stehen (Custers 1997: 240 ff.). Im Gegensatz zu kapitalistischen Naturverhältnissen sind beispielsweise die Naturverhältnisse kleinbäuerlicher Gemeinschaften darauf angewiesen, dass die lokalen Ökosysteme nicht untergaben werden (Toledo 2013: 55 f.). Diese »direkten Naturverhältnisse«, in denen die »unmittelbaren Produzent*innen« nicht nur ihre Produktionsmittel besitzen, sondern damit teilweise auch die für ihr Produzieren relevanten Ökosysteme »kontrollieren«, unterscheiden sich damit maßgeblich von kapitalistischen Naturverhältnissen (Graf 2022a). In der Folge besteht die »Ökologie der Armen« darin, dass sich die ärmeren städtischen und ländlichen Bevölkerungsteile vor allem deshalb für den Schutz von ökologischen Ressourcen engagieren, weil ihre Produktions- und Lebensweise von deren Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen und von intakten Ökosystemen abhängt (Martínez-Alier 2002: 12 f.; Guha/Martínez-Alier 1997: xxi). Dabei kommt ökologischen Konflikten in diesem Kontext eine Verteilungsdimension zu, die für die betreffenden Bevölkerungsgruppen bezüglich der natürlichen Ressourcen eine direkte sozioökonomische Bedeutung hat (Graf/Puder 2022: 219 f.).Footnote 74 Um »ökologische Verteilungskonflikte« (Martínez-Alier 2004) zu analysieren, müssen wir daher zwischen den unterschiedlichen Naturverhältnissen differenzieren, die einerseits als »direkte Naturverhältnisse« der unmittelbaren Produzent*innen und andererseits als »kapitalistische Naturverhältnisse« beschrieben wurden und die sich – wie in dieser Arbeit deutlich wird – häufig diametral entgegen stehen. Als ein besonderer Treiber der Konflikte, zu denen es entlang der unterschiedlichen Naturverhältnisse kommt, hat sich in den letzten Jahrzehnten die Expansion extraktiver kapitalistischer Wirtschaftsaktivitäten erwiesen (Martínez-Alier /Walter 2016: 65 ff.). Daher wenden wir uns im Folgenden zunächst den kapitalistischen und nachfolgend den extraktivistischen Naturverhältnissen zu.

Kapitalistische Produktionsweise und der metabolische Bruch

Ökologische Kreisläufe, Biodiversität, Ressourcen und natürliche Senken, die die Abfälle und Ausstöße menschlicher Gemeinwesen aufnehmen, müssen als »Existenzbedingungen« (Althusser 1968: 65) oder als »Produktionsbedingungen« (O’Connor 1996: 197 f.) von Gesellschaftsformationen und Lebens- und Produktionsweisen verstanden werden (Altvater 1992a: 284 f.). Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde die zunehmende Untergrabung der »Überlebensbedingungen der Menschheit« (Fetscher 1991) immer offensichtlicher. Auch in der deutschsprachigen Sozialwissenschaft wurde schon Ende des 20. Jahrhunderts darauf hingewiesen, dass der extensive und intensive Stoffwechsel mit der Natur in den letzten Jahrhunderten dazu geführt hat, dass die Böden und Ressourcen übernützt werden, die Verwüstung voranschreitet, Wälder in enormem Ausmaß gerodet werden und die Fruchtbarkeit von Ackerböden verloren geht, durch Erosion Tausende Tonnen an Erdreich abgeschwemmt wird, die Ozeane verseucht werden, die Ozonschicht schwindet, die CO2-Menge in der Atmosphäre sich stetig erhöht und der damit verbundene Klimawandel die Durchschnittstemperatur weltweit steigen lässt (Beck 1986; Fetscher 1991; Altvater 1992a: 240 f.). Der Stoffwechsel, den die modernen Gesellschaften mit ihrer natürlichen Umwelt eingegangen sind, erweist sich in höchstem Maße als nicht-nachhaltig. All dies ist heute weithin bekannt. Dennoch wurden die genannten Probleme in den vergangenen Jahrzehnten keinesfalls gelöst, vielmehr haben sie sich trotz wissenschaftlichen Konsens über die Dramatik der Situation verschärft. Daher gerät das – im Folgenden dargelegte – weltweit dominante kapitalistische Naturverhältnis in zunehmendem Maße in die Kritik (Görg 1999; Foster/Clark/York 2011; Machado 2014; Moore 2015b; Dörre 2021: 59 ff.).

Kapitalistische Wirtschaften sind grundsätzlich expansive Wirtschaften. Dabei sind kapitalistische Landnahmen und Akkumulationsdynamiken gegenüber den natürlichen ökologischen Reproduktionserfordernissen allerdings blind (Dörre 2019: 9). Gleichzeitig hat der globale Kapitalismus ein globales Ökosystem geschaffen, in dem er auf billiges Geld, billige Arbeit sowie billige Natur, Nahrung und Energie zurückgreifen kann (Patel/Moore 2017). Dabei wird die gesamte Natur einer Zweck-Mittel-Rationalität unterworfen, in der sie nur als Material ökonomischer Verwertung gesehen wird (Mahnkopf 2014: 505). Ziel der Unternehmen innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise ist die Verwertung des Werts, die Akkumulation und damit die wertmäßige Expansion (Marx 1973: 161–191). Den Waren, dem Geld und den Arbeitskräften durch deren Produktion, Reproduktion und Zirkulation sich das Kapital verwertet, kommt aber niemals nur eine Wertseite, sondern immer auch eine stoffliche Gebrauchswertseite zu (Altvater 1992a: 247 ff., 253 ff.). Kapitalistische Akkumulation bedeutet in ihrer wertmäßigen Expansion damit in der Regel auch eine Zunahme der Stoff- und Energieumsätze (ebd.: 291). Während die kapitalistische Kapitalverwertung damit eine Wertsteigerung, Reinvestition und Rückverwandlung des investierten Geldes in mehr Geld und folglich einen expansiven Kreislauf darstellt, sind viele Interventionen in ökologische Prozesse und Naturzerstörungen, die damit einhergehen, keinesfalls kreislaufförmig, sondern vielfach nahezu oder komplett irreversibel (ebd.: 262 f.). Während die kapitalistische Ökonomie auf maximales Wachstum hin ausgerichtet ist, basiert das globale Ökosystem auf einem natürlichen und fragilen Gleichgewicht (ebd.: 265 f.). Diese Nicht-Entsprechung zwischen ökonomischen und ökologischen Kreisläufen führt nicht nur zur Zerstörung natürlicher Ökosysteme, sondern auch zur Untergrabung sozialer Existenz-, Lebens- und Produktionsbedingungen.

Diese Selbstzerstörung der sozialen Prozesse durch die Zerstörung der Ökosysteme, die ihnen zugrundeliegen, ist nicht völlig neu.Footnote 75 James O’Connor spricht von zwei Widersprüchen, die die kapitalistische Produktionsweise seit jeher impliziert. Der erste Widerspruch bestehe aus den sozialen Krisentendenzen, die der Kapitalismus befördert: Ungleichheit zwischen Lohnarbeit und Kapital sowie Absatz-, Überproduktions- und Finanzkrisen. Der zweite Widerspruch bestehe darin, dass der Kapitalismus seine »ökologischen Produktionsbedingungen« fortwährend untergrabe (O’Connor 1996: 197, 202 f., 206 f.). Die ökologischen Zerstörungen stellten auch deshalb eine Krisentendenz für die kapitalistische Produktionsweise dar, weil sie die Kosten für Rohstoffe und landwirtschaftliche Erzeugnisse erhöhten, weshalb es – in O’Connors Worten – zu einer Unterproduktion der natürlichen Produktionsbedingungen käme (ebd.: 199 f.; vgl. auch Altvater 1992a: 285 f.). Die »billige Natur« würde folglich immer knapper und teurer.

Die Zerstörung ökologischer Kreisläufe führt allerdings nicht nur zu ökonomischen Problemen innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise selbst. Sie geht langfristig auch mit einer universellen Untergrabung der ökologischen Existenz- und Produktionsbedingungen der Menschheit einher. Diese von der kapitalistischen Produktionsweise geschaffene Problematik wurde im Anschluss an den Begriff des »Stoffwechsels« zwischen Mensch und Natur sowie die Einsichten bezüglich der Überlastung von Bodennährstoffen durch die kapitalistische Landwirtschaft als »metabolischer Bruch« bezeichnet: Nährstoffe werden vom Land in die Städte überführt, wo sie sich auf Müllhalden ansammeln, anstatt zurück in die ökologischen Kreisläufe auf dem Land zu gelangen (Marx 1973: 528; Foster/Clark/York 2011: 76; Saito 2016: 159 ff.). Schon die kapitalistische Landwirtschaft beende folglich die lange Zeit dominante zirkuläre metabolische Interaktion zwischen Mensch und Erde (Foster/Clark/York 2011: 77). Der metabolische Bruch bezeichnet damit eine Durchbrechung der ökologischen Kreisläufe, in die menschliches Leben in der Regel eingebettet ist. Heute durchziehe dieser Bruch nicht mehr alleine das Verhältnis von Stadt und Land, sondern die globale Ökonomie und insbesondere das Verhältnis aus Zentrum und Peripherie (ebd.). Energie-, Ressourcen- und Stoffströme bewegen sich heute rund um den Planeten. Auch sie sind durch lineare und nicht durch Kreislaufprozesse gekennzeichnet. Durch den metabolischen Bruch im gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur kommt es zu einer Akkumulation von Reichtum auf der einen und zur Anhäufung von Ressourcenverarmung, Umweltverschmutzung, Arten- und Lebensraumzerstörung auf der anderen Seite (Foster/Clark/York 2011: 196). Die Industrialisierung als »Entwicklungsweg« der Zentren und Teilen der Semiperipherie geht mit einem sehr unterschiedlichen Zugriff auf globale ökologische Gemeingüter und weltweite ökologische Senken einher (Altvater 1992b: 20 ff.). In Bezug auf die global ungleiche Verteilung von ökologischen Schäden und volkswirtschaftlichem Nutzen, die das kapitalistische Weltsystem beinhaltet, wurde auch von einem »ökologisch ungleichen Tausch« (Hornborg/Martínez-Alier 2016) und der »Externalisierung der ökologischen Kosten in die Peripherien« (Lessenich 2016: 47, 89 ff., 96 f.) sowie einer »imperialen Lebensweise« (Brand/Wissen 2017) oder einem »ökologischen Imperialismus« gesprochen (Foster/Clark/York 2011: 329, 253 ff.). Metabolische Brüche stellen damit nicht alleine lokale ökologische Krisenerscheinungen oder Tendenzen dar. Sie sind in weltweite ökonomische und politische Zusammenhänge eingebettet, die insbesondere deshalb immer sichtbarer werden, weil das kapitalistische Wachstum immer offensichtlicher an soziale und planetarische Grenzen stößt (Rockström et al. 2009; Dietz/Wissen 2009; Mahnkopf 2014: 510 f.). Allerdings ist das kapitalistische Naturverhältnis keineswegs nur ein ökonomisches, sondern – wie im Folgenden deutlich wird – ein gesellschaftliches Verhältnis.

Die Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse

Der metabolische Bruch ist nicht einfach ein gegebenes, rein ökonomisch-stoffliches Verhältnis zwischen der kapitalistischen Produktionsweise auf der einen und ökologischen Kreisläufen auf der anderen Seite. Ein derartiges Verständnis vernachlässigt nicht nur die strukturelle Heterogenität vieler Ökonomien und die damit einhergehende Pluralität gesellschaftlicher Naturverhältnisse, sondern auch die Frage, wie das ökologisch krisenhafte Naturverhältnis des Kapitalismus Gegenstand politischer Regulierungen und sozialer Konflikte wird. Dieser Thematik kommt vor allem der regulationstheoretisch inspirierte Ansatz der »gesellschaftlichen Naturverhältnisse« nach. Dabei wird davon ausgegangen, dass es eine vom Menschen unberührte Natur, als reine externe Umwelt, nicht mehr gibt, sondern Natur immer als Naturverhältnis verstanden werden muss (Görg 1999: 15), ohne dabei die Eigendynamik des Ökologischen beziehungsweise die Materialität von Natur zu unterschlagen (Görg 2003: 27 ff.; Wissen 2008: 79 f.). Allerdings wird nicht nur die Natur als gesellschaftlich, sondern auch das Soziale als von natürlichen Prozessen durchdrungen betrachtet (Görg 1999: 12 f., 32, 62, 174). Diese »Durchdringung« geschieht in unterschiedlichen Formen, deren soziale, kulturelle und politische Bearbeitung als »Regulation der Naturverhältnisse« verstanden wird (Görg 2003: 117; Raza 2003: 162 f.; Backhouse 2015: 36). In der Folge werden mit diesem Ansatz Handlungen und Akteure analysiert, die versuchen, ihr jeweiliges Naturverhältnis politisch und rechtlich abzusichern (Raza 2003: 163).

Das zentrale Organisationsprinzip der Regulation der Naturverhältnisse innerhalb kapitalistisch dominierter Gesellschaftsformationen stellt – wie oben angesprochen – die Verwertung des Werts im Rahmen von Warenproduktion und -handel und damit die Kommodifizierung jedweder natürlichen Ressource dar (Raza 2003: 163 f.; Görg 2003: 117). In Europa setzte sich in der frühen Neuzeit ein bürgerliches Naturverständnis durch, dass zunehmend durch das Ziel der fortschreitenden Naturbeherrschung gekennzeichnet ist und in den modernen Naturwissenschaften seinen klaren Ausdruck findet (Merchant 1980: 177 ff.; Görg 2003: 26 f.). Naturbeherrschung ist in der europäischen Denktradition ein »Meilenstein der Menschheitsgeschichte« (Görg 2003: 33, 38 f.) und Teil der »Entzauberung der Welt« (Weber 1994: 86 f.).Footnote 76 Doch der Versuch, die Natur immer weiter zu dominieren, hat einen instrumentellen Naturbezug, ein Leugnen der gesellschaftlichen Abhängigkeit von ökologischen Prozessen und all die repulsiven Effekte (mit)hervorgebracht, die die heutige ökologische Krise ausmachen (Görg 2003: 41 ff.). Der moderne und koloniale Staat zielt darauf ab, die Natur wie die Menschen einzuteilen, sie zu kategorisieren, registrieren, verwalten und beherrschen zu können (Scott 1998: 2). Dies geschieht vor allem mittels der Rechtsform des Privateigentums, das den einzelnen ökonomischen Akteuren die Verfügungsgewalt über bestimmte natürliche Ressourcen, Land und Arbeitskräfte im Rahmen des modernen Rechts verleiht. Der Komplex aus Kommodifizierung und Privatisierung von natürlichen Ressourcen und Gemeindeland wird durch das moderne Recht entscheidend mit hervorgebracht. Es setzt ein neues dominantes Naturverhältnis durch, macht staatliche Akteure zu zentralen regulativen Instanzen und stabilisiert damit die Verwertung des Werts im Rahmen einer expandierenden kapitalistischen Warenproduktion. Dabei durchzieht die Privatisierung von ökologischen Gemeingütern die Geschichte des Kapitalismus (Marx 1956: 109–147; ebd.: 1973: 741 ff.; Shiva 1988: 77 ff.; Custers 1997: 239 f.; de Angelis 2007: 142 ff.; Klubock 2014: 90 ff., 278 ff.; Bollier 2014; Dietz/Engels 2020). Die Dominanz des kapitalistischen Naturverhältnis muss folglich als Ergebnis einer bestimmten staatlichen Politik verstanden werden, die dieses Naturverhältnis mittels Enteignungen, kolonialer Eroberungen, Privatisierungen und Kommodifizierungen durchsetzte. Der zerstörerische Charakter des kapitalistischen Naturverhältnisses und dessen gewalttätige Durchsetzung wird insbesondere im Rahmen der extraktivistischen Ressourcenausbeutung in den Peripherien sichtbar.

2.4.2 Extraktivismus und sozialökologische Konflikte

Das kapitalistische Weltsystem, das im langen 16. Jahrhundert entstand, weist den Weltregionen im Zuge der globalen Arbeitsteilung völlig unterschiedliche politische und ökonomische Rollen zu (Wallerstein 1986: 519 ff.). Diese Arbeitsteilung hängt unter anderem von der Verfügbarkeit natürlicher »positioneller Güter« in der jeweiligen Weltregion ab (Altvater 1992a: 297), wurde vom Kolonialismus geschaffen und dauert bis heute fort (Quijano 2016; Machado 2014).Footnote 77 Héctor Alimonda (2011: 47) spricht diesbezüglich von der »Kolonialität der Natur« und verweist damit auf den dargestellten Umstand, dass der Kolonialismus mit der neuen weltweiten Arbeitsteilung auch das kapitalistische Naturverhältnis global durch setzte (Leff 2003: 22). Die »neue Welt« ist aus diesem Blick ein Bündel an potenziellen Ressourcen und billiger Natur (Shiva 1988: 3 f.; Moore 2015a: 11 f.). Die ökonomische Funktion großer Teile Asiens, Afrikas und Lateinamerikas bestand deshalb von Beginn des Kolonialismus an darin, kaum verarbeitete oder unverarbeitete Ressourcen, Rohstoffe und Lebensmittel in die Zentrumsländer zu exportieren.

Der Begriff des »Extraktivismus«, der in den letzten Jahrzehnten die polit-ökologische Debatte in Lateinamerika geprägt hat, geht von der Feststellung aus, dass Lateinamerika seine Abhängigkeit von Rohstoffexporten nie überwunden hat. Eduardo Gudynas (2019: 22) definiert Extraktivismus als wirtschaftliche Aneignung natürlicher Ressourcen in großen Mengen, bei der diese mehrheitlich ohne größere Weiterverarbeitung exportiert werden. Diese Rohstoffe, deren Preise stark von den Preisschwankungen auf internationalen Märkten abhängig sind, werden auch als commodities bezeichnet (ebd.). Die Exportorientierung auf die commodities wurde in den letzten Jahrzehnten noch ausgebaut, weshalb Maristella Svampa (2015: 153) bezüglich Lateinamerika von einer Verstärkung eines »neokolonialen Modells« spricht. Extraktivistische Länder exportieren damit hauptsächlich »billige Natur«, was in der Regel einen großflächigen und intensiven Eingriff in natürliche Kreisläufe bedeutet. Durch die Expansion der kapitalistischen Rohstoffausbeutung werden die Grenzen der Kommodifizierung von Natur durch die kapitalistische Produktionsweise, die Jason Moore (2000; 2015b: 144–149) die »commodity frontiers« nennt, immer weiter ausgedehnt. Die wirtschaftliche Grundausrichtung peripherer-extraktivistischer Gesellschaften führt damit nicht nur zu großer ökonomischer Abhängigkeit von der Dynamik der Weltwirtschaft, sondern auch zu ökologischen Zerstörungen im Inneren der Länder.Footnote 78

Die extraktivistische Grundausrichtung betrifft jedoch nicht nur Lateinamerika. Auch andere Regionen sind seit ihrer Kolonisierung auf Rohstoffausbeutung ausgerichtet und vielfach zuletzt durch Prozesse der Reprimarisierung ihrer Ökonomien gekennzeichnet (Jaitner 2015; Svampa 2015: 155; Das 2020: 202 ff.). Wie das Dependenz- und das Weltsystemdenken betonte, steht der Extraktivismus in den Peripherien dabei in direktem Zusammenhang mit den Wachstumsmodellen der Industrieländer, in die die Rohstoffe exportiert werden. Der Industriekapitalismus stellt seit seiner Entstehung einen Motor der Beschleunigung extraktiver Industrien im In- und Ausland dar (Barca/Bridge 2015: 367, 370). Damit bildet Extraktivismus auch ein global vermitteltes Naturverhältnis der weiterverarbeitenden Industrieländer, die zwar selbst keine oder wenig extraktive Industrien betreiben, allerdings von den Importen von billiger Natur oder Industrieprodukten abhängen. Die industrielle Weiterverarbeitung und Konsumtion auf der einen Seite der Welt setzt die extraktive Wirtschaftsausrichtung auf der anderen Seite voraus, wie schon Stephen Bunker (1984: 1018) in den 1980er Jahren betonte.

In Abgrenzung zur industriekapitalistischen Produktionsweise wurden im Zuge der Erforschung extraktivistischer Ressourcenausbeutung auch neue Konzepte eingeführt. Stephen Bunker (1984: 1020) setzt dem Konzept der »Produktionsweise« dasjenige der »Extraktionsweise« und Eduardo Gudynas (2016: 101) dasjenige der »Aneignungsweise« entgegen. Extraktions- und Aneignungsweisen seien keine Formen der »Produktion« von Natur (ebd.: 100). Im Unterschied zu Produktionsweisen seien extraktive Aneignungsprozesse durch eine geringe Arbeits- und Kapitalintensität sowie im globalen Vergleich durch eine niedrige Wertschöpfung gekennzeichnet. Die Wertschöpfung stehe dabei im direkten Verhältnis zum Umfang der Naturaneignung (Bunker 1984: 1020 f., 1056 f.; Gudynas 2016: 113). Eine Reihe von Autor*innen spricht deshalb bezüglich extraktivistischer Aktivitäten von Enklavenökonomien (Bunker 1984: 1042, 1057; Gudynas 2016: 114; Svampa 2020: 78 f.). Dies sei zunächst dem Faktum geschuldet, dass sich die extraktiven Aktivitäten an den geografischen Orten der Rohstoffvorkommen und nicht an sozialen Kriterien orientierten und zweitens, weil diese durch geringe ökonomische Verflechtungen mit ihrer sozialen Umgebung gekennzeichnet seien, keine lokalen produktiven Netzwerke, sondern nur global integrierte Güterketten und anstelle von breiten Beschäftigungsmöglichkeiten hauptsächlich prekäre Gelegenheitsarbeiten hervorbrachten und zudem häufig vielmehr im Konflikt mit lokalen Produktionsweisen stünden (Gudynas 2016: 114 f.; ebd. 2019: 27 f.; Acosta/Cajas-Guijarra 2020: 10; Svampa 2020: 78 ff.).

Das Dependenz- und Weltsystemdenken legte mit Begriffen der strukturellen Heterogenität, begrenzten Binnenmärkten, Überausbeutung und Semiproletarisierung dar, zu welchen spezifischen inneren Verhältnissen es in abhängigen Ländern kommt. Daran anschließend zeigt die Extraktivismusdebatte, welche Naturverhältnisse ausgehend vom globalen Kapitalismus in extraktivistischen Länder dominant sind. Um diese Kombination aus spezifischen sozialen und ökologischen Verhältnissen in abhängigen Ländern zu bezeichnen, verwende ich in dieser Arbeit den Begriff der extraktivistischen Peripherien.Footnote 79 Die extraktivistischen Naturverhältnisse wurden ökologisch als höchst destruktiv charakterisiert und führen – wie im Folgenden deutlich wird – zu einem großen Konfliktpotenzial.

2.4.3 Sozialökologische Konflikte: Konkurrierende Produktionsweisen und konfligierende Naturverhältnisse in extraktivistischen Peripherien

Der globale Kapitalismus geht, wie wir gesehen haben, mit einem dominanten Naturverhältnis einher, das durch ein westliches Verständnis der Naturbeherrschung, eine instrumentelle Naturaneignung im Rahmen einer akkumulationsgetriebenen Wirtschaft sowie eine Kommodifizierung, Privatisierung und Kodifizierung durch das moderne Recht gekennzeichnet ist. Der Kolonialismus hat dieses Naturverhältnis in nahezu allen Weltregionen durchgesetzt. Extraktivistische Aneignung und industrielle Produktion sind bis heute zwei Seiten ein und derselben globalen Produktions- und Zirkulationsweise. Während es deshalb durchaus nachvollziehbar ist, die extensive Naturaneignung im Extraktivismus von der industriellen Weiterverarbeitung in den Semiperipherien und Zentren zu unterscheiden – wie es die Begriffe der »Extraktionsweise« (Bunker 1984: 1020) oder der »Aneignungsweise« (Gudyans 2016) tun –, wird Extraktivismus in dieser Arbeit dennoch als eine spezifische Ausprägungsform der kapitalistischen Produktionsweise begriffen. Auch Aneignungsweisen implizieren meines Erachtens gebrauchs- und warenwertproduzierende Arbeit in Form von Praktiken der intentionalen Transformation von Naturstoffen.Footnote 80 Sie umfassen beispielsweise im Bergbau große Mengen an Technik, Chemie, Wissen, aber auch bestimmte Arbeits- und Ausbeutungsverhältnisse. Gudynas’ »Aneignungsweisen« und Bunkers »Extraktionsweisen« stehen damit dem Begriff der Produktionsweise nicht entgegen, sondern bilden nur eine besonders naturintensive Form der kapitalistischen Produktionsweise, die vorwiegend in peripheren Weltregionen eine dominante Rolle spielt. Die Verwertung des Kapitals steht hier in direktem Verhältnis zum Volumen der angeeigneten Natur, weshalb der – oben diskutierte – metabolische Bruch in diesem Zusammenhang eine extreme Form annimmt (Machado/Rossi 2017).

Global gesehen untergräbt der metabolische Bruch der kapitalistischen Weltwirtschaft die menschlichen »Existenzbedingungen« im Allgemeinen und damit auch die eigenen kapitalistischen »Produktionsbedingungen«. Dies wirkt sich aber geografisch und klassenspezifisch auf sehr ungleiche Weise aus. In extraktivistischen Ländern führt der »metabolische Bruch« vor allem zur Zerstörung der Produktionsbedingungen aller anderen lokalen Produktions- und Lebensweisen. So werden nicht-kapitalistische gesellschaftliche Natur- und Produktionsverhältnisse unterdrückt, vernichtet und ausgegrenzt (Alimonda 2011: 49 f.; Svampa 2019). Durch diese antagonistischen ökologischen Verhältnisse unterschiedlicher Produktionsweisen und -formen, die mit unterschiedlichen Naturverhältnissen einhergehen, entsteht eine Vielzahl an Konflikten. Dies gilt gerade mit Blick auf extraktivistische Industrien, wie sie in dieser Arbeit untersucht werden. Im Kontext struktureller Heterogenität werden sozialökologische Konflikte einerseits um die Regulation der Naturverhältnisse geführt. Die sozialökologischen Konflikte werden in extraktivistischen Peripherien andererseits auch vielfach lokal und außerhalb der staatlichen Institutionen ausgetragen, dabei gehen sie – wie im Folgenden kurz dargelegt wird – mit bestimmten Austragungsformen und Bearbeitungsweisen durch die verschiedenen Akteure einher.

Nicht nur Staaten, sondern auch extraktivistische Unternehmen selbst sichern ihre kapitalistischen Produktions- und Naturverhältnisse ab. Dafür nutzen sie unterschiedliche, ihnen zur Verfügung stehende Machtressourcen. Im lokalen oder auch regionalen Umfeld extraktivistischer Aktivitäten nehmen die ressourcenausbeutenden Großunternehmen häufig eine quasi-staatliche und quasi-monopolitische Stellung ein (Rajak 2011; Bechtum 2021; Landherr/Graf 2021). Gerade die Kontrolle der extraktivistischen Unternehmen über die lokale Infrastruktur, die ökologischen Kreisläufe und die lokale Bevölkerung spielt dabei eine Schlüsselrolle, welche als »territoriale Macht« bezeichnet wird (Landherr/Graf 2017: 575 ff.; Graf 2019c; Landherr/Graf 2021). Unter »territorialer Macht« verstehe ich dabei die Macht großer Unternehmen in einem bestimmten geografischen Raum über natürliche Ressourcen – wie Land oder Wasser – sowie über soziale Infrastrukturen wie lokale Arbeitsmärkte und Investitionen in öffentliche Güter, das heißt beispielsweise in Schulen, Krankenhäuser oder den Straßenbau (Landherr/Graf 2017: 575 ff.; Bechtum 2021; Landherr/Graf 2021).

Auf der anderen Seite gehen extraktivistische Wirtschaftsaktivitäten jedoch nicht nur mit »grünen Landnahmen« (Backhouse 2015: 65) und territorialer Macht der Unternehmen einher, sondern auch mit kleinbäuerlichen und indigenen Abwehrkämpfen (Alimonda 2011: 39), Landkonflikten (Moyo/Yeros 2005a; ebd.: 2005b; Dietz/Engels 2020), »Klassenkämpfen um Land« (Veltmeyer 2005: 285 f.) und »ökologischen Verteilungskonflikten« (Martínez-Alier/Walter 2016). In diesem Zusammenhang spielt nicht nur die territoriale Macht von oben, sondern auch territoriale Kontrolle von unten eine bedeutende Rolle in der Konfliktaustragung (Moyo/Yeros 2005b: 46 f.; Svampa 2017: 79 ff.; Zibechi 2020: 9 f.). Dem Begriff des »Territoriums« kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Aus der Perspektive der ländlichen Bevölkerung stellt das Territorium zugleich einen geografischen Raum und ein natürliches Ökosystem dar, ist darüber hinaus aber auch mit besonderen kulturellen Praktiken, einer mit ihm verknüpften geteilten Geschichte, Identitäten sowie bestimmten Produktions- und Lebensweisen verbunden (Gudynas 2021: 34).Footnote 81 Territorium und Territorialität sind in den letzten Jahrzehnten auch juristisch klare Bezugsgrößen sozialökologischen Protests geworden und haben neue Diskurse, Strategien und Bündnisse hervorgebracht (Gerber 2011: 171). Eine zentrale Austragungsform von Konflikten um Territorien bilden Blockaden der extraktivistischen Infrastruktur durch die lokale Bevölkerung mittels Formen der »disruptiven Macht« (Piven 2008: 20 ff.). Diese versteht Frances Fox Piven als eine gezielte Unterbrechung sozialer Netzwerke, auf denen eine Gesellschaft beruht (ebd.: 20). In ähnlicher Weise verstehen Edward Webster et al. (2008) »logistische Macht« als eine Form des konfliktiven Handelns, das sich auf die Stilllegung von politischen, militärischen, sozialen oder wirtschaftlichen Infrastrukturen richtet. Insbesondere die Blockade von »Extraktionsnetzwerken« hat sich in extraktivistischen Peripherien zu einer relevanten Machtressource der einfachen Bevölkerung entwickelt (Ramírez 2018). Diese außerinstitutionellen Konfliktformen finden damit an den Grenzen zwischen den verschiedenen Produktionsweisen und -formen innerhalb der strukturellen Heterogenität peripher-extraktivistischer Gesellschaften statt.

In der Forschung werden diesbezüglich vor allem Konflikte um die Verteilung ökologischer Gemeingüter diskutiert (Martínez-Alier 2002: 111 f.; de Angelis 2007; Guha 2010; Bollier 2014; Svampa 2019: 27 f., 31). Aus dem Vorangegangen wird jedoch deutlich, dass es weniger um die juristische Form des Eigentums geht, als um konkrete Zugänge zu, sowie die Kontrolle und Verteilung von Ressourcen und zudem darum, dass die sozialökologischen Konflikte zwischen verschiedenen Produktionsweisen und -formen ausgetragen werden, die verschiedene gesellschaftliche Naturverhältnisse implizieren. Während die kapitalistische Produktionsweise insbesondere in extraktivistischen Regionen durch ein instrumentelles und zerstörerisches Naturverhältnis charakterisiert ist, dominiert bei der lokalen Bevölkerung häufig ein »direktes Naturverhältnis« (Graf 2022a: 258), bei dem die nicht-kapitalistischen ökonomischen Praktiken unmittelbar auf intakte Ökosystem angewiesen sind. Die aus diesen konkurrierenden Produktionsweisen erwachsenden konfligierenden Naturverhältnisse führen zu offenen Auseinandersetzungen zwischen der lokalen Bevölkerung und extraktivistischen Unternehmen, die als »environmentalism of the poor« bezeichnet wurden (Guha/Martínez-Alier 1997). Wie die Politische Ökologie und die Forschungen zur Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse feststellte, finden diese Konflikte allerdings nicht alleine auf der sozioökonomischen und ökologischen Ebene statt, sondern sind in hohem Maße Gegenstand politischer Konfliktbearbeitung und Regulierung. Daher gehe ich im Folgenden auf die spezifischen Regulationsweisen sozialökologischer Konflikte in strukturell heterogenen Gesellschaften ein.

2.5 Die politische Regulierung struktureller Heterogenität

Die verschiedenen bisher dargestellten Diskussionen und Positionen fassten das kapitalistische Innen-Außen-Verhältnis vorwiegend auf der Ebene ökonomischer oder ökologischer Prozesse. Immer wieder wurde dabei auch angedeutet, dass die sich dabei ergebenden Verflechtungsverhältnisse auch politisch bearbeitet werden. Allerdings blieb es den Regulationstheorien vorenthalten, die politische Regulierung struktureller Heterogenität systematisch zu fassen. Im Folgenden stelle ich daher kurz mein Verständnis von politischer Regulation im Anschluss an die französische Regulationsschule dar (2.5.1). Anschließend gehe ich darauf ein, wie Regulation in den Peripherien des kapitalistischen Weltsystems verstanden werden kann, um schließlich den Forschungsstand zu den Spezifika von Politik in den Peripherien herauszuarbeiten (2.5.2). Insgesamt wird dabei mit Blick auf die strukturelle Heterogenität deutlich, dass die politische Ebene ein hochgradig umkämpftes und sehr relevantes Feld darstellt.

2.5.1 Politische Regulierung und die Verdichtung von Kräfteverhältnissen

Die Regulationstheorien

Alain Lipietz (1992: 9) bezeichnete die Regulationstheoretiker*innen – ihn selbst eingeschlossen – einmal als »aufsässige Kinder von Althusser«. Einige dieser »aufsässigen Kinder« entwickelten in den 1970er Jahren ein neues Paradigma, das unter dem Namen der Regulationstheorie bekannt wurde. Die schulbildende Veröffentlichung stellte das 1976 erschienene Buch A Theory of Capitalist Regulation des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Michel Aglietta dar. Die Debatten, die auf dieses Werk folgten, endeten schließlich in den 1980er Jahren in der Herausbildung verschiedener Regulationsschulen, die sich später in sehr unterschiedliche Richtungen verloren (Boyer 1990: 20–24; Eser 2008: 39 ff.; Becker 2009: 89 ff.). Die folgenden Begriffserläuterungen entstammen dem Ansatz der »Pariser Schule«, die im Wesentlichen aus Vertreter*innen wie Benjamin Coriat, Michel Aglietta, Alain Lipietz und Robert Boyer bestand (Sablowski 1998: 19). Die genannten Vertreter*innen der Regulationsschule wandten sich kritisch gegen die starke Betonung der Strukturen gegenüber den Subjekten in Althussers Denken, weil dies dazu führe, dass Übergänge und gesellschaftliche Praxis außerhalb der Reproduktion der Struktur nicht gedacht werden könnten (Lipietz 1992: 28 f.). Widersprüchliche Dynamiken, Brüche und politische Auseinandersetzungen könnten so nicht verstanden werden. Durch ihren Fokus auf die Produktionsverhältnisse übersähen die Althusserianer*innen zudem die besondere Relevanz der Zirkulation in der kapitalistischen Produktionsweise (ebd.: 22). Gerade die Marktverhältnisse seien es aber, die eine besondere Instabilität in die kapitalistische Ökonomie brächten und deren spezifische Regulation nötig machten.Footnote 82

Die zentralen Begriffe der Regulationstheorie lauten »Akkumulationsregime« und »Regulationsweise«. Ersterer verweist auf eine oben angesprochene polit-ökonomische Fragestellung, die Althusser als das Marxsche Problem der Reproduktion der Produktivkräfte beschrieb. So muss es in der kapitalistischen Produktionsweise mittels der Märkte und damit ohne zentrale politische Koordination zu einem Passungsverhältnis der Produktionsvolumen der unterschiedlichen wirtschaftlichen Branchen kommen (Marx 1970: 351 ff.). Der Begriff des Akkumulationsregimes bezeichnet dabei die konkrete Verfasstheit des spezifischen makroökonomischen Passungsverhältnisses, zu dem es in einer bestimmten Phase einer kapitalistischen Gesellschaft gekommen ist. Robert Boyer (1990: 35) bezieht sich auf diese Erkenntnis, wenn er den Begriff des Akkumulationsregimes als »[…] the set of regularities that ensure the general and relatively coherent progress of capital accumulation […]« definiert. Damit können Akkumulationsregime als bestimmte Wachstumsmodi unter der Herrschaft kapitalistischer Produktionsweisen verstanden werden (Jessop 1992: 238), in denen es zu einer relativen Kohärenz von Produktions- und Konsumnormen gekommen ist (Hübner 1989: 23; Lipietz 1992: 50; Aglietta 2015: 154). Für Robert Boyer (1990: 35) sind neben diesem Passungsverhältnis noch weitere Voraussetzungen von Bedeutung, die unter anderem die Umschlagszeiten der Kapitalien, das Verteilungsverhältnis zwischen den verschiedenen Klassen und das Artikulationsverhältnis zwischen den unterschiedlichen, in der Gesellschaft existierenden Produktionsweisen betreffen. Gleichzeitig basieren Akkumulationsregime stets auf einer spezifischen materiell-energetischen Basis und benötigen damit einen gewissen Zugang zu Ressourcen und der Nutzung von Natur. Damit implizieren bestimmte Akkumulationsregime – wie oben dargestellt – auch jeweils spezifische Naturverhältnisse (Raza 2003: 163).

Als paradigmatischer Repräsentant eines Akkumulationsregimes diente der Regulationstheorie der westeuropäische und US-amerikanische »Fordismus«, welcher durch eine zunehmende Durchproletarisierung, steigende Löhne im Rahmen von technischem Fortschritt, allgemeines Wachstum und sozialpartnerschaftlichen Klassenkompromissen, einer Hegemonie amerikanischer Kultur und des männlichen Alleinernährermodells sowie einem tayloristischen Produktionsprozess mit der Dominanz des Industriekapitals gekennzeichnet war (Alnasseri 2004: 129 f.; Hirsch 2005: 115 ff.). Mit der Verdrängung handwerklicher und traditioneller Produktions- und Lebensweisen gingen nicht nur neue Subsumtionen unter das Kapital, sondern auch neue staatliche Sicherungssysteme und dominante Konsumnormen wie der neue Massenkonsum einher (Alnasseri 2004: 130 f.). In Form des Fordismus der Zentrumsländer entstand folglich ein »integraler Kapitalismus« (Meillassoux 1975: 117 f., 121), in dem die Reproduktion der arbeitenden Bevölkerung immer stärker Teil der Kapitalkreisläufe sowie zunehmend staatlich integriert wurde. Nun reproduzierten sich die Lohnabhängigen mittels Waren, die sie käuflich erwarben und nicht mehr selbst herstellten (Aglietta 2015: 156 ff.). Die zentralen Waren, um die herum sowohl die Produktion als auch die Konsumtion organisiert waren, bestanden im Automobil sowie dem standardisierten Einfamilienhaus (ebd.: 159; Brand/Wissen 2017: 86, 88 f.). Zwar spielt weiterhin unbezahlte Reproduktionsarbeit eine Rolle (Brand/Wissen 2017: 88), doch rückt diese – wie es auch die Bielefelder*innen betonten – in die Funktionalität der direkten Reproduktion der Ware Arbeitskraft mittels kapitalistischer Waren. Einerseits werden die Lohnabhängigen dadurch mit Blick auf ihre zahlungskräftigere Nachfrage auf den Binnenmärkten der Zentren wichtig (Aglietta 2015: 151 ff.). Andererseits verliert Reproduktionsarbeit ihre Selbständigkeit. Dies impliziert, dass traditionelles haushälterisches Wissen genauso wie ihre häufig direkten Naturverhältnisse, die im Rahmen der Subsistenzproduktion praktiziert wurden, verloren gehen.

Mit gewisser Vorsicht lässt sich das regulations- und dependenztheoretische Denken mit Blick auf den Akkumulationsbegriff verbinden. So unterscheiden die regulationstheoretischen Arbeiten Akkumulationsregime anhand von ganz unterschiedlichen Indikatoren, die teilweise verschiedenen Positionen im Weltsystem zugeordnet werden können. Zunächst werden beispielsweise »extensive« und »intensive Akkumulation« einander gegenübergestellt (Sablowski 2004: 20; Lipietz 1985: 119 f.; Boyer 1990: 18 f.). Erstere beansprucht eine hohe Zahl an billigen Arbeitskräften und kann als extensiv bezeichnet werden, insofern die erweiterte Reproduktion hier durch quantitative Ausdehnung der Produktion und nicht durch rasche Produktivitätssteigerungen generiert wird. Es geht hier folglich – wie bei Marini – um die Erhöhung des absoluten Mehrwerts (Sablowski 2004: 1319). Dementgegen sei die intensive Akkumulation durch die Entwicklung der Kapitalanlagen, die ständige Umwälzung der Produktions- und Konsumnormen und die Erhöhung des Massenkonsums gekennzeichnet (ebd: 1319 f.). Darüber hinaus lässt sich nach Becker (2009: 96–100) unter anderem noch zwischen »intravertierter« und »extravertierter« Akkumulation unterscheiden. Erstere sind vorwiegend auf den Binnenmarkt und letztere vor allem auf den Außenhandel ausgerichtet. Abhängige Länder, auf die das Dependenzdenken hinwies, werden in diesen Begriffen folglich von einem extravertierten und extensiven Akkumulationsregime dominiert.

Es waren allerdings weniger rein ökonomische Erkenntnisse als vielmehr Agliettas Ausweitung der Fragestellung auf die sozialen Formen, welche die jeweiligen Akkumulationsdynamiken abstützen, die sich als Initialzündung der nachfolgenden regulationstheoretischen Debatten erwies (Eser 2008: 39 f.; Aglietta 2015: 391). Akkumulationsregime seien stets durch Widersprüche, Krisen und Konflikte gekennzeichnet. Diese Widersprüche machen soziale Praktiken und Institutionen notwendig, welche – in einer an Marx (1973: 118) anknüpfenden Wendung – die Widersprüche zwar nicht aufheben, jedoch eine Form darstellen, in der sie sich bewegen können. Die Regulationsweise bildet die Summe dieser Praktiken und Institutionen, durch die diese gesellschaftlichen Widersprüche bearbeitet werden (Hirsch 1994). »Regulationsweise« definiert Alain Lipietz folglich als »[…] die Gesamtheit institutioneller Formen, Netze und expliziter oder impliziter Normen, die die Vereinbarkeit von Verhaltensweisen im Rahmen eines Akkumulationsregimes sichern […]« (Lipietz 1985: 121). Zentrale Bereiche, die von der Regulation bearbeitet werden, sind neben dem Lohnverhältnis und den Unternehmensformen, das internationale Regime sowie die Märkte (Jessop 1992: 238). Polit-ökologisch können wir – wie wir oben gesehen haben – einen weiteren Bereich hinzufügen und zwar denjenigen der Regulation der gesellschaftlichen Naturverhältnisse (Görg 2003). So setzen sich Protagonisten eines bestimmten Akkumulationsregimes auch für die regulative Absicherung eines spezifischen Naturverhältnisses ein (Raza 2003: 163 f.). Ein Feld der Regulation auf das bisher noch nicht eingegangen wurde, bildet die Regulation der Märkte. Da diese für die Frage der ökonomischen Verflechtungen eine besondere Rolle spielt, gehe ich auf die Marktregulierung im Folgenden in besonderem Maße ein.

Marktregulierungen und moralische Ökonomie

Karl Polanyi vertrat die These, dass sich Märkte – entgegen der liberalen Utopie – niemals vollständig selbst regulieren. Auch entstehen Märkte nicht von selbst, sondern werden aktiv durch Staaten geschaffen (Polanyi 1978: 88 ff., 96, 330 f.). Insbesondere die Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Geld seien niemals wirkliche, sondern immer nur aktiv produzierte »fiktive Waren« (ebd.: 102 ff.). Jede »Marktwirtschaft« ist damit notwendigerweise in eine »Marktgesellschaft« eingebettet (ebd.: 65, 106 ff.). Sind die Märkte nicht selbstregulierend, stellt sich allerdings die Frage, wie und durch wen Märkte reguliert werden. Seit Polanyi nahm sozialwissenschaftliches Denken dabei vorwiegend den Staat als Regulationsinstanz und -form in den Blick. Andere Autor*innen wie Max Weber verwiesen jedoch schon früher darauf, dass Märkte auf sehr verschiedene Weise reguliert werden können, die auch andere Regulationsinstanzen einschließen. Weber differenzierte vier Formen der Marktregulierungen: die traditionale, die konventionale, die rechtliche und die voluntaristische Marktregulierung (Weber 1972: 43). Erstere sei durch Gewohnheiten gekennzeichnet, die gewissen Tauschakten Schranken auferlegten und sie an Bedingungen knüpften. Konventionale Regulierung beziehe sich auf „[…] soziale Mißbilligung der Marktgängigkeit bestimmter Nutzleistungen oder des freien Preis- oder Konkurrenzkampfs in bestimmten Tauschobjekten oder für bestimmte Personenkreise“ (ebd.). Drittens fände sich die staatliche und rechtliche Marktregulierung und viertens lasse sich bei formaler Marktfreiheit häufig eine voluntaristische Regulierung von Märkten in Form von Monopolen oder Kartellen durch einzelne Marktteilnehmer*innen ausmachen (ebd.). Innerhalb dieser Regulierung sind kapitalistische Märkte dann durch die Befolgung der »typischen Maßregeln des rationalen Wirtschaftens« sowie die »Geldrechnung« durch die Marktteilnehmer*innen gekennzeichnet (ebd.: 31 f., 35 f., 45 f. – Herv. i.O.).

In seinen Forschungen zu den englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert zeigte E. P. Thompsen ganz im Sinne der Weberschen traditionalen und konventionalen Marktregulierungen, dass Märkte in der Regel als Bestandteil »moralischer Ökonomien« existierten. Dies bedeutet, dass produktive Tätigkeiten sowie Tauschakte entsprechend der in der einfachen Bevölkerung verbreiteten Normen getätigt werden. Dabei zeigte Thompson, dass ein volkstümlicher Konsens darüber bestand, »[…] was auf dem Markt, in der Mühle, in der Backstube usf. legitim und was illegitim sei. Dieser Konsens wiederum beruhte auf einer in sich geschlossenen, traditionsbestimmten Auffassung von sozialen Normen und Verpflichtungen und von den angemessenen wirtschaftlichen Funktionen mehrerer Glieder innerhalb des Gemeinwesens« (Thompson 1980: 69 f.). Fallen Marktakteure hingegen durch Missachtung üblicher Normen bei der Preisgestaltung oder durch »obskure Praktiken« auf, kommt es zu Spannungen, Konflikten oder gar Aufständen (ebd.). Neben der zentralisierten Instanz des modernen Staates lassen sich damit in der gesellschaftlichen Breite auch regulierende Institutionen wie die Werte und Normen von Gemeinschaften ausmachen, die das Handeln von Marktteilnehmer*innen prägen, mit hervorbringen und einschränken.Footnote 83

Dabei kann es auch zu Widersprüchen bezüglich der Regulierungen kommen. Sind beispielsweise konventionale sowie traditionale Marktregulierungen und moralische Ökonomien stark ausgeprägt, können sie kapitalistische Formen von Märkten, die an Konkurrenz, Wachstum und an einer kalkulierenden, rationalen Wirtschaftsgesinnung sowie Rentabilitätserfolgen der Unternehmen ausgerichtet sind, verhindern (Dörre 2014). Gerade in kolonialen und postkolonialen Kontexten müssen kapitalistische Marktregulierung häufig gegen die Moral der einfachen Bevölkerung durchgesetzt werden. So zeigte Pierre Bourdieu (2000: 42–49) in seiner Forschung zu den algerischen Kabylen beispielsweise, dass marktwirtschaftliches Denken, wie das rationale wirtschaftliche Kalkulieren, genauso wie die Zurschaustellung von Reichtum bei den Kabylen verpönt oder gar verboten ist. Das wirtschaftlich kalkulierende Handeln und die Orientierung an Akkumulation und damit Grundvoraussetzungen der kapitalistischen Marktwirtschaft mussten dort erst kolonial erzwungen werden (ebd.: 24 ff., 63 f.). Dazu wurden die Traditionen zerstört, die ein Eindringen der neuen ökonomischen Denk- und Verhaltensweisen verhinderten (ebd: 42 f., 45 ff.). Kapitalistische Märkte setzen folglich auch spezifische moralisch-ideologische, institutionelle sowie psychische und habituelle Bedingungen voraus (ebd.: 26 f., 63 f.). Gleichzeitig wird mit Blick auf die nicht-staatlichen Regulierungsformen bei Weber und Thompson deutlich, dass eine einfache Gegenüberstellung eines staatlich regulierten »formellen Sektors« und eines unregulierten »informellen Sektors«, wie es die Informalitätsforschung teilweise suggerierte, in die Irre läuft. Darüber hinaus lassen sich nicht nur verschiedene Arten von Regulierungen unterscheiden, vielmehr sind diese – wie im Folgenden deutlich wird – auch Gegenstand und Resultate gesellschaftlicher Auseinandersetzungen.

Regulierungen als Verdichtungen von Kräfteverhältnissen

Marktregulierungen stellen aus regulationstheoretischer Perspektive soziale Formen dar, die – aus kapitalistischer Sicht– die kapitalistische Akkumulation absichern und stabilisieren sollen. Gleichzeitig kommt in der Regulationstheorie dem Nationalstaat bei der Regulierung von Märkten die zentrale Rolle zu. Das Feld des Staates sei – so der französische Althusser-Schüler Nicos Poulantzas (2002: 55) – in kapitalistischen Produktionsweisen zwar in der Regel auf die Sphäre der Politik begrenzt, dennoch käme ihm eine spezifische Rolle in der Konstitution der Produktionsverhältnisse zu. Der Staat sei konstitutiv in der Produktionsweise präsent. Das kann auch bedeuten, dass er Märkte zwar garantiert, aber die konkreten ökonomischen Prozesse den privaten Marktakteuren überlässt und deren eigenständiges Handeln fördert (Demirović 2007: 29). Dem Staat wird damit eine von Beginn an elementare Bedeutung zugemessen.

Dennoch begreift Poulantzas den Staat nicht als steuerndes, handelndes Subjekt. Er sei vielmehr ein uneinheitliches, zerstückeltes und in sich konfliktreiches Ensemble (Poulantzas 2002: 163 ff.). Inwieweit er die Regulierung bestimmter Bereiche übernimmt oder sie anderen Akteuren überlässt, hängt wesentlich von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen ab. Er betont, dass der kapitalistische Staat »[…] nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden darf, sondern, […] als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses […]« (ebd.: 159). Die jeweilige Politik der unterschiedlichen Staatsapparate ist damit stets ein kontingentes Ergebnis der Widersprüche innerhalb eines heterogenen Staates und darüber hinaus der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Zwar finden die wesentlichen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen nicht nur und auch nicht vorwiegend innerhalb des Staates, sondern ganz wesentlich auch außerhalb statt, gleichzeitig spielen sich alle relevanten Konflikte auch innerhalb des Staates ab (ebd.: 163 f., 182 f.). Mit »Verdichtung von Kräfteverhältnissen« wird dabei gleichzeitig auf eine Institutionalisierung und Dauerhaftigkeit der Formen und Ergebnisse von Konflikten verwiesen: »Der Staat hat eine eigene Dichte und Widerstandskraft und reduziert sich nicht auf ein Kräfteverhältnis« (ebd.: 162). Damit übersetzen sich Veränderungen in den Kräfteverhältnissen auch nicht direkt in eine Veränderung der Politik. Den staatlichen Apparaten im weiteren Sinne kommt dabei gegenüber den anderen gesellschaftlichen Bereichen vielmehr eine »relative Autonomie« zu (ebd.: 158, 167).

Auf der anderen Seite ist der moderne Staat für Poulantzas (2002: 187) aber auch kein neutrales Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Der Staat als regulierendes Ensemble innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise bleibt stets »[…] bürgerlicher Staat, der die Bourgeoisie als herrschende Klasse konstituiert« (Poulantzas 2002: 150, 157 f.). Die beherrschten Klassen werden in diesem Kontext desorganisiert und gespalten (ebd.: 171). Ihre Kämpfe können sich nicht in gleichem Maße in den Staatsapparaten materialisieren (ebd.: 174). All dies hat für Poulantzas mit einer spezifischen Arbeitsteilung innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft (ebd.: 83), mit den besonderen Hintergründen des Staatspersonals (ebd.: 185 f.) und ökonomischen Zwängen zu tun (ebd.: 198). Dass das Ensemble der staatlichen Apparate kein neutrales Feld darstellt, liegt dem deutschen Soziologen Claus Offe (1972: 73 ff.) zufolge an »strukturellen Selektivitäten« politischer Systeme. Damit verweist er auf Prozesse, die ökonomisch herrschenden Kapitalfraktionen und bestimmten bürgerlich-zivilgesellschaftlichen Institutionen einen privilegierten Zugang zu politischer Macht ermöglichen. Dies kann unter anderem zu einem Zustand führen, in dem grundlegende politische Entscheidungen auf eine Art und Weise getroffen werden, die Pepper D. Culpepper (2011: xvi, 4) »quiet politics« nennt: Unternehmerklassen gelingt es über Netzwerke mit politischen Kreisen, Lobbying und personale Überschneidungen entscheidend die politische Regulierung hinter den Kulissen zu prägen (ebd.). Oppositionelle Gruppen und soziale Bewegungen haben im Gegensatz dazu eher dann Einfluss auf die Politik, wenn es zu skandalisierbaren Vorfällen im sozialen oder ökologischen Bereich kommt (ebd.). Damit greifen die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen auf sehr unterschiedliche Machtressourcen, politische Kanäle und Zugänge sowie Politikformen zurück (Demirović 2007: 38 ff.). Insofern hat der italienisch stämmige Linke Johannes Agnoli (1995) den modernen Staat auch als »Staat des Kapitals« bezeichnet. Für Poulantzas (2002: 166 ff.) ist eine derartige Formulierung allerdings zu einseitig. Vielmehr ist die umkämpfte Vereinheitlichung gesellschaftlicher Widersprüche und Konflikte, deren Kodifizierung, Zentralisierung und Durchsetzung die Aufgabe des Staates innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsformation.

Im Anschluss an das bisher Gesagte lässt sich feststellen, dass jede Regulierung als eine Verdichtung von Kräfteverhältnissen zwischen Akteuren mit unterschiedlichen Interessen verstanden werden muss. Dieses Verständnis von Regulierung als Ergebnis und Gegenstand von Konflikten gilt insbesondere dann, wenn wir uns vor Augen halten, dass darüber hinaus sehr unterschiedliche Regulierungsformen miteinander um gesellschaftliche Dominanz konkurrieren. Dies wurde oben mit Blick auf verschiedene Marktregulierungen erörtert. In der Folge sind Regulationsweisen nie homogen, es treten – insbesondere vor dem Hintergrund struktureller Heterogenitäten – verschiedene konkurrierende »Regulierungsdispositive« gleichzeitig auf (Brand/Görg 2003: 22), die im Konflikt miteinander stehen können. Die Ansätze der Regulationstheorie haben es sich in der Folge in unterschiedlichem Maße zur Aufgabe gesetzt, das Verhältnis der herrschenden kapitalistischen Produktionsweise zu den sie umgebenden und mit ihr verknüpften nicht-kapitalistischen Produktionsweisen auch als ein Verhältnis der Regulation zu untersuchen. Dabei stellt für die Erforschung peripherer-kapitalistischer Gesellschaften allerdings der stark nationalstaatliche, volkswirtschaftliche Zuschnitt der Regulationstheorie ein Problem dar. Nicht nur Akkumulationsregime, sondern auch Regulationsweisen und damit die Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse werden vorwiegend im (westlichen) nationalstaatlichen Rahmen gedacht (Becker 2009: 101; Alnasseri 2003: 137, 141). In der Folge kann ein derartiger Zuschnitt extraktivistische Güterketten, Exportenklaven und transnationale Produktionsnetzwerke, die viele nationalen Volkswirtschaften durchschneiden, nicht fassen. Durch ihren Fokus auf fordistische Zentrumsländer war zudem die spezifische Regulation strukturell heterogener Gesellschaften kaum Thema. Eine Ausnahme bilden die Forschungen von Sabah Alnasseri (2003; 2004), auf den ich im Folgenden gesondert eingehe.

2.5.2 Das Politische in den Peripherien

Mit Blick auf strukturell heterogene Ökonomien stellt sich die Frage, inwiefern die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Produktionsweisen und -formen mit spezifischen Regulierungen einhergeht. Sabah Alnasseri (2003: 149), der sich innerhalb der Regulationstheorie verortet, schlägt vor, die Regulation der strukturellen Heterogenität mit dem Konzept der »Artikulation von Produktionsweisen« zu denken. Dies ermögliche, dass »[…] die kolonialistischen und imperialistischen Verhältnisse […] in die Analyse peripherer Gesellschaftsformationen einbezogen werden« (ebd.). Es sei dafür allerdings nötig, die eingeführten regulationstheoretischen Begrifflichkeiten zu erweitern, um zu einem Verständnis dessen zu kommen, was Alnasseri (2004) die »periphere Regulation« nennt. Laut Alnasseri dürfe die Artikulation von Produktionsweisen nicht als funktionalistisch, sondern als konfliktiv und auf verschiedene Weise institutionalisiert und reguliert begriffen werden (Alnasseri 2003: 146 f.). Es gibt für ihn keine »vor-« oder »außerkapitalistischen« Produktionsweisen mehr, sondern nur »nicht-kapitalistische« (ebd.: 145, 147). Die hierarchische Beziehung der kapitalistischen Produktionsweise zu den übrigen Produktionsweisen kann sehr unterschiedlich gestaltet sein. Sie kann vorwiegend mittels der Integration durch Lohnarbeit oder über Verlagssysteme und Märkte oder aber über Raub und Vertreibung und Unterdrückung verlaufen (ebd.: 148, 150). Es gibt daran anschließend verschiedene Formen der Dominanz der kapitalistischen über die nicht-kapitalistischen Produktionsweisen (ebd.: 148). Regulationstheoretisch sei nun danach zu fragen, wie diese Dominanzverhältnisse jeweils durch strukturelle oder institutionelle Formen vermittelt, reguliert, reproduziert, aber auch neu geschaffen werden (ebd.: 143 f., 146).

Die Artikulation von Produktionsweisen in Form von Dominanzverhältnissen ist für Alnasseri kein statischer, sondern ein dynamischer Prozess, der Konflikte impliziert (Alnasseri 2003: 147 f.). Allerdings wird bei Alnasseri nicht deutlich, auf welcher Ebene der Artikulationsbegriff verortet ist. Mal scheint dieser ökonomische Verflechtungen und ein andermal das politische Dominanzverhältnis zu bezeichnen. Für die weitere begriffliche Genauigkeit liegt es daher nahe, im Folgenden politisch-institutionelle Artikulationsverhältnisse von ökonomischen und ökologischen Verflechtungen zu unterscheiden. Der Begriff der Artikulation weist dann auf die Frage hin, wie die Verflechtungen, Widersprüche und Konflikte auf der sozioökonomischen und ökologischen Ebene politisch reguliert werden. Da es sich – wie ich oben darlegte – bei der politischen Regulierung nicht um ein neutrales Feld der Auseinandersetzungen handelt, stellt sich zudem die Frage, wie auf der Ebene der Regulation die Vorherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise hergestellt wird. Dafür verwende ich anschließend an die Althusserianer*innen und Alnasseri den Begriff des Dominanzverhältnisses, mit dem auf ein »asymmetrisches Artikulationsverhältnis« verwiesen wird (Alnasseri 2003: 131, 145 f.). Dieses schließt – wie oben gezeigt – beispielsweise ein, dass die kapitalistischen Naturverhältnisse im Rahmen des Kolonialismus als die dominanten Naturverhältnisse durchgesetzt werden. Dominanzformen, so wurde im Anschluss an Poulantzas deutlich, stellen dabei materielle Verdichtungen von Kräfteverhältnissen dar, die in sozialökologischen Konflikten einander gegenüberstehen. Gleichzeitig geht die strukturelle Heterogenität nicht nur mit einem politischen Artikulations- und Dominanzverhältnis einher, sondern – wie im Folgenden deutlich wird – auch mit einer Heterogenität im Bereich des Politischen.

Bisher wurden unter dem Begriff der »strukturellen Heterogenität«, relevante Unterschiede in der Organisation der Produktion, der angewendeten Technik, den Produktionsverhältnissen und -weisen sowie Märkten und deren Regulation innerhalb der Ökonomie bezeichnet. Darüber hinaus lassen sich strukturelle Heterogenitäten auch in anderen Bereichen feststellen. Dies hat damit zu tun, dass sich in peripheren Ländern im Unterschied zu den Gesellschaften der Zentren keine relativ einheitliche Lebensweise herausbildet (Brand/Wissen 2017: 106 ff.; Landherr/Graf 2019). Auch impliziert die strukturelle Heterogenität – wie wir in Abschnitt 2.4 gesehen haben – unterschiedliche Naturverhältnisse. All dies geht mit einer widersprüchlichen Heterogenität auf der kulturellen und der politischen Ebene einher. Dabei wird deutlich, dass die Verflechtung von Produktionsweisen und -formen neben konfligierenden Naturverhältnissen auch konfligierende kulturelle Orientierungen und Formen des Politischen einschließt. Dies ist von Bedeutung, um ein reduktionistisches Verhältnis zu vermeiden, dass die Konflikte im Rahmen der Grenzen entlang der strukturellen Heterogenität aus den Widersprüchen auf der ökonomischen Ebene ableitet. Die Heterogenität des Politischen hat in Ländern des globalen Südens meist mit der spezifischen Geschichte des Kolonialismus zu tun und somit eine lange Geschichte. Staatliche Politik gegenüber subalternen Formen des Politischen wie beispielsweise indigenen Organisationen wird deshalb auch nicht zuletzt als »Neokolonialismus« (Machado 2013), »Kolonialität der Macht« (Quijano 2016) oder als »interner Kolonialismus« (González 2006) bezeichnet. Lateinamerikanische Autor*innen verwiesen schon früh auf die Bedeutung der rassistischen Unterdrückung indigener und bäuerlicher Bevölkerungsteile durch eine »weiße« herrschende Klasse (Mariátegui 2008: 60 f.). Rassifizierte Klassifizierungen wirkten im postkolonialen Kontext bis heute fort (Moro/Yeros 2005: 33; Quijano 2016). Damit geraten Spezifika der »Politik in den Peripherien« (Graf 2021b) in den Blick, die im Folgenden im Anschluss an die indische Subaltern Studies Group kurz ausgeführt werden.

Das Subaltern Studies Projekt und die strukturelle Heterogenität in Politik und Kultur

In den 1980ern entstand die indische Subaltern Studies Group, deren Ausläufer in der akademischen Landschaft westlicher Universitäten einige Jahre später nicht zuletzt durch Gayatri Spivaks Aufsatz Can the subaltern speak? bekannt wurden. Die lose Gruppe von Autor*innen konstituierte sich durch die ab 1982 von Ranajit Guha jährlich unter dem Titel »Subaltern Studies« herausgegebenen Sammelbände. Die mehrheitlich der Disziplin der Geschichtswissenschaft entstammenden Beiträge verband – laut Spivak – das Projekt, »[…] die indische Kolonialgeschichtsschreibung aus der Perspektive der diskontinuierlichen Kette von Bauernaufständen zu überdenken […]« (Spivak 2008: 48). Im Anschluss an das Denken Antonio Gramscis und den historiografischen Ansatz einer »Geschichte von unten«, ging es ihr darum, die Geschichte derer zu schreiben, deren Erfahrungen und Stimmen in der Regel nicht gehört würden, das heißt, eine »Geschichte der Subalterne« (Guha 1982: 1; Chibber 2013: 6 f.).Footnote 84 Im Unterschied zum traditionellen marxistischen Denken wurde soziale Herrschaft von der Subaltern Studies Group nicht nur als Klassenherrschaft gedacht. Die Subalterne verbinden vielmehr verschiedene mögliche Unterdrückungsverhältnisse, die neben den Klassenverhältnissen durch Kasten, Indigenität, das Alter, das Geschlecht, den Beruf und vieles mehr begründet werden können (Guha 1982: vii; Chaturvedi 2010: 86).Footnote 85 Die verschiedenen beherrschten Gruppen seien von der üblichen Geschichtsschreibung nicht einfach nur übersehen worden, vielmehr hätte die dominante Historik die politische Mobilisierung der Subalterne mit ihren besonderen Eigenheiten gar nicht als Teil der politischen Landschaft fassen können. Deshalb sei es nötig, nach den Spezifika der subalternen Politik zu fragen.

Aus Sicht von Ranajit Guha (1982: 3 f.) müssten die »politics of the people« als eine autonome Sphäre mit eigenen politischen Formen und Praktiken betrachtet werden. Die subalterne Politik wurzele zwar in vorkolonialen Traditionen, sie sei deshalb aber keinesfalls »archaisch«, sondern passte sich an die neuen Bedingungen an und nehme immer wieder neue Formen an. Der autonome Bereich subalterner Politik sei durch Horizontalität, traditionelle Organisationsweisen, Verwandtschaftsbeziehungen und territoriale Bindungen gekennzeichnet.Footnote 86 Gleichzeitig käme es zu Formen der Macht von unten, die als »communal mode of power« bezeichnet wurden (Chatterjee 1982/1983: 7, 38). Während die Politik der Eliten eng mit den kolonialen Machthabern verbunden und – zumindest offiziell – am legalen Rahmen orientiert war, sei die Politik der Subalternen gewalttätig und spontaneistisch (Guha 1982: 4 f.). Damit spiegelt sie einen Modus der Politik, der von Beginn an Kennzeichen kolonialer Staatlichkeit war: Herrschaft funktioniere in kolonialer Kontinuität mittels Zwang, Gewalt und dem Krieg gegen die potenziell rebellierende Bevölkerung (Guha 1997: 24 ff.; Gerstenberger 2017: 315 f., 325). In ähnlicher Weise hatte auch schon Frantz Fanons Analyse kolonialer und antikolonialer Politik den spezifischen Charakter der Politik und der Gewalt in den (Post)Kolonien betont (Fanon 2018: 60 f.).Footnote 87 Er verwies bezüglich des afrikanischen Kontinents darauf, dass die Herrschaft der Kolonialherren weniger durch das Streben nach Hegemonie und Legitimität als vielmehr mit den Mitteln der Repression und Gewalt aufrecht erhalten werde und eine gemeinsame politische Sprache zwischen den Kolonisierten und den Kolonialherren fehle (ebd.: 32, 34, 59 f.). Die revoltierenden bäuerlichen Massen seien durch »traditionelle Autoritäten« vereint, die zwischen Komplizenschaft mit den Kolonialherren und plötzlichen Aufständen schwankten (ebd.: 94 f., 98 f.). In dieser politischen Landschaft umfasst die Politik der Subalternen und ihre Aufstände allerdings nicht nur Kleinbäuer*innen, sondern auch andere soziale Gruppen der arbeitenden Bevölkerung, welche eine gemeinsame Erfahrung von Ausbeutung und Unterdrückung teilten (Guha 1982: 5). Die Subalterne bestehe daher aus verschiedenen sozialen Klassen und sei äußerst heterogen. Sie werde im Wesentlichen durch die gemeinsame Erfahrung des Beherrschtwerdens vereint.Footnote 88

Aus der Gleichzeitigkeit zwischen herrschender staatlicher und subalterner Politik folgt eine »strukturelle Teilung« der politischen Sphäre. Dies sei – laut Guha (1997) – ein Symptom davon, dass es der bürgerlichen herrschenden Klasse (post)kolonialer Länder nicht gelinge, »für die Nation als Ganze zu sprechen«. Die ausbleibende Hegemonie der herrschenden Klasse im postkolonialen Kontext führe laut Guha in der politischen und kulturellen Sphäre zu einer Spaltung der Gesellschaft und folglich zu einer politisch-kulturellen Landschaft ohne allseits geteilte Sprache.Footnote 89 Große Teile des Lebens und des Bewusstseins der Bevölkerung seien niemals in die bürgerliche Hegemonie integriert worden (Guha 1997: xii). Weil die subalterne und staatliche Politik damit keine geteilte Sprache im engeren Sinne sprächen, stellte Gayatri Spivak (2008: 38 ff.) fest, dass die Subalterne nicht selbst spreche, sondern immer durch Andere repräsentiert würde. Darüber hinaus verweist Spivak (2008: 46 f.) auf die »epistemische Gewalt«, die die Subalterne im Bereich der bürgerlichen Politik zum Schweigen bringe. Dies verdeutlicht, dass es auch zu einer Teilung der Öffentlichkeiten kommt. Die bürgerliche Öffentlichkeit ist von der subalternen Politik getrennt und den »subalternen Öffentlichkeiten« (Graf 2021b). Mit Blick auf die Spaltung des Politischen spricht Guha (1982: 5 f.) deshalb von einer »strukturellen Dichotomie« in der Politik, die der kolonialen Zeit entspringe.

Wichtig für die vorliegende Arbeit ist, dass die strukturelle Heterogenität auch den Bereich des Politischen betrifft. Anschließend an Guha lässt sich mit dem Begriff der »strukturellen Dichotomie« die staatliche und herrschende Politik der subalternen Politik gegenüberstellen. Aktuellere Forschungen zu ländlichen Bewegungen und peripherer Staatlichkeit bestätigen, dass die in der Subaltern Studies Group diskutierten Formen subalterner Politik nach wie vor relevant sind. Dies betrifft die Bedeutung der Spontanität, der direkten Aktion und des Kulturellen genauso wie diejenige der »anti-politischen« Strategie und des »Territoriums« (Moyo/Yeros 2005b: 44–52; Becker 2008; Composto/Navarro 2014: 66; Zibechi 2020; Graf 2021b).Footnote 90 Sie bestätigen aber auch die Fortdauer der Rolle der Gewalt als Teil peripherer Herrschaftsverhältnisse (Acosta/Cajas-Guijarro 2020; Dorsch 2022). Die jüngere Diskussion zu Achille Mbembes (2020: 65–79) Begriff der Nekropolitik – der Regulierung der Bevölkerung mittels Krieg – zeugt von der Aktualität gewaltvoller Repression in postkolonialer Kontexten.

Insgesamt erweist sich die Forschung der Subaltern Studies als äußerst produktiv für das hier zentrale Thema der strukturellen Heterogenität der gesellschaftlichen Verhältnisse im globalen Süden und daraus erwachsende Konfliktdynamiken. Sie legt nahe, dass die strukturelle Heterogenität auf der sozioökonomischen Ebene mit einem konfliktiven Aufeinanderprallen der verschiedenen Sphären des Politischen konvergiert (Chatterjee 1982/1983: 36 f.). Diese »Dichotomie« auf der Ebene des Politischen und Kulturellen, die die Subaltern Studies Group betonte, legt allerdings nahe, dass es keine Artikulationen oder übergreifende regulierende Instanzen auf der Ebene des Politischen gäbe. Deshalb bevorzugt Kalyan Sanyal gegenüber dem Begriff der »strukturellen Dichotomie« denjenigen der »komplexen Hegemonie« (Sanyal 2007: 30). Diese gelte in postkolonialen Gesellschaften wie der indischen, weil die herrschenden Klassen dort zwar keine umfassende Integration aller sozialen Gruppen in eine gemeinsame politische Agenda erlangen könnten, gleichzeitig aber auch das Nicht-Kapitalistische politisch durchdringen. Zwar beruht der Begriff der »komplexen Hegemonien« damit auf der Spaltung der politischen Sphäre, gleichzeitig integriert er aber die gramscianische und poulantzianische Perspektive, dass zwischen den verschiedenen ökonomischen, kulturellen und politischen Räumen auch Kompromisse und politische Projekte ausgehandelt würden (ebd.: 33 f., 95). Es fände damit also in gewisser Weise sehr wohl eine staatliche Politik bezogen auf die Subalterne statt, die mehr sei als Exklusion und Gewalt. Dieses Gemeinsame innerhalb der »strukturellen Dichotomie« des Politischen in (post)kolonialen Ländern werde ich im Folgenden als ein Dominanzverhältnis verstehen, wie es im Rahmen der Theorie der »peripheren Regulation« konzipiert wurde. Damit findet eine Gleichzeitigkeit aus einer strukturellen Dichotomie des Politischen und einer asymmetrischen Artikulation zwischen den verschiedenen Bereichen der strukturellen Heterogenität statt. Diese Zusammenhänge zwischen sozioökonomischer und kulturell-politischer Heterogenität werde ich im Folgenden im Rahmen einer eigenen Heuristik systematisieren, die es uns im Anschluss ermöglicht, sozialökologische Konflikte entlang des Innen-Außen-Verhältnisses in Chile zu untersuchen.

2.6 Forschungsheuristik zur Untersuchung struktureller Heterogenität in extraktivistischen Peripherien

Die dargestellten Debatten haben gezeigt, dass das Thema des Verhältnisses zwischen dem expansiven kapitalistischen Sektor und nicht-kapitalistischen Bereichen theoretisch auf sehr unterschiedliche Weise konzipiert wurde. Zwar stellen nahezu alle Ansätze eine Tendenz zur Kommodifizierung, passiven Proletarisierung sowie zur Expansion kapitalistischer Verhältnisse fest, allerdings wurde auch deutlich, dass nur eine Minderheit der Theorien von einer linearen Durchkapitalisierung der Welt ausgeht, an dessen Ende eine weltweite und allumfassende Angleichung aller sozioökonomischer Verhältnisse stünde. Stattdessen lassen die dargestellten Debatten den Schluss zu, dass es sich um eine Art polanyisches Pendel der Verschiebung der Grenze zwischen dem kapitalistischen und dem nicht-kapitalistischen Sektor handelt. Die Ausschläge des Pendels und die damit einhergehenden Grenzverschiebungen zwischen den Bereichen sind – wie die dargestellten Theorien zeigten – nicht nur eine Frage ökonomischer Verhältnisse, sondern auch ökologischer und kultureller Prozesse und politischer Regulierungen. In der vorliegenden Arbeit gehe ich der These nach, dass es an diesen Innen-Außen-Verhältnissen zu breiten gesellschaftlichen Grenzkämpfen kommt. Um diese Forschungsthese zu untersuchen, ist eine eigene Heuristik mit hierfür entwickelten Kategorien nötig, die ich im Folgenden ausarbeite. Dafür bestimme ich zunächst den Forschungskontext als extraktivistische Peripherien und anschließend den Forschungsgegenstand mittels der in dieser Arbeit zentralen Begriffe des bedarfsökonomischen Sektors sowie der ökonomischen und ökologischen Verflechtungen neu. Diese Begriffe ermöglichen es schließlich, die Konflikte zwischen Forstindustrie und Mapuche im zentralen Süden als Grenzkämpfe zu untersuchen.

2.6.1 Exklusives Wachstum und »Überbevölkerung« in extraktivistischen Peripherien

Bevor ich im Folgenden den bedarfsökonomischen Sektor näher bestimme, lege ich an dieser Stelle kurz dar, warum strukturelle Heterogenität und »Überbevölkerung« als notwendige Elemente kapitalistischer Bewegungsgesetze verstanden werden müssen. Dafür werfe ich einen kurzen Blick auf die wichtigsten Akteure und Dynamiken im kapitalistischen Sektor und gehe gesondert auf die Peripherien des Weltsystems ein.

Den zentralen Akteur innerhalb des kapitalistischen Sektors bilden die kapitalistischen Unternehmen. Diese Unternehmen zeichnen sich dadurch aus, dass sich ihre ökonomische Rationalität auf Akkumulation, das heißt Steigerung des wertmäßigen Umfangs der ökonomischen Tätigkeit richtet, was Marx (1973: 605 ff.) »erweiterte Reproduktion« nennt. Dem einzelnen Unternehmen geht es dabei nicht um den Gebrauchswert der Endprodukte oder um die Befriedigung bestimmter Mengen an gesellschaftlichen Bedarfen, sondern um Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum, Gewinnmaximierung und Effizienz. Die betriebliche Rationalität der Kostenreduktion, der Gewinnsteigerung sowie der renditeorientierten (Re)Investition steht folglich im Mittelpunkt. All dies führt zu einer »maßlosen, endlosen Bewegung« der Expansion, die allerdings nicht einfach das Resultat eines individuellen Unternehmergeistes ist, sondern in entscheidendem Maße auch den »äußeren Zwangsgesetzen« der Konkurrenz geschuldet ist (ebd.: 166 f., 286). Aus Marx Sicht sind es die »immanenten Bewegungsgesetze« der kapitalistischen Produktionsweise, die das einzelne Unternehmen vermittelt über den Konkurrenzdruck dazu zwingen, möglichst profitabel, kostensparend und effektiv zu produzieren, expandieren und reinvestieren (ebd.: 335 ff., 618).

Aus Sicht von Modernisierungstheoretiker*innen wie John Lewis (1954: 161 f., 171 f.) führt diese Akkumulationsdynamik nicht nur zu makroökonomischem Wachstum, sondern auch zu stetig zunehmender Beschäftigung im kapitalistischen Sektor. Kritiker*innen wie Marx zeigten allerdings, dass die erweiterte Reproduktion keineswegs zu einem sukzessiven Anstieg an Beschäftigung im kapitalistischen Sektor führen muss. Vielmehr verläuft kapitalistisches Wachstum in Zyklen und Konjunkturen und führt zu wiederkehrenden Krisen, die neben Beschäftigungseffekten auch Phasen der Massenarbeitslosigkeit generieren. Zusätzlich führen selbst in Wachstumsphasen Innovationen und der Einsatz von Maschinen potenziell zu Arbeitsplatzverlusten (Marx 1973: 464–466, 674–675). Folglich ist kapitalistische Akkumulation zwar mit einem generellen Wachstum der Einzelkapitale verbunden, allerdings führt dies keineswegs notwendigerweise zu steigenden Beschäftigungsmöglichkeiten im kapitalistischen Sektor. Damit ist auch eine erste Ursache für das Fortbestehen struktureller Heterogenität benannt. Sie liegt in der Erzeugung einer »relativen Übervölkerung« durch die Grunddynamiken der kapitalistischen Akkumulation selbst (ebd.: 657 ff.).Menschen werden durch die wirtschaftlichen Konjunkturen des kapitalistischen Sektors periodisch in die Arbeitslosigkeit geworfen und sind in dieser Zeit auf alternative Einkommensquellen angewiesen. Diese Prozesse können im Sinne des »Reservearmeemechanismus« (Dörre 2010: 210 f.) für die kapitalistische Produktionsweise durchaus funktional sein.

Ein erster Ursachenkomplex für die strukturelle Heterogenität in kapitalistischen Gesellschaften liegt damit in den Charakteristika des kapitalistischen Sektors selbst. Dies gilt insbesondere für Länder und Regionen, die als Peripherien der Weltwirtschaft zusammengefasst wurden. Dabei muss zwischen unterschiedlichen Peripherien der Weltwirtschaft unterschieden werden. Arbeitsintensive industrielle Fertigungsperipherien sind beispielsweise durch Verhältnisse geprägt, in denen die niedrigen Löhne in den Sweatshops mit einer äußerst billigen Reproduktion der Arbeitskräfte außerhalb des kapitalistischen Sektors kombiniert werden (Meillassoux 1975; Fröbel/Heinrichs/Kreye 1977: 537 f.; Arrighi/Aschoff/Scully 2010). Hier erweist sich die strukturelle Heterogenität damit als funktional. Während industrielle Fertigungsperipherien auf niedrige Löhne als Standortvorteil setzen, basieren extraktivistisch dominierte Peripherien vor allem auf dem Export »billiger Natur« (Bunker 2005: 40; Gudynas 2016; Patel/Moore 2017).Footnote 91 Dabei entstehen jedoch in der Regel kaum Arbeitsplätze (Gudynas 2019: 27 f.; Acosta/Cajas-Guijarra 2020: 10). Folglich finden Arbeitskräfte in extraktivistischen Peripherien in geringerem Maße Beschäftigung im kapitalistischen Sektor und sind aus dessen Sicht tendenziell »überflüssig«. Ein zentraler Treiber der strukturellen Heterogenität ist folglich das »exklusive Wachstum«, das im Sinne des »jobless growth« hohe Wachstumsraten mit niedrigen Beschäftigungseffekten kombiniert und viele Länder des globalen Südens kennzeichnet (Sanyal 2007: 245 ff.; Suryanarayana 2008; Bhaduri 2018). Davon zeugt auch die Rede von einem »marginalen Pol« (Quijano 1974: 313 f., 331) oder einem »Planet der Slums« (Davis 2006) sowie zuletzt die wieder aufkommende Debatte über die »Überflüssigen« und die »überzähligen Arbeitskräfte« (Bhattacharyya 2018: 177; Scherrer 2018; Clover 2021: 52; Bhattacharya et al. 2022). In Anlehnung an Marx können wir von einer strukturellen Überbevölkerung sprechen, wenn der kapitalistische Sektor auch in konjunkturellen Boom-Phasen einen bedeutenden Teil der Erwerbsbevölkerung nicht in den kapitalistischen Sektor integrieren kann.

Die Exklusion und Integration in den kapitalistischen Sektor mittels Lohnarbeit schafft allerdings keine absolut getrennten Welten. Insbesondere mit Blick auf die Einkommensbündelung in Haushalten handelt es sich eher um unterschiedliche »Zonen« oder Grade der gesellschaftlichen Integration und Desintegration durch Lohnarbeit (Castel 2000: 360 f.). Diese Zwischenpositionen führen insbesondere bei (semi)proletarischen Haushalten im globalen Süden zu einer durch die Unsicherheit der Lohnarbeitsverhältnisse verursachten allgemeinen Prekarität. Diese Unsicherheit der (Re)Produktionsbedingungen von Privathaushalten wird in extraktivistischen Peripherien noch dadurch erhöht, dass das dort dominante naturintensive Akkumulationsmodell ein hohes Maß an ökologischer Zerstörung und damit einhergehend der Untergrabung der Lebens- und Produktionsgrundlagen der ländlichen Bevölkerung impliziert. Schließlich lässt sich das kapitalistische Wachstum in extraktivistischen Peripherien – wie ich am chilenischen Fall zeigen werde – als ökologisch destruktiv und sozial exklusiv bezeichnen. Insgesamt kann festgehalten werden, dass es systemisch-strukturelle Gründe dafür gibt, warum der kapitalistische Sektor dazu beiträgt, strukturelle Heterogenität zu reproduzieren. Gleichzeitig sind Unterbeschäftigung und Prekarität der Lohneinkommen längst nicht die einzigen Gründe für das Fortbestehen des bedarfsökonomischen Sektors. Um die weiteren Ursachen zu verstehen, ist ein eingehendes Verständnis der Spezifika des Nicht-Kapitalistischen nötig.

2.6.2 Von der politischen Ökonomie der »Überflüssigen« zum bedarfsökonomischen Sektor

Die bisherige Darstellung des Forschungsstandes hat gezeigt, dass eine Reihe verschiedener Theorieströmungen das Nicht-Kapitalistische sowie die Verflechtungen zwischen diesem und dem Kapitalistischen sehr unterschiedlich bewerten und konzipieren. Dies gilt insbesondere für die sozioökonomische Ebene. Die Tabelle 2.1 gibt einen Überblick über diese verschiedenen Verständnisse des Nicht-Kapitalistischen sowie der Innen-Außen-Verhältnisse.

Tabelle 2.1 Überblick der Theorien des Nicht-Kapitalistischen. (Eigene Darstellung)

Die in Tabelle 2.1 dargelegten, unterschiedlichen Theorierichtungen und Konzeptionen tragen im Folgenden in unterschiedlichem Maße zu einer Heuristik bei, mit der sozialökologische Konflikte in extraktivistischen Peripherien untersucht werden können. Die in Abschnitt 2.2 dargelegten Modernisierungs- und Informalitätstheorien gehen beispielsweise von einem sektoralen Verständnis des kapitalistischen Innen-Außen-Verhältnisses aus. Diese sektorale Differenzierung auf makroökonomischer Ebene halte ich für überzeugend. Andererseits dienen sie in gewisser Weise auch als Abgrenzungsfolie, um in Abschnitt 2.3 kritische Verständnisse ökonomischer Verflechtung aufzuarbeiten. Mit der Verwendung des Begriffs der »extraktivistischen Peripherien« wird schon deutlich, dass dem Dependenz- und Weltsystemdenken dafür eine große Bedeutung beigemessen wird. Dies gilt auch für den Begriff der semiproletarischen Haushalte sowie insbesondere für das Konzept der »strukturellen Heterogenität«. Gleichzeitig stütze ich mich auf Erkenntnisse des Artikulationsansatzes sowie des Bielefelder Verflechtungsansatzes. An diese anschließend verorte ich Verflechtungen auf der ökonomischen und ökologischen Ebene und spreche mit Blick auf die politische Ebene von Artikulationen. Dabei nutze ich die Einsichten der in Abschnitt 2.4 dargelegten Politischen Ökologie, um zu verdeutlichen, dass der strukturellen Heterogenität eine Pluralität der Naturverhältnisse entspricht. In Abschnitt 2.5 konnte ich zeigen, dass das kapitalistische Innen-Außen-Verhältnis zudem mit einer »strukturellen Dichotomie« im Bereich des Politischen und Kulturellen einhergeht. Außerdem wurde dabei deutlich, dass sich in der Regulation des Nicht-Kapitalistischen Kräfteverhältnisse verdichten, weshalb die Praktiken der Regulierung als Teil einer komplexen Hegemonie begriffen werden. Dem Regulationsdenken im Anschluss an Althusser entnehme ich zudem den Begriff des Dominanzverhältnisses. Im Folgenden werde ich eine Heuristik entwickeln, die diese im Theorieteil gewonnenen Begriffe und Einsichten systematisch verbindet. Damit wird verhindert, dass in der späteren empirischen Analyse unvereinbare Theorieversatzstücke einfach eklektisch kombiniert werden.

Laut Althusser (2015: 404) stellt der Begriff der »Produktionsweise« einen »Schlüsselbegriff« der politischen Ökonomie dar. Damit ist es wenig verwunderlich, dass er auch in der Mehrheit der Theorien, die versuchen, den nicht-kapitalistischen Bereich zu untersuchen, eine Rolle spielt. Um systematisch vorzugehen, beginne ich daher beim Begriff der Produktionsweise, zeige nachfolgend auf, warum ich die unterschiedlichen sozioökonomischen Bereiche als »Sektoren« bezeichne und lege meine analytischen Verflechtungskategorien dar. Nachfolgend verdeutliche ich, warum diese zu einem Verständnis sozialökologischer Konflikte als »Grenzkämpfe« führen müssen und warum dieses Konzept analytisch gehaltvoll ist.

Von verschiedenen Produktionsweisen zur strukturellen Heterogenität

Klassischerweise wurde unter »Produktionsweise« die Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen verstanden (Althusser 2012: 46; Haug 2003: 31 ff.). Produktivkräfte umfassten dabei alle produktiven Ressourcen bis hin zu Wissen und Qualifikation der Beschäftigten. Die Produktionsverhältnisse beinhalten wiederum spezifische Eigentumsverhältnisse, welche in Klassengesellschaften so gestaltet seien, dass die Produktionsmittel das Eigentum der ökonomisch herrschenden Klasse sind (Marx/Engels 1978: 61 ff.). Mit kapitalistischen Produktionsverhältnissen geht ein bestimmtes Aneignungsverhältnis fremder Arbeit einher, welches klassischerweise als Ausbeutung der »doppelt freien« Lohnarbeiter*innen bestimmt wird (Marx 1973: 181–183). Dieses Ausbeutungsverhältnis ist – in Marx Verständnis – Folge eines gewaltsamen historischen Prozesses der »sogenannten ursprünglichen Akkumulation« (ebd. 741), in dem die direkten Produzent*innen enteignet werden. Dabei verstehe ich Enteignung nicht nur als »die Entziehung« des Eigentumsrechts, sondern vor allem als Beschränkung der Kontrolle oder des Zugangs zu bestimmten Gütern, Ländereien, Ressourcen und sozialen Infrastrukturen durch Dritte (van der Linden 1997; Rangan 1997; Prause 2020: 36 ff.). Enteignung und Ausbeutung standen dabei für Marx in einem Zusammenhang: In einer Phase der »formellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital« werden die Produktionsmittel in Folge der Enteignungen zunächst Eigentum der Kapitalist*innen, während der Arbeitsprozess weiterhin wie früher verrichtet wird, nur jetzt durch Lohnarbeiter*innen, die unter Kontrolle des Kapitals stehen. Die »reelle Subsumtion« folgt dann für Marx historisch der formellen Subsumtion und ist durch eine Veränderung der inneren Arbeitsteilung sowie der technischen Arbeitsabläufe im Unternehmen gekennzeichnet (Marx 1973: 328, 334, 401 ff., 533). Diese Formen der direkten Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, in denen die Lohnarbeiter*innen keine Produktionsmittel mehr besitzen und ihre Arbeit direkt der Kontrolle der Unternehmensleitung untersteht, sind allerdings nicht die einzigen Formen der Aneignung von Arbeit im Kapitalismus. Es finden sich – wie Marx selbst feststellte – auch »Neben-, Zwitter- und Übergangsformen«, in denen die Arbeiter*innen eigene Produktionsmittel besitzen, die Marx allerdings nicht weiter theoretisierte (Marx 1973: 251 f., 349 f., 486, 491, 495, 533; ebd. 2009: 103; Das 2020: 78 f.). So lassen sich Formen der indirekten Subsumtion der Arbeit unter das Kapital finden, in denen die Arbeiter*innen mit ihren eigenen Produktionsmitteln für das Kapital arbeiten (Graf 2014; ebd. 2021a). Die kleinen Betriebe sind dabei in Kapitalkreisläufe integriert. Ihre Arbeit wird nicht in Form von Lohnarbeit ausgebeutet, sondern vermittelt über Märkte angeeignet. Dabei untersteht der Arbeitsprozess nicht der direkten Kontrolle des Kapitals.Footnote 92 Herrschaftliche Aneignung von Mehrarbeit kann damit auch ohne Enteignung stattfinden.

Obwohl auch Marx die Möglichkeit der Aneignung von Mehrarbeit in Form der indirekten Subsumtion offen eingestand,Footnote 93 waren reelle Subsumtion und »doppelt freie« Lohnarbeit für Marx definierende Charakteristika der kapitalistischen Produktionsweise (Marx 1973: 350–355, 382, 533 f., 742 ff.). Wie oben ausgeführt definierten eine Reihe von Autor*innen die kapitalistische Produktionsweise im Anschluss durch die Vorherrschaft der Lohnarbeit (Laclau 1971: 25, 33; Córdova 1971: 135 f.; Luxemburg 1975: 67; Brenner 1977: 32; Wood 2002: 96; kritisch: Hall 2012: 97 f., 101 f., 104, 120).Footnote 94 Ich halte diese Definition allerdings aus mehreren Gründen für unzureichend: Erstens, weil es historisch eine Reihe von Beispielen mit kapitalistischen Unternehmen gibt, die gebundene Arbeiter*innen bis hin zu Sklav*innen ausbeuteten (Beckert/Rockman 2016; van der Linden 2017; Gerstenberger 2018; Frings 2019); zweitens, weil Lohnarbeit historisch lange vor der Durchsetzung der kapitalistischer Produktionsverhältnisse vorkam (Banaji 2013) und drittens, weil Ausbeutung von Lohnarbeit beispielsweise mittels Stücklohn fließend in Formen der Aneignung von Arbeit mittels indirekter Subsumtion übergeht, in denen die Arbeiter*innen ihre eigenen Produktionsmittel besitzen (Graf 2021a: 710 ff.). Im Folgenden schlage ich eine alternative Definition vor.

Harold Wolpe (1980: 36) unterscheidet zwischen einem Konzept der »beschränkten« und einem Konzept der »umfassenden« Produktionsweise (siehe Abschnitt 2.3.2). Beschränkte Produktionsweisen wurden in der vorliegenden Arbeit als »Produktionsformen« bezeichnet, worunter einzelne ökonomische Einheiten verstanden werden, die von einem kleinen Handwerker bis zu einem multinationalen Konzern reichen können. Die kapitalistische Produktionsweise ließe sich demnach durch einen Gesamtkomplex aus solchen Produktionseinheiten definieren, die – wie Wallerstein (2019: 29) sagt – für den Markt mit dem Zwecke der maximalen Profitproduktion und der unbeschränkten Akkumulation produzieren und dabei in Produktionsverhältnisse eingebunden sind, die das Privateigentum an Produktionsmitteln und politisch nicht umfänglich kontrollierter Märkte beinhalten. In dieser Definition wird deutlich, dass die jeweilige Produktionsweise wesentlich durch spezifische Produktionsverhältnisse charakterisiert ist, die auch spezifische Zirkulationsverhältnisse umfassen. »Produktionsweise« wird damit vor allem durch die Verbindungen zwischen Produktions- und Zirkulationsformen definiert und bezieht auch bestimmte Reproduktionsverhältnisse mit ein. Für Autor*innen, die die Produktionsweise in diesem umfassenderen Sinn verstehen, sind für die kapitalistischen Produktionsweise dann auch weniger die konkreten Ausbeutungsverhältnisse im Betrieb, sondern vielmehr die makroökonomischen kapitalistischen Bewegungsgesetze entscheidend (Banaji 1972: 2498; ebd. 2013: 50 ff., 59 f., 349 ff.; Post 2013). Die Definition der Produktionsweise geht dabei über die ökonomischen Verhältnisse innerhalb einzelner Produktionseinheiten hinaus und umfasst spezifische Zirkulations- und Produktionsverhältnisse, in die sie eingebettet ist (Banaji 2013: 41).

Damit müssen auch die Spezifika der Zirkulation in die Definition der Produktionsweise einbezogen werden. In Abschnitt 2.5.2 wurde verdeutlicht, dass es verschiedene Arten von Märkten gibt. Sie unterscheiden sich beispielsweise je nach Grad und der Art der »Einbettung« von Märkten in »moralische Ökonomien« (Thompson 1980: 69 f., 84 ff.) oder dem Grad der Kommodifizierung (Polanyi 1978: 89–99, 102 ff., 333), der »Marktregulierung« (Weber 1972: 43) und nach ihrer Funktionsweise (Hermann 2021: 29 ff.). Kapitalistische Märkte stellen dabei einen spezifischen Typ von Märkten dar, der grundsätzlich durch die Herauslösung dieser Märkte aus dem direkten Zugriff durch politische Akteure gekennzeichnet ist. Erst im Zuge der kapitalistischen Marktwirtschaft wurde die Trennung von Politik und Ökonomie eingeführt, der »selbstregulierende« Mechanismus der Märkte hervorgebracht und den Märkten eine eigene Sphäre zugewiesen, auf dessen Konstitution sich der Staat nun richten sollte, in den er sich aber nicht partikular einzumischen hätte (Gerstenberger 2006: 514, 518; Wood 2010: 38–41). Diese grundsätzliche »Entbettung« war es, die für Karl Polanyi die »Great Transformation« im 19. Jahrhundert hin zur kapitalistischen Produktionsweise markierte (Polanyi 1978; Gerstenberger 2000: 149 f.). Die kapitalistische Produktionsweise besteht damit nicht nur aus einer spezifischen Betriebsführung, die sich nach Max Weber dadurch kennzeichnen lässt, dass »Einzelmaßnahmen rationaler Unternehmen […] durch Kalkulation am geschätzten Rentabilitätserfolg« (Weber 1972: 48) also durch die »Kapitalrechnung« (Altvater 2005: 181) bestimmt werden, sondern darüber hinaus aus spezifischen, entbetteten, entpersonalisierten und entmoralisierten Märkten (Thompson 1980: 80). Kapitalistische Märkte beinhalten folglich spezifische »Bewegungsgesetze«, die durch fortwährende erweiterte Reproduktion, Kapitalakkumulation und unbegrenzte Expansion sowie gewisse marktvermittelte Zwänge gegenüber dem/der einzelnen Marktteilnehmer*in und durch gesamtgesellschaftliche Ungleichheiten gekennzeichnet sind (Banaji 1972: 2498 ff.; Braudel 1986: 51 ff.; Post 2013: 80).Footnote 95 Eine Produktionsweise geht folglich stets mit spezifischen Zirkulationsverhältnissen einher.

Darüber hinaus impliziert eine bestimmte Produktionsweise auch ihre entsprechende Produktionsverhältnisse. Klassischerweise wird unter Produktionsverhältnissen die Eigentumsverhältnisse und der Modus der Aneignung fremder Arbeit verstanden (Althusser 2012: 62 ff., 292–303). Wie oben dargelegt wurde, können Produktionsverhältnisse aber nicht auf die Art und Weise der Aneignung fremder Arbeit reduziert werden (bspw. auf Lohnarbeit). Produktionsverhältnisse verstehe ich vielmehr als Kombination bestimmter Eigentumsordnung mit spezifischen Produktions-, Markt- und Klassen- und Naturverhältnissen, die die Art und Weise der Beziehungen zwischen den ökonomischen Akteuren sowie diejenige der Anwendung der Produktivkräfte bestimmen. Die kapitalistischen Produktions- und Zirkulationsverhältnisse bilden dabei einen ökonomischen Gesamtkomplex, den ich den kapitalistischen Sektor nenne. Er bezeichnet den Teil der Wirtschaft, in dem die kapitalistische Produktionsweise »im umfassenden Sinn« herrscht, der direkt durch die kapitalistischen »Bewegungsgesetze« bestimmt ist und der mit bestimmten Produktionsverhältnissen und damit auch mit einer eigenen Regulationsweise einhergeht.

Gleichzeitig macht der Begriff des »Sektors« schon deutlich, dass der kapitalistische Bereich nicht das gesamte »Ökonomische« umfasst. Der Begriff der »strukturellen Heterogenität« (Córdova 1971; Nohlen/Sturm 1982) trägt diesem Umstand mit Blick auf Länder des globalen Südens Rechnung. Allerdings war seine Verwendung in der Literatur sehr verschieden: So verstehen einige Autor*in darunter die Gleichzeitigkeit verschiedener Produktivitätsniveaus und andere gehen von großen Einkommensunterschieden und wieder andere von unterschiedlichen Produktionsstrukturen, -verhältnissen oder -weisen aus (Nohlen/Sturm 1982: 48). Ich verwende den Begriff der strukturellen Heterogenität im Folgenden als die Gleichzeitigkeit gesellschaftlich verbreiteter deutlich unterscheidbarer wirtschaftlicher Praxisformen und Handlungslogiken, die sich verschiedenen Produktionsformen oder -weisen zuordnen lassen. Wie im Folgenden deutlich wird, sind insbesondere solche Ökonomien, in denen sich neben dem kapitalistischen Sektor auch noch ein eigener nicht-kapitalistischer Sektor ausmachen lässt, strukturell heterogen. Kritisch wurde angemerkt, dass die Kategorie der »strukturellen Heterogenität« nur einen negativen Abgrenzungsbegriff zur modernisierungstheoretischen Annahme der zunehmenden Homogenität kapitalistischer Ökonomien und Gesellschaften darstellt (Hurtienne 1981: 111 f.). Er liefert uns insofern nur einen heuristischen und keinen empirischen Begriff (Graf 2022b). Als solcher ist er jedoch von großem Nutzen, um unseren Blick auf unterschiedliche ökonomische Handlungslogiken und damit verbundene Regulierungen, Naturverhältnisse sowie kulturelle Praktiken sowie daraus folgende gesellschaftliche Konflikte zu untersuchen. Um die strukturelle Heterogenität empirisch zu erforschen, ist ein Begriff nötig, der die Eigenlogik des nicht-kapitalistischen Bereichs bezeichnet. Dafür schlage ich im Folgenden den Begriff des »bedarfsökonomischen Sektors« vor.

Der bedarfsökonomische Sektor: Prekäre Haushalte und Klein(st)betriebe

Im Folgenden werde ich die zentralen Begriffe meines Verständnisses des nicht-kapitalistischen Bereiches in strukturell heterogenen Gesellschaften darlegen. Ich konzipiere dafür den »bedarfsökonomischen Sektor«, der die sozioökonomischen Praktiken innerhalb der Privathaushalte sowie große Teile der Klein(st)betriebe des Handwerks und Kleinhandels umfasst. In beiden Fällen besitzen die direkten Produzent*innen dabei ihre eigenen Produktions- oder Zirkulationsmittel. Ich stelle im Fortgang mein Verständnis der Privathaushalte sowie der Klein(st)betriebe des bedarfsökonomischen Sektors dar.

Zunächst besteht der bedarfsökonomische Sektor aus Privathaushalten. Wie schon angesprochen sind dabei semiproletarische Haushalte global gesehen keine Seltenheit, sondern die Norm (Arrighi 1973; Wallerstein 1983: 27; Moyo/Yeros 2005b: 9, 25 ff.). Im Anschluss an Wallerstein (2019: 41) lassen sich semiproletarische Haushalte dadurch von proletarischen Haushalten unterscheiden, dass ihre Einkommen nur zu weniger als 50 Prozent durch Lohneinkommen gedeckt sind. Im Folgenden gelten daher nur solche Haushalte als vollständig proletarisiert, die ihre »gesellschaftlich normale« Reproduktion dauerhaft größtenteils aus Lohneinkommen aus dem kapitalistischen Sektor decken können.Footnote 96 Bei denjenigen, die dies nicht können, handelt es sich entweder um semiproletarische oder aber prekäre Haushalte. Letztere sind dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht dauerhaft in den kapitalistischen Sektor integriert sind und ihre alternativen Reproduktionsgrundlagen und Einkommensquellen gleichzeitig äußerst unsicher sind oder zeitlich befristete Übergangslösungen darstellen. Das »Prekariat« wurde in diesem Sinne als eine soziale Gruppe verstanden, die weder stabil in »normale« Lohnarbeitsverhältnisse noch dauerhaft in soziale Sicherungssysteme eingebunden sind, weshalb sie am verbreiteten Standard gesellschaftlichen Lebens nicht vollständig partizipieren können (Standing 2011: 8 f.; Dörre 2009: 52 f., 60).Footnote 97 Der Begriff der Prekarität verweist damit auf das Scheitern der gesellschaftlichen Teilhabe durch Lohnarbeit und die damit verbundene fortdauernde ökonomische Unsicherheit prekärer Haushalte. In der Folge kommt Quellen der Einkommenssicherung jenseits des kapitalistischen Sektors eine besondere Bedeutung zu. Häufig spielen in solchen Situationen neben Geschäften im informellen Bereich, Nebentätigkeiten in Selbständigkeit oder Subsistenzproduktion auch staatliche Sozialtransfers, familiäre Rücküberweisungen sowie private Kredite eine bedeutende Rolle (Graf et al. 2020: 21; Durán/Narbona 2021: 213 ff.). Prekäre Haushalte bezeichnen im Folgenden solche Haushalte, deren Einkommen aus dem kapitalistischen Sektor nicht für eine gewöhnliche soziale Reproduktion ausreichen und die deshalb maßgeblich auf Einkommen aus Sozialtransfers, Kredite oder nicht-kapitalistischen Produktionsformen angewiesen sind.

Privathaushalte stellen folglich Orte dar, an denen – wie feministisches Denken zeigte – gearbeitet und produziert sowie unterschiedliche Einkommensformen gebündelt werden. Das Handeln seiner Mitglieder ist bedarfsorientiert und richtet sich nach der Logik der »einfachen Reproduktion« (Bernstein 2010: 25). Aufgrund dieser besonderen ökonomischen Praktiken innerhalb der Haushalte wurde im Anschluss an Marshall Sahlins (1972: 41 ff.) sowie im Anschluss an Claude Meillassoux (1975: 106, 113 ff.) deshalb auch von einer häuslichen Produktionsweise gesprochen (Engelken 2001). Die Bielefelder*innen verwendeten – wie wir in Abschnitt 2.3.3 gesehen haben – diesbezüglich den Begriff der Produktionsform, mit dem sie auf die eigenen »Prinzipien des Haushalts« (Werlhof 1983a: 122 f.) verwiesen und gleichzeitig dessen Eingebundenheit in die kapitalistische Produktionsweise betonten. Ich werde dieser letztgenannten Interpretation folgen und Haushalten nicht als eine eigene Ökonomie oder Produktionsweise betrachten, sondern diese eher als Ort verstehen, an dem sich unterschiedliche Produktionsformen und -weisen überschneiden und verschiedene Einkommen bündeln. Dass der Subsistenzproduktion innerhalb der Privathaushalte eine besondere Bedeutung zukommt, berechtigt uns meines Erachtens gleichzeitig dazu, im Anschluss an die Bielefelder*innen vom Haushalt als eigener Produktionsform zu sprechen.

Haushalte stellen aber nicht die einzigen nicht-kapitalistischen Produktionsformen dar. Eine Vielzahl von Tätigkeiten von Klein(st)betrieben und selbständigen wirtschaftlichen Aktivitäten richtet sich ebenfalls auf die Produktion von Gütern oder Einkommen, die der sozialen Reproduktion von Privathaushalten dienen. Klein(st)betriebe, die der Logik der einfachen Reproduktion folgen, das heißt deren Ziel nicht die Maximierung von Erlösen, sondern die Erzielung von bestimmten Einnahmen oder Gütern für die Reproduktion von Privathaushalten darstellt, werden daher ebenfalls als bedarfsökonomische Produktionsformen verstanden. Da diese ökonomischen Handlungsweisen häufig auch innerhalb des Kleinhandels stattfinden, werden sie noch um bedarfsökonomische Zirkulationsformen ergänzt. Im Anschluss daran verstehe ich die ökonomischen Einheiten, die ihr wirtschaftliches Handeln an der sozialen Reproduktion und dem Überleben der eigenen Haushaltsmitglieder sowie an der »moralischen Haushaltsökonomie« orientierten – sei es in Form von Klein(st)betrieben, Selbständigkeit oder Subsistenzarbeit – als bedarfsorientierte ökonomische Akteure.Footnote 98 Ihre Tätigkeit vollzieht sich unter einer »hauswirtschaftlichen Rationalität« (Demele/Schoeller/Steiner 1989: 51 ff.), das heißt, dass das Grundmotiv ihres Handelns in der Bedarfsdeckung des eigenen Haushalts und nicht in Profit, Reinvestition und abstraktem Wert besteht. Folglich stellen Privathaushalte, nicht-kapitalistische Klein(st)betriebe und Selbständige, die in diesem Sinne wirtschaftlich tätig sind, bedarfsökonomische soziale Einheiten dar.

Bilden diese bedarfsökonomischen Wirtschaftsakteure einen eigenen Bereich mit spezifischen Zirkulationsweisen und eigenen Produktionsverhältnissen, so lässt sich von einem eigenen bedarfsökonomischen Sektor sprechen. Dieser fasst bedarfsökonomische Produktionsformen, Zirkulationsformen sowie Produktionsweisen zusammen. In der bereits dargestellten Literatur taucht diese sektorale Zusammenfassung bedarfsökonomischer Wirtschaftseinheiten unter anderem als »traditioneller Sektor« (Boeke 1953), »Subsistenzproduktion« (Lewis 1954: 146 f.), »bäuerliche Ökonomie« (McGee 1973; Ekers 2015: 459), »untere Zirkulationssphäre« (Marini 1974: 128), »unterer Wirtschaftskreislauf« (Santos 1975: 22), »abgesunkene Wirtschaftsebene« (Quijano 1974: 313) oder »informeller Sektor« (Hart 1973; Sanyal 2007: 200 ff.) auf.Footnote 99 Später wurde von dem indischen Ökonom Kalyan Sanyal der Begriff der need economy geprägt (Sanyal 2007: 202 f.; 208–215), die ökonomisches Handeln umfasse, das durch Reziprozität und den Bedarf von Haushaltsmitgliedern hin orientiert sei (ebd.: 212). Im Anschluss daran wähle ich den Terminus des bedarfsökonomischen Sektors, weil dieser betont, dass es sich dabei nur um einen Teilbereich der gesamtgesellschaftlich strukturell heterogenen Ökonomie handelt. Damit wird der Begriff der Subsistenzwirtschaft, der dem Grad der Monetarisierung und Kommodifizierung der bedarfsökonomischen Zirkulations- und Produktionsformen nicht gerecht wurde, durch ein Konzept ersetzt, das die unterschiedlichen nicht-kapitalistischen sozioökonomischen Praktiken umfassen kann und gleichzeitig mit dem Begriff des »Sektors« ihre Verbindungen untereinander betont. Diese Beziehungen bestehen in Form von lokalen Märkten, Tauschakten, Arbeitsleistungen sowie Entleihungen oder Schenkungen zwischen Haushalten, einfachen Warenproduzent*innen oder Kleinhändler*innen.Footnote 100 Insofern ökonomische Aktivitäten in Haushalten oder Klein(st)betrieben in relevantem Maße außerhalb der Kapitalkreisläufe funktionieren, bilden sie zusammen den bedarfsökonomischen Sektor. Dieser stellt einen relativ eigenständigen ökonomischen Bereich dar, der aus wirtschaftlichen Einheiten gebildet wird, die auf »einfache Reproduktion« und den Bedarf der Privathaushalte ausgerichtet sind und die untereinander in enger Verbindung stehen. Wie die Abschnitt 2.4 und 2.5 zeigten, sind bedarfsökonomische Praktiken dabei nicht nur durch spezifisch eigene sozioökonomische Handlungslogiken und Zirkulationsformen gekennzeichnet, sondern auch durch eigene kulturelle Praktiken und politische Organisationsweisen sowie besondere Naturverhältnisse (Guha 1982; Martínez-Alier 2002). Damit unterscheiden sich der bedarfsökonomische und der kapitalistische Sektor auf unterschiedlichen Ebenen.

Unter den Klein(st)betrieben finden sich allerdings auch solche, die direkt als Zulieferer für kapitalistische Unternehmen funktionieren oder zumindest mehrheitlich an diese verkaufen. Diese Klein(st)betriebe – darauf verwies schon Sanyal (2007: 214 f.) – stellen damit eine Zwischenkategorie dar. Sie sind zwar bedarfsökonomische Akteure – insofern ihr individuelles Wirtschaften auf die Reproduktion des eigenen Privathaushaltes ausgerichtet ist –, allerdings sind sie in den kapitalistischen Sektor integriert und damit nicht Teil des bedarfsökonomischen Sektors. Diese abhängigen Klein(st)betriebe sind in Form von »indirekter Subsumtion« Teil der Kapitalkreisläufe. Die Abbildung 2.1 stellt damit möglichst differenziert die Heuristik der strukturellen Heterogenität dar, wie sie in diesem Kapitel bisher ausgearbeitet wurde. Der Begriff der indirekten Subsumtion weist gleichzeitig schon darauf hin, dass es zwischen den Sektoren zu Verflechtungen und Übergangsformen kommt. Nachfolgend werde ich mich der Frage zuwenden, wie diese Verflechtungen zwischen den Sektoren zu untersuchen sind.

Abb. 2.1
figure 1

(Eigene Darstellung)

Strukturelle Heterogenität in extraktivistischen Peripherien.

2.6.3 Ökonomische und ökologische Verflechtungen

Die strukturelle Heterogenität verweist – wie in Abbildung 2.1 veranschaulicht wird – auf das gleichzeitige Bestehen unterschiedlicher sozioökonomischer Sektoren. Um zu verstehen, inwiefern es entlang der sektoralen Grenze zu Konfliktdynamiken kommt, stellt sich die Frage, wie die Beziehungen zwischen den Sektoren verstanden werden können. Aus der Literatur wird deutlich, dass wir dabei verschiedene Ebenen unterschieden müssen. Erstens stehen die unterschiedlichen wirtschaftlichen Aktivitäten auf verschiedene Weise wirtschaftlich miteinander in Verhältnissen, die ich als ökonomische Verflechtungen begreife. Zweitens ergeben sich aufgrund der gemeinsamen Eingebundenheit von sozioökonomischen Aktivitäten der verschiedenen Sektoren in dieselben Ökosysteme unweigerlich Beziehungen, die ich als ökologische Verflechtungen bezeichne. Drittens stehen die Sektoren auf den Ebenen der Kultur und Politik zueinander im Verhältnis. Auf die Frage, wie sich die sektoralen Differenzen politisch und kulturell artikulieren, gehe ich deshalb in Abschnitt 2.6.4 über die Grenzkämpfe eigens ein. Zunächst untersuche ich die Frage, wie Verflechtungen analysiert werden können.

Ökonomische Verflechtungen

Wirtschaftliche Beziehungen zwischen dem bedarfsökonomischen und dem kapitalistischen Sektor werden im Folgenden als ökonomische Verflechtungen bezeichnet. In der Forschungsliteratur lassen sich drei verschiedene Interpretationen ökonomischer Verflechtungen unterscheiden. Nahezu alle Autor*innen begreifen diese Beziehungen als funktional, das heißt als Verhältnisse zwischen kapitalistischer Produktionsweise und nicht-kapitalistischen Produktionsweisen und -formen, die sich für erstere als ökonomisch rentabel erweisen. So lässt sich erstens eine Unterkonsumtionsargumentation ausmachen, die mit endogenen Warenüberschüssen des kapitalistischen Sektors argumentiert. Nach Luxemburg (1975: 316) ist es dem Kapitalismus unmöglich, seine stets wachsende Zahl an Gütern auf den eigenen Märkten abzusetzen. Es bedarf deshalb einer äußeren »[…] Existenz und Fortentwicklung nichtkapitalistischer Produktionsformen als seiner Umgebung«. Diese Überschussargumentation begreift das Verhältnis zwischen dem kapitalistischen Sektor und »nicht-kapitalistischen Milieus« als eines der Expansion des ersteren auf Kosten der letzteren. Aufbauend auf – aber auch im Unterschied zu – dieser Variante des Überproduktions- beziehungsweise Realisierungsproblems des kapitalistischen Sektors argumentieren Harvey und Dörre – wie in Abschnitt 2.1.2 dargelegt wurde –, dass der zentrale Grund für die kapitalistische Expansion im Kapitalüberschussabsorptionsproblem liege, das darin bestünde, dass die kapitalistische Akkumulation immer wieder große profitable Anlagebereiche benötigte, die sie periodisch nur in »Landnahmen« des nicht-kapitalistischen Außen finden könnten (Dörre: 2013a: 67; Harvey 2003: 137 ff.). Im Rahmen dieser Überakkumulationsproblematik ist das nicht-kapitalistische Außen funktional in dem Sinne, als dass es eine neue kapitalistische Wachstumsphase ermöglicht.

Von dieser Absorptions- oder Überakkumulationsperspektive unterscheidet sich die Subventions- und Überausbeutungsthese – wie sie in Abschnitt 2.3 dargelegt wurde. Meillassoux sprach in Bezug auf (semi)periphere Regionen davon, dass sich dort im Gegensatz zum »integralen Kapitalismus« der Zentrumsländer relevante Teile der Erwerbsbevölkerung nicht innerhalb des kapitalistischen oder öffentlich-staatlichen Sektors reproduzieren könnten. Sie müssten auf einen Subsistenzbereich zurückgreifen, der jedoch mit dem kapitalistischen Sektor funktional über Arbeitsmärkte verflochten sei (Meillassoux 1975: 135 f.). Der kapitalistische Sektor spare mittels semiproletarischer Haushalte an Lohnkosten, weil sich die Arbeitskräfte im Subsistenzbereich nahezu kostenfrei reproduzieren. Eine Reihe von Autor*innen verstehen diese Verflechtung auch als Subvention des kapitalistischen Sektors durch den nicht-kapitalistischen Bereich (Meillassoux 1975: 109 ff.; Fröbel/Heinrichs/Kreye 1977: 537 f.; Engelken 2001: 1221; Schultz 2016: 71 f.). Gerade Dependenztheoretiker*innen wie Marini sprechen auch von Überausbeutung, die aus den niedrigen Löhnen gepaart mit langen Arbeitszeiten resultieren (Marini 1974: 115 ff.). Die Subventions- und Überausbeutungsthese stellt folglich ein ökonomisch-funktionales Argument dar, das die Fortdauer der nicht-kapitalistischen Produktionsformen und -weisen in abhängigen, (semi)peripheren Kapitalismen aus den Interessen der kapitalistischen Unternehmen selbst erklären möchte. Verflechtung findet hierbei maßgeblich über die Arbeitsmärkte statt.

Eine erweiterte Auffassung dieses zweiten Typs ökonomischer Verflechtung, die ich als Reservepoolthese bezeichnen will, unterstützt die vorherige und baut direkt auf ihr auf. Eine Reihe von Autor*innen versteht den nicht-kapitalistischen Bereich als Reservepool für billige Arbeitskräfte, auf die die kapitalistischen Unternehmen mittels spezifischer Arbeitsmärkte zurückgreifen können. Klassischerweise entstammt die These dem viel zitierten Aufsatz von Arthur Lewis (1954) – auf den in Abschnitt 2.2.1 eingegangen wurde (Sanyal 2007: 139 f.). Aufgenommen wurde diese Vorstellung – wie Abschnitt 2.2.2 zeigte – auch vom Informalitätsdenken, in dem der informelle Sektor als sozioökonomischer Puffer in Bezug auf defizitäre kapitalistische Arbeitsmärkte betrachtet wurde (Hart 1973: 78 ff.; kritisch Chen 2013). Während Hart und Lewis diesen Zustand als Übergangsphänomen betrachteten, analysierten ihn insbesondere die Dependenztheoretiker*innen als bleibenden Zustand. Quijano fasste diese kostenlose, permanente Reservearmee der potenziellen Beschäftigten als »marginalen Pol« (Quijano 1974: 337 ff.). Auch Córdova sprach von einem Bereich, aus dem der kapitalistische Sektor beliebig Arbeitskräfte beziehen oder diese in jenen zurückstoßen könne (Córdova 1971: 33). In Boomphasen stellt der bedarfsökonomische Sektor damit eine Quelle und in Krisenzeiten einen Puffer überschüssiger Arbeitskräfte dar (Meillassoux 1975: 135 f.; Bennholdt-Thomsen 1982: 249 f., 251; Werlhof/Mies/Bennholdt-Thomsen 1983: 17). Die Reservepoolthese, welche sich auf die Zahl der vom kapitalistischen Arbeitsmarkt nachgefragten Arbeitskräfte bezieht, kann noch durch die Stoßdämpfer-These ergänzt werden, welche davon ausgeht, dass in Zeiten sinkender Arbeitslöhne die rückläufigen Einkommen durch vermehrte Hausarbeit kompensiert werden (Dietrich 1984: 25).Footnote 101 Damit erweist sich auch in dieser Auffassung der bedarfsökonomische Sektor als funktional, weil er vor allem öffentliche Gelder spart, die der Staat nicht ausgeben muss, um in Krisenzeiten Arbeitslosigkeit oder Lohnausfälle zu kompensieren.

Eine dritte Argumentation, die ebenfalls im Sinne einer funktionalen Beziehung argumentiert, geht von der Verflechtung über Warenmärkte statt über Arbeitsmärkte aus. Dabei sei insbesondere auf die Verflechtung in Form von indirekter Subsumtion nicht-kapitalistischer Produzent*innen unter kapitalistische Kreisläufe verwiesen. Im Anschluss an Geoffrey Kay wurde argumentiert, dass kapitalistische Großabnehmer*innen ihre profitable Aneignung fremder Arbeit mittels ungleicher Marktbeziehungen gewährleisten können, in denen sie insbesondere ländliche Kleinproduzent*innen auf abhängige Weise in ihre Kapitalkreisläufe integriere (Kay 1975; Graf 2014: 25 ff.; Graf 2021a). Dies entwickelte sich in vielen Ländern insbesondere im Zuge der sogenannten »grünen Revolution« zu einem breiten Phänomen (Bernstein 2010: 65). Darüber hinaus werden kleine Produzent*innen und Händler*innen auch in industrielle globale Güterketten integriert (Mies 1983a: 95 ff.; Moyo/Yeros 2005b: 16; Flecker 2010: 48 ff.; Graf 2014: 38 ff.; Sittel 2022: 313 ff.). Der Kapitalismus beziehe also nicht wie im vorigen Fall billige Arbeitskräfte, sondern billige Produkte –, die aufgrund der Marktmacht der Abnehmer*innen – unter ihren sonst üblichen Marktpreisen liegen können (Smith 2016). Damit werden kleine Produzent*innen Teil globaler, meist käufergesteuerter Güterketten (Bair 2010: 30 f.; Sittel 2022: 35 f., 318 f.), in denen die big buyer als Leitunternehmen die Standards, Preise und Marktvolumen vorgeben (Aufhauser/Reiner 2010: 253 ff.).Footnote 102 Zudem können Kleinhändler*innen auch Fabrikwaren an Endkonsument*innen weiterverkaufen oder Privathaushalte als Kreditnehmer*innen in Kapitalkreisläufe integriert werden (Klas 2011: 19 ff.; Shah 2021). Bedarfsökonomische Einheiten unterliegen damit einer Reihe von upstream- und downstream-Verflechtungen.Footnote 103 In der Folge lässt sich insbesondere mit der indirekten Subsumtion abhängigen Klein(st)betriebe eine weitere Form funktionaler Verflechtung ausmachen.

Zusammenfassend können wir aus der Literatur für die vorliegende Heuristik drei verschiedene Arten der ökonomischen Verflechtung feststellen. Die erste geht von einer periodischen Landnahme aus, die zweite von einer Verflechtung über Arbeitsmärkte und die dritte über Waren- und Kreditmärkte. Diese Verflechtungen erwiesen sich für den kapitalistischen Sektor als funktional. Dies steht – wie im Folgenden deutlich wird – im Kontrast zu den ökologischen sektoralen Verflechtungen, die in hohem Maße kompetitiv sind.

Ökologische Verflechtungen

Weil jede ökonomische Tätigkeit immer auch mit einer spezifischen Art und Weise einhergeht, »die Natur anzupacken« (Althusser 2012: 80), beinhaltet die strukturelle Heterogenität von Ökonomien auch eine Pluralität der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Gerade extraktive Industrien sind dabei – wie in Abschnitt 2.4.2 gezeigt wurde – durch ein instrumentelles und besonders zerstörerisches Verhältnis zu natürlichen Kreisläufen gekennzeichnet. Der Extraktivismus stellt folglich das Paradebeispiel eines naturzerstörerischen Wirtschaftens in kolonialer Kontinuität dar (Alimonda 2011; Machado 2014: 86 ff.; Gudynas 2019: 27). Mit dem spezifischen Charakter des extraktivistischen und extensiven Akkumulationsregime gehen »grüne« und »peripher-extraktivistische Landnahmen« (Backhouse 2015: 65; Graf/Schmalz/Sittel 2019: 183 f.) einher, die den kapitalistischen Zugriff auf Landflächen, Ressourcen und ökologische Kreisläufe stetig ausdehnen (Altvater 1982a; Composto/Navarro 2014; Svampa 2019). Weil derartige ökonomische Aktivitäten sich nicht in die ökologischen Kreisläufe einfügen, sondern diese zerstören und damit ökologische Verwerfungen und eine allmähliche Erschöpfung der Natur erzeugen, wurde diesbezüglich von einem metabolischen Bruch zwischen Mensch und Natur gesprochen (Foster/Clark/York 2011: 49). Dieser Bruch vollzieht sich jedoch nicht nur zwischen »der Gesellschaft« und »der Natur«, sondern führt zu Spannungen der verschiedenen Naturverhältnisse zwischen dem extraktivistischen Sektor und lokalen Produktions- und Lebensweisen.Footnote 104 Letztere sind häufig durch »direkte Naturverhältnisse« (Graf 2022a) gekennzeichnet, was bedeutet, dass ihre bedarfsökonomischen Aktivitäten direkt von den funktionierenden ökologischen Kreisläufen abhängen. Dies trägt – wie unten ausgeführt wird – zu sozialökologischen Konflikten entlang der sektoralen Grenze bei.

In strukturell heterogenen Gesellschaften kommt es nicht nur zu einer Pluralität der Naturverhältnisse, sondern auch zu ökologischen Verflechtungen. Diese bestehen erstens darin, dass unterschiedliche Produktionsformen häufig Teil derselben lokalen Ökosysteme sind und die einen sozioökonomischen Aktivitäten für die anderen erhebliche Folgen haben.Footnote 105 Extraktivistische Industrien gefährden mittels dieser indirekten ökologischen Verflechtung beispielsweise – wie in Abschnitt 2.4.2 gezeigt wurde – die ökologischen Produktionsbedingungen kleinbäuerlicher Haushalte. Zweitens greifen kapitalistische und bedarfsökonomische Akteure häufig auf dieselben konkreten ökologischen Ressourcen zurück. Diese zweite Form der ökologischen Verflechtung bedeutet damit in der Regel lokale Nutzungskonflikte und legale Auseinandersetzungen um die Verfügung über bestimmte Ressourcen. Neben den drei Formen der ökonomischen Verflechtung lassen sich folglich zwei Typen der Verflechtung auf der ökologischen Ebene ausmachen: Während die erste Form häufig eine eher indirekte und nicht immer bewusste Verflechtungsweise darstellt, besteht der zweite Typ in der Regel in einer offenen Nutzungskonkurrenz, bei der um Kontrolle, Eigentum und Zugänge gestritten wird. Ökologische Verflechtungen sind daher weniger funktional und oft antagonistisch und gehen mit sozialökologischen Verteilungskonflikten einher (Guha/Martínez-Alier 1997: 40 ff.; Martínez-Alier: 2015). Vor allem die Ressource Land ist in extraktivistischen Peripherien ein Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Ungleichheiten und Konflikte (Said 1994: xiif; Tittor 2018: 214). Wie in Abschnitt 2.4.3 deutlich wurde, drehen sich die Konflikte damit sowohl um bestimmte »ökologische (Re)Produktionsbedingungen« (O’Connor 1996) als auch um die Kontrolle über Territorien (Svampa 2019). Damit wird deutlich, dass Verflechtungen immer auch umkämpfte Verhältnisse zwischen verschiedenen Akteuren darstellen. Um dies zu verstehen, verstehe ich Kämpfe entlang der Grenze zwischen dem kapitalistischen und dem bedarfsökonomischen Sektor im Folgenden als Grenzkämpfe.

2.6.4 Grenzkämpfe in extraktivistischen Peripherien

Entlang der sektoralen Kämpfe kommt es nicht nur zu Verflechtungen, sondern auch zu Konflikten, die ich als Grenzkämpfe bezeichne. Diese Konfliktdynamik entlang des kapitalistischen Innen-Außen-Verhältnis wurde schon in Abschnitt 2.1.2 deutlich und taucht in der Literatur unter verschiedenen Bezeichnungen auf. In Bezug auf die ökologischen Verflechtungen und die Kommodifizierung von Natur wurde beispielsweise von Konflikten entlang der »commodity frontier« gesprochen ((Moores 2000; 2015b 144; Backhouse 2022). Frontiers stellen dabei keine starren räumlichen Grenzen dar, sondern einen umkämpften sozialen Raum (Anlauf/Backhouse 2022: 5 f.). Den Begriff der »Grenzkämpfe« entnehme ich Nancy Frasers kapitalismustheoretischem Denken (Fraser 2016; ebd.: 2017; Fraser/Jaeggi 2018). Allerdings unterscheidet sich mein Verständnis von Grenzkämpfen – wie im Folgenden deutlich wird – von demjenigen Frasers.

Unter »boundary struggles« versteht Fraser Konflikte an den Rändern zwischen Produktion und Reproduktion, entlang der Trennung zwischen dem Politischen und den Märkten sowie um die Verschiebung der Grenze zwischen Ökonomie und der Natur (Fraser 2017: 154 ff.; Fraser/Jaeggi 2018: 167). Grenzkämpfe werden bei Fraser maßgeblich um die Kommodifizierung des Sozialen und um den Schutz der Natur vor wirtschaftlichen Zugriffen geführt. Dabei versteht sie den Kapitalismus als »institutionalisierte soziale Ordnung« (Fraser 2017: 155), von der die kapitalistische Ökonomie ein Teil ist. Diese kann – so ihre These – nur auf der Basis dreier Hintergrundbedingungen aufrechterhalten werden. Diese Hintergrundbedingungen fasst sie erstens als Sphäre des Sozialen, das heißt der häuslichen Reproduktion und der öffentlichen Güterversorgung (ebd.: 147 f.), zweitens als ökologischen Bereich, der die Kreisläufe der Natur beinhaltet (ebd.: 149 ff.) und drittens als Sphäre der politischen Institutionen (ebd.: 152 f.).Footnote 106 Es geht Fraser bei ihren Grenzkämpfen damit um Konflikte um die Verschiebung der Grenzen zwischen der kapitalistischen Ökonomie und ihren sozialen, politischen und ökologischen Hintergrundbedingungen. Ich halte diesen Begriff der Grenzkämpfe für äußerst fruchtbar, allerdings fasse ich das Ökonomische, die gesellschaftlichen Naturverhältnisse und das Politische anders als Fraser nicht als homogen auf. Vielmehr geht es mir um Grenzkämpfe entlang der Grenzen der strukturellen Heterogenität auf all den genannten Ebenen zwischen den zwei Sphären des bedarfsökonomischen und des kapitalistischen Sektors. Die Differenzen zwischen den Sektoren durchziehen dabei neben dem Ökonomischen auch das Kulturelle, das Politische und die Naturverhältnisse. Grenzkämpfe verlaufen dabei zwar auch entlang der Differenzen zwischen der kapitalistischen Produktionsweise und ihren Hintergrundbedingungen, allerdings werden letztere nicht als außerökonomische, sondern in bedeutendem Maße als bedarfsökonomische Praktiken verstanden.

Gleichzeitig stellt sich nach der Sichtung der bestehenden Forschung die Frage, inwiefern derartige Konflikte nicht nur um die Grenzen zwischen unterschiedlichen wirtschaftlichen Sektoren und entlang kultureller, politischer und ökologischer Differenzen geführt werden, sondern darüber hinaus auch zwischen Akteuren, die mit Blick auf ihre wirtschaftliche und politische Macht in hohem Maße ungleich sind. Diese Akteursdimension bleibt bei Fraser relativ unklar. Dies hat auch damit zu tun, dass sie Klassenkonflikte und Grenzkämpfe analytisch explizit trennt (Fraser/Jaeggi 2018: 168). Ein weiterer Unterschied zu Fraser besteht folglich darin, dass die vertikale Klassenachse in der vorliegenden Arbeit als zentrale Konfliktlinie der betrachteten Grenzkämpfe erachtet wird. Dies geht auf eigene vorhergehende Erkenntnisse und Forschungen zurück, die die Relevanz der Klassenachse klar belegten (Graf/Landherr 2017; Graf/Landherr 2020; Graf/Puder 2022; Schmalz et al. 2023). Die Bedeutung der Klassenachse mit Blick auf Konflikte im globalen Süden wird darüber hinaus auch in der Literatur deutlich, was sich an der Verbreitung von Begriffen wie »environmental class struggle« (Layfield 2008) oder »environmentalism of the poor« (Martínez-Alier 2002) widerspiegelt. Ökologische und kulturelle Konflikte konvergieren in Ländern des globalen Südens häufig mit den vertikalen Differenzen auf der Klassenachse (Guha 1982; Guha/Martínez-Alier 1997: 18; Alimonda 2011: 44 f.; Quijano 2016: 31 f.; Graf/Puder: 2022: 217 ff.). Im Folgenden gehe ich daher kurz auf meinen Klassenbegriff und dessen Verhältnis zum Konzept der strukturellen Heterogenität ein.

Grenzkämpfe als sozialökologische Klassenkonflikte

Fragen wir mit Blick auf Grenzkämpfe nach beteiligten Akteuren, so legen bisherige Forschungen nahe, dass sich an der Trennlinie zwischen dem bedarfsökonomischen und dem kapitalistischen Sektor insbesondere in extraktivistischen Peripherien äußerst ungleiche soziale Gruppen gegenüberstehen. In der Regel bestehen diese aus prekären oder semiproletarischen und häufig kleinbäuerlichen Haushalten auf der einen und großen Unternehmen auf der anderen Seite (Moyo/Yeros 2005b; Layfield 2008; Borras et al. 2012; Composto/Navarro 2014; Martínez-Alier/Walter 2016; D’Costa/Chakraborty 2017; Dietz/Engels 2020; Le Billon 2020: 599, 604 ff.). Der Forschungsstand zu Grenzkämpfen in extraktivistischen Peripherien legt damit die Frage danach nahe, inwiefern die ökonomischen und ökologischen Verflechtungen als Klassenverhältnisse und die Grenzkämpfe als Klassenkonflikte verstanden werden müssen.

Die Forschung zu Klassenverhältnissen geht traditionellerweise von gruppenspezifischen sozialen Interessen- und Interessengegensätzen aus. Klassenmäßige Interessen werden dabei meist als unmittelbare, praktisch ökonomische und gleichzeitig kulturübergreifend universalisierbare Interessen verstanden (Wright 1985; Chibber 2013: 192 ff.; Goes 2019b: 21 f.). Idealtypisch lassen sich anschließend in kapitalistischen Gesellschaften die sozialen Interessen von Privathaushalten, die sich an der Reproduktion des Familienzusammenhangs orientieren, von den Interessen der Unternehmen, die sich auf die maximale Generierung von Gewinnen richten, unterschieden. Dass sich daraus ein Interessengegensatz entwickelt, wird klassischerweise mittels der Ausbeutungsbeziehung zwischen kapitalistischen Unternehmen und lohnabhängigen Haushalten untersucht (Marx 1973: 247 ff., 350 f., 765 ff.; Haubner 2018: 86 ff.). Die lohnabhängigen Beschäftigten schaffen dabei innerhalb des kapitalistischen Produktionsprozesses einen größeren Wert als ihre Arbeitskraft das Unternehmen kostet. Auf diese Weise schöpft das Unternehmen seinen Profit aus der Länge des Arbeitstages sowie möglichst niedrigen Lohnkosten (Marx 1973: 181 ff., 245 ff.). Ausbeutung verweist damit nicht nur auf einen Interessengegensatz, sondern zudem auf einen zugrundeliegenden sozialen Antagonismus zwischen den entsprechenden sozialen Großgruppen. Mit dem Begriff des sozialen Antagonismus wird auf einen Kausalzusammenhang zwischen zwei Gruppen hingewiesen, dem ein Interessenwiderspruch und damit ein Konfliktpotenzial innewohnt. Die Ausbeutungsbeziehung ist ein Paradefall einer antagonistischen Kausalbeziehung, in der der Reichtum der einen Gruppe mit der relativen Deprivation der anderen Gruppe einhergeht (Wright 1985: 65; Boltanski/Chiapello 2005: 373–376; Dörre 2018: 42). In derartigen Kausalbeziehungen resultieren die Vorteile der einen folglich aus den Nachteilen der anderen Gruppe (Haubner 2019: 217). Aufgrund der großen Macht- und Reichtumsunterschiede zwischen den entsprechenden Gruppen handelt es sich um Antagonismen auf der »vertikalen« Ungleichheitsachse. Mit Blick auf die Produktion und Distribution von Gütern gepaart mit Interessengegensätzen bilden diese Kausalbeziehungen Triebkräfte gesamtgesellschaftlicher Dynamiken sowie die Grundlage konfliktiver sozialer Ungleichheiten, die üblicherweise mit dem Klassenbegriff untersucht wurden. Klassen stellen folglich soziale Gruppen dar, zwischen denen relativ dauerhafte Kausalbeziehungen und Interessengegensätze sowie damit einhergehende Herrschaftsbeziehungen existieren (Wright 1985: 65; Graf 2019b: 71 f., 95 f.). In »mobilisierten Klassengesellschaften« der frühindustrialisierten Länder der Zentren war es in diesem Sinne ab dem 19. Jahrhundert auch das Ausbeutungsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit, um das herum sich der zentrale gesellschaftliche Großkonflikt gruppierte (Dörre 2020: 24).

Allerdings verbreitete sich diese Art des Kapital-Lohnarbeit-Konflikts nicht homolog in allen kapitalistischen Gesellschaften (Silver 2003: 41; Layfield 2008: 7 f.; Webster 2019). Vielmehr müssen wir insbesondere in extraktivistischen Peripherien danach fragen, wie sich Klassenverhältnisse im Kontext struktureller Heterogenität verstehen lassen. Wie in Abschnitt 2.3 deutlich wurde, lässt sich dabei in semiproletarischen Haushalten von einer großen Bedeutung des income poolings ausgehen. Die kleinste klassentheoretische Einheit ist folglich nicht das Individuum, sondern der Privathaushalt, der mit unterschiedlichen Produktionsverhältnissen verflochten ist (Wallerstein 2019: 41 ff.; Graf 2019b; Graf et al. 2020: 19 ff.). Im Anschluss an die dargelegten klassentheoretischen Bestimmungen ergibt sich die Klassenposition eines Haushaltes erstens aus der Art und der Bedeutung der jeweiligen Einkommensquelle, des Güterbesitzes sowie aus der Position innerhalb der herrschaftlichen Kausalbeziehungen. Während sich proletarische Haushalte wesentlich durch Lohneinkommen aus dem kapitalistischen Sektor reproduzieren und ihre Klasseninteressen deshalb durch den Kausalmechanismus der Ausbeutung geprägt sind, spielen bei semiproletarischen Haushalten Ausbeutung und Lohneinkommen aus dem kapitalistischen Sektor eine geringere Rolle (Wallerstein 2019: 41). Dies wirft die Frage auf, welche klassenbildenden Kausalmechanismen und Interessen die soziale Gruppe der semiproletarischen und prekären Haushalte charakterisieren.

Erste Forschungsergebnisse legen nahe, dass sich hierbei drei unterschiedliche klassenbildende Kausalmechanismen zwischen bedarfsökonomischen Akteuren und einer ökonomisch dominanten Klasse ausmachen lassen (Graf/Landherr 2020; Graf/Puder 2022): Ausbeutung, Aneignung und Enteignung.Footnote 107 Diese entsprechen den oben genannten Verflechtungsformen. Erstens findet – wie in Abschnitt 2.6.3 deutlich wurde – entlang der Verflechtung zwischen kapitalistischem Sektor und semiproletarischen Haushalten eine »Überausbeutung« der letzteren statt. Zwischen dem kapitalistischen und dem bedarfsökonomischen Sektor kommt es in diesem Sinne zu einer Ausbeutung prekärer Lohnarbeiter*innen, bei der der nicht-kapitalistische Bereich die kapitalistischen Unternehmen subventioniert. Zweitens spielt Aneignung über Märkte eine Rolle. Im Sinne einer »asymmetrischen Kommodifizierung« (Landherr/Graf 2017: 575; Graf/Landherr 2020: 470 f., 486) kommt es zu Prozessen der »sekundären Ausbeutung« (Marx 1969: 623), bei denen die Unternehmen ihre Gewinne mittels hoher Mieten, Monopolpreisen, Kreditzinsen und »ungleichem Tausch« machen (Dörre/Haubner 2012: 70 f.; Dörre 2015: 222 f.; Graf 2021a). Brot-, Miet- oder Strom-, Gas- oder Benzinpreise sowie Kosten der öffentlichem Transport- und Gesundheitsversorgung bilden daher häufig den Ausgangspunkt von Protesten (Engels 2013; Graf/Landherr 2020; Clover 2021: 19, 22 f., 55 f.). Darüber hinaus stellt auch die indirekte Subsumtion – wie oben dargestellt – eine Form der Aneignung fremder Arbeit durch kapitalistische Unternehmen vermittelt über den Markt dar (Graf 2021a). Drittens bilden Dynamiken der Enteignung sozialer und ökologischer Ressourcen einen dauerhaften klassenbildenden Kausalmechanismus entlang des Innen-Außen-Verhältnisses und damit der Grenze zwischen bedarfsökonomischen und kapitalistischen Sektor (Graf/Puder 2022: 221 ff.). Diese drei Kausalmechanismen der Ausbeutung, Aneignung und Enteignung, die – wie ich in dieser Arbeit zeigen werde – die beiden genannten Sektoren in ein Klassenverhältnis zueinander setzen, lassen sich dabei im Rahmen des extraktivistischen Akkumulationsmodell als Akkumulation durch Kommodifizierung zusammenfassen. Sie bilden damit zusammengenommen eine Verwertungsstrategie, die auf der möglichst weitgehenden Kommodifizierung der Arbeitskraft, der Alltagsgüter sowie der sozialen Infrastrukturen und ökologischen Ressourcen beruht. Inwiefern entlang dieser sektoralen Kausalbeziehungen klassenspezifische Grenzkämpfe entstehen, stellt eine der in dieser Arbeit empirisch zu beantwortenden Fragen dar.

Intersektionale Grenzkämpfe

Wie wir gesehen haben, kommt Klassenverhältnissen in peripher-extraktivistischen Gesellschaften entlang der Innen-Außen-Verhältnisse eine besondere Rolle zu. Gleichzeitig artikulieren sich Differenzen entlang dieser sektoralen Trennung jedoch häufig in Form kultureller Unterschiede, rassistischer Klassifizierungen oder indigener Zugehörigkeiten (Stavenhagen 1992; González 2006: 197 f.; Sinha 2011; Quijano 2016: 26 ff.). Mit Blick auf die in dieser Arbeit untersuchten Grenzkämpfe müssen wir folglich analysieren, inwiefern neben ökologischen und ökonomischen Verflechtungen auch Differenzen auf der kulturellen und politischen Ebene als Treiber von Konflikten fungieren. Dabei stellt sich insbesondere die Frage, ob kulturelle Differenzen die Grenzkämpfe entlang der sektoralen Trennung verstärken oder eher Differenzen innerhalb des bedarfsökonomischen Sektors bilden.

Einer der weltweit bedeutendsten Versuche, Überschneidungen unterschiedlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu verstehen, entstand aus der aus dem angelsächsischen Raum stammenden Debatte über die triple oppression entlang von race, class und gender.Footnote 108 Die US-amerikanische Kommunistin Claudia Jones kritisierte, dass die spezifischen Unterdrückungsverhältnisse entlang von rassistischen und geschlechtsspezifischen Achsen von Klassenverhältnissen zu unterscheiden seien und bisher zu geringe Berücksichtigung fänden (Lynn 2014). Den Ansatz, die »Überkreuzungen« relativ unabhängiger Herrschaftsachsen zu denken, übernahmen seit den 1980er Jahren vor allem die Intersektionalitätstheorien (Crenshaw 1989). Diesen Ausgangspunkt gilt es auch in der vorliegenden Arbeit zu beachten. Dabei spielt in sozialökologischen Konflikten in Lateinamerika neben den Geschlechterverhältnissen insbesondere die Indigenität eine herausragende Rolle (Stavenhagen 1992: 436; Moyo/Yeros 2005b: 46 f.; Yashar 2007; Bartra/Otero 2008: 402 f.; Svampa 2019: 42; Schmalz et al. 2023). Im Folgenden gehe ich darauf ein, wie das Verhältnis zwischen struktureller Heterogenität auf der sozioökonomischen Ebene und den übrigen Herrschaftsachsen untersucht werden kann.

Strukturelle Heterogenität lässt sich – wie dargelegt wurde – nicht nur auf der sozioökonomischen Ebene ausmachen. Vielmehr entspricht diese einer Pluralität der Naturverhältnisse, einer Heterogenität des Politischen sowie jeweils verschiedenen kulturellen Identitäten und Praktiken. Damit stellt sich die Frage, welche Rolle den politischen und kulturellen Ebenen als Konflikttreiber der Grenzkämpfe zukommt. Während es auf der oben betrachteten ökonomischen und ökologischen Ebene zu Verflechtungen kommt, ist die kulturelle und die politische Ebene – laut Guha – durch eine »strukturelle Dichotomie« (Guha 1982: 6) gekennzeichnet. Der sektoralen Trennung entspricht in diesem Sinne ein gesellschaftlicher »Bruch« auf der kulturellen Ebene, der mit eigenen Institutionalisierungen von Traditionen, kulturellen Praktiken, Normen und moralischen Ökonomien des bedarfsökonomischen Sektors einhergeht. Der Begriff der »moralischen Ökonomie« (Thompson 1980: 69 f., 84 ff.) weist dabei auf die enge Verbindung ökonomischer Praktiken mit spezifischen Wertvorstellungen, Rationalitäten und Zeitverständnissen (Bourdieu 2000) sowie besonderen gesellschaftlichen Naturverhältnissen hin (Görg 1999; Alimonda 2011: 40 ff.; Graf 2022a). In Abschnitt 2.3.2 wurde dargelegt, dass diskriminierende staatliche Politiken im kolonialen Kontext auch dazu beitrugen, dass indigene Gruppen in eine eigene Produktionsweise gedrängt wurden. Auch die vorliegende Arbeit zeigt, dass es insbesondere aufgrund kolonialer Kontinuitäten und indigener Identitäten zu Entsprechungen der sozioökonomischen Heterogenität mit Differenzen auf der kulturellen Ebene kommt.

Die in Abschnitt 2.5.2 dargelegten Subaltern Studies haben anhand der indischen Geschichte gezeigt, dass mit bäuerlichen und indigenen Produktions- und Lebensweisen darüber hinaus eigene politische Organisationsweisen und Praktiken einhergingen, die sie als politics of the people bezeichneten (Guha 1982: 3 f.). Diese subalterne Politik ist häufig durch gewaltvolle Formen der Konfliktaustragung (Fanon 2018: 59 ff.), durch bestimmte »repertoires of contention« (Tilly 2006: 60 ff.),Footnote 109 durch die große Bedeutung von Horizontalität, traditionellen Organisationsweisen sowie Verwandtschaftsbeziehungen und territoriale Bindungen gekennzeichnet (Guha 1982: 4 f.; Bartra/Otero 2008: 402; Avendaño Flores 2010: 15; Gerber 2011: 171; Svampa 2017: 88–92; Svampa 2019: 38–41; Graf 2021b). Die Rolle von Traditionen, kulturellen Praktiken und Kontinuitäten anti-kolonialer Kämpfe spielt dabei in sozialökologischen Konflikten und Bewegungen eine bleibende Rolle (Guha/Martínez-Alier 1997: 40 ff.; Moyo/Yeros 2005b: 46; Levien 2011).

Abb. 2.2
figure 2

(Eigene Darstellung)

Konvergenz der Konfliktebenen in Grenzkämpfen.

Die in Abbildung 2.2 dargestellten Heterogenitäten können sich in diesem Sinne gegenseitig festigen. Hier konvergiert die strukturelle Heterogenität im Ökonomischen mit einer Heterogenität auf der politischen und kulturellen Ebene (Córdova 1971: 27, 68; Althusser 2012: 48, 93). Andererseits muss über diese »Entsprechungsverhältnisse« hinaus auch der Eigenlogik der politischen und kulturellen Praktiken gerecht geworden werden. Aufgrund dieser Eigenlogiken kann es zu Differenzen und Spaltungen innerhalb des bedarfsökonomischen Sektors entlang von race und gender kommen. So ist mit Blick auf die ausgeführte Relevanz der indigenen Identitäten danach zu fragen, inwiefern es in Bezug auf diese Gruppe zu sozialen Abwertungen, rassistischen Diskursen und Ressentiments kommt, die zu Spannungen innerhalb des bedarfsökonomischen Sektors führen und die oben angeführte sektorale Spaltungslinie konterkarieren. Identitäten wie diejenige indigener Gruppen verstehe ich dabei nicht als statische Variablen. Vielmehr gewinnen Identitäten stets im Kontext spezifischer Praktiken, Diskurse und Kämpfe an Bedeutung. Traditionelle Rückbezüge in aktuellen Konflikten bringen dabei häufig rekonstruierte und aktualisierte Protestformen, Organisationsweisen und Identitäten hervor, die Eric Hobsbawm als »invented traditions« bezeichnete (Hobsbawm 1983: 1 f.). Kulturelle Identitäten lassen sich damit aus dem Zusammenhang mit hybriden Praktiken verstehen, die durch historische Kontinuitäten und generationelle Überlieferungen eine Gruppenidentität hervorbringen (ebd.: 2). Aufgrund dieser aktiven (Re)Produktion von Traditionen und Identitäten in Konflikten verwende ich im Folgenden nicht den eher essentialistischen Terminus der »Ethnie« als vielmehr denjenigen der kulturellen Identität. Diese Identitäten können dabei auch als Ergebnisse politischer Prozesse gesehen werden, die keinesfalls notwendigerweise mit der sektoralen Trennung zusammenfallen müssen.

In ähnlicher Weise gilt es – wie in Abschnitt 2.3.3 dargelegt – danach zu fragen, inwiefern es innerhalb des bedarfsökonomischen Sektors zu Differenzen entlang der Geschlechterachse und daraus folgenden Konflikten innerhalb der Haushalte kommt. Hierbei wurde Männern in patriarchalen Familien beispielsweise eine Komplizenschaft mit der kapitalistischen Ausbeutung vorgeworfen, die zu einer »Geschlechterpolarisierung« führe (Mies 1983a: 103, 108 ff.; ebd. 1983c: 25 f.). Die Folge dieser innersektoralen Spaltungen wären dann Auseinandersetzungen, die weniger als Grenzkämpfe als vielmehr als Konflikte und Spannungen um Ungleichheitsverhältnisse innerhalb des bedarfsökonomischen Sektors zu verstehen sind. Es ist folglich analytisch danach zu fragen, inwiefern es zu Auseinandersetzungen entlang von gender und race kommt, wie diese Herrschaftsachsen der oben genannten strukturellen Dichotomie entgegenwirken und inwiefern sich die genannten Identitäten trotz der Differenzen in einer gemeinsamen Klassenidentität der Mitglieder des bedarfsökonomischen Sektors artikulieren, die dem kapitalistischen Sektor gegenübersteht. Während die eingangs angeführte Betonung der strukturellen Dichotomie eine Konvergenz zwischen der strukturellen Heterogenität und der kulturellen und politischen Ebene nahelegt, rücken mit einer intersektional angelegten Fragestellung folglich auch die Differenzen innerhalb des bedarfsökonomischen Sektors in den Blick.

Darüber hinaus ist danach zu fragen, inwiefern bestimmte staatliche Politiken sektorale Grenzkämpfe einhegen und bestimmte bedarfsökonomische Akteure sozial oder politisch einbinden. So untersuchten die in Abschnitt 2.5 dargestellten Ansätze im Anschluss an die Regulationstheorie die strukturelle Heterogenität auf der politischen Ebene als Artikulationsbeziehung. Der Begriff der Artikulation rückt die Frage in den Mittelpunkt, wie die strukturelle Heterogenität trotz der sektoralen Trennung politisch reguliert wird. Die Artikulation der verschiedenen Produktionsformen, -weisen und Märkte findet dabei im Rahmen eines politischen Dominanzverhältnisses statt, durch das sich der kapitalistische den bedarfsökonomischen Sektor unterordnet. Während der Begriff der Artikulation eher ein sektorales Verhältnis »auf Augenhöhe« nahelegt, verweist der Begriff der Dominanz auf ein hierarchisches Verhältnis zwischen den ökonomischen Sektoren, das politisch hergestellt wird. Unter dem Dominanzverhältnis verstehe ich folglich die auf der politischen Ebene ablaufenden Prozesse, die die Reproduktion des vorherrschenden Akkumulationsregimes absichern und dazu beitragen, dass dessen Produktionsverhältnisse maßgeblich die Regulationsweise prägen. Dass bedeutet einerseits, dass andere bedarfsökonomische Produktionsweisen, -formen und Marktakteure möglichst in funktionalen Verflechtungsbeziehungen zum dominanten Akkumulationsregime stabilisiert oder aber exkludiert werden. Andererseits lassen sich wie Sanyal (2007: 126 f.) zeigte, auch neue nationale und internationale »Entwicklungs-« und Armutsbekämpfungspolitiken ausmachen, die bedarfsökonomische Aktivitäten fördern. Das Dominanzverhältnis auf der politischen Ebene besteht – laut Sanyal (2007: 95, 142 f.) – daher in Form einer »komplexen Hegemonie«. Damit stellt sich einerseits die Frage, inwiefern Grenzkämpfe auch um politische Artikulation, Regulation, Dominanzverhältnisse und Hegemonie geführt werden und andererseits, inwiefern diese Politiken oben genannten Spaltungen innerhalb des bedarfsökonomischen Sektors verstärken.

Abb. 2.3
figure 3

(Eigene Darstellung)

Zentrale Begriffe der Heuristik der Analyse von Grenzkämpfen.

All diese Zusammenhänge zwischen Praktiken auf den verschiedenen Ebenen der strukturellen Heterogenität bezeugen die Relevanz einer Forschungsperspektive, die mit Blick auf sozialökologische Konfliktdynamiken in extraktivistischen Peripherien nicht nur nach ökonomischen und ökologischen Verflechtungen, sondern auch nach kulturellen und geschlechtsspezifischen Ungleichheiten fragt. Daraus ergibt sich die empirisch zu überprüfende Frage, inwiefern es trotz der verschiedenen Differenzen innerhalb des bedarfsökonomischen Sektors zu vereinenden Grenzkämpfen gegenüber dem kapitalistischen Sektor kommt (Abbildung 2.3). Darüber hinaus lässt sich ebenfalls nur empirisch prüfen, inwiefern es bei derartigen Grenzkämpfen auf der politischen und kulturellen Ebene zu Differenzen im Sinne der strukturellen Dichotomie kommt, die der strukturellen Heterogenität auf der ökonomischen Ebene und der Pluralität der Naturverhältnisse entspricht. Im Folgenden stelle ich meine Fallauswahl und mein methodisches Vorgehen dar, durch die es mir ermöglicht wird, derartige empirische Fragen und damit zusammenhängend allgemein Grenzkämpfe in extraktivistischen Peripherien anhand des chilenischen Falles zu erforschen.