3.1 Stand der Forschung

Dieses Kapitel gibt einen Überblick über den Stand der Forschung zur sozialverbandlichen Beratung sowie zu den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen über den Zugang zum Recht respektive zu den sozialen Sicherungssystemen, die im Zusammenhang mit der vorliegenden Studie relevant sind.

Die empirische Analyse der Beratung von Sozialverbänden in Verbindung mit dem Zugang zu sozialer Sicherung stellt ein Forschungsdesiderat in der interdisziplinären Rechtsforschung respektive der bundesweiten Sozialpolitikforschung dar. Der Rechtssoziologe und Rechtsphilosoph Hubert Rottleuthner hat vermerkt, dass die vorgelagerten Bereiche der Sozialgerichtsbarkeit in einem der wichtigsten rechtssoziologischen Themenfelder, dem Zugang zum Recht, nur sporadisch auftauchen (vgl. Rottleuthner 2019, S. 117). Das hängt zum einen damit zusammen, dass die interdisziplinäre Erforschung des Sozialstaates in den letzten Jahrzehnten rückläufig ist, wie der Jurist und ehemalige Präsident des Bundessozialgerichts Peter Masuch und Kolleg:innen in einer Denkschrift zu 60 Jahren Bundessozialgericht konstatieren (2014). Zum anderen interessiert sich die Zugangsforschung vorwiegend für die materiell-, prozess- und verfahrensrechtlichen Aspekte und weniger für die Beratung im Zugang zum Recht. Folglich erscheint die Literaturlage mit Blick auf den Zugang zum Recht schier endlos und unübersichtlich, weil in den 1970er und 1980er Jahren Zugangsforschung zum Recht vor allem hieß, sich mit dem Zugang zu Gericht zu beschäftigen (vgl. Rottleuthner 2019, S. 121). Die derzeitige Forschung fasst den Zugangsbegriff weiter und schließt die Rechtsbildung und -beratung, also die Verbreitung von Rechtswissen zum Gebrauch von Recht mit ein (vgl. Fuchs 2019, S. 246 ff.). Begrenzt man den Zugang zum Recht auf den Zugang zum Sozialrecht respektive zur sozialen Sicherung, offenbart sich eine systematische Forschungslücke. Der Zugang zu den Systemen sozialer Sicherung ist – wie nachfolgend dargestellt – nur punktuell exploriert. Nicht selten liegen den Forschungsarbeiten auch schwerpunktmäßig andere forschungsleitende Fragen zugrunde als die der Zugänglichkeit zu Recht und Gericht. Gleichwohl lassen sich aus den einzelnen Forschungsergebnissen wichtige Hinweise über die Ausgestaltung des Zugangs zum Recht und Gericht respektive den sozialen Sicherungssystemen gewinnen.

Ein aktuell laufendes Projekt am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) untersucht aus rechtssoziologischer Perspektive den tatsächlichen Zugang zum Recht und zur Justiz für Bürger:innen der Stadt Berlin. Zu den forschungsleitenden Fragen zählen: Welche Zugänge zum Justizsystem gibt es? Welche Rechtsprobleme erreichen die Justiz und welche nicht? Wo liegen wesentliche Barrieren für den Rechtszugang? Wie in anderen Studien auch, werden die Möglichkeiten außergerichtlicher Zugänge zum Recht sekundär behandelt. Eine andere Untersuchung zum Gebührenrecht im sozialgerichtlichen Verfahren widmete sich 2009 der Frage, welche Auswirkungen die Einführung einer allgemeinen Gebührenpflicht auf die Inanspruchnahme der Sozialgerichte haben könnte. Die Befragung von Richter:innen und Kläger:innen ergab, dass es keine Auswirkungen auf den Zugang zu Gericht habe, weil viele Klagende bei Klageeinreichung nichts von der Gebührenfreiheit des gerichtlichen Verfahrens wussten (vgl. Braun et al. 2009, S. 288). Die Ergebnisse verdeutlichen, dass der im Verfahrensrecht niedrigschwellig ausgestaltete Zugang zum sozialgerichtlichen Verfahren trotz der Gebührenfreiheit aus Sicht der Bürger:innen nicht so einfach zugänglich ist. Eher beiläufig wird dort die Bedeutung der Beratung von gesellschaftlichen Interessenvertretern im sozialstaatlichen Gefüge thematisiert. Die Beratung nehme laut der befragten Richter:innen eine effektive Filterfunktion für das Klagegeschehen vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ein (vgl. Braun et al. 2009, S. 187).

Die Juristin und Rechtssoziologin Ulrike Müller (2021) untersuchte den Zugang zum Recht aus Sicht der Klagenden, indem sie nach dem klägerischen Erleben von SGB II-Konflikten und den Auswirkungen individueller Sozialrechtsmobilisierung auf kollektiv organisierte Interessensartikulation fragte (vgl. Müller 2021, S. 26). Sie kam zu dem Ergebnis, dass die individuelle Rechtsmobilisierung keine Auswirkungen auf die kollektive Mobilisierung der Grundsicherungsbezieher:innen hat, sondern der bestehende Klassenkonflikt konserviert wird (vgl. Müller 2021, S. 449 ff.). Und auch in dieser Studie wurde die Beratung von Verbänden und initiativgetragene Beratungsangebote nur am Rande zum Gegenstand der Forschung gemacht, obgleich sie als wichtiger Baustein im Zugang zu Recht und Gericht thematisiert wurde. Die Beratung bilde eine Art Basismobilisierung, die insbesondere Informationsbarrieren abbaut (vgl. Müller 2021, S. 170) und über den zeitlichen Einzelfall hinaus Leistungsberechtigte zu mehr Selbstbewusstsein und einem offensiveren Auftreten im Umgang mit den Behörden verhelfen kann (vgl. Müller 2021, S. 166) und damit auch der Gang vor Gericht wahrscheinlicher werde.

Tonja Rambausek (2017) verfolgte in ihrer Studie einen ähnlichen Ansatz. Sie interessierte sich für die Umsetzung von Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention. Die UN-Vertragsstaaten verpflichten sich demzufolge dazu, Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung zu ermöglichen und damit die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu fördern. Rambausek geht davon aus, dass Teilhabe und Selbstbestimmung Voraussetzungen für die Mobilisierung von Recht sind und Menschen mit Behinderung bei der Inanspruchnahme und Mobilisierung ihrer Rechte behindert werden (vgl. Rambausek, 2017, S. 29 ff.). Aus dem empirischen Teil der Arbeit geht hervor, dass Menschen mit Behinderungen unter bestimmten Voraussetzungen ihre Rechte mobilisieren können. Zu den Voraussetzungen zählt Rambausek vorhandenes Anspruchswissen. Wenn Betroffene um ihre eigenen Rechte wissen, ist es umso wahrscheinlicher, dass sie diese unter anderem durch Unterstützung Dritter mobilisieren (vgl. Rambausek 2017, S. 424 ff.). So sind es im Vergleich vor allem subjektive und nicht ökonomische Mobilisierungsfaktoren, die Menschen mit Behinderungen an der Mobilisierung ihrer Rechte behindern (vgl. Rambausek 2017, S. 433 ff.). Rambausek zufolge sind der Besitz von sozialem Kapital, also soziale Beziehungen und Netzwerke, bestimmte Fähigkeiten und eine barrierefreie Umwelt ausschlaggebend dafür, dass Menschen mit Behinderungen ihre Rechte mobilisieren, um dadurch einen Zugang zum Recht zu erhalten (vgl. ebd.).

In einer Studie wurden 2021 die Folgen der COVID-19-Pandemie auf den Zugang zu Arbeits- und Sozialgerichten untersucht. Der Zugang zum Recht war aufgrund der Schließungen und Einschränkungen der Rechtsantragstellen bei Gericht erschwert. Insbesondere für nicht vertretene Kläger:innen gestaltete sich der Zugang schwierig, weil mündliche Verhandlungen im Frühjahr 2020 mehrheitlich ausgesetzt wurden. Das wirkte sich wiederum auf die Verfahrensabläufe aus (vgl. Welti et al. 2021a, S. 483; Welti et al. 2021b, S. 22). Nur in Ausnahmefällen ist von der Möglichkeit, digitale Technik einzusetzen, Gebrauch gemacht worden, wenngleich der Einsatz von Technik durch das Sozialschutzpaket-II mit dem § 211 SGG geschaffen worden ist. Welti et al. machen abschließend deutlich, dass die zunehmende Digitalisierung auch in der Sozialgerichtsbarkeit für Betroffene keine weiteren Barrieren im Zugang zu Gericht aufbauen dürfe (vgl. Welti et al. 2021b, S. 24).

Andere Studien wiederum stellten verschiedene Aspekte des Vorverfahrens ins Zentrum der sozialrechtlichen Zugangsforschung. Aus den 1970/80er Jahren sind die Arbeiten des Sozialwissenschaftlers Helmut Hartmann (1985a) und die des Politik- und Rechtswissenschaftlers Stephan Leibfried (1976) bekannt, die den Zugang zu Sozialhilfeleistungen diskutierten. Hartmann untersuchte 1981 die Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfe in der Bundesrepublik Deutschland. Auf der Grundlage von 25.000 Haushaltsbefragungen in Verbindung mit Einzelinterviews analysierte er die Ursachen für eine Nichtnutzung von Sozialleistungen. Neben soziodemographischen Unterschieden und infrastrukturellen Aspekten wie den organisatorisch-administrativen Barrieren identifizierte Hartmann verschiedene gesellschaftliche Motive und Ursachen für die Nichtinanspruchnahme. Dazu zählen fehlende Kenntnisse über die Sozialhilfe und die Anspruchsvoraussetzungen, eine fehlende Anspruchshaltung und die Unsicherheit im Umgang mit Behörden. Als besonders gravierend erschienen subjektive Ängste vor Diskriminierungen und Stigmatisierungen, die mit dem Leistungsbezug einhergehen können (vgl. Hartmann 1985a, S. 184 ff.). Hartmann verwies dabei auch auf den rudimentären Forschungsstand zu Umfang, Struktur und Ursachen für eine Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfe (vgl. Hartmann 1985a, S. 172).

Wenzel und Leibfried intensivierten auf theoretischer Ebene die Diskussionen über gesellschaftliche und administrative Filter, die verhindern, dass Leistungsberechtigte ihre Rechte einfordern (vgl. Leibfried und Wenzel 1986, S. 52 ff.; Leibfried 1976). Die gesellschaftliche Schwelle im Zugang zur Sozialhilfe definiert Leibfried als „positive Fixierung [von: KW] Personen auf die Verwertung der eigenen Arbeitskraft über den Arbeitsmarkt, durch die grundsätzlich alle Alternativen ausgeblendet werden“ (Leibfried 1976, S. 382), sodass der Leistungsbezug als individuelle Unselbstständigkeit interpretiert wird und dadurch Diskriminierungen hervorbringt. Des Weiteren etablieren sich fehlende beziehungsweise abschreckende Informationen über den Bezug von Sozialhilfe und verwehren den Zugang (vgl. Leibfried 1976, S. 382–383). Als administrative Schwelle für die Inanspruchnahme von Sozialhilfe versteht Leibfried die passive Institutionalisierung der Leistungsverwaltung. Das bedeutet, dass die Verwaltung soziale Probleme nicht von sich aus aufspürt und ausnahmslos bearbeitet, sondern die Betroffenen sich aktiv melden und ihre Rechte einfordern müssen (vgl. ebd.). Beobachtungen zufolge liegt in der passiven Institutionalisierung ein entscheidender Filter, der in der Regel nur von jenen Leistungsberechtigten überwunden wird, die wissen, wie sie ihre Rechte zur Geltung bringen. Es handelt sich dabei regelmäßig um Personen(gruppen) aus oberen sozialen Schichten (vgl. Leibfried 1976, S. 384). Des Weiteren arbeitete Leibfried weitere manifeste administrative Schwellen heraus, die den Zugang zu Sozialhilfe erschweren. Er skizzierte die Ausgestaltung des Antragsverfahrens, physische Erreichbarkeit der Behörden selbst und die Auswirkungen der verschiedenen Leistungsformen auf den Adressat:innenkreis als Filter im Zugang zu Sozialhilfeleistungen (vgl. Leibfried 1976, S. 385 ff.).

Eine aktuelle Forschungsarbeit von Jennifer Eckhardt (2023) greift die Problematik der Nichtinanspruchnahme von sozialstaatlicher Unterstützung durch formal Berechtigte auf. Bei der Interpretation der Daten ist zu beachten, dass das Sample sich aus Interviewpersonen zusammensetzte, die sich im Wesentlichen mit den materiellen existenzsichernden Leistungssystemen aus dem Zweiten und Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II und SGB III)Footnote 1 auseinandersetzten und dort die Zuweisung von Bedürftigkeit anders als in anderen Leistungsbereichen stärker negativ konnotiert sein kann. Eckhardt kommt zu dem Ergebnis, dass der Verzicht auf sozialstaatliche Leistungen mit den Subjektivierungsweisen und Aneignungsprozessen von sozialstaatlichen Verregelungssystemen zusammenhängt. Beispielsweise wird der Bezug von Sozialleistungen „als Anzeichen für eine Nicht-Zugehörigkeit zur ,Normalgesellschaft‘ [Herv.i.O.] gesehen“ (Eckhardt 2023, S. 283). Ein weiteres Motiv für den Verzicht liegt in den Subjektivierungsweisen der Anspruchsberechtigten. Sie lehnen die kategorialen Zuweisungen des Sozialleistungssystems als bedürftig, arbeitslos oder als krank sowie das Abhängigkeitsverhältnis ab und positionieren sich als mobilisierungsfähig und selbstbestimmt. Den formalen Wirkweisen und Kategorisierungsversuchen wird mit Skepsis begegnet, sodass die Kontrolle über die eigenen Lebensverhältnisse unter widrigen Umständen der ökonomischen Deprivation aufrechterhalten bleiben soll (vgl. Eckardt 2023, S. 285). Nicht zuletzt werden die Umgangsweisen von Behördenmitarbeitenden als Motiv für den Verzicht angeführt. Die Studie arbeitete Erfahrungen von Aberkennung der eigenen Mündigkeit, Autonomie und Würde als Motive zur Nichtinanspruchnahme heraus (vgl. Eckhardt 2023, S. 287). Der Verzicht auf sozialstaatliche Unterstützung bildet aber auch eine Reaktion auf wahrgenommene Dysfunktionalitäten des Sozialleistungssystems (vgl. Eckhardt 2023, S. 289 ff.). Es bildet sich ein kollektiver Zusammenschluss von Anspruchsberechtigten, die mit der Nichtinanspruchnahme eine Reform der sozialstaatlichen Strukturen herbeiführen wollen und auf diese Weise ihre Kritik am Sozialstaat und dessen kategorialer Zuweisungen als Protestform kundtun (vgl. ebd.). Insgesamt drückt sich in den Motiven der Nichtinanspruchnahme eine Ablehnung der kategorialen Zuweisung von Bedürftigkeit aus, die aus Sicht der Interviewten über die Instanzen des Sozialstaats vermittelt wird (vgl. Eckhardt 2023, S. 294).

Eine rechtssoziologische Untersuchung interessierte sich für die Widerspruchsausschüsse in der Sozialversicherung (vgl. Höland und Welti 2019). Dort wurden rechtssoziologische Fragen aufgeworfen, die sich auch dem Zugang zum Recht zuordnen lassen und sich mit der Kontroll- und Filterfunktion von Widerspruchsausschüssen auf dem Weg zu den Sozialgerichten auseinandersetzten. Wenngleich hier ausschließlich die Perspektive der untersuchten Institution Eingang in die empirische Untersuchung fand, wurde dennoch eine Filterwirkung im Hinblick auf die Streitbeilegung im Vorfeld von sozialgerichtlichen Verfahren und innerhalb der Verwaltungen herausgearbeitet. Die Widerspruchsausschüsse der Sozialversicherung operieren an den Grenzen zwischen funktionaler Selbstverwaltung und staatlicher Rechtspflege, indem sie durch ihre Entscheidungspraxis den Rechtsweg zu den Sozialgerichten freigeben oder eben nicht. Aus diesem Grund besitzen sie als Einrichtung der Selbstverwaltung eine Filterwirkung für die staatliche Rechtspflege (vgl. Höland 2019, S. 59). Hubert Rottleuthner hatte in diesem Zusammenhang die Filterfunktion der Widerspruchsausschüsse in ihrer quantitativen Dimension relativiert, weil nur die Anzahl von eingegangenen Widersprüchen bekannt ist und nicht deren Anteil an der Ausgangsmenge von Bescheiden (vgl. Rottleuthner 2019, S. 122). Nichtsdestoweniger konstatierte Rottleuthner aus rechtssoziologischer Perspektive, dass die Versicherungsträger auf einen Widerspruch hin selbst Abhilfe schaffen und nur ein geringer Anteil von den Widersprüchen als begründet angesehen werden. In den meisten Fällen bekräftigen die Widerspruchsausschüsse die Argumentationen der Ausgangsbehörde mit der Folge, dass die Widersprechenden nicht weiter vor Gericht gehen (vgl. Rottleuthner 2019, S. 125 ff.).

Die Sozialwissenschaftler:innen Patrizia Aurich-Beerheide, Martin Brussig und Manuela Schwarzkopf erforschten mit dem Zugang zu Erwerbsminderungsrenten einen spezifischen Sozialleistungsbereich. Das Erkenntnisinteresse richtete sich auf die Versicherungsträger der Bundesagentur für Arbeit und die Rentenversicherung, die an der Feststellung einer Erwerbsminderung beteiligt sind. Forschungsleitend waren Fragen nach dem Selbstverständnis, den Handlungsrationalitäten und vorhandenen Ressourcen der Expert:innen in der Entscheidungspraxis zu Erwerbsminderungsleistungen (vgl. Aurich-Beerheide et al. 2018, S. 11). Die Autor:innen der Studie kamen zu dem Ergebnis, dass der Zugang zu Erwerbsminderungsrenten von institutionellen Bedingungen, organisatorischen Abläufen und strategischen Interessen abhängig ist (vgl. Aurich-Beerheide et al. 2018, S. 18). Eine ganze Reihe von Expert:innen sind an der Feststellung einer Erwerbsminderung beteiligt. Im gegliederten System der sozialen Sicherung interagieren bei der Feststellung die gesetzliche Krankenversicherung, die gesetzliche Rentenversicherung und die Arbeitsförderung der Agenturen für Arbeit und den Jobcentern miteinander (vgl. Aurich-Beerheide et al. 2018, S. 313). Die komplementären und überlappenden Zuständigkeiten der verschiedenen Träger sind komplex. Verschiedene sozialpolitische Zielvorstellungen wie die Vermeidung von Erwerbsminderung, die Beseitigung eingetretener Erwerbsminderung und die soziale Absicherung nicht aufhebbarer Erwerbsminderung existieren nebeneinander und stellen unterschiedliche Anforderungen an das gegliederte System (vgl. Aurich-Beerheide et al. 2018, S. 316). Die verschiedenen Ziele sind nicht eindeutig auf die Träger verteilt. Wenngleich alle das gemeinsame Ziel der (Wieder-)Herstellung von Arbeits- und Erwerbsarbeit verfolgen, ist der gesetzliche Auftrag einzelner Sozialleistungsträger unterschiedlich und basiert auf den verschiedenen Lebenslagen der Versicherten (vgl. Aurich-Beerheide et al. 2018, S. 316). Vonseiten der Leistungsträger ist es nicht umsetzbar, alle erforderlichen Leistungen anzubieten (vgl. ebd.). So kompliziert die Klärung der Zuständigkeiten ist, so unübersichtlich stellt sich auch der Feststellungsprozess von Erwerbsminderung selbst dar. Es ist ein Prozess, der den Autor:innen zufolge nicht in einzelnen Stufen, sondern in Schleifen stattfindet und immer wieder Rückverweise und Querbezüge zwischen den Trägern hervorruft (vgl. Aurich-Beerheide et al. 2018, S. 317). Des Weiteren zeigten die Ergebnisse der Studie, dass auch binnenorganisatorische und professionsbezogene Abstimmungsprozesse den Zugang zur Erwerbsminderung beeinflussen. Zeitvorgaben für einzelne Prozessschritte, Bewirtschaftung für sozialmedizinische Begutachtungen, Entscheidungen für externe versus interne Begutachtungen sind nur einige der herausgearbeiteten prozessbezogenen Erkenntnisse im Zugang zur Feststellung von Erwerbsminderung (vgl. Aurich-Beerheide et al. 2018, S. 318). Schlussendlich zeigte die Studie mit den dezidierten empirischen Erkenntnissen über die Entscheidungspraxis im Zugang zu dieser Sozialleistung, dass die Abläufe „mit Schleifen statt Stufen“ (Aurich-Beerheide et al. 2018, S. 326) für Versicherte nur schwer nachvollziehbar sind und sie aufgrund fehlender Kenntnisse soziale Rechte nicht in vollem Umfang wahrnehmen (vgl. Aurich-Beerheide et al. 2018, S. 325 ff.). Die Verantwortlichen der Studie forderten, die Beratungspflichten der Leistungsträger auszubauen, erlassene Bescheide mit Hinweisen auf Beratungsstellen zu versehen und die Kompetenzen der Sachbearbeitenden mit verschiedenen Weiterbildungsprogrammen zu fördern (vgl. Aurich-Beerheide et al. 2018, S. 326). Außerdem sollen die Partizipationsmöglichkeiten der Versicherten im Zugang zur Erwerbsminderung mit dem Recht auf persönliche Begutachtung erleichtert und die unmittelbare Vorsprache und Kommunikation gewährleistet werden (vgl. Aurich-Beerheide et al. 2018, S. 327).

Im Rahmen einer ähnlich gelagerten Studie befassten sich die Politikwissenschaftlerin Sybille Stöbe-Blossey und Kolleg:innen 2021 mit dem Thema der gefährdeten Erwerbsarbeit und dem damit verbundenen Zugang zu Rehabilitationsleistungen (vgl. Stöbe-Blossey et al. 2021, S. 133 ff.). Versicherte stehen einem stark segmentierten System von Rehabilitationsträgern und -leistungen gegenüber, um eine umfassende und gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wieder ermöglicht zu bekommen. Für den Erhalt und die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit konzentrierte sich die Studie auf die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und die medizinische Rehabilitation (vgl. Stöbe-Blossey et al. 2021, S. 134). Auf der Makroebene schaute sich die Studie die Rahmenbedingungen, also die rechtlichen Grundlagen an, während sich der Blick auf der Mesoebene auf organisatorische Arrangements richtete und auf der Mikroebene die Bearbeitung einzelner Fälle ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte (vgl. Stöbe-Blossey et al. 2021, S. 135). Aus der Studie geht wie auch schon aus der Untersuchung von Aurich-Beerheide et al. hervor, dass die Durchführung von Rehabilitationsleistungen verschiedenen Trägern obliegt (vgl. Stöbe-Blossey et al. 2021, S. 206). Mehrere Leistungsträger sind für die Realisierung eines umfassenden Teilhabeanspruchs für Menschen mit (drohender) Behinderung zuständig (vgl. ebd.). Zudem werden in den verschiedenen Rechtskreisen, denen die Träger angehören, unterschiedliche Ziele im Hinblick auf die Rehabilitation definiert. Während im SGB III der Arbeitsmarktbezug vorrangig ist, konzentrieren sich die Akteur:innen im Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI)Footnote 2 auf die Vermeidung des vorzeitigen Rentenbezugs, was wiederum Auswirkungen auf die Ausgestaltungen der Leistungen für die Adressat:innen haben kann (vgl. ebd.). Die Schnittstellenarbeit zwischen verschiedenen Trägern und der Austausch und die Abstimmung sowohl in interorganisationaler als auch in der direkten Fallbearbeitung sind den Erkenntnissen der Studie zufolge voraussetzungsvoll (vgl. Stöbe-Blossey et al. 2021, S. 210). Für den Zugang zu Rehabilitationsleistungen bedeutet das, dass es zu Verzögerungen bei der Leistungsgewährung kommen kann oder das Leistungen aufgrund der Abstimmungs- und Schnittstellenprobleme gar nicht oder nicht in vollem Umfang gewährt werden (vgl. Stöbe-Blossey et al. 2021, S. 223).

Es zeigt sich, dass der Forschungsstand über die Zugänglichkeit zur sozialen Sicherung in der interdisziplinären Rechtsforschung überschaubar ist. Die nachgezeichneten Studien gelangten zu interessanten Erkenntnissen über verfahrens- und prozessrechtlich voraussetzungsvolle Bedingungen, die den Zugang zur sozialen Sicherung gestalten, vernachlässigten aber bis auf Müller (2021) die Perspektive der Adressat:innen. Der Fokus der Zugangsforschung liegt vielmehr auf der organisationssoziologischen und dienstleistungsorientierten Perspektive als ein Teil dessen, was den Zugang zur sozialen Sicherung (mit)gestaltet. Demzufolge fehlt in der empirisch aufbereiteten Literatur die Sichtweisen der Adressat:innen von sozialen Sicherungssystemen als auch die jener Akteur:innen, die als vermittelnde Instanzen den Zugang zum System sozialer Sicherung herstellen. Das sind im Speziellen beratende Akteur:innen, die die subjektiven Benachteiligungen trotz formaler Gleichbehandlung ausgleichen. In der Literatur spielt die Beratung in sozialrechtlichen Angelegenheiten nur eine nachgelagerte Rolle und gibt lediglich Hinweise auf die Notwendigkeit von Beratung in individuellen Rechtsmobilisierungsprozessen. Vergleichsweise konzentrier(t)en sich wenige Untersuchungen auf die Beratung in sozialrechtlichen Angelegenheiten, was verwunderlich ist, denn aus der Literaturrecherche geht hervor, dass es mit der Anwaltschaft, den Sozialbehörden, gesellschaftlichen Interessenvertreter:innen, sowie anderen Rechtsdienstleister:innen viele verschiedene Akteur:innen in Deutschland gibt, die sich an der Beratung in sozialrechtlichen Angelegenheiten beteiligen (vgl. Blankenburg et al. 1982, S. 133).

Wohl die bekannteste Studie zur Rechtsberatung stammt von dem Rechtssoziologen Erhard Blankenburg und seinen Kolleg:innen aus dem Jahre 1982, in der sie eine Flächenstichprobe von allen privaten Haushalten in West-Berlin zogen und nach der sozialen Verteilung von Rechtsproblemen und den Bewältigungsstrategien fragten (vgl. Blankenburg et al. 1982, S. 20 ff.). Die Ergebnisse veröffentlichten sie in ihrem Buch zur „Rechtsberatung. Soziale Definition von Rechtsproblemen durch Rechtsberatungsangebote“ (1982). Die Ergebnisse der Studie machten deutlich, dass die Beratung von gesellschaftlichen Interessenvertretern neben der anwaltlichen Rechtsberatung und -vertretung und der behördlichen Beratung zu den drei häufigsten Beratungsangeboten gehören. Betroffene suchen diese Beratungsstellen unter anderem bei Problemen mit Behörden auf (vgl. Blankenburg et al. 1982, S. 133 ff.). Des Weiteren ging aus der Studie hervor, dass Ratsuchende im Umgang mit Behörden die schlechte Behandlung von Beamt:innen, lange Wartezeiten, überlange Verfahrensdauern und die Ablehnung von Leistungen problematisierten (vgl. Blankenburg et al. 1982, S. 122 ff.). Insbesondere bei der Versagung von Sozialleistungen und Mahnbescheiden suchten circa die Hälfte der 805 befragten Personen eine Rechtsberatung auf oder gingen vor Gericht. Zudem lieferte die Studie Erkenntnisse über die Sozialverteilung von Problemen im Umgang mit Behörden (vgl. Blankenburg et al. 1982, S. 123). Personen mit einem höheren Ausbildungsstatus sprachen vergleichsweise häufiger Konflikte im Umgang mit Behörden an als beispielsweise Rentner, Hausfrauen und Berufstätige mit niedrigem Ausbildungsgrad (vgl. Blankenburg et al. 1982, S. 124). Diese Personen(-gruppen) holten sich dann die Hilfe Dritter (vgl. Blankenburg et al. 1982, S. 129).

Probleme mit Behörden können auch im Zusammenhang mit ihrer Verpflichtung zur Beratung auftreten. Nach § 14 SGB I sind Sozialleistungsträger dazu verpflichtet, die Versicherten und potentiellen Leistungsbezieher:innen zu ihren Rechten und Pflichten zu beraten. In einzelnen Rechtskreisen werden die Beratungspflichten im Laufe gesetzlicher Änderungen präzisiert, wie beispielsweise im SGB II. Zu den notwendigen Inhalten einer behördlichen Beratung zählen demnach die Informationsweitergabe zu Selbsthilfeobliegenheiten und Mitwirkungspflichten, die Berechnung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und die Weitergabe von Informationen zur Auswahl von Eingliederungsleistungen (vgl. Dern und Kreher 2018). Insbesondere die Beratungs- und Vermittlungsleistungen der Agenturen für Arbeit und der Jobcenter aus dem SGB II wecken die Aufmerksamkeit der interdisziplinären Rechtsforschung und sind regelmäßig Gegenstand von rechts-, politik- und sozialwissenschaftlicher (Dienstleistungs-)Forschung (vgl. Kirchmann et al. 2021; Bähr et al. 2019; Molle 2018; Bartelheimer et al. 2013; Hartmann 2014; Kolbe 2012; Tisch 2010; Hielscher und Ochs 2009; Baethge-Kinsky et al. 2007).

Neben den Beratungspflichten der Leistungsträger ist die Einrichtung von spezifischen Beratungsstellen gesetzlich verankert. Dazu zählt beispielsweise die ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) im Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX),Footnote 3 die Pflegeberatung nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI)Footnote 4 und die bereits wieder aufgelösten gemeinsamen Servicestellen für Rehabilitation im SGB IX (vgl. Fakhr Shafaei 2008; Wellmann 2004). Zu diesen Beratungsstellen liegen Evaluationen vor, die Erkenntnisse über Bedingungen der Beratungsarbeit, das Beratungsaufkommen, den Beratungsanlass und die Inhalte sowie über das Beratungssetting generierten (vgl. Braukmann et al. 2021; Wolff et al. 2020; Braukmann et al. 2017b; Pfeuffer et al. 2004). Zusammenfassend konstatierten die Autor:innen, dass bei der Beratungs- und Vermittlungsarbeit der Leistungsträger erhebliches Verbesserungspotential besteht, insbesondere was die Beteiligung der Betroffenen in den Interaktionssituationen auf Augenhöhe betrifft. Speziell arbeitsmarktferne Personen werden den Erkenntnissen der Studienlage zufolge unzureichend unterstützt und beraten (vgl. Neureiter et al. 2017, S. 363 ff.).

Des Weiteren werden Beratungsangebote von Erwerbsloseninitiativen, Selbsthilfegruppen und anderen Interessenvereinigungen zum Gegenstand empirischer Forschung gemacht. Es ist auch hier eine Tendenz des Forschungsinteresses für jene Rechtskreise zu beobachten, die sich mit Arbeitslosigkeit auseinandersetzen. Zwischen 1997 und 2000 hat erstmals ein Projekt zu „Arbeitsloseninitiativen in den neuen Bundesländern“ (ALIN) systematisch flächendeckende Daten über Arbeitsloseninitiativen in Ostdeutschland (Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen) erhoben. Ziel der Studie war, Erkenntnisse über die Strukturen von Arbeitsloseninitiativen in den neuen Bundesländern zu gewinnen, die Kontakt- und Vernetzungsarbeit der Initiativen untereinander und zu kommunalen Einrichtungen nachzuvollziehen und schließlich auch die Unterstützungsformen für arbeitslose Personen kennenzulernen (vgl. Reister 2000a, S. 12-13). Die Studie untersuchte in diesem Zusammenhang die Beratungsangebote von verschiedenen Initiativen wie Gewerkschaften, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Kommunen. Hierbei zeigte sich deutlich, dass sich Sozialverbände gar nicht und Wohlfahrtsverbände (n = 33 von insgesamt 429 Beratungsstellen) im Vergleich zu eingerichteten Arbeitsloseninitiativen (n = 214 von insgesamt 429 Beratungsstellen) nur im geringen Umfang an der Beratung von Arbeitslosen beteiligen (vgl. Reister 2000b, S. 349 ff.). Des Weiteren sind es vor allem individuelle Beratungen, die bei den Arbeitsloseninitiativen durchgeführt werden und den überwiegenden Anteil der Organisationsarbeit ausmachen (vgl. Reister 2000b, S. 354 ff.). In der Beratung von Arbeitsloseninitiativen spiegelt vor allem das Motiv zur Hilfe für Opfer der Wende wieder (vgl. Reister 2000b, S. 377 ff.). Die Motivation, Menschen zu helfen, die nach der Wendezeit arbeitslos wurden, sei auf das Selbstverständnis der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zurückzuführen. Der Verlust von Arbeit war in diesem Staatswesen bis zur Wendezeit ein unvorstellbares Szenario, sodass die Arbeitsloseninitiativen mit ihren Beratungs- und Unterstützungsangeboten eine wichtige Rolle in der Um- und Aufbauzeit zur vereinten Bundesrepublik Deutschland (BRD) einnahmen. Die Bürger:innen der ehemaligen DDR mussten das gesamte Rechts- und Sozialsystem der BRD neu erlernen. Für diese praktische Lebenshilfe waren die Arbeitsloseninitiativen zuständig (vgl. Reister 2000b, S. 377).

Im Jahr 2013 untersuchte eine Studie behördenunabhängige Beratungsstellen für Erwerbslose. In der Zeit von November 2012 bis Dezember 2013 evaluierten Neureiter et al. ein vom Land Nordrhein-Westfalen gefördertes Programm zur Einrichtung von 80 unabhängigen und neutralen Erwerbslosenberatungsstellen. Ziel der Evaluation war, die Erfolgsfaktoren für eine gute Umsetzung der Beratungsleistungen zu identifizieren und eine Einschätzung der Wirkungen unabhängiger Beratung vorzunehmen (vgl. Neureiter et al. 2017, S. 366 ff.). Mit einem Mixed-Methods-Ansatz untersuchten die Autor:innen die Implementierung der Erwerbslosenberatungsstellen. Hervorzuheben ist die Auswertung von rund 90.000 Einzelberatungsprotokollen zur Form der Beratung, Angaben zu den ratsuchenden Personen, zu Beratungsinhalten sowie zu den Ergebnissen der einzelnen Gespräche (vgl. Neureiter et al. 2017, S. 367). Die Studie lieferte Erkenntnisse über die Beratenden, ihre Kompetenzen, die Anforderungen in der Beratung, die Ratsuchenden und ihre Anliegen sowie die Unterstützungsstrukturen. Die Auswertung zeigte, dass die Beratungsstellen überwiegend aufgrund von Problemen mit den Jobcentern aufgesucht wurden. Die Erläuterung von Leistungsbescheiden, Informationen über Rechte und Pflichten gegenüber den Leistungsträgern und die Unterstützung bei der Antragstellung sind für die Beratungsarbeit der Erwerbslosenberatungsstellen zentral (vgl. Neureiter et al. 2017, S. 370). So nimmt die behördenunabhängige Beratung in der Zugangsgestaltung zur sozialen Sicherung eine Vermittler:innenrolle zwischen Bürger:innen und Leistungsträgern ein. Insbesondere der Charakter der Freiwilligkeit und Unabhängigkeit dieser Stellen wird von den befragten Trägern, Beratungsstellen und Ratsuchenden als Mehrwert empfunden (vgl. Neureiter et al. 2017, S. 378). Zudem trägt ein von Kooperation, Respekt und Wertschätzung geprägter Austausch zwischen Beratungsstellen und Leistungsträgern dazu bei, dass der Zugang zur sozialen Sicherung institutionsübergreifend hergestellt wird (vgl. Neureiter et al. 2017, S. 374). Die gegenseitige Wahrnehmung, Wertschätzung und Kooperationsbereitschaft zwischen Beratungsstellen und Trägern ist der Studie zufolge allerdings sehr unterschiedlich (vgl. Neureiter et al. 2017, S. 378). Weitere Erkenntnisse lieferte die Studie hinsichtlich der Beratungseigenschaften in den Einrichtungen. Die Beratenden sind häufiger mit leistungsrechtlichen Fragen konfrontiert und weniger mit Vermittlungsfragen. Des Weiteren müssen die Beratenden Struktur in die komplexen Lebens- und Problemlagen der Ratsuchenden bringen, um Leistungsaspekte klären zu können. Der Aspekt von Freiwilligkeit und Vertraulichkeit in den unabhängigen Stellen wurde in diesem Zusammenhang als ein wichtiges Kriterium herausgearbeitet (vgl. Neureiter et al. 2017, S. 380 ff.). Außerdem wurde aus den Studienergebnissen ersichtlich, dass die Übersetzung rechtlicher Aspekte von sozialen Problemlagen für Sozialrechtsverhältnisse deeskalierend wirken kann, weil behördliche Entscheidungen auf diese Weise für Ratsuchende nachvollziehbar und transparent gemacht werden (vgl. Neureiter et al. 2017, S. 382). Zudem ist es das Ziel sogenannter Coaching-Prozesse, die Selbsthilfekapazitäten der Betroffenen und dadurch den individuellen Rechtsschutz zu stärken (vgl. Neureiter et al. 2017, S. 375).

Eine Studie von der Sozialpädagogin Ulrike Leistner untersuchte „Verständigungsbarrieren in der schriftlichen Verwaltungs-Bürger-Kommunikation und die vermittelnde Funktion der Sozialen Arbeit“ (2019). Sie führte Interviews mit Ratsuchenden und Beratenden, wertete Jobcenterschreiben aus und zeichnete Beratungsgespräche über Jobcenterschreiben auf (vgl. Leistner 2019, S. 164). Die Ergebnisse der Studie zeigten, dass die Beratung in Erwerbslosenberatungsstellen den Zugang zur sozialen Sicherung insoweit mitgestaltet, dass sie zwischen Rechts- wie Verwaltungssprache und der Alltagssprache der Ratsuchenden vermittelt. Sie übersetzen Jobcenterschreiben und die den Bescheiden zugrundeliegenden Verwaltungsabläufe sowie Verwaltungslogiken und (über-)prüfen die Verwaltungsentscheidungen (vgl. Leistner 2019, S. 246 ff.). Außerdem bereiten die Beratenden die Ratsuchenden auf die weiteren Schritte im Umgang mit den Behörden vor (vgl. Leistner 2019, S. 249). Die Autorin folgerte daraus, dass die Nutzermacht der Ratsuchenden mit der Bereitstellung rechtlichen Wissens gestärkt wird (vgl. Leistner 2019, S. 269-270).

Über Untersuchungen von Erwerbslosenberatungsstellen hinaus steigt in Zeiten zunehmender Digitalisierung und nicht zuletzt verstärkt durch die Corona-Pandemie das Forschungsinteresse für die digitale Beratung im Sozialrecht (vgl. Schillen et al. 2022; Rehder und van Elten 2020; Völzmann 2020; Kuhlmann 2018). In den letzten zehn Jahren haben sich digitale Rechtsdienstleister, sogenannte Legal Tech-Unternehmen, auf dem Rechtsberatungsmarkt etabliert, ergänzen die behördliche Beratung, treten aber auch in Konkurrenz zu den behördenunabhängigen Beratungsangeboten von Erwerbsloseninitiativen und anderen gesellschaftlichen Interessenvertretern (vgl. Schillen et al. 2022, S. 30). Ein Forschungsprojekt im Rahmen des Fördernetzwerks Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung untersuchte zwischen 2019 und 2021 die Rechtsberatungsangebote von bis zu 60 Online-Anbietern im Arbeits- und Sozialrecht und deren Auswirkungen auf den Zugang zum Recht. Durch die Verlagerung des Zugangs zum Recht in den digitalen Raum werden Barrieren, die mit dem physischen Aufsuchen einer Beratungsstelle verbunden sind, überwunden und ein niedrigschwelliger Zugang in Verbindung mit der Digitalisierung konstatiert (vgl. Schillen et al. 2022, S. 33). Mit den Erkenntnissen aus der Studie können zwei Arten von digitalen Rechtsdienstleistern klassifiziert werden: zum einen Rechtsanwaltskanzleien, die ihre Beratungsangebote und die Rechtsvertretung online ausweiten, zum anderen jene Dienstleister, die im Auftrag von leistungsberechtigten Personen die Rechtsvertretung übernehmen und anhand von Automatisierungs- und Standardisierungsprozessen möglichst viele und inhaltsreiche Mandate zu generieren versuchen (vgl. Schillen et al. 2022, S. 34). Allerdings sind diese digitalen Dienstleistungen im Sozialrecht die Ausnahme. Von 15 digitalen Anbietern mit Bezügen zum SGB II fokussierten sich vier ausschließlich auf diesen Leistungsbereich, während die übrigen das Sozialrecht nur als einen Rechtskreis unter vielen anderen überwiegend aus dem Privatrecht, bearbeiten. Die Anbieter adressieren sehr spezifische Rechtsfragen und sind von defizitärer Problembearbeitung der Leistungsträger abhängig (vgl. Rehder et al. 2021, S. 377). Die Streitfälle im Sozialrecht seien im Vergleich zum Arbeitsaufwand wenig lukrativ (vgl. Schillen et al. 2022, S. 34), sodass die digitale Rechtsberatung und -durchsetzung im Sozialrecht wenig Wirkung entfaltet. Eine weitere Einschränkung der digitalen Angebote stellen die bereits in anderen Studien angedeutete Würdigung lebensweltbezogener Probleme bei der Bearbeitung von sozialrechtlichen Fragen dar (vgl. Rehder et al. 2021, S. 378). Für die Bearbeitung von komplexen Problemlagen sind im Einzelfall „Sortierarbeiten“ (Rehder et al. 2021, S. 378) notwendig, um den rechtlichen Sachverhalt zu erörtern, was digitale Anbieter nicht leisten könnten (vgl. Rehder et al. 2021, S. 378).

Die Beratung in sozialrechtlichen Angelegenheiten sowie der Zugang zum Recht respektive zu den sozialen Sicherungssystemen sind in der interdisziplinären Rechtsforschung wiederholt Gegenstand von Untersuchungen. Wenngleich sich daraus kein systematischer Forschungsstand ableiten lässt, liefern die punktuellen Ergebnisse erste Erkenntnisse über die Herausforderungen der Umsetzung von verfahrens- und prozessrechtlichen Voraussetzungen im Zugang zum Recht und einzelnen Sicherungssystemen sowie über die Nutzung von Beratung und Rechtsschutz als Strategien zur Überwindung eben jener herausgearbeiteten Herausforderungen im Rechtszugang. Eine in die Tiefe gehende Analyse über die rechtsmobilisierende Wirkung von Beratung fehlt bislang. Überdies stellt die Erforschung der Beratung von Sozialverbänden ein Forschungsdesiderat dar. Die vorliegende Arbeit zielt mit der in diesem Zusammenhang durchgeführten Studie darauf ab, diese (empirische) Forschungslücke zu verkleinern und mit dem Blick auf die sozialverbandliche Beratung nach § 7 RDG empirische Befunde zur Bedeutung von Beratung bei der Herstellung eines Zugangs zum System sozialer Sicherung zu gewinnen.

3.2 Terminologische Bestimmung der sozialrechtsbezogenen Beratung im Lichte des Rechtsdienstleistungsgesetzes (RDG)

Bevor der Frage nachzugehen ist, inwieweit der Zugang zum System sozialer Sicherung mit Unterstützung der sozialrechtsbezogenen Beratung effektiv hergestellt werden kann, gilt es zunächst den Begriff der sozialrechtsbezogenen Beratung im Lichte des RDG zu bestimmen. Obgleich in der Bundesrepublik Deutschland relativ umfangreiche, stark spezialisierte und institutionalisierte Beratungsangebote vorhanden sind,Footnote 5 existiert derzeit keine disziplinübergreifende einheitliche Definition der Beratung von gesellschaftlichen Akteursgruppen wie der Sozial- und Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften und Berufsverbände. Für die Einordnung in die heterogene Beratungslandschaft wird folglich die sozialrechtsbezogene Beratung im Lichte des RDG definiert und von Beratungsformen der Sozialen Arbeit und der im rechtswissenschaftlichen Diskurs klassischen anwaltlichen Rechtsberatung abgegrenzt.

Für die terminologische Bestimmung der sozialrechtsbezogenen Beratung im Lichte des RDG gilt es zunächst den Beratungsbegriff näher zu bestimmen. Beratung wird als eine Kommunikationsform zwischen mindestens zwei Personen definiert, bei der eine Person versucht eine andere Person mit kommunikativen Mitteln in einer Problemsituation zu unterstützen und mit spezifischem Wissen zur Entwicklung einer Lösungsstrategie beizutragen (vgl. Sickendiek et al. 2008, S. 13). Mittlerweile hat sich die Beratung in psychosozialen, sozialen, gesundheitsberuflichen, psychologischen und pädagogischen Arbeitsfeldern als Hilfe- und Unterstützungsform etabliert (vgl. Nestmann et al. 2007, S. 34). Über die genannten Arbeitsfelder hinaus bildet die Beratung als prozesshaftes Geschehen, bei dem Rat erzeugt wird, einen festen Bestandteil in verschiedenen Handlungsfeldern des sozialen Rechtsstaates (vgl. Welti 2016, S. 4 ff.). Sie hält ins Grundgesetz Einzug und verpflichtet die Bundesregierung, die Fraktionen, den Bundestag und Bundesrat zur Beratung von Gesetzesentwürfen (§ 76 GG).Footnote 6 Daneben wird Beratung auch in der Rechtsprechung angewendet. Gerichtsentscheidungen beruhen auf der Beratung von Richter:innen (vgl. Welti 2016, S. 6). Außerdem haben Rechtsuchende beim Zugang zum Gericht einen Anspruch auf Beratung zu ihren Rechten und Pflichten nach dem Beratungshilfegesetz (BerHG).Footnote 7 Nicht zuletzt findet sich Beratung auch in der Verwaltung von Sozialbehörden wieder. Sie ist Bestandteil eines jeden Verwaltungsverfahrens, wenn sie im Verwaltungsverfahrens- und Sozialrecht Behörden dazu verpflichtet, über die Rechte und Pflichten nach der jeweiligen Rechtsordnung zu informieren und Bürger:innen hinsichtlich des Verfahrensablaufs zu beraten (vgl. Welti 2016, S. 8). In selbstverwalteten Ausschüssen ist die Verwaltungspraxis und ihre Richtlinien sowie Vorschriften wiederholt Gegenstand von Beratungen (vgl. Welti 2016, S. 7).

Mit der Installierung von Beratung in verschiedenen Arbeits- und Handlungsfeldern geht auch die Professionalisierung der intersubjektiven Unterstützungsform einher. Es gibt eine große Bandbreite an Beratungsmethoden und -konzepte, die sich aus theoretisch-konzeptionellen Zugängen heraus entwickelt haben, durch disziplinäre sowie berufliche Zugehörigkeiten geprägt sind und/oder durch institutionell-organisatorische Bedingungen beeinflusst werden.Footnote 8 Die Beratung im Sozialrecht ist vor allem durch berufliche und disziplinäre Zugehörigkeiten sowie institutionell-organisatorische Bedingungen beeinflusst. Sie ist darauf ausgerichtet, Rat in den Wechselfällen des Lebens wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Pflegebedürftigkeit etc. zu erzeugen (siehe Kapitel 1). Dabei ist die Informationsweitergabe über sozialrechtliche Zusammenhänge mit eingeschlossenFootnote 9 und stellt somit in einzelfallbezogenen Beratungen wiederholt Bezüge zum Sozialrecht her (vgl. Müller 2021, S. 164). Ulrike Müller definiert Beratungen als rechtsbezogen, wenn auch, aber nicht ausschließlich, rechtliche Fragen thematisiert werden und Wissen über Gesetzesinhalte sowie über die Praxis der Sozialbehörden an Bürger:innen weitergegeben wird (vgl. ebd.). Sofern also in einer Beratung sozialrechtliche Fragen zur Bewältigung sozialer Problemlagen thematisiert und geklärt werden, lässt sich diese als sozialrechtsbezogen definieren.

Beratungen zur Klärung sozialrechtlicher Fragen werden ganz klassisch von Rechtsanwält:innen als „berufene, unabhängige Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten“ (§ 3 Abs. 1 BRAO)Footnote 10 angeboten und durchgeführt. Im engeren juristischen Sinne handelt es sich bei einer Rechtsberatung um fachkundigen Rat in verschiedenen Rechtsangelegenheiten mit dem Ziel eine Entscheidung über die gerichtliche Klärung von Rechtskonflikte zu treffen (vgl. Welti 2016, S. 6; Barabas 2007, S. 181). Folglich steht die Rechtsberatung im engen Zusammenhang mit einer anschließenden Vertretung vor Gericht zur Klärung eines Rechtsstreits. Rechtsanwält:innen wird weitestgehend ein Beratungs- und Vertretungsmonopol in allen Rechtsangelegenheiten eingeräumt (vgl. Blankenburg et al. 1982, S. 133).

Neben der klassischen Rechtsberatung von Jurist:innen kann die Beratung in sozialrechtlichen Angelegenheiten, wie bereits erwähnt, als Bestandteil des Sozialverwaltungsverfahrens wahrgenommen werden. Sozialleistungsträger sind nach § 14 SGB I zur Beratung über Rechte und Pflichten nach den Dreizehn Büchern des Sozialgesetzbuches (SGB I bis XIVFootnote 11) und den besonderen Teilen gemäß § 68 SGB I verpflichtet. In den einzelnen Büchern des Sozialgesetzbuches wird die Beratung weiter ausdifferenziert und ist in Teilen als eigenständige Sozialleistung ausgestaltetFootnote 12 (zum Beispiel in § 14 Abs. 2 SGB II, § 7a SGB XI). Daneben sind beispielsweise mit der Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatung im SGB IX oder der Unabhängigen Patientenberatung im Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V)Footnote 13 zusätzlich unabhängige Stellen verankert worden, um Bürger:innen zu ihren Rechten und Pflichten in dem jeweiligen Rechtsbereich zu beraten. Folglich umgrenzen und strukturieren rechtliche Regelungen die behördliche Beratung und beeinflussen neben institutionellen Gegebenheiten den Beratungsinhalt, Beratungsablauf und die Organisation.Footnote 14

Ähnliches gilt für behördenunabhängige Beratungsstellen, die sich neben der anwaltlichen und behördlichen Beratung zur Klärung sozialrechtlicher Fragen etabliert haben. Hierzu zählen vor allem Sozialverbände und Beratungsstellen in freien Trägerschaften. Für die unabhängigen Beratungsstellen ist das seit 2008 geltende RDG leitend. Beratung subsumiert sich in dieser Rechtsnorm unter dem Begriff der Rechtsdienstleistung. Als Rechtsdienstleistung wird jede Tätigkeit in konkreten fremden Angelegenheiten definiert, sobald sie eine rechtliche Prüfung des Einzelfalls erfordert (§ 2 Abs. 1 RDG). Dabei handelt es sich bei dem Tatbestandsmerkmal der konkreten fremden Angelegenheiten um eine Rechtsdienstleistung, wenn es sich um eine wirtschaftlich fremde Angelegenheit handelt.Footnote 15 Die Rechtsdienstleistung darf keine eigenen Angelegenheiten bearbeiten. Dazu zählt beispielsweise die Rechtsberatung durch gesetzliche Vertreter:innen oder Organe sowie Mitarbeitende eines Unternehmens, die selbiges beraten.Footnote 16 Entscheidend für die Bestimmung einer Rechtsdienstleistung ist das Merkmal der rechtlichen Prüfung des Einzelfalls. In der Bundestagsdrucksache zum Gesetzentwurf des RDG heißt es dazu, dass „eine […] rechtliche Prüfung […] über die bloße Anwendung von Rechtsnormen auf einen Sachverhalt hinausgeht.“Footnote 17 Auch der BGH definiert die rechtliche Prüfung des Einzelfalls als „jede konkrete Subsumtion eines Sachverhalts unter die maßgeblichen rechtlichen Bestimmungen, die über eine bloß schematische Anwendung von Rechtsnormen ohne weitere rechtliche Prüfung hinausgeht; ob es sich um eine einfache oder schwierige Rechtsfrage handelt, ist dabei unerheblich.“Footnote 18 Diesem Verständnis der rechtlichen Prüfung des Einzelfalls folgend, ist die Klärung von sozialen Problemlagen, die nach Inhalt, Form und Rechtsfolgen auch Laien vertraut sind und von nicht rechtsgewandten Bürger:innen nicht als rechtliche Lebensvorgänge wahrgenommen werdenFootnote 19 keine sozialrechtsbezogene Beratung im Sinne des RDG. In der Rechtsprechung wird das Merkmal der rechtlichen Prüfung unterschiedlich ausgelegt, ohne den Begriff abschließend zu klären. Einem Urteil des BSG folgend erfordert beispielsweise die Antragstellung und das Betreiben eines Verwaltungsverfahrens nach § 8 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X)Footnote 20 zur Erstfeststellung des Grades der Behinderung sowie der Voraussetzungen zur Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen nach dem SGB IX bis zur Bescheidung des Antrags noch keine rechtliche Prüfung des Einzelfalls, weil lediglich ein von der Behörde vorgefertigte Formular mit Informationen auszufüllen sei und Befundberichte über die gesundheitliche Lage anzufügen sind. Die anschließende Tätigkeit im Widerspruchsverfahren nach Erteilung des Erstbescheids über den Grad der Behinderung erfordert hingegen eine eigenständige rechtliche Prüfung im Sinne des § 2 RDG.Footnote 21 Rechtliche Zusammenhänge müssen hinsichtlich einer Beurteilung relevanter Tatsachen vollständig und zutreffend gewürdigt werden. Mit dem Ergebnis dieser Prüfung wird dann eine Entscheidung darüber gefällt, ob ein Widerspruch einzulegen ist oder nicht. Das BSG ist der Auffassung, dass dem RDG nur solche Rechtsdienstleistungen unterstellt sein sollen, die eine substantielle Rechtsprüfung erfordern.Footnote 22 Der BGH hat ebenfalls eine genauere Begriffsbestimmung der rechtlichen Prüfung offengelassen und begründet dies damit, dass sich eine einfache oder vertiefte rechtliche Prüfung aus dem Sachverhalt ergibt.Footnote 23 Die Anforderungen an eine rechtliche Prüfung erstrecken sich somit entweder auf alle rechtlichen Prüfungstätigkeiten oder auf eine vertiefte substantielle Rechtsprüfung. Dieser Meinungsstreit ist für die terminologische Abgrenzung der sozialrechtsbezogenen Beratung im Sinne des RDG bedeutend, wenngleich für die Beratung durch Interessenvereinigungen die Befugnisnormen in §§ 7-8 RDG ausschlaggebend sind.

Des Weiteren liegt auch keine Rechtsdienstleistung vor, wenn eine vertiefte Auseinandersetzung mit (sozial)rechtlichen Fragen stattfindet, aber diese nicht auf einen konkreten Einzelfall bezogen wird. Damit sind allgemeine Hinweise in der Öffentlichkeit oder die Weitergabe von rechtlichen Informationen an einen bestimmten Adressat:innenkreis noch keine Rechtsdienstleistung. Auch eher allgemein gehaltene Rechtsauskünfte an Einzelpersonen, die auf nicht überprüfbaren Angaben von Ratsuchenden folgen, erfüllen dem Gesetzgeber zufolge nicht das Tatbestandsmerkmal des Einzelfalls.Footnote 24 Demzufolge wird der Anwendungsbereich des Gesetzes nur dann eröffnet, wenn es sich um eine konkrete sachverhaltsbezogene Rechtsfrage einer ratsuchenden Person handelt.Footnote 25

Das RDG ist ein Verbotsgesetz mit Erlaubnisvorbehalt. Das heißt, dass für die Ausübung von Rechtsdienstleistungen eine entsprechende Befugnis erforderlich ist. Dazu sind im RDG einige Befugnisnormen aufgeführt, die voraussetzungsvoll sind. Zum Erlaubnisvorbehalt zählt nach § 5 RDG, dass die Rechtsdienstleistung nicht als Kern des beruflichen Tätigkeitsfeldes, sondern nur als Nebenleistung erbracht werden darf. Dem Gesetzgeber folgend liegt dann eine Nebenleistung vor, „[…] wenn die allgemein rechtsberatende oder rechtsbesorgende Tätigkeit die Leistung insgesamt nicht prägt, wenn es sich also insgesamt nicht um eine spezifisch (allgemein-)rechtliche Leistung handelt.“Footnote 26 Personen sind nur dann zur Ausübung von Rechtsdienstleistungen befugt, wenn die Rechtsdienstleistung im Rahmen einer Haupttätigkeit als Nebenleistung mit erledigt wird.Footnote 27 Zum Beispiel kann eine allgemeine Sozialberatung im Einzelfall rechtsdienstleistende Tätigkeiten erfordern.

Außerhalb des nachbarschaftlichen und familiären Kreises darf die Durchführung einer Rechtsdienstleistung nur unter Anleitung einer zur entgeltlichen Erbringung befugten Person oder einer Person mit Befähigung zum Richteramt ausgeübt werden (§ 6 RDG). Einerseits fällt damit die Erbringung von Rechtsdienstleistungen im nachbarschaftlichen oder verwandtschaftlichen Kontext nicht unter das Verbotsgesetz mit Erlaubnisvorbehalt und ermöglicht an dieser Stelle informelle Unterstützung innerhalb enger persönlicher Beziehungen.Footnote 28 Andererseits wird mit § 6 Abs. 2 RDG sichergestellt, dass eine Rechtsdienstleistung durch eine Person, der die entgeltliche Erbringung dieser Rechtsdienstleistung erlaubt ist, durch eine Person mit Befähigung zum Richteramt oder unter Anleitung einer solchen Person erfolgen darf. Bei der juristisch qualifizierten Person kommen alle Personen in Betracht, die zur Ausübung des Richteramtes befähigt sind. Das können pensionierte Richter:innen, Beamte des höheren Verwaltungsdienstes oder Volljurist:innen aus anderen Berufen sein, die Beratende bei der Ausübung von unentgeltlichen Rechtsdienstleistungen anleiten.Footnote 29 Das Tatbestandsmerkmal der Anleitung trägt dem Umstand Rechnung, dass im Rahmen einer unentgeltlichen und damit altruistischen Rechtsdienstleistung die Beratenden nicht dauerhaft von volljuristisch ausgebildeten Personen begleitet und beaufsichtigt werden können.Footnote 30 Aus diesem Grund sieht der Gesetzgeber die Ausübung der Rechtsdienstleistung unter Anleitung vor. Die Anleitung beinhaltet die Einweisung von Beratenden in die für ihre Tätigkeit wesentlichen Rechtsfrage sowie Fort- und Weiterbildungen bei wesentlichen Rechtsänderungen und aktuellen rechtlichen Entwicklungen.Footnote 31 Darüber hinaus muss aber auch sichergestellt sein, dass nicht-volljuristisch ausgebildete Beratende bei Fragen, die ihr Fachwissen übersteigen auf Expert:innen zurückzugreifen können.Footnote 32 Die Gewährleistung der volljuristischen Expertise kann unterschiedlich organisiert sein. Denkbar ist eine Organisationsform, bei der die juristisch qualifizierte Personen in einer übergeordneten Dachorganisation die Betreuung von örtlichen Beratungsstellen übernehmen, wobei dieses Dachverbandsmodell aufgrund einer heterogenen Organisationslandschaft wiederholt an seine Grenzen stößt.Footnote 33 Der Rechtsprechung zufolge besteht eine Anleitung im Sinne des § 6 RDG auch nicht darin, wenn Volljurist:innen außerhalb der Beratungsstelle erreichbar sind und mit Ihnen kooperiert wird.Footnote 34

Die sozialrechtsbezogene Beratung von Interessenvereinigungen ist in §§ 7-8 RDG geregelt und bildet für den Forschungsgegenstand der vorliegenden Arbeit die rechtliche Grundlage. Gemäß § 7 Abs. 1 RDG dürfen alle zur Wahrung gemeinschaftlicher Interessen gegründeter Vereinigungen im Rahmen ihres satzungsmäßigen Aufgabenbereichs Rechtsdienstleistungen ausüben. Die Rechtsdienstleistung darf nicht den Hauptzweck der Vereinigungen bilden, sondern lediglich eine dem Hauptzweck dienende Funktion haben.Footnote 35 Die Rechtsprechung macht deutlich, dass Sozialverbände dieses Tatbestandsmerkmal erfüllen.Footnote 36 Nach § 7 Abs. 2 RDG wird die Befugnis zur Erbringung von Rechtsdienstleistungen an das Tatbestandsmerkmal der Anleitung nach § 6 Abs. 2 RDG geknüpft. Zur Sicherstellung der Anleitung durch eine volljuristisch qualifizierte Person müssen Interessenvereinigungen über eine ausreichende personelle, sachliche und finanzielle Ausstattung verfügen.Footnote 37 Wenn eine Interessenvereinigung also regelmäßig Rechtsdienstleistungen anbietet, muss sie eine professionelle Organisationsstruktur vorweisen. Dazu zählen geschultes Personal, eine der Tätigkeit angemessene Büroausstattung sowie eine ausreichende finanzielle Ausstattung.Footnote 38

Neben der Erbringung von Rechtsdienstleistungen durch Interessenvereinigungen regelt § 8 RDG die Erlaubnis zur Rechtsberatung von gerichtlich und behördlich bestellten Personen, Behörden und juristischen Personen des öffentlichen Rechts sowie Verbänden der freien Wohlfahrtspflege im Sinne des § 5 SGB XII, anerkannten Trägern der freien Jugendhilfe im Sinne des § 75 Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII)Footnote 39 und anerkannten Verbänden zur Förderung der Belange von Menschen mit Behinderungen im Sinne des § 15 Abs. 3 Behindertengleichstellungsgesetz (BGG).Footnote 40 Dabei haben Wohlfahrtsverbände und Verbände zur Förderung von Belangen behinderter Menschen sowohl die Anforderungen an das Tatbestandsmerkmal der Ausführung von Rechtsdienstleistungen unter Anleitung gemäß § 6 Abs. 2 RDG und die Verfügbarkeit der erforderlichen personellen, sachlichen und finanziellen Ausstattung zu erfüllen (§ 7 Abs. 2 RDG). Grundsätzlich können die oben genannten Verbände diese Voraussetzungen ohne Probleme erfüllen. Dem Gesetzgeber folgend ist es ausreichend, wenn der Dachverband, dem einzelne kleinere Verbände angehören, über genügend qualifizierte Jurist:innen verfügt, die für die Einweisung von Beratenden in kleineren Institutionen und für individuelle Rückfragen verfügbar sind.Footnote 41

Das RDG stellt mit seinen Befugnisnormen die sozialrechtsbezogene Beratung von nicht behördlichen und gesellschaftlichen Interessenverbänden auf eine rechtlich sichere Grundlage und ermöglicht damit auch nicht-volljuristisch ausgebildeten Beratende in verschiedenen Institutionen der Interessenvertretung unter Anleitung sozialrechtsberatend tätig zu sein, sofern es sich bei der Beratung um eine institutionelle Nebenleistung handelt. Dass bei der Beratung als Nebenleistung Bezüge zum Recht herzustellen sind, definiert sie zum einen als sozialrechtsbezogen. Auf der anderen Seite verdeutlicht diese Begriffsbestimmung, dass in einer Beratung immer „auch rechtliche Fragen thematisiert werden“ (Müller 2021, S. 164) und damit eine Beratung in Interessenvereinigungen nicht ausschließlich (Sozial-)Recht thematisiert. Das erscheint in Bezug auf das Sozialrecht insofern zuzutreffen, dass soziale Problemlagen den Gegenstand von sozialrechtsbezogenen Beratungen bilden. Diese sozialen Lebenswirklichkeiten gilt es in rechtlich bearbeitbare Sachverhalte zu übersetzen, um soziale Rechte nutzen zu können und damit in den Wechselfällen des Lebens abgesichert zu sein.

Aus diesem Grund ist die Bearbeitung sozialrechtlicher Fragen in der sozialrechtsbezogenen Beratung zur Mobilisierung sozialer Rechte auch mit charakteristischen Merkmalen der Sozialen Arbeit verbunden. In der Sozialen Arbeit wird Beratung als ein spezifisch strukturierter, klientenzentrierter, problem- und lösungsorientierter Interaktionsprozess wahrgenommen, bei dem Beratungsexpert:innen Wissen vermitteln und/oder bestehendes Wissen reaktivieren und neue Handlungskompetenzen fördern wollen (vgl. Abplanalp et al. 2020, S. 23). Berater:innen in der Sozialen Arbeit sind demzufolge über das handlungsfeldspezifische Wissen hinaus auch in Kommunikationstheorien, -modellen, Beratungsmethoden und Techniken der Gesprächsführung explizit ausgebildet (vgl. Engel et al. 2007, S. 34 ff.). Sie haben die Aufgabe, ihre feldspezifischen Wissensbestände und Beratungskompetenzen situationsadäquat einzusetzen. Demzufolge ist die Beratung in der Sozialen Arbeit inhaltlich darauf ausgerichtet, Exklusionen aus gesellschaftlichen Teilsystemen und Organisationen zu vermeiden, ihre Folgen für die Lebensführung abzumildern, (Re-)Inklusionen zu ermöglichen und soziale Konflikte zu regulieren (vgl. Scherr 2004, S. 97-98; Bommes und Scherr 2000). Zu diesem Zweck dient die Sozialberatung als ein Beratungsmodell, das Ratsuchende in ihrer Lebens- und Problemsituation vor dem Hintergrund sozialstaatlicher Reformen zu betrachten versucht (vgl. Langhorst und Schwill 2011, S. 47). In Anlehnung an dieses Beratungsverständnis und aufgrund der mehrdimensionalen Ausrichtung zwischen Person, Umwelt und Wechselwirkung(en) unterscheidet sich die Beratung in der Sozialen Arbeit von anderen Beratungsarten, die ihre Schwerpunkte entweder auf die Person oder deren Umwelt legen (vgl. Abplanalp et al. 2020, S. 26; Schubert 2011, S. 2). Die Einbeziehung eines sozialarbeiterischen Beratungsverständnisses zur terminologischen Abgrenzung erscheint sinnvoll, weil es sich bei der Beratung zu sozialrechtlichen Fragen immer um die Bearbeitung eines Konflikts handelt, der zwischen sozialen Lebenswirklichkeit(en), Rechtssystem(en) und deren Wechselwirkungen zu verorten ist. Darüber hinaus sind die Beratenden in der sozialrechtsbezogenen Beratung von Verbänden nicht immer Volljurist:innen. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass es sich um Beratende mit einer sozialarbeiterischen Berufsbiographie handeln kann und somit sozialarbeiterische Komponenten in die Ausgestaltung der sozialrechtsbezogenen Beratung einfließen.

Schließlich soll der Begriff der sozialrechtsbezogenen Beratung zum Ausdruck bringen, dass verbandliche Beratung im Erstkontakt „als offenes und auf Freiwilligkeit basierendes Aushandeln von Positionen und Möglichkeiten [zur: KW] Gestaltung und Bewältigung von Lebensaufgaben [im Sozialsystem: KW]“ (Thiersch 2007, S. 116) verstanden wird. In diesem Sinne kennzeichnet die sozialrechtsbezogene Beratung handlungsfeldspezifisches Wissen (vgl. Engel et al. 2007, S. 35), das sozialstaatliche Rahmenbedingungen, sozialrechtliche Regelungen und Wissen über das Verwaltungshandeln der Sozialbehörden einschließt und damit in einer solchen Beratung wiederholt Bezüge zum Recht hergestellt werden (vgl. Müller 2021, S. 163 ff.). Zugleich und nicht weniger bedeutend sind für die sozialrechtsbezogene Beratung feldunabhängige Interaktionskompetenzen (vgl. Engel et al. 2007, S. 35). Je nach Beratungsanliegen, Problemstellungen und Interaktionsweisen changiert die sozialrechtsbezogene Beratung zwischen Sozial- und Rechtsberatung. Die situationsabhängige Gewichtung von lebensweltlichen und sozialrechtlichen Aspekten in der sozialrechtsbezogenen Beratung ist es auch, die mich dazu veranlasst als theoretischen Bezugsrahmen sowohl rechtssoziologische Konzepte von Rechtsmobilisierung (Abschnitt 3.3) als auch sozialtheoretische wie sozialphilosophische Theorien vom gleichberechtigten guten Leben und der partizipativen gesellschaftlichen Teilhabe zu nutzen (Abschnitt 3.4 und 3.5), um der Frage nachzugehen, welche Bedeutung der sozialrechtsbezogenen Beratung für die Herstellung des Zugangs zum System sozialer Sicherung zukommt.

3.3 Die Mobilisierung von Recht: naming, blaming und claiming

Um die Interaktionen und Aushandlungen bei der Herstellung eines Zugangs zum System sozialer Sicherung in der sozialrechtsbezogenen Beratung theoretisch zu fassen und zu analysieren, werden in den Abschnitte 3.3, 3.4. und 3.5 drei theoretische Zugänge beschrieben, die sich – unabhängig von ihrer disziplinären Verankerung – mit den Voraussetzungen sozialer Handlungsstrategien für die individuelle Lebensführung und -planung auseinandersetzen. Damit spannen sie einen Rahmen auf, um die Herstellung eines Zugangs zu den sozialen Sicherungssystemen in der sozialrechtsbezogenen Beratung theoretisch zu fassen.

In diesem Kapitel werde ich zunächst den theoretischen Ansatz von Rechtsmobilisierung (vgl. Fuchs 2021; Blankenburg 1980; Felstiner et al. 1980/1981; Black 1973) als theoretischen Bezugsrahmen vorstellen, um aufzuzeigen, wie sich soziale Problemlagen der alltäglichen Lebensführung in Fragen sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit transformieren. In diesem Zusammenhang beziehe ich mich in meinen Überlegungen auf das rechtssoziologische Stufen- oder Phasenmodell von dem Erkennen eines Konflikts als Rechtsproblem (naming) über Zuweisung von Verantwortung des Konfliktgeschehens (blaming) bis hin zum Gang vor Gericht, speziell in dieser Arbeit vor die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit (claiming) (vgl. Rottleuthner 1987, S. 84; Felstiner et al. 1980/1981, S. 631 ff.). Zum einen ermöglicht es mir, die sozialverbandliche Beratung im Erstkontakt strukturell in den Konfliktverläufen von der (erstmaligen) Thematisierung von Recht bis zur gerichtlichen Durchsetzung als außer- beziehungsweise vorgerichtlicher Ort der Konfliktaustragung zu verorten. Zum anderen können die Bedingungen, unter denen Bürger:innen in Krisensituationen (nicht) auf die sozialstaatlichen Sicherungssysteme zurückgreifen, analytisch durchdrungen werden.

Die Mobilisierung von Recht und das Stufen- oder Phasenmodell von Rechtsmobilisierung

Die Mobilisierung von Recht gilt in der internationalen wie nationalen Rechts- und Gesellschaftsforschung als eine Form der Konfliktaustragung (vgl. Fuchs 2021, S. 2). Individuen und/oder kollektive Akteur:innen nutzen Recht(-snormen) mit dem Ziel, ihre InteressenFootnote 42 in den gesellschaftlichen und politischen Arenen zu vertreten (vgl. Vanhala 2011). In diesem Zusammenhang gilt Recht als mobilisiert „when a desire or want is translated into a demand as an assertion of rights“ (Zemans 1983, S. 700). Die Formen von Rechtsmobilisierung sind vielfältig.Footnote 43 Sie können individuell oder kollektiv sein. Sie können juristisch von vorgerichtlichen Instanzen bis zur Klage vor Gericht stattfinden oder diskursiv genutzt werden (vgl. Fuchs 2019, S. 245).

Bei der individuellen Rechtsmobilisierung handelt es sich um die Nutzung des Rechts durch Individuen, um individuelle Bedürfnisse und Bedarfe gegenüber anderen Akteur:innen geltend zu machen oder durchzusetzen (vgl. ebd.). Für diese Form der Rechtsmobilisierung sind Bürger:innen auf verschiedene Ressourcen wie Rechtskenntnisse, ein Anspruchsbewusstsein, Zeit oder Geld sowie soziale Kompetenzen angewiesen.Footnote 44 Neben subjektiven Ressourcen ist die individuelle Mobilisierung von Recht aber auch an das Vorhandensein struktureller Rahmenbedingungen gebunden. Verfahrensregelungen müssen festlegen, wer Rechte einfordern oder Klage einreichen kann. Über adäquate Verfahren hinaus müssen auch rechtliche Regelungen gegeben sein, die anerkennen, dass bestimmte Lebenslagen durch Recht gestaltet werden können. Nur wenn Recht spezifische Lebenswirklichkeiten zum Gegenstand hat, sind diese auch rechtlich mobilisierbar (vgl. Baer 2023, S. 241 ff.). Zu den prozess- und materiell-rechtlichen Aspekten kommen noch informelle Voraussetzungen wie die Verfügbarkeit von Informationen über eben jene materiell und formell-rechtlichen Bedingungen hinzu (vgl. Fuchs 2021, S. 10). Recht kann auch außerhalb der Gerichtsbarkeiten mobilisiert werden. Hierzu stehen diverse außer- und vorgerichtliche, informelle oder quasirechtliche Instrumente wie Güteverhandlungen, Schiedsstellenverfahren, interne Beschwerdeverfahren oder außerrechtliche Möglichkeiten der Konfliktregulierung mit der direkten Konfrontation des Gegenübers zur Verfügung (vgl. Fuchs 2021, S. 9). Insgesamt existiert ein breites Spektrum an Möglichkeiten, individuelle Rechte (außer-)gerichtlich zu mobilisieren. Darüber hinaus steht individuelle Rechtsmobilisierung in Wechselwirkung zu kollektiven Formen von Rechtsmobilisierung.

Kollektive, juristische und diskursive Rechtsmobilisierung erfolgt vornehmlich durch Gruppen, Organisationen oder soziale Bewegungen (vgl. McCann 2008, S. 532 ff.). Als kollektive, mobilisierende Akteur:innen thematisieren sie bestimmte, strukturell veranlagte Probleme in Gesellschaften und wollen mit verschiedenen Handlungsstrategien sozialen Wandel herbeiführen (vgl. Fuchs 2021, S. 11 ff.). Die kollektive Rechtsmobilisierung vollzieht sich überwiegend auf diskursiver Ebene. Politische Argumentationsmuster konstituieren sich mithilfe juristischer Mobilisierung, indem kollektive Akteur:innen ihre politischen Anliegen öffentlichkeitswirksam in Bezug auf das Recht legitimieren (vgl. ebd.). Zum Beispiel werden kollektive Kämpfe für eine Besserstellung von Grundsicherungsbeziehenden mit dem Bezug zum Recht auf ein menschenwürdiges Dasein begründet. Ein anderes Beispiel für diskursive Rechtsmobilisierung stellen Proteste zu politischen Maßnahmen bei der Eindämmung der COVID-19-Pandemie dar. Demonstrant:innen legitimieren ihren Protest mit dem Bezug auf ihre Freiheitsrechte im Grundgesetz. Demnach steht die diskursive Mobilisierung, wie schon erwähnt, in einem wechselseitigen Verhältnis zur juristischen Rechtsmobilisierung.

Juristische Mobilisierung bedeutet, dass Recht mittels eines Gerichtsprozesses durchgesetzt wird. Mit der sogenannten strategischen Prozessführung (vgl. Graser und Helmrich 2019) problematisieren soziale Bewegungen oder Organisationen ihre Anliegen mittels eines Gerichtsverfahrens. Eine konkrete Klage soll die Rechtspraxis für mehr als einen Fall verändern (vgl. Fuchs 2021, S. 14). Wenngleich dem Begriff der strategischen Prozessführung verschiedene Deutungen, Motive und Ziele zugrunde liegen und seine Verwendung kontrovers diskutiert wird (vgl. Müller 2019; Hahn 2019), soll die strategische Prozessführung an dieser Stelle als kollektiv mobilisierbare Form von Recht verstanden werden.

In all diesen Formen und Ausprägungen stellt die Mobilisierung von Recht einen Prozess dar, der den Weg sozialer Konflikte von dem Erkennen eines Problems als rechtlichen Konflikt über dessen Bearbeitung bis hin zur Lösung beziehungsweise politischen Auseinandersetzung beschreibt. Um die Karriere von Konflikten (vgl. Rottleuthner 1987, S. 89) nachvollziehen zu können, hat die Rechtssoziologie ein Stufen-/ Phasenmodell entwickelt, das den Wandel eines sozialen Konflikts hin zu einem gerichtlich ausgetragenen Streitfall beschreibt (vgl. Rottleuthner 1987, S. 84). Je nachdem, welches Modell und welche Autor:innen als analytische Grundlage herangezogen werden, untergliedert sich die Mobilisierung von Recht in bis zu vier Phasen (Abb. 3.1). Auf der ersten Stufe oder in der ersten Phase muss der rechtliche Charakter eines Problems wahrgenommen werden. Erhard Blankenburg folgend, handelt es sich hierbei um die Thematisierung von Recht (vgl. Blankenburg 1980, S. 37 ff.) oder im angloamerikanischen Sprachraum um das sogenannte naming und blaming (vgl. Felstiner et al. 1980/1981).

Abb. 3.1
figure 1

(Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Blankenburg 1980, S. 62; Kocher 2013, S. 73 ff.; Rottleuthner 2019, S. 121 ff.)

Das Stufen/-Phasenmodell der Rechtsmobilisierung

Die Thematisierung von RechtFootnote 45 erfolgt in Situationen oder in Sozialbeziehungen, in denen die Verrechtlichung sozialer Konflikte eine akzeptierte Interaktionsweise darstellt (vgl. Blankenburg 1980, S. 38). Blankenburg unterscheidet zum einen zwischen Situationen, die bereits in rechtlichen Kategorien definiert sind, und solchen, in denen eine Definition im Verlauf des Konfliktgeschehens noch vorzunehmen ist (vgl. Blankenburg 1995, S. 42). Zum Beispiel ist eine Situation in rechtlichen Kategorien definiert, in der ein:e Bürger:in mit einer rechtlich verbindlichen Entscheidung einer Behörde konfrontiert wird und er:sie sich dagegen wehren will. Zum anderen nimmt die Person eine Differenzierung zwischen dauerhaften persönlichen, gelegentlichen und anonymen Sozialbeziehungen mit Konfliktpotential vor. Je nach Konfliktkonstellation variiert die Wahrscheinlichkeit, mit der eine der Konfliktparteien die Rechtsbeziehung explizit macht (vgl. Blankenburg 1995, S. 43 ff.). Diesem Verständnis zufolge kann ein dauerhaftes Sozialrechtsverhältnis zwischen Bürger:innen und Akteur:innen der Sozialverwaltung als anonyme Sozialbeziehung definiert werden, in der die Verrechtlichung von Konflikten aufgrund des formalisierten Sozialverwaltungs- und Rechtshandelns eine akzeptierte Interaktionsweise darstellt (vgl. Franz 2013, S. 257 ff.; Blankenburg 1995, S. 42). Die Thematisierung von Recht ist also für die Interaktion und Kommunikation im Rahmen eines Sozialrechtsverhältnisses charakteristisch und stellt keine Eskalationsstufe sozialer Konfliktverläufe dar, wie es zum Beispiel in persönlichen Sozialbeziehungen der Fall sein kann. In jenen Beziehungsgefügen, wo die Verrechtlichung eine akzeptierte Interaktionsweise darstellt, muss die Rechtsmobilisierung von der/den Person(en) ausgehen, die mit den Bedingungen der Verhältnisse nicht zufrieden ist/sind oder sich ungerecht behandelt fühlen. Am Beispiel des Sozialrechtsverhältnisses verdeutlicht, muss jene:r Bürger:in das Recht mobilisieren, der:die von einer Verwaltungsentscheidung beziehungsweise Unterlassung oder deren Folgen betroffen ist und sich dagegen wehren möchte (vgl. Blankenburg 1995, S. 49). In diesem Zusammenhang findet neben dem naming auch gleichzeitig die Zuschreibung von Verantwortung für das Problem, das sogenannte blaming statt (vgl. Felstiner et al. 1980/1981, S. 635 ff.). In dieser Phase der Mobilisierung ist eine Konfliktpartei damit befasst, die rechtliche Verantwortlichkeit für das aufkommende Problem zu identifizieren. Naming und blaming untergliedern die erste Phase der Thematisierung von Recht in zwei Teil-Phasen. Sie sind empirisch schwer zu bestimmen und selten so eindeutig voneinander abzugrenzen, wie es das Modell in Abb. 3.1 veranschaulicht (vgl. Kritzer 2010, S. 262; Felstiner et al. 1980/1981, S. 636).

Auf die Thematisierung von Recht folgt in dem Phasenmodell die Einholung von Rechtsrat. Besteht bei Bürger:innen ein Bewusstsein darüber, dass das identifizierte Problem potentiell rechtlichen Charakters ist (vgl. Ewick und Silbey 2008 [1998]; Marshall und Barclay 2003) nehmen sie die Hilfe Dritter in Anspruch und suchen Rat bei der Anwaltschaft oder ausgewiesenen Beratungsstellen (vgl. Kocher 2013, S. 73 ff.). Regelmäßig begleiten dann Anwält:innen oder Mitarbeitende von Beratungsstellen die weiteren Rechtsmobilisierungsschritte (vgl. Fuchs et al. 2021, S. 66 ff.).

Eine dritte Phase beinhaltet die Auseinandersetzung mit Handlungsstrategien zur Bewältigung eines Rechtsproblems. Rechte können eingefordert werden, indem Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt werden (vgl. Kocher 2009, S. 21, 2013, S. 73 ff.; Rottleuthner 1984, S. 351; Rottleuthner 1982, S. 145 ff.). Als letzte Stufe der Konfliktaustragung folgt die Anrufung gerichtlicher Instanzen. Im angloamerikanischen Sprachraum ist bei den letzten beiden Stufen auch die Rede vom claiming (vgl. Felstiner et al. 1980/1981, S. 636 ff.). Um Rechte vor Gericht einklagen zu können und Rechte gerichtlich durchzusetzen, braucht es in den überwiegenden Fällen eine Prozessvertretung. Anwält:innen oder auch Prozessvertreter:innen von Organisationen, Verbänden etc. verfügen über entsprechende Berechtigungen und Expertisen (vgl. Blankenburg 1980, S. 48 ff.). Im Sozialrecht sind die Vertretungsbefugnisse der genannten Akteur:innen in § 73 Abs. 2 SGG geregelt. Demnach sind Sozialverbände der Anwaltschaft in der gerichtlichen Vertretung gleichgestellt.

Individuelle wie kollektive Ressourcen zur und strukturelle Rahmenbedingungen von Rechtsmobilisierung inklusive Barrieren

Mithilfe des Stufenmodells von Rechtsmobilisierung können Verläufe unter anderem von sozialen Problemen bis hin zu einem gerichtlich ausgetragenen Rechtsstreit analytisch nachgezeichnet werden. Die Mobilisierung von Recht zur Bewältigung von Konflikten ist dabei voraussetzungsvoll (vgl. Blankenburg 1980, S. 34). Sind die Voraussetzungen nicht gegeben, ist dem rechtssoziologischen Diskurs zufolge auch die Rede von Barrieren im Zugang zu Recht und Gericht (vgl. Baer 2023, S. 240 ff.; Fuchs et al. 2021, S. 8 ff. Rottleuthner 1987, S. 97 ff.; Blankenburg 1980, S. 44 ff.). Hubert Rottleuthner bringt dieses Wechselverhältnis von Ressource und Barriere auf den Punkt, indem er sie als Bedingungen beschreibt, „die den Zugang zum Recht, den Übergang einer Phase zur anderen erschweren, […] verhindern [oder ermöglichen: KW] können“ (Rottleuthner 1987, S. 96). Diese Voraussetzungen im Zugang zum Recht können auf drei Ebenen verortet werden:

  • Subjektbezogene Voraussetzungen: Persönliche Ressourcen zur Mobilisierung von Recht. Dazu zählen Wissen, Informationen, Mobilisierungsfähigkeiten und -fertigkeiten sowie soziale Kompetenzen.

  • Rechtliche Rahmenbedingungen: Formell-rechtliche Voraussetzungen zur Nutzung von Recht, adäquate Verfahrens- und Prozessordnungen, Klagebefugnisse, Beratungshilfe, Prozesskostenhilfe etc.

  • Soziale Norm- und Wertvorstellungen: Diskriminierung und Stigmatisierung im Zusammenhang mit der Mobilisierung von Recht, Skepsis gegenüber dem Rechtssystem, Angst vor sozialer Abwertung durch die Mobilisierung von Recht.

Auf der subjektiven Ebene fasst Helmut Hartmann die bestehenden Barrieren mit der Unkenntnis über bestehende Rechtsansprüche, Fehlinformationen über Rechte und Pflichten und Angst vor sozialer Diskriminierung zusammen (vgl. Hartmann 1985b, S. 169 ff.). Vor allem fehlendes Wissen über die Möglichkeiten der rechtlichen Konfliktaustragung ist ausschlaggebend für die Nicht-Mobilisierung von Recht (vgl. Frühwirth et al. 2012, S. 47; Blankenburg 1976, S. 93). Die Juristin und Rechtssoziologin Susanne Baer unterscheidet bei den notwendigen Wissensbeständen zwischen Rechtskenntnis, Rechtsbewusstsein und Anspruchswissen (vgl. Baer 2023, S. 233 ff.). Wer Recht mobilisieren möchte, muss zunächst wissen, dass Recht überhaupt existiert (vgl. ebd.). Baer orientiert sich für die Bestimmung des Rechtsbewusstseins an dem Rechtswissenschaftler Thomas Raiser, der darunter unter anderem abstrakte Erfahrungen im Umgang mit sozialen Normen und geltendem Recht versteht (vgl. Raiser 2013, S. 340). Für die Mobilisierung von Recht ist jedoch nicht allein das Wissen über die bloße Existenz notwendig, sondern auch allgemeine Rechtskenntnisse, die von abstrakten Informationen bis hin zu Detailwissen reichen können (vgl. Baer 2023, S. 235 ff.). Allgemeine Kenntnisse kennzeichnen also Berührungen mit Recht in den alltäglichen Lebenswirklichkeiten, aus denen sich substantielle inhaltliche Vorstellungen über bestimmte rechtliche Regelungen entwickeln (vgl. Raiser 2013, S. 343). Im Bereich des Sozialrechts ist dieser Definition zufolge zum Beispiel im Falle von Arbeitslosigkeit das Wissen über den Bezug von Arbeitslosengeld als Rechtskenntnis zu deuten. Betroffene wissen nicht nur, dass bei Eintritt von Arbeitslosigkeit Ansprüche auf Sozialleistungen bestehen, sondern entwickeln ihre Rechtskenntnisse weiter hin zu einer subjektiven Überzeugung, eigene durchsetzbare Rechte zu haben (vgl. Baer 2023, S. 236). Die Übergänge von Rechtsbewusstsein hin zum Anspruchswissen sind fließend und nicht immer eindeutig abzugrenzen, sodass auch in der rechtssoziologischen Literatur verschiedene Auffassungen und Definitionen davon existieren, was als subjektbezogene Wissensbestände über Recht und demnach als Voraussetzung für die Mobilisierung von Recht gelten können.

Für die empirische Untersuchung in der vorliegenden Arbeit entwickelte ich im Unterschied zu dem rechtssoziologisch bekannten Konzept des Rechtsbewusstseins die für diese Arbeit geltende Arbeitsdefinition der Rechts(anspruchs)bewusstheit in Anlehnung an das soziologische Konzept der Bewusstheitskontexte von Barney Glaser und Anselm Strauss (1964). Glaser und Strauss untersuchten soziale Interaktionen von Sterbenden mit dem Krankenhauspersonal und ihren Angehörigen. Im Zusammenhang mit der Frage, wer von dem Schicksal eines Sterbenden weiß, konzipierten sie vier Bewusstheitskontexte, in denen sich soziale Interaktionen vollziehen (vgl. Glaser et al. 1974, S. 252). Im Unterschied zu der Bewusstseinsdefinition nach Susanne Baer (vgl. Baer 2023, S. 233 ff.) verstehen Glaser und Strauss unter der Bewusstheit „was jeder Interagierende über [Recht: KW] weiß, sowie [das: KW] Wissen darum, dass die andern sich dessen bewusst sind, was er [/sie: KW] weiß“ (vgl. Glaser et al. 1974, S. 16-17; Glaser und Strauss 1964, S. 670). Diese Bewusstheit kann sich im Verlauf der Zeit verändern (vgl. Glaser et al. 1974, S. 17). Vor allem dann, wenn Beteiligte miteinander interagieren und auf diese Weise Informationen über geltendes Recht austauschen. In Anlehnung an Glaser und Strauss ist davon auszugehen, dass Adressat:innen von (Sozial-)Recht über verschiedene Auffassungen darüber verfügen, wie Recht in einem konkreten Einzelfall anzuwenden ist. Glaser und Strauss entwickelten vier verschiedene Bewusstheits-Kontexte,Footnote 46 welche die Art einer jeden Interaktion beeinflussen und so auch auf Interaktionssituationen wie die der Beratung im Rahmen von Rechtsmobilisierung übertragbar sind:

  • Geschlossene Bewusstheit: Interaktionsbeteiligte, beispielsweise Ratsuchende in Beratungssituationen, sind ahnungslos; sie wissen nicht um die Mobilisierung von Recht (vgl. Glaser et al. 1974, S. 32 ff.),

  • argwöhnische Bewusstheit: Ratsuchende haben einen Verdacht, dass es sich bei ihren Problemen um rechtliche Fragen handelt oder handeln könnte (vgl. Glaser et al. 1974, S. 48 ff.),

  • Bewusstheit der wechselseitigen Täuschung: Ratsuchende und Beratende wissen um die Mobilisierung von Recht, sprechen sie aber nicht offen an,

  • offene Bewusstheit: Ratsuchende und Beratende gehen offen miteinander um und erörtern alle Möglichkeiten zur Mobilisierung oder Nichtmobilisierung von Recht (vgl. Glaser et al. 1974, S. 76 ff.).

Jeder Bewusstheitsrahmen beeinflusst die Beziehung zwischen den Interaktionsbeteiligten und kann sich im Verlauf der Interaktion verändern (vgl. Glaser et al. 1974, S. 16 ff.). Demzufolge basiert eine Rechts(anspruchs)bewusstheit auf sozialen Interaktionen, in denen „[…] the meanings given by individuals to their world [specifically to the law: KW] […] once institutionalized, become part of the material and discursive systems that limit and constrain future meaning making“ (Ewick und Silbey 2008 [1998], S. 39). Sie gilt grundsätzlich als eine der wichtigsten Voraussetzungen, um Rechtsprobleme wahrzunehmen, die Nutzung von Recht zu kennen und schließlich die Bereitschaft zu zeigen, Recht in Anspruch zu nehmen und sich beispielsweise für den Gang vor Gericht zu entscheiden (vgl. Blankenburg 1976, S. 93).

Neben dem Vorhandensein subjektbezogener Ressourcen müssen auf struktureller Ebene auch verfahrens- und prozessrechtliche RahmenbedingungenFootnote 47 gegeben sein, um Recht mobilisieren zu können. Prozessordnungen im Verfahrensrecht regeln, wer, wann und wo Rechte einklagen kann (vgl. Baer 2023, S. 241 ff.). Zudem ist die Einschaltung Dritter im Rechtsschutz und die Möglichkeiten zum Gebrauch von Beratungs- und Prozesskostenhilfe auf dieser Ebene zu verorten. Die Bereitstellung von Informationen über geltendes Recht, Prozessordnungen und Verfahrensregeln ist ein wichtiger Aspekt, wenn es darum geht, dass rechtsunerfahrene Personen mit Recht interagieren sollen und müssen. Die Verwaltungssprache wird stellenweise als Barriere für die Mobilisierung von Recht identifiziert (vgl. Albrecht und Reidegeld 1980). Als Vermittlerin zwischen Alltags- und Rechtssprache steht sie eher der Rechtssprache näher und macht auf diese Weise die schriftliche Kommunikationsweise für Bürger:innen schwerer verständlich und weniger nachvollziehbar (vgl. Leistner 2019, S. 21; Grönert 2004, S. 7; Becker-Mrotzek und Scherner 2000, S. 629 ff.).

Nicht zuletzt nehmen gesellschaftliche Norm- und Wertvorstellungen Einfluss auf die Mobilisierungswahrscheinlichkeit von Recht. Sie beeinflussen die individuellen Einstellungen zum Recht(-ssystem) und im Falle der vorliegenden Untersuchung zum Sozialstaat sowie schließlich auch auf Entscheidung(en) über den Umgang mit rechtlichen Konflikten (vgl. Fuchs 2021, S. 8; Blankenburg et al. 1982). So sind es sozialstaatlich konstituierte Kategorien und darauf zurückzuführende Positionszuweisungen in den sozialen Sicherungssystemen, die Bürger:innen einerseits dazu legitimieren, sozialstaatliche Leistungen zu beziehen. Andererseits führt die Festlegung von Anspruchsvoraussetzungen auch dazu, dass gesellschaftliche Diskurse darüber entstehen, welchen Personen sozialstaatliche Unterstützung zusteht und welchen nicht (vgl. Eckhardt 2023, S. 25). Der Einbezug individuell erbrachter Leistungen am Arbeitsmarkt zum Wohle der Gemeinschaft kann beispielhaft dafür angeführt werden (vgl. Lessenich 2012a; Dingeldey 2005). Im Zuge des Paradigmenwechsels hin zu einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik wurde die Kategorie Arbeitslosigkeit als ein individuelles (Verhaltens-)Defizit und nicht mehr als Strukturproblem definiert (vgl. Hirseland und Ramos Lobato 2014, S. 182). Arbeitslosigkeit und Leistungsbezug erschienen als mangelnde Anpassungsbereitschaft und nicht mehr länger als gemeinwohlkompatibles Verhalten (vgl. Lessenich 2013, S. 95). Der Arbeitslosigkeit und dem damit verbundenen potentiellen Leistungsbezug wird in diesem Zusammenhang oft eigenes Verschulden, fehlender Arbeitswille oder mangelnde Eigenaktivitäten zugeschrieben (vgl. Hirseland und Ramos Lobato 2014, S. 194; Lessenich 2012b, S. 41). Die Stigmatisierung von hilfebedürftigen Lebenssituationen findet sich auch in anderen sozialstaatlichen Kategorien wie die der Krankheit wieder (vgl. Linden et al. 2018). Diese gesellschaftlichen Zuschreibungen über individuelles Handeln in sozialstaatlichen Unterstützungssysteme können dazu führen, dass Bürger:innen auf die Inanspruchnahme des Sozialstaates verzichten und ihre Rechte nicht mobilisieren (vgl. Eckhardt 2023, S. 265 ff.; Gurr, Lang 2018; Gurr, Jungbauer-Gans 2017, S. 34 ff.).

Vor diesem Hintergrund ist der Zugang zum Recht respektive zum System sozialer Sicherung voraussetzungsvoll. Er konstituiert sich auf der Grundlage sozialer, juristischer und bürokratischer Gegebenheiten. Bei der Herstellung eines Zugangs zum Recht müssen diese Voraussetzungen zunächst erörtert, genutzt und in Teilen für die Mobilisierung von Recht geschaffen werden.

3.4 Partizipatorische Parität in Rechtsmobilisierungsprozessen

Für die Herstellung eines Zugangs zum Recht und zu den sozialen Sicherungssystemen müssen Bürger:innen von sich selbst als auch vonseiten der Gesellschaft als mobilisierungsfähigeFootnote 48 Rechtssubjekte in ihren hilfebedürftigen Lebenslagen anerkannt sein. Sie dürfen nicht nur passiv als Adressat:innen des Rechts gelten, sondern müssen zu Agent:innen des Rechts und damit zu Akteur:innen werden, die Recht zur Gestaltung ihres Lebens in Anspruch nehmen (vgl. Baer 2023, S. 233). Schwierig gestaltet sich der Zugang zum Recht und der Übergang von passiven Rechtsadressat:innen zu aktiv handelnden Rechtsagent:innen für jene Menschen, die soziale Exklusionserfahrungen machen (vgl. Völzmann 2020, S. 292). So sind es junge, alte, wenig Gebildete oder auch Menschen mit Behinderungen, die um die Mobilisierung von Recht zur Lösung von Problemen mit rechtlichem Charakter nicht wissen oder Recht seltener nutzen (vgl. Völzmann, 2020, S. 293). Diese Personengruppen müssen sich, so die hier vertretene These, im Verhältnis zum Staat oder zur öffentlichen Verwaltung als ebenbürtige Rechtssubjekte begreifen (lernen), um sich schließlich für die Nutzung bestehenden Rechts entscheiden zu können. Das heißt, es gilt nicht nur gleiche Rechte zu haben, sondern auch gleichberechtigt am System sozialer Sicherung partizipieren zu können. Das Konzept der partizipatorischen Parität der Philosophin Nancy Fraser (2017 [2003]) ist zur Beschreibung von Voraussetzungen zur Mobilisierung von Recht anschlussfähig, um Bedingungen und Normen innerhalb von Interaktionen zu definieren, die allen Menschen erlauben, als Ebenbürtige miteinander zu interagierenFootnote 49 (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 54 ff.) und damit nachzuzeichnen, auf welche Weise ein gleicher Zugang zum Recht respektive zu den sozialen Sicherungssystemen gestaltet sein muss.

In ihren Arbeiten „Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats“, „Widerspenstige Praktiken, Macht, Diskurs und Geschlecht“ sowie „Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse“ setzt sich Fraser mit dem Dilemma gesellschaftlicher (Un-)Gerechtigkeiten zwischen materieller Umverteilung und sozialer Anerkennung kritisch auseinander und erhebt den Gerechtigkeitsdiskurs insbesondere in den Arbeiten „Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats“ und „Widerspenstige Praktiken, Macht, Diskurs, Geschlecht“ zu einer Sozialstaatsthematik. Fraser ist Vertreterin einer kritischen Theorie der Anerkennung, die sie ihrem Ansinnen zufolge erneuern möchte (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 227). Dementsprechend muss für Fraser eine Theorie immer zweierlei leisten: „[…] innerhalb der empirischen Welt festen Fuß fassen und zugleich eine kritische Haltung bewahren“ (Fraser 2017 [2003], S. 229). Im Zentrum ihrer Forschung stehen gesellschaftliche (Un-)Gleichheiten. Dabei nimmt sie Geschlechter(un-)gerechtigkeiten ebenso in den Blick wie (Un-)Gerechtigkeiten zwischen gesellschaftlichen Schichten, Generationen, Ethnien und begründet einen Großteil ihrer Argumentation auf dem Verhältnis zwischen Ökonomie und Kultur. Ihrem Verständnis zufolge könne der Erforschung sozialer (Un-)Gerechtigkeiten nur mit einem mehrdimensionalen Verständnis von Gerechtigkeit begegnet werden (vgl. Fraser und Honneth 2017 [2003], S. 9 ff.). Während im Zusammenhang mit sozialer Gerechtigkeit traditionell Forderungen nach gerechter (Um-)Verteilung von Gütern, Vermögen und Besitz verbunden sind, nehmen zusehends Ansprüche auf kulturelle AnerkennungFootnote 50 eine beherrschenden Stellung ein (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 15 ff.). Fraser begegnet dem veränderten Paradigma von sozialer Gerechtigkeit auf theoretischer Ebene mit einem perspektivischen Dualismus. Materielle (Um-)Verteilung und Anerkennung müssen in ihrem Verständnis als wechselseitig nicht reduzierbare Dimensionen von Gerechtigkeit begriffen werden, um den Anforderungen gegenwärtig komplexer Ungleichheitslagen gerecht zu werden (vgl. Fraser und Honneth 2017 [2003], S. 9). Alleinstehend sei keine Dimension ausreichend, um Gerechtigkeit zu erklären (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 17). Der Anspruch einer dualistischen Perspektive macht die theoretischen Überlegungen Frasers für die Analyse der sozialrechtsbezogenen Beratung und ihre Bedeutung für eine Herstellung des Zugangs zum System sozialer Sicherung anschlussfähig, weil unter anderem die gesetzlichen Regelungen der (Um-)Verteilung von materiellen Ressourcen im gleichen Maße wie soziale Norm- und Wertvorstellungen an der Herstellung eines Zugangs zum System sozialer Sicherung beteiligt sind (vgl. Abschnitt 3.3).

Die Begriffe der Umverteilung und Anerkennung haben für Fraser jeweils einen philosophischen als auch einen politischen Hintergrund. Im politischen Raum artikulieren verschiedene Akteur:innen Ansprüche und Forderungen nach Umverteilung und Anerkennung (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 18). Aus philosophischer Perspektive sind die beiden Begriffe aus unterschiedlichen Denkrichtungen herzuleiten. Die Umverteilung entstammt aus einer liberalen Tradition. In den 1970er und 1980er Jahren entwickelten analytische Philosophen wie John Rawls Theorien zur Verteilungsgerechtigkeit,Footnote 51 die die sozioökonomische Umverteilung rechtfertigten (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 18 ff.). Der Begriff der Anerkennung entstammt aus der Phänomenologie des Geistes von Georg Wilhelm Friedrich Hegel und definiert sich als „ideale reziproke Beziehung zwischen Subjekten, in der jeder den anderen als seinesgleichen und zugleich als von sich getrennt sieht“ (Fraser 2017 [2003], S. 19 in Anlehnung an Hegels Phänomenologie des Geistes). In diesem Sinne konstituieren sich Subjekte, indem ein Individuum ein anderes Subjekt anerkennt und gleichzeitig wiederum von diesem Subjekt anerkannt wird (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 19). Diesen theoretischen Gedanken aufgreifend verfolgt beispielsweise der Sozialphilosoph Axel Honneth (2018 [1992]) ein identitätstheoretisches Konzept. Subjekte gelangen seiner Auffassung nach zu einem praktischen Selbstverständnis, wenn sie sich aus der normativen Perspektive ihrer Interaktionspartner:innen als deren sozialen Adressat:innen begreifen lernen (vgl. Honneth 2018 [1992], S. 148). Dabei unterscheidet Honneth die Sphären Liebe, Recht und Leistung, in denen Menschen intersubjektive Anerkennung erfahren und schließlich „[…] zu einer positiven Einstellung gegenüber sich selber gelangen können […]“ (Honneth 2018 [1992], S. 271). Honneth versteht Anerkennung in dieser Weise als identitätsstiftendes gesellschaftliches Phänomen, welches Ungerechtigkeitserfahrungen als Missachtung und vorenthaltene Anerkennung zu erfassen versucht (vgl. Honneth 2017 [2003], S. 160).

An die terminologische Ausdifferenzierung der Begriffe Umverteilung und Anerkennung schließt Fraser die Frage an, wie beide Gerechtigkeitsdimensionen zusammenzudenken sind (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 20; Fraser 2016 [2001], S. 24). Während Honneth Anerkennung als einen fundamentalen Moralbegriff institutionalisiert, unter den sich (Um-)Verteilung als abhängige Größe subsumiert (vgl. Fraser und Honneth 2017 [2003], S. 9) wählt Fraser hingegen einen theoretischen Ansatz, in dem die beiden Gerechtigkeitsdimensionen Anerkennung und Umverteilung nicht konträr zueinanderstehen. Vielmehr bilden sie zwei Pole eines konzeptionellen Spektrums, die ihre Wurzeln sowohl in der Wirtschaftsstruktur als auch in kulturellen Statushierarchien haben können (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 22 ff.). Ungerechtigkeiten der Umverteilung lassen sich an einem Ende des Kontinuums ausschließlich auf politisch-ökonomische Bedingungen zurückführen. Es handelt sich um sozioökonomische Benachteiligungen, die folgerichtig nur durch Umverteilung und nicht durch Anerkennung beseitigt werden können.Footnote 52 Am anderen Ende des Spektrums basieren strukturelle Ungerechtigkeiten auf gesellschaftlich institutionalisierten kulturellen Werteschemata (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 28–29). Das bedeutet, dass mangelnde Anerkennung den Kern der Ungerechtigkeiten bildet. Ökonomische Benachteiligungen erwachsen in diesem Zusammenhang aus der Statusordnung. Diesen Ungerechtigkeiten kann dann nur mit Anerkennung entgegengesteuert werden, nicht aber mit Umverteilung.Footnote 53 Die Ungerechtigkeiten resultieren schließlich aus der Statushierarchie (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 31). Aus der Beschreibung der beiden Pole des Kontinuums ergibt sich, dass aufseiten der ökonomischen (Um-)Verteilung nach einer Politik der Umverteilung verlangt wird und aufseiten der Anerkennung eine Politik der Anerkennung notwendig ist. Zwischen beiden Polen des Kontinuums befinden sich aber jene Fälle, die beiden (Un-)Gerechtigkeitsparadigmen von Umverteilung und Anerkennung zugleich entsprechen (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 32). Ungerechtigkeiten sind in diesem Zusammenhang sowohl auf Umverteilung als auch auf Anerkennung zurückzuführen. Beide sind gleichursprünglich und stellen nicht jeweils eine indirekte Auswirkung der anderen Form von Benachteiligung dar. Fraser nennt diese Begebenheiten zweidimensionale Benachteiligungen (vgl. ebd.).

In Anlehnung an diese Theoretisierung von Ungerechtigkeiten lassen sich Rechtssubjekte im Sozialrecht als zweidimensional benachteiligte Gruppierung begreifen. Einerseits handelt es sich um eine Personengruppe, die in der Regel von ökonomischen Benachteiligungen betroffen und auf sozialstaatliche Unterstützung zur Sicherung des Lebensunterhaltes angewiesen ist. Andererseits schließt der Leistungsbezug auch die Gefahr der gesellschaftlichen Abwertung mit ein. Das hat zur Folge, dass es zu negativ empfundenen Statuserfahrungen kommt (vgl. Jürss 2021, S. 9 ff.; Schneickert et al. 2019, S. 605 ff.). Die Kombination aus mehreren Benachteiligungserfahrungen führt für die Statusgruppe von Rechtssubjekten im Sozialrecht dazu, dass die Herstellung eines Zugangs zum System sozialer Sicherung erschwert ist (vgl. Schillen et al. 2022, S. 31).

Fraser schlägt vor, die Benachteiligungsdimensionen Umverteilung und Anerkennung in einem Modell zu integrieren. Sie formuliert dazu eine politische Theorie, in der die Problemlagen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse es erfordern, „eine Reihe institutioneller Vorkehrungen und politischer Reformen in Aussicht zu stellen, die sowohl der unfairen Verteilung als auch mangelnde Anerkennung gegenzusteuern vermögen […]“ (Fraser 2017 [2003], S. 42). In dem Versuch, Anerkennung und Umverteilung zusammenzudenken, lautet Frasers These, dass „Anerkennung als eine Angelegenheit der Gerechtigkeit zu verstehen [ist: KW]“ (Fraser 2017 [2003], S. 44). Im Unterschied zu Honneth,Footnote 54 fragt Fraser nach den Ursachen, weshalb einem Individuum oder einer Gruppe der Status eines vollwertigen Partners in einer sozialen Interaktion verwehrt bleibt (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 44). Fraser nimmt an, dass der vorenthaltene Status von bestimmten institutionalisierten Mustern kultureller Wertsetzung abhängt, an deren Entwicklungsprozess betroffene Personen(-gruppen) nicht gleichberechtigt beteiligt sind (vgl. ebd.). Folglich müssen kulturelle Wertmuster etabliert werden, die alle Menschen unabhängig von Status, Einkommen, Bildungsstand etc. als Gleichrangige klassifizieren und die dadurch untereinander in ebenbürtiger Weise interagieren und am Gesellschaftsleben teilhaben können (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 45). Nur dann, so Fraser, kann von einer wechselseitigen Anerkennung und damit verknüpft von einer Gleichheit des Status aller sozialen Akteur:innen gesprochen werden (vgl. ebd.). Im Umkehrschluss verantworten kulturelle Wertmuster, die Akteur:innen als minderwertig klassifizieren und dadurch von sozialen Interaktionen ausschließen beziehungsweise sie nicht als gleichwertige Partner:innen der Interaktion begreifen, mangelnde Anerkennung und statusmäßige Benachteiligung (vgl. ebd.). Mit diesem Statusmodell hat Fraser Anerkennung nicht als verhinderte Selbstverwirklichung, sondern als institutionalisiertes Verhältnis von Unterordnung definiert, das einen Verstoß gegen die Gerechtigkeit darstellt.

Die Analyse des Zugangs zum System sozialer Sicherung von ratsuchenden Bürger:innen knüpft genau hier an. Es handelt sich einerseits um die empirische Analyse von einzelfallbezogenen Bedingungen bei der Herstellung eines Zugangs zum System sozialer Sicherung. Zum anderen aber auch um eine normativ begründete kritische Analyse des derzeitigen gesellschaftlichen Diskurses über den Bezug von Sozialleistungen. Gesellschaftliche Vorstellungen und Aushandlungen darüber, wem sozialstaatliche Unterstützung zusteht und wem nicht, problematisieren kulturell gewachsene sozialstaatliche Verteilungsprinzipien und -normen (vgl. Eckhardt 2023, S. 25) mit Bildern wie denen der „Kneteabsahner[innen: KW]“ (Dettling 2010, S. 65). Aus diesem Grund eignet sich Frasers theoretischer Ansatz, um kulturell gewachsene Barrieren bei der Herstellung eines Zugangs zum System sozialer Sicherung zu analysieren und der Frage nachzugehen, auf welche Weise die sozialrechtsbezogene Beratung durch Sozialverbände einen effektiven Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen herstellt. Auf welche Weise berücksichtigt das Statusmodell die Anerkennung und die Umverteilung? Fraser beantwortet diese Frage mit einer zweidimensionalen Konzeption von Gerechtigkeit, in der Verteilung und Anerkennung als unterschiedliche Dimensionen der Gerechtigkeit gelten, ohne dass die eine auf die andere Dimension reduziert wird (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 54). Den normativen Kern dieser Konzeption (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 54; Sobottka und Saavedra 2009, S. 200) bildet die partizipatorische ParitätFootnote 55 (vgl. Abb. 3.2).

Abb. 3.2
figure 2

(Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Fraser 2017 [2003], S. 54 ff.)

Die Norm der partizipatorischen Parität

Inhaltlich versteht Fraser unter der partizipatorischen Parität die Möglichkeit, dass alle Gesellschaftsmitglieder als Ebenbürtige miteinander verkehren (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 54-55). In Frasers Vorstellungen dient sie als normativer Monismus, an dem sich alle Gerechtigkeiten und damit auch die Gelingensbedingungen im Zugang zum System sozialer Sicherung von Bürger:innen messen lassen. Um partizipatorische Parität zu ermöglichen, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: zum einen muss die Verteilung materieller Ressourcen die Unabhängigkeit und das Stimmrecht der Partizipierenden gewährleisten (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 55). Übertragen auf rechtsanspruchsberechtigte Personen im System sozialer Sicherung dürfte der Leistungsbezug per se nicht zum Nachteil führen (vgl. Weyrich 2021, S. 94). Zum anderen müssen kulturelle Wertmuster allen Partizipierenden den gleichen Respekt erweisen und die Chancengleichheit beim Erwerb gesellschaftlicher Achtung sicherstellen (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 55). Die Herstellung eines Zugangs zum System sozialer Sicherung müsste demzufolge so ausgestaltet sein, dass jede:r Bürger:in über seine:ihre Ansprüche auf Sozialleistungen und deren Verwirklichung Bescheid weiß und keine statusbezogenen Benachteiligungen dies verhindern (vgl. Weyrich 2021, S. 94). Zugegeben ist das sozialrechtliche Verwaltungsverfahren mit den Mitwirkungsrechten (§§ 24, 25 SGB X) und Mitwirkungspflichten (§§ 60-66 SGB I) so ausgestaltet, dass eine Beteiligung der Leistungsberechtigten bei der Rechtserschließung gewährleistet ist (vgl. Welti 2017b, S. 146). Allerdings zeigt die Praxis, dass eine Beteiligung von Leistungsberechtigten unter anderem aufgrund fehlenden Wissens über die Mitwirkungsrechte und -pflichten scheitert (vgl. Weyrich 2021, S. 94; Höland 2017, S. 15).

Die Orientierung an dem Prüfkriterium der partizipatorischen Parität erscheint deshalb sinnvoll, weil dieser Norm ein umfassendes Verständnis von Beteiligung beziehungsweise Teilhabe zugrunde liegt. Der Sozialwissenschaftlerin Julia Graf zufolge richtet Fraser den Blick auf Möglichkeiten der Beteiligung für sozial benachteiligte Individuen und Gruppen in allen gesellschaftlichen Feldern (vgl. Graf 2013, S. 79). Diese Absicht erscheint für die Erforschung des Zugangs zum System sozialer Sicherung mithilfe der sozialrechtsbezogenen Beratung wertvoll. Dadurch können nicht nur subjektbezogene und materiell-rechtliche wie prozessrechtliche Zugangsbedingungen in den Blick genommen, sondern auch der Frage nachgegangen werden, inwieweit ratsuchenden Bürger:innen an der (Re-)Produktion von Strukturen im Zugang zum System sozialer Sicherung (nicht) beteiligt sind, wenn sie soziale Rechte (nicht) mobilisieren.

Des Weiteren geht Fraser über die Überlegungen sozialer Benachteiligungen hinaus und präsentiert nicht nur das Konzept der partizipatorischen Parität als einen normativen Gedanken von Gleichberechtigung, sondern entwickelt auch theoretische Überlegungen, in welcher Weise institutionelle Reformen sowohl Ungerechtigkeiten der ökonomischen Benachteiligungen als auch mangelnde Anerkennung überwinden können (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 100). Fraser führt zwei analytische Kategorien ein, um Maßnahmen gegen Ungerechtigkeiten einordnen und bewerten zu können (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 102; Fraser 2016 [2001], S. 46 ff.). Zum einen entwickelt sie mit der Affirmation eine Strategie, die darauf abzielt, „unfaire Wirkungen gesellschaftlicher Strukturen zu korrigieren, ohne die zugrundeliegenden sozialen Strukturen, die sie hervorbringen, anzugreifen“ (Fraser 2017 [2003], S. 102). Ungerechte Folgewirkungen sozialer Verhältnisse werden demzufolge lediglich ausgeglichen (vgl. Fraser 2016 [2001], S. 47). Angewendet auf die kulturelle Anerkennung des Bezugs von Leistungen im Sozialleistungssystem bedeutet das, dass den negativ konnotierten Werteschemata in den sozialrechtsbezogenen Beratungssituationen der Verbände keine Bedeutung zukommen darf und diese sich nicht auf die Beziehungsgestaltung auswirken. Affirmative Maßnahmen gleichen in Hinblick auf ökonomische Ungerechtigkeiten Verteilungsmissstände aus, lassen die zugrundeliegenden Tiefenstrukturen der Systeme aber unberührt (vgl. Fraser 2016 [2001], S. 50). In diesem Verständnis unterstützen sozialverbandliche Beratungen bei der Herstellung eines Zugangs zum System sozialer Sicherung, zielen aber nicht darauf ab, die Sozialsysteme oder aber den Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen zu verändern. Im Gegensatz zu affirmativen Strategien definiert Fraser transformative Strategien als solche, die ungerechte Wirkungen gerade durch Re- beziehungsweise Umstrukturierungen des gesamtgesellschaftlichen Rahmens zu beseitigen versuchen (vgl. Fraser 2017 [2003], S. 102; Fraser 2016 [2001], S. 47). Die Transformation zielt demzufolge darauf ab, gesellschaftliche Verhältnisse neu zu strukturieren, um im Sinne der partizipatorischen Parität Gerechtigkeit herzustellen (vgl. ebd.). Transformative Strategien würden also jene sozialstaatlichen und gesellschaftlichen Strukturen destabilisieren oder gar auflösen, die Bürger:innen zu passiven Adressat:innen der Rechtssysteme machen und darüber entscheiden, wem sozialstaatliche Unterstützung zusteht und wem nicht. Auf- beziehungsweise Abwertungen im Status sollen auf diese Weise überwunden werden. In Bezugnahme auf ökonomische Benachteiligungen zielen transformative Maßnahmen darauf ab, ungerechte Verteilungen mithilfe von Veränderungen der politisch-ökonomischen Struktur auszugleichen (vgl. Fraser 2016 [2001], S. 50). Die transformativen Strategien sind für diese Arbeit insoweit anschlussfähig, dass über die Mikroebene hinaus, auf der die Beratungssituationen angesiedelt sind, Überlegungen angestellt werden können, welche gesamtgesellschaftlichen Veränderungen durch die Mobilisierung von Recht anzustoßen sind, um einen niedrigschwelligen Zugang zum System sozialer Sicherung herzustellen.

3.5 Der Capabilities Approach – die Befähigung zur Rechtsmobilisierung

An die Darstellung der partizipatorischen Parität als voraussetzungsvolle Bedingung für das naming, blaming und claiming in sozialrechtsbezogenen Beratungssituationen anknüpfend, beziehe ich mich in diesem Kapitel auf einen weiteren Aspekt, der bei der Herstellung eines Zugangs zum System sozialer Sicherung zu berücksichtigen ist. Die Mobilisierung von Recht zur Lösung eines Konflikts muss, wie auch schon in Abschnitt 3.3 und 3.4 angedeutet, immer von denjenigen ausgehen, die das Problem identifiziert haben. Das heißt, es gilt nicht nur formal und materiell-rechtliche Rahmenbedingungen sowie kulturelle Werteschemata im Zusammenhang mit dem Bezug von sozialstaatlicher Unterstützung für die Herstellung eines Zugangs zum System zu etablieren, sondern auch auf subjektbezogene Voraussetzungen zur Nutzung von Recht einzugehen. Daher beziehe ich mich in meinen Analysen auf den Capabilities Approach (Befähigungsansatz) in der Ausführung von Martha Nussbaum (1999). Sie entwickelte mit dem guten Leben ein sozialphilosophisches Konzept,Footnote 56 das Menschen in die Lage versetzt, ihr Leben als planbar zu begreifen, fähig zu sein, Entscheidungen zu treffen, Bewertungen vorzunehmen und entsprechend in Verbindung mit anderen Menschen zu handeln (vgl. Nussbaum 1999, S. 53). Ich berufe mich dabei im Besonderen auf zwei Grundfähigkeiten menschlichen Lebens: die praktische Vernunft und die Verbundenheit mit anderen Menschen (vgl. Nussbaum 1999, S. 59 ff.). Auf den Forschungsgegenstand der vorliegenden Arbeit übertragen, versetzen diese zwei Grundfähigkeiten leistungsberechtigte Bürger:innen in die Lage, sich im Austausch mit und in Bezogenheit auf andere Menschen respektive sozialstaatliche Institutionen wie die Sozialverwaltung oder die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit als rechtsmobilisierungsfähige und selbstbestimmte Rechtssubjekte zu begreifen, die fähig sind, Ansprüche auf soziale Rechte nicht nur zu haben, sondern sich eigenverantwortlich dafür zu entscheiden, sie (nicht) zu gebrauchen (vgl. Nussbaum 1999, S. 63 ff.).

Unter Einbeziehung des Capabilities Approach können die mit den Aushandlungen über den Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen einhergehenden Beratungspraktiken wie die Vermittlung von Wissen über materielle Rechtsansprüche, prozess- und verfahrensrechtliche Grundlagen, Übersetzung von rechtlichen Inhalten in die Lebenswirklichkeiten rechtsunkundiger Bürger:innen analysiert werden (vgl. Eckstein und Rössl 2017, S. 219 ff.).

Nussbaum setzt sich in ihrer Arbeit „Gerechtigkeit oder das gute Leben“ (1999) mit der Frage nach den konstitutiven Bedingungen des guten menschlichen Lebens auseinander. Als bekennende Aristotelikerin liegt für sie der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen in der aristotelischen Theorie des menschlich Guten und der guten Lebensführung, in der die Vorstellungen eines guten menschlichen Lebens und Handelns als elementare Grundlage für staatliche Aufgaben dienen sollen (vgl. Nussbaum 1999, S. 32 ff.). In enger Zusammenarbeit mit dem indischen Ökonomen Amartya Sen entwickelte Nussbaum den Capabilites Approach. Der fundamentale Unterschied in der Ausgestaltung des Capabilties Approach von Nussbaum und Sen liegt darin, dass Sen „emphasized the ancient roots of his idea“ (Nussbaum 1997, S. 276), während Nussbaum ihre Überlegungen zu den konstitutiven Bedingungen eines menschlichen Lebens in einer starken vagen Konzeption des Guten spezifiziert. In Anlehnung an Aristoteles sollen die Ziele eines jeden Staates sein, die Lebensumstände jedes Gesellschaftsmitgliedes über eine bestimmte Schwelle hinaus auf eine Stufe zu heben, auf der es ihm möglich ist, ein gutes Leben zu wählen und zu führen. Es handelt sich demzufolge nicht ausschließlich um die Verteilung von Gütern wie Geld, Grund und Boden, sondern auch um die Totalität der Fähigkeiten und Tätigkeiten, die das gute menschliche Leben ausmachen (vgl. Nussbaum 1999, S. 33). Dabei wird die minimale Schwelle des guten Lebens mit einer Liste von zehn Grundfähigkeiten bestimmt, die Nussbaums Verständnis zufolge für ein menschliches Leben charakteristisch sind und ohne die ein menschliches Leben nicht gut genannt werden kann (vgl. Nussbaum 1999, S. 49 ff.). Dieses universalistische Konzept des guten Lebens ist für alle Menschen gültig und zugleich so vage formuliert, dass es an jede Kultur angepasst werden kann (vgl. Nussbaum 1999, S. 48; Nussbaum 1993, S. 333).

Die Regierungen aller Staaten sollen dazu verpflichtet sein, Bürger:innen zu bestimmten menschlichen Grundtätigkeiten zu befähigen, um dadurch ein Minimum an Menschenwürde zu gewährleisten (vgl. Nussbaum 1999, S. 62 ff.). Mit der starken vagen Konzeption des guten Lebens verfolgt Nussbaum das Ziel, eine philosophische Grundlage für elementare Verfassungsprinzipien zu entwickeln. Die Liste der Grundfähigkeiten des Menschen stellt für Nussbaum die Antwort auf die Frage dar: „What is [a] person able to do or to be“ (Nussbaum 2011, S. 20). Bevor wir uns näher mit der von Nussbaum entwickelten Liste und insbesondere zwei bedeutungsvollen menschlichen Fähigkeiten befassen, gilt es zu klären, wie Nussbaum den Begriff der Fähigkeiten definiert. In ihrem Verständnis gelten Fähigkeiten als „a set of (usually interrelated) opportunities to choose and to act […]“ (Nussbaum 2011, S. 20). Sie unterscheidet zwischen drei Fähigkeitsstufen: Grundfähigkeiten sowie internen und kombinierten Fähigkeiten (vgl. Nussbaum 2011, S. 20 ff.; Nussbaum 1999, S. 102 ff.; Nussbaum 1997, S. 279).

Menschen müssen, um ein gutes Leben zu führen auf einer ersten Stufe des Fähigkeitsmodells über angeborene Grundfähigkeiten wie beispielsweise Sehen, Hören und Sprechen verfügen, die unter kognitiven Fähigkeiten zusammengefasst werden (vgl. Nussbaum 2011, S. 24). Aufbauend auf die Grundfähigkeiten können interne Fähigkeiten in Interaktion mit der (sozialen) Umwelt erlernt und entwickelt werden (vgl. Nussbaum 1999, S. 103). Es handelt sich um individuelle Eigenschaften und Fähigkeiten, die einen Menschen charakterisieren (vgl. Nathschläger 2014, S. 21 nach Nussbaum, 2011, S. 24). Jeder Mensch verfügt über internal capabilities. Als dritte Fähigkeitsstufe führt Nussbaum den Begriff der kombinierten Fähigkeiten ein. Mit den kombinierten Fähigkeiten sind die tatsächlich ausübbaren Fähigkeiten gemeint (vgl. Nussbaum 2011, S. 22). Also die Ausbildung und Förderung interner Fähigkeiten in Verbindung mit der Herstellung äußerer Bedingungen, unter denen die Ausübung dieser Fähigkeiten erst möglich ist (vgl. Nathschläger 2014, S. 22; Nussbaum 1999, S. 106). Ihrer Argumentation folgend können kombinierte Fähigkeiten ausschließlich dann in bestimmte Tätigkeiten (functionings) umgesetzt werden, wenn interne Fähigkeiten gefördert und externe Bedingungen so gestaltet sind, dass diese auch anzuwenden sind (vgl. Nussbaum 1999, S. 105). Vor dem Hintergrund dieses Fähigkeitsmodells wird Nussbaums Verständnis von Staatlichkeit und den dazugehörenden Aufgaben deutlich. Ihrer Ansicht nach muss ein Staat dafür Sorge tragen, dass Menschen interne Fähigkeiten (weiter-)entwickeln, zugleich aber auch Rahmenbedingungen schaffen, in denen sich entwickelte Fähigkeiten entfalten beziehungsweise aktiv ausgeübt werden können (vgl. Nussbaum 1999, S. 107). Für Nussbaum macht es einen fundamentalen Unterschied, ob ein Staat zum Beispiel Menschen diverse Rechte zuspricht und gesetzlich verankert oder ob ein Staat zugleich die Entwicklung von Fähigkeiten der Bürger:innen fördert und Rahmenbedingungen schafft, um Rechte auch in Anspruch zu nehmen (in Anlehnung an Nussbaum 2011, S. 25; Nussbaum 1997, S. 292 ff.). Übertragen auf den deutschen Sozialstaat ließe sich argumentieren, dass er nicht nur dafür Sorge tragen muss, dass der Zugang zum System sozialer Sicherung materiell- und verfahrensrechtlich gegeben ist, sondern Bürger:innen eine Rechts(anspruchs)bewusstheit, wie sie in Abschnitt 3.3 skizziert wurde, entwickeln (können) müssen, um in Interaktionen über die sozialen Sicherungssysteme als rechtsmobilisierungsfähige Rechtsagent:innen aufzutreten und ihre Rechte aktiv einzufordern.

Nussbaum konkretisiert diese Überlegungen in einer Liste konstitutiver Grundfähigkeiten zur Verwirklichung eines guten menschlichen Lebens (vgl. Nussbaum 2011, S. 32 ff.; Nussbaum 1999, S. 57 ff.). Sie geht von zehn Grundfähigkeiten aus, die Bereiche des Lebens, der körperlichen Gesundheit und Integrität, des Zusammenlebens, der Gefühle und Sinne, der Zugehörigkeit, praktischen Vernunft, des Spiels sowie der materiellen und politischen Kontrolle über die eigene Umwelt beinhalten (vgl. Nussbaum 2011, S. 33-34; Nussbaum 1999, S. 57-58). Menschen soll es möglich sein, ein lebenswertes Leben zu führen und nicht vorzeitig zu sterben. Die körperliche Integrität von Menschen soll gewahrt bleiben, indem sie Fähigkeiten zur Vermeidung unnötigen Schmerzes und zu freudvollen Erlebnissen entwickeln und entfalten können. Dazu zählt auch, frei über Fortpflanzung entscheiden zu können und über die Fähigkeit zu verfügen, seine Sinne, Vorstellungskraft und Fantasie zu gebrauchen. Mithilfe einer angemessenen Erziehung zu denken, zu urteilen und kritisch über die eigene Lebensplanung nachzudenken, ist für Nussbaum ebenfalls zentral. Außerdem sollen Menschen an der eigenen emotionalen Entwicklung nicht durch Furcht oder Ängste gehindert werden. Das schließt insbesondere die Fähigkeit ein, einer Erwerbsarbeit außer Haus nachzugehen und an politischen Entscheidungen teilzunehmen. Auch die Fähigkeiten zu lesen, zu schreiben und der Erwerb von mathematischen Grundkenntnissen und wissenschaftlicher Grundausbildung zählen zu der Liste. Die Ausbildung dieser Fähigkeiten erfordert Nussbaum zufolge die Bereitstellung von Bildungseinrichtungen und gesetzliche Regelungen in Bezug auf die Meinungsfreiheit. Des Weiteren erachtet Nussbaum die Fähigkeit, Bindungen mit anderen Menschen außerhalb des Selbst einzugehen, als relevant. Das schließt die Fähigkeit ein, auf Gefühle mit Zuneigung zu reagieren sowie Sehnsucht und Dankbarkeit zu empfinden und auf die Abwesenheit geliebter Menschen mit Trauer zu reagieren. Fähigkeiten wie das Leben in Verbindung mit anderen und für andere, die Anerkennung anderer Menschen, das Eingehen verschiedener Formen sozialer Interaktionen sowie der respektvolle Umgang miteinander sind ebenfalls auf der Liste der Grundfähigkeiten aufgeführt. Außerdem nennt Nussbaum die Fähigkeit, in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der Natur zu leben und sorgsam mit ihnen/ihr umzugehen. Weiterhin sollen Menschen die Fähigkeit haben zu lachen, ihr eigenes Leben und nicht das von anderen zu leben. Zu diesem Zweck sollen bestimmte Freiheiten wie die sexuelle Ausrichtung, Reproduktion, Sprache und die Wahl einer Beschäftigung nachzugehen, geschützt werden. Das gelingt beispielsweise anhand einer gleichermaßen für alle Menschen gültigen Rechtsgrundlage für die Teilhabe am Arbeitsleben (vgl. Nussbaum 1999, S. 57-58). Diese Liste von erworbenen Fähigkeiten ist Nussbaum zufolge von grundlegender Bedeutung für ein menschliches Leben. Wenn eine dieser Fähigkeiten fehlt, dann ist Nussbaums Argumentation zufolge zu bezweifeln, ob es sich wirklich um ein menschenwürdiges Leben handeln kann (vgl. Nussbaum 1999, S. 58). Aus diesem Grund kommt der Förderung von Fähigkeiten eine zentrale Bedeutung zu, wenn Staaten darüber nachdenken, wie das Gute für Menschen zu fördern sei (vgl. ebd.). Dies betont einmal mehr, dass die gerechte Verteilung und Bereitstellung von (im)materiellen Ressourcen im Mittelpunkt des Ansatzes von Nussbaum stehen und es Ziel eines jeden Staates sein muss, Unterstützungssysteme auf unterschiedlichen Ebenen zu schaffen, die allen Bürger:innen eine gute und selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen (vgl. Nussbaum 1999, S. 62). Die Liste stellt diesem Verständnis zufolge eine grundlegende und minimale Konzeption des ,Guten‘ dar (vgl. Nussbaum 1999, S. 56 ff.).

Einer der wichtigsten Aspekte der Liste ist die gegenseitige Durchdringung und Abhängigkeit der einzelnen Grundfähigkeiten voneinander. Sie unterstützen sich gegenseitig, können sich in diesem Wechselverhältnis aber auch einschränken oder stören (vgl. Nussbaum 1999, S. 58 ff.). Eine besondere Art der wechselseitigen Durchdringung stellen Nussbaum zufolge die praktische Vernunft und die Verbundenheit mit anderen Menschen dar (vgl. ebd.). Beide organisieren und strukturieren alle anderen Fähigkeiten und Tätigkeiten (vgl. Nussbaum 1999, S. 59 ff.). Die praktische Vernunft durchdringt alle Tätigkeiten und Pläne im Hinblick auf ihre Verwirklichung in einem guten und erfüllten Leben. Das Gleiche gilt für die Verbundenheit mit anderen sozialen Wesen, denn alle sozialen Handlungen führen Menschen in Beziehung zu anderen Menschen aus. Die eigene Lebensplanung ist also immer auch eine Planung mit anderen oder für andere Menschen (vgl. Nussbaum 1999, S. 60). Nussbaums Forderungen entsprechend, soll ein menschliches Leben im Einklang mit der praktischen Vernunft und in Verbindung mit anderen Menschen geführt werden können (vgl. Nussbaum 1999, S. 61). In diesem Zusammenhang muss es Bürger:innen möglich sein, ein gutes Zusammenleben in der Gemeinschaft zu leben, bei dem sie auf Gerechtigkeit hinzielende moralische Fähigkeiten untereinander schätzen, über deren Voraussetzungen nachdenken gute politische Prinzipien sowohl in der Verteilung von Gütern entwickeln und berücksichtigen als auch die Förderung der Verwirklichung dieser und anderer menschlicher Fähigkeiten (vgl. ebd.). Um dieses Ziel zu realisieren, sind materielle und institutionelle Voraussetzungen notwendig, die Bürger:innen befähigen, in verschiedenen Lebensbereichen entsprechend ihrer praktischen Vernunft handeln zu können (vgl. Nussbaum 1999, S. 62).

In ihrer Publikation „Capabilities and Human Rights“ (1997) setzte Nussbaum den Capabilities Approach in Beziehung zu Menschenrechten.Footnote 57 Diese Rechte sind Nussbaum zufolge als kombinierte Fähigkeiten zu verstehen. Beispielsweise soll das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 (1, 2) GG), das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 (1) GG) oder das Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 (4) GG) Menschen vor Menschenrechtsverletzungen schützen und gleichzeitig in die Lage versetzen, sich auf diese Rechte beziehen zu können, wenn es denn erforderlich ist (vgl. Nussbaum 1997, S. 293). Mit dem Capabilities Approach nach Nussbaum gelingt es, eine Vorstellung davon zu erhalten, dass es nicht ausreicht, Rechte zu haben, sondern sie auch zugänglich in dem Sinne sein müssen, dass Bürger:innen ihr Handeln auf den Gebrauch von Rechten ausrichten können (vgl. Nussbaum 1997, S. 293). Es gilt Ansprüche auf Sozialleistungen nicht nur zu besitzen, sondern auch über Fähigkeiten zu verfügen, diese geltend zu machen. Nussbaum folgend bestehen die Probleme darin, dass seitens des Staates zur Sicherung eines guten Lebensstandards Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, obgleich die Lebenssituationen der Bürger:innen so heterogen sind, dass sie einen sehr unterschiedlichen Zugriff auf diese Ressourcen haben (vgl. Nussbaum 1997, S. 295). Dabei ist weniger eine Gleichheit bei der quantitativen Verteilung von Ressourcen anzustreben, vielmehr müsse eine Gleichheit in der qualitativen Ressourcennutzung erreicht werden (vgl. Röh 2013, S. 147). Wiederholt stellt sich in diesen unterschiedlichen Ausgangssituationen die Frage: „what are people actually able to do or to be“ (Nussbaum 2011, S. 20). So dann wird nachvollziehbar, welcher staatliche Unterstützungsbedarf notwendig ist „to put people securely in possession of those rights [economic and material rights], to make them able really to function in those ways, not just to have the right on paper“ (Nussbaum 1997, S. 295).

In diesem Zusammenhang nehme ich den Fähigkeitsansatz als politisches Programm (vgl. Röh 2013) wahr, bei dem es darum geht, Rechte zu verwirklichen, indem Bürger:innen befähigt werden, ihre Chancen zu ergreifen und subjektive Rechte in Anspruch zu nehmen (vgl. Röh 2013, S. 148). Es handelt sich bei dem Fähigkeitsansatz also auch um die Verwirklichung von Chancengerechtigkeit, indem Menschen sich selbst mittels ihrer praktischen Vernunft im Vergleich zu oder in Bezug auf andere privilegierte Personen(-gruppen) als rechtsmobilisierungsfähige Rechtssubjekte und nicht nur als passive Adressat:innen von Sozialpolitik begreifen. In Deutschland schafft der Sozialstaat mit dem Sozialstaatsprinzip einen Rahmen für die Entfaltung individueller Freiheit, indem er das Ziel verfolgt, durch die Bereitstellung von Sozialleistungen die Menschenwürde, Handlungsfreiheit, Familie und Erwerbsfreiheit (Art. 1, 2, 6, 12 GG) zu sichern (vgl. Eichenhofer 2021, S. 8). Darin finden sich also die Forderungen Nussbaums wieder, dass das menschliche Dasein zu schützen und zu fördern ist. Wenngleich sich der Sozialstaat mit seinem sozialpolitischen Programm der Sicherung eines menschenwürdigen Daseins verpflichtet und entsprechende rechtliche Voraussetzungen schafft, gestaltet sich die Verwirklichung schwierig. Das Sozialrecht gilt als hochkomplexes Rechtsgebiet (vgl. Schnitzler 2019), das mitunter auch für ausgebildete Jurist:innen oder Leistungsträger unüberschaubar ist (vgl. Schnitzler 2019, S. 12; Höland 2017, S. 15). Der Gesetzgeber erkennt die Komplexität stellenweise anFootnote 58 und implementiert punktuell verschiedene Programme oder beratende Institutionen, die den Zugang zu Sozialleistungen vereinfachen sollen.Footnote 59 Neben den (verfahrens-)rechtlichen Bedingungen gilt es meines Erachtens aber auch den Einfluss von androzentrischen Wirtschaftsmodellen und meritokratischen Leistungsethiken in der Ausgestaltung des Sozialstaates zu berücksichtigen, die letztlich auch die Herstellung eines Zugangs zum System sozialer Sicherung beeinflussen. Mit dem Capabilities Approach ist es in der vorliegenden Arbeit möglich, das dialektische Verhältnis von subjektbezogenen Ressourcen und rechtlichen wie sozialstaatlichen Rahmenbedingungen zu analysieren.