1 Bürgergeldempfänger:innen – die Menschen und ihre Lebenswirklichkeit

„Wir haben Zeit genug, wenn wir sie nur richtig verwenden.“ - dieses Diktum Johann Wolfgang von Goethes wird oft zitiert. Es beschreibt einen Gedanken, der für viele von uns beruhigend sein kann, die ihren Alltag zwischen Beschleunigung der Arbeitswelt, familiären Aufgaben, Freizeitplänen und ehrenamtlichen Engagements gestalten und dabei allzu oft in Zeitnot geraten. Als berufstätige Frau in einer Führungsposition, Mutter und Großmutter, Museumsfreundin und Gründungsmitglied einer Eine-Welt-Laden-Genossenschaft ahne ich, wovon Goethe spricht. Und zum Glück gibt es viele, die mir dabei helfen, meine Zeit „richtig“ zu verwenden, indem sie mir bei der Erledigung meiner Alltagspflichten helfen, indem ich Dienstleistungen für die Reinigung unserer Wohnung in Anspruch nehme oder wenn ich ein Taxi nutze, weil der Weg zum nächsten Termin mit dem Fahrrad zu lange dauern würde. Wenn eine Freundin oder Kollegin für mich die Geburtstagsblumen im Laden abholt… Solche Entlastungen sind nicht selbstverständlich. Sie setzen Ressourcen voraus – finanzielle Mittel, sichere familiäre oder freundschaftliche Beziehungen, ein gewisses Organisationsgeschick, die Möglichkeit zur Gegenleistung – Ressourcen, über die viele Menschen nicht oder nur in beschränktem Umfang verfügen.

Die Verwendung unserer Zeit und die Souveränität, über sie verfügen zu können, hängen also ganz entscheidend mit unseren Lebensumständen, mit unseren Geschwindigkeiten und denen unserer Umwelt und mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen zusammen. Bürgergeld-Bezieher:in zu sein, kann für die verfügbare Zeit ganz verschiedenes heißen, auch wenn die Vorstellung (der Zeitungen mit Großbuchstaben) über Menschen im Grundleistungsbezug meist automatisch darin mündet, dass sie zwar nicht viel Geld, dafür aber unbegrenzte Zeitressourcen hätten. Die Erfahrungen aus der Caritaspraxis zeigen: Dieses Bild ist irreführend. Zeit und Geld zu haben, hängt oft direkt miteinander zusammen. Unter den Bürgergeldempfänger:innen sind viele, die durch eine sichtbare oder unsichtbare Beeinträchtigung erhöhten Zeitaufwand für elementare Lebensnotwendigkeiten haben, in deren Alltag die Sorge für ein krankes Kind oder die Belastung durch einen gewalttätigen Partner Zeitfresser sind. Nicht übersehen werden darf auch, dass sich unter den Haushalten im SGB II-Bezug ein großer Anteil von Personen befindet, die aufstocken. Sie müssen oft viel Zeit für Erwerbsarbeit (zu ungünstigen Tageszeiten) und den Weg zur Arbeit investieren, ohne dass der Lohn zur Existenzsicherung reicht. In knapp einem Drittel der Familien mit minderjährigen Kindern im SGB II-Bezug beispielsweise geht mindestens ein Elternteil einer Erwerbstätigkeit nach – wobei ein großer Teil ihres Einkommens auf die SGB II-Leistungen angerechnet wird (Bertelsmann Stiftung 2021, S. 7).

Die Lebensumstände von armutsbetroffenen Menschen führen nicht selten dazu, dass neben dem Geld auch die Zeit rasch knapp wird. Und das kann zur Folge haben, dass Rechte auf Unterstützung nicht wahrgenommen werden können, Weiterqualifikationen nur schwer vereinbar sind mit dem Alltag und der Weg hin zur existenzsichernden Erwerbstätigkeit und besseren Absicherung deutlich erschwert wird. So geht es auch Herrn P., Klient in einer Beratungsstelle der Caritas in der Nähe von Köln. Die Kolleginnen dort unterstützen ihn seit vielen Jahren: zum Beispiel im Dialog mit Behörden oder bei Konflikten mit Vermietern. Sein Erleben steht exemplarisch für die Lebenswirklichkeit der rund 15 % armutsgefährdeten Personen in Deutschland (BMAS 2021, S. 46):

Der 53-jährige P. ist gelernter Maurer. Nach mehreren Bandscheibenvorfällen erlitt er einen Zusammenbruch, bei dem sein Leben am seidenen Faden hing. Jetzt ist er körperlich eingeschränkt. Eine Umschulung zum Bauzeichner vor vielen Jahren führte zu nichts, denn es gab keine Jobangebote zu dieser Zeit. Irgendwann wollte Herr P. wenigstens eine Arbeit in einer Werkstatt für Menschen mit Beeinträchtigungen – eine Amtsärztin verweigerte ihm das, weil er zu diesem Zeitpunkt bereits aus gesundheitlichen Gründen arbeitsunfähig war.

Herr P. lebt sehr zurückgezogen in der Umgebung von Köln und mit wenig Kontakt zu seinen Mitmenschen. Selbst Kontakt zu seiner Familie gibt es kaum. Seine Frau hat sich von ihm getrennt. Jahrelang hat er seinen Kindern weiter Geld überwiesen, um den Schein zu wahren – selbst als er keine Arbeit mehr hatte.

Nach seiner Erkrankung und der Trennung von seiner Frau ist er Schritt für Schritt in die Verschuldung gerutscht. Der ständige Kampf mit Behörden um die Wahrnehmung seiner Rechte hat ihn wütend gemacht.

Seit Anfang des Jahres erhält Herr P. Bürgergeld. Das Bürgergeld als grundlegende Reform der Grundsicherung trägt verschiedenen Kritikpunkten Rechnung, die auch der Deutsche Caritasverband in der Vergangenheit wiederholt vorgetragen und aus seiner verbandlichen Praxis in Beratungsstellen und Integrationsangeboten begründet hat (Deutscher Caritasverband 2023, S. 111 ff.). Die Hinweise des Bundesverfassungsgerichts zu einer verfassungsgemäßen Sanktionspraxis, das „Sozialmonitoring“ der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) und die Analysen der Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung sind einige der wichtigen Impulse, die der Gesetzgeber aufgegriffen hat. Besser unterstützt werden soll die nachhaltige und perspektivreiche Arbeitsmarktintegration vor allem durch mehr und bessere Qualifizierungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Dem Grundbedürfnis Wohnen und dem Erhalt des bisherigen Lebensumfelds soll bei der Entscheidung über die Übernahme der Wohnkosten stärker Rechnung getragen werden, die zeitsouveränitätsstärkende Bedeutung der Unterstützung durch Nachbarschaft und Sozialraum wird (implizit) anerkannt. Diese Entwicklungen begrüßen wir als verbandliche Caritas ausdrücklich.

Grundsätzlich ist die Frage nach der Zeitsouveränität aber noch viel zu wenig beachtet. Die großen politischen Linien stellen wenig Verbindung zu individuellen Lebensumständen und Möglichkeiten zur Teilhabe her, die sich auf Zeitverwendungs-Entscheidungen und Biografien auswirken und die für uns in Zeitspuren in Statistiken und Studien sichtbar werden. In drei Lebensbereichen soll das im Folgenden ausgeführt werden: Mobilität, Umgang mit Behörden und digitale Teilhabe.

2 Mobilität

Mobilität ist ein grundlegender Garant für Teilhabe – nur wer öffentliche und nicht-öffentliche Orte außerhalb des eigenen Wohnraumes erreichen kann, kann am dortigen Leben teilhaben. Wer dagegen nicht mobil ist, kann Orte für Arbeit, Bildung, Versorgung oder soziales Leben nicht erreichen und daher am dortigen Leben nicht oder nur eingeschränkt teilhaben, was bis zu gesellschaftlicher Marginalisierung führen kann (FES 2009, S. 6–21).

Hinzu kommt: Wege dauern länger, wenn man nicht viel Geld für Mobilität übrighat. Die so gebundene Zeit kann man nicht mehr für anderes investieren. Es kann ein Teufelskreis entstehen, der die Möglichkeiten zur Mobilität und gesellschaftlichen Teilhabe immer weiter einschränkt (FÖS 2022, S. 1).

Anhand von Daten aus dem SOEP lässt sich die ungleiche Besitzverteilung privater PKW analysieren, die in Deutschland angesichts der ausbleibenden Verkehrswende für den Zugang zu Mobilität noch immer besonders wichtig ist. Oberhalb der Schwelle zum SGB II-Leistungsbezug besitzen 95 % der Paare mit Kind(ern) mindestens ein Auto – bei der gleichen Gruppe im Grundleistungsbezug sind es etwa 58 %. Unter denjenigen ohne eigenen PKW ohne Berechtigung zum Leistungsbezug geben nur zwei Prozent der Paare mit Kind(ern) und 11 % der Alleinerziehenden finanzielle Ursachen als Grund für den Verzicht auf das Auto an. Im Vergleich dazu sind es bei solchen im Leistungsbezug drei Viertel, die aus finanziellen Gründen auf ein Auto verzichten (Aust 2020, S. 17). Herr P. ist einer davon, er geht stets zu Fuß, selbst zum Einkaufen:

Seine Einkäufe schleppt Herr P. zu Fuß nachhause. Auch seine Gänge zum Jobcenter und zu anderen Ämtern oder in die örtliche Beratungsstelle der Caritas erledigt er per pedes. Natürlich ist er auf diese Weise viel länger unterwegs als die, die sich mal eben ins Auto schwingen können. Aber er spart Geld.

Denn seit die Inflation galoppiert, reicht das Geld überhaupt nicht mehr. Herr P. kann gerade noch so seine Lebensmittel kaufen. Eigentlich auch das nicht richtig: „Mich gesund zu ernähren, kann ich mir schlicht nicht leisten.“ Frisches Gemüse ist ein Luxus. Bus und Bahn oder gar ein Auto treten in der Priorisierung weiter zurück.

Die erwünschte Veränderung kann und soll nicht darin bestehen, allen einen Zugang zum privaten PKW zu ermöglichen. Sozialpolitik, die gleichzeitig auch klimabewusst ausgerichtet ist, muss anders aussehen, worauf der Caritasverband im Rahmen seiner Jahreskampagne 2023 besonders hinwies (Welskop-Deffaa 2023a, S. 169). Für Menschen, die aus finanziellen Gründen auf Bus und Bahn angewiesen sind, ist jeder Schritt hin zu einem verbesserten ÖPNV, nicht nur im ländlichen Raum, eine konkrete Verbesserung des Lebensalltags. Ein Gewinn an Lebenszeit und zugleich ein wichtiger Beitrag zum Klimaschutz. Noch sind Autos im ländlichen Raum oft unentbehrliche Voraussetzung für eine reguläre Erwerbstätigkeit und die Organisation des Lebens vom Einkauf bis hin zu Behörden- und Arztbesuchen (FÖS 2022, S. 3).

Die Politik hat seit Jahren dem Individualverkehr Priorität gegeben, wie Zahlen des Verkehrsclub Deutschland (VCD) deutlich machen. Das Schienennetz der Bahn wurde in den Jahren 1996 bis 2018 um ein Viertel auf 33.440 km verkleinert – damit wurden die Ausgaben um mehr als die Hälfte auf gut sechs Milliarden Euro reduziert und die schienengebundene Infrastruktur in grober Weise gefährdet, ohne dass der nicht-schienengebundene öffentliche Verkehr auch nur ansatzweise die Lücke geschlossen hätte. Gleichzeitig wuchs das Autobahnnetz um knapp 2.000 km, dazu kamen hohe Subventionen für den PKW-, LKW- und Flugverkehr (neue caritas spezial 2023, S. 7).

Die Auswirkungen sind spürbar: Nach Auswertungen der Agora Verkehrswende haben zwei Drittel der Bevölkerung keinen Zugang zu einem ausreichenden ÖPNV-Angebot. Besonders stark hängt die Unterversorgung mit der sozio-ökonomischen Lage des Gebietes zusammen. Leben in einer Gegend viele Menschen mit niedrigem Einkommen, schlechtem Bildungs- und Gesundheitsstatus, ist der Zugang zum ÖPNV oft besonders eingeschränkt. Gerade Menschen im Leistungsbezug können sich aber Wohnungen in gut erreichbaren Innenstadtvierteln meist nicht leisten. Die Folge: Wege zu möglichen Orten für Bildung und Weiterbildung, Erwerbstätigkeit, Kinderbetreuung und Einkauf kosten deutlich mehr Lebenszeit und Geld als bei Personen, die die Vorteile von gut getaktetem ÖPNV oder kurzen Wegen haben (FÖS 2022, S. 2–4). Für Herrn P. entsteht daraus das Gefühl von starker Abhängigkeit:

Hin und wieder muss Herr P. zu einem Facharzt nach Köln. Dafür kauft er ein Ticket für den ÖPNV. 53 EUR würde die Monatskarte kosten, bei der die Fahrt in die ein paar Kilometer entfernte Domstadt inkludiert ist. „Das ist zu teuer für mich.“ stellt Herr P. fest. Eine Ermäßigung ist sogar schon eingerechnet - für Menschen in Armut gibt es einen Sondertarif.

Eine Ermäßigung kann Herr P. aber auch für Einzel- und Tagestickets bekommen. Dafür benötigt er jedoch jedes Mal eine Bescheinigung des Sozialamts. „Ich hatte meinen ersten Untersuchungs-Termin beim Arzt in Köln um 11 Uhr“, erinnert er sich. „Ich war schon um 8.10 Uhr im Sozialamt.“ Das macht erst um 8.30 Uhr auf, aber die zuständige Mitarbeiterin war schon früher da. „Ich habe sie freundlich gebeten, mir die Bescheinigung gleich auszustellen, damit ich meinen Termin schaffe – sie hat mir die Tür vor der Nase zu gemacht“, berichtet Herr P. „Als ich dann nach 8.30 Uhr eingelassen wurde, war alles in 40 Sekunden erledigt.“ Zum Termin hat er es noch pünktlich geschafft – und natürlich respektiert Herr P. Öffnungszeiten: „Aber Du kommst Dir auf den Ämtern permanent wie ein Bittsteller vor.“ Und nach einem kurzen Moment fügt er noch hinzu: „Manchmal auch wie der letzte Dreck.“

Ein attraktives ÖPNV-Ticket für alle, für das sich der Deutsche Caritasverband auf dem Hintergrund dieser Erfahrungen lange eingesetzt hat, ist mit dem seit 1. Mai 2023 verfügbaren Deutschlandticket eingeführt. Allerdings ist die Finanzierung des Tickets zwischen Bund und Ländern nur für eine begrenzte Zeit gesichert und die Frage nach einem deutschlandweit einheitlichen Sozialtarif vorläufig unbeantwortet. Gerade für Menschen wie Herr P. wäre es wichtig, dass das Deutschlandticket bleibt, dass es für arme Haushalte kostenlos ist und dass der ÖPNV fährt, wenn man ihn braucht. Die Erfahrungen aus den Modellprojekten zur Stärkung des ÖPNV, die das Bundesverkehrsministerium (BMDV) jetzt fördert, müssen nachhaltig in die Breite getragen werden – z. B. die Einführung neuer (Express-)Buslinien und/oder automatisierter Bus-Shuttles im Linienverkehr und der Ausbau eines On-Demand-Dienstes, wie es die kreisübergreifende Angebotsoffensive zum Ausbau und zur Schaffung eines metropolitanen Stadt-Land-Taktes in Schleswig–Holstein vorhat (BMDV 2023). Die verbandliche Caritas selbst trägt zum Ausbau einer klimafreundlichen sozialen Mobilitätsinfrastruktur beispielsweise durch die Trägerschaft zahlreicher Radstationen an Bahnhöfen bei (Caritas im Erzbistum Köln 2023). Ob das Abo-Modell des Deutschlandtickets für Menschen wie Herr P. eine Chance oder ein Risiko darstellt, wird der Deutsche Caritasverband weiter beobachten. Wenn Kauf und Abbestellung ihrerseits kompliziert und zeitaufwendig sind und Herr P. sich immer wieder zu komplexen Prüfungen veranlasst sieht, ob für ihn das Ticket im nächsten Monat wirklich sinnvoll ist, wird es seinen Beitrag zu einer zeitsouveränen teilhabestärkenden Nutzung des ÖPNV für ihn nicht leisten.

3 Umgang mit Behörden

Das Erleben, sich im Angesicht der Behörden klein gemacht zu fühlen, und damit nicht nur den Mut, sondern auch viel Zeit zu verlieren, wird uns aus den Beratungsstellen immer wieder berichtet. Folgende Szene aus Berlin kennen so oder so ähnlich viele Berater:innen:

Herr K. sitzt aufgeregt in seinem Termin bei einer Beratungsstelle der Caritas in Berlin. Er hat Post vom Sozialamt bekommen. „Wenn ich jetzt 18 mal 203,46 EUR - also mehr als 3.600 EUR - zurückzahlen muss, bin ich am Ende.“ Herr K. bestreitet seinen Lebensunterhalt von einer kleinen Erwerbsminderungsrente und Bürgergeld: „Ich lebe im Dispo.“

Zwei Dinge bereiten ihm im Moment Sorgen: Der Inhalt des Schreibens, das er in der Hand hält – und dessen Ton: „Ich habe den Eindruck, die sagen mir: Sie haben es versaut!“

Die Beraterin der Caritas überfliegt den Brief. K.´s Fehler: Er hat eine mitteilungspflichtige Änderung zur Erwerbsminderungsrente nicht rechtzeitig gemeldet. „Entspannen Sie sich erst einmal“, beruhigt sie. „Es geht hier um eine Anhörung, nicht um eine Anklage.“ Es geht auch nur um einmalig 203,46 EUR. „Das Amt ist verpflichtet, das Geld zurückzufordern. Aber das kriegen wir hin.“

Das Problem begleitet sie, seit sie Sozialarbeiterin ist: „Die Ämter müssen rechtssicher formulieren – klar. Leider verstehen aber viele Menschen das Bürokraten-Deutsch nicht und landen dann eingeschüchtert und verunsichert bei uns. Das kostet sie – und uns – viel Zeit.“

Der Destatis-Datenreport 2021 vermittelt das Bild, dass die Zufriedenheit mit der öffentlichen Verwaltung sehr stark abhängig von der Lebenslage ist. Im Jahr 2019 waren insgesamt 83 % der Bürgerinnen und Bürger mit ihren Behördenkontakten eher oder sehr zufrieden. Bei denjenigen, die sich in den Lebenslagen Arbeitslosigkeit, Altersarmut und Finanzielle Probleme befanden, ging die durchschnittliche Bewertung des Behördenkontaktes jedoch stark auf „eher unzufrieden“ zu. Unzufriedene gaben an, woran es für sie lag. Für die meisten ging es um eine zu lange Bearbeitungsdauer, außerdem äußerten Befragte Unmut über komplexe Verfahren, zu lange Wartezeiten, Ablehnungsbescheide, unzureichende Informationen sowie aus ihrer Sicht unfreundliches und wenig kompetentes Personal. Ähnliche Differenzen zeigen sich zum Thema Verständlichkeit von behördlichen Dokumenten. Diese erhielten in den Lebenslagen Heirat und Lebenspartnerschaft sowie Umzug mit Werten von je 1,4 überdurchschnittliche Zufriedenheit. Die Lebenslagen Altersarmut, Arbeitslosigkeit und Finanzielle Probleme dagegen wurden mit unterdurchschnittlichen Zufriedenheitswerte von je 0,5 bewertet (Destatis 2021, S. 394–398). Der Unterschied: Kontakt zu Behörden wegen einer Heirat haben Bürgerinnen und Bürger im Idealfall nur einmal im Leben – und dies ist ein freudiger Anlass. Wer auf Bürgergeld angewiesen ist, wird immer wieder in Kontakt mit dem Amt treten müssen. Auf diese Weise vergeht Zeit, die anderen für Bildung, Freizeit und Familie zur Verfügung steht – und für Menschen im Kontakt mit Ämtern mit Warten, Terminsuchen und Formularen. Die wiederholte Erfahrung, dass der Kontakt zu Ämtern Lebenszeit kostet, dass die eigene Zeit und Angewiesenheit keine Rolle spielt bei der Bearbeitung, dass das Zeitfenster für die Lösung eines Problems sich schließen wird, bevor die Ämter die notwendige Auskunft erteilt haben – das alles sind Erfahrungen der Zeit-Armut, die arme Menschen verzweifeln lassen und die sie vor die Entscheidung stellen, auf Transferzahlungen zu verzichten oder einen Gutteil ihrer (knappen) Zeit für den Kontakt mit Behörden investieren zu müssen, der dann für andere Perspektivvorhaben fehlt.

4 Digitale Teilhabe

Gerade im Bereich des Zugangs zu Behördendienstleistungen hoffen viele (politisch Verantwortliche) auf positive Effekte der Digitalisierung, die Kommunikationswege vereinfachen, Arbeitsschritte automatisieren und damit Zeit sparen könnte. Die Erfahrungen aus der Praxis zeigen jedoch, dass das Profitieren von diesen Effekten voraussetzungsreich ist. Herr P. meint:

„Digitalisierung macht vieles einfacher? Klar! Aber nur, wenn die Apps auf dem Smartphone dann auch laufen.“ So alt ist das Samsung von Herrn P. gar nicht. Aber einige Jahre auf dem Buckel reichen schon, dass es keine Updates mehr gibt. Das wird zum Beispiel beim Deutschlandticket zum Problem: Es funktioniert auf seinem Smartphone nicht. Minimum ist das Betriebssystem Android 8. Er zuckt mit den Schultern: „Ein aktuelles Smartphone kann ich mir im Moment nicht leisten.“

Hier sieht man einen Zusammenhang zwischen „analogen“ und „digitalen“ Benachteiligungen. Teilweise kann zwar Ungleichheit durch neue digitale Teilhabemöglichkeiten vermindert werden. Ein einfaches Beispiel sind Videoanrufe oder Streaming-Angebote, die Mobilitätshürden und Distanzen überwinden. Auch die Kontaktmöglichkeiten von sozialen Medien können fehlende persönliche Netzwerke ausgleichen, um beispielsweise auf digitale Weise zu helfen, Einsamkeit und räumliche Distanzen zu überwinden, sowie Engagement und Ehrenamt zu stärken.

Auf der anderen Seite führen aber sozio-ökonomische und sozio-demografische Benachteiligungen auch im Bereich der digitalen Teilhabe zu vermehrtem finanziellem und zeitlichem Aufwand, um diese zu sichern. Menschen, die in Armut leben, haben oft nicht genug Geld für ein Smartphone, einen Laptop, ausreichendes Datenvolumen oder notwendige Software, dadurch entsteht eine „Digitale Kluft“. Nur 49 % der Menschen ohne Beschäftigung in der EU verfügen laut Digital Economy and Society Index (DESI) der EU-Kommission über basale digitale Kompetenzen und digitale Hard- und Software (EU Commission 2022, S. 24).

Gerade im digitalen Bereich bewahrheitet sich auch, dass erwerbslose Menschen in besonderer Weise vor der Herausforderung stehen, im Hinblick auf ihre Kompetenzen nicht abgehängt zu werden. Sie müssen bei längerer Arbeitslosigkeit damit rechnen, dass ihre technischen Kompetenzen nicht auf dem neuestem Stand bleiben, und haben keinen Zugang zu betrieblichen Weiterbildungen (Dietz und Osiander 2014, S. 1). 93 % der Erwerbslosen nutzen das Internet (bei Erwerbstätigen sind es 98 %, Destatis 2022, S. 18). Ein Stück Informations- und Zeitsouveränität, die auf wackligem Boden steht:

Herr P. lebt in der ständigen Belastung, dass bloß nichts kaputtgehen darf. Zurzeit hat er ein echtes Problem: Sein Computer ist in die Knie gegangen. Der Rechner ist technisch auch nicht mehr up-to-date. „Die Reparatur wäre teuer und würde sich nicht lohnen“, meint Herr P. „Einen neuen Computer kann ich momentan aber nicht bezahlen.“

Online Anträge ausfüllen, Briefe schreiben – das will er natürlich trotzdem. Also macht er sich dafür immer wieder auf zur Beratungsstelle der Caritas. Dort gibt es einen PC zur kostenlosen Nutzung für Klientinnen und Klienten. Natürlich ist dieser Rechner nur zu den Öffnungszeiten der Beratungsstelle zugänglich. Die Konsequenz: Wo andere in ein paar Minuten am Laptop ihre Angelegenheiten geregelt haben, braucht Herr P. manchmal einen Tag – oder länger.

5 Zeit-Armut überwinden!

Viele Alltagserledigungen kosten Menschen im Bürgergeldbezug besonders viel Zeit. Dazu tragen finanzielle Einschränkungen bei – wie die Berichte aus der Praxis veranschaulicht haben. Besondere Belastungen im familiären Bereich können dazu führen, dass keine existenzsichernde Erwerbsarbeit möglich ist und zugleich weder genug Zeit noch genug Geld verbleibt, um mit den Kindern unbeschwert zu spielen oder mit den pflegebedürftigen alten Eltern einen Ausflug zu unternehmen. Tiefer forschend würden wir sehen, dass es bei der Verfügbarkeit von Einkommen und Zeit weiter auch zu großen Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen kommt (Welskop-Deffaa 2023b, S. 274) – zum Beispiel durch kinderbetreuungsbedingte Nachteile auf dem Arbeitsmarkt (Artmann 2023, S. 5 f.) oder durch die Pflege von Angehörigen (Dietz und Osiander 2014, S. 4).

Die Erfahrungen der Caritas bestätigen, dass in Deutschland auch nach Einführung des Bürgergeldes weiter viel zu tun ist, um die Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen und Wohlergehen für alle zu sichern. Zeit-Armut von Bürgergeldbezieher:innen wahrzunehmen und zu überwinden ist die nächste Aufgabe, vor der wir stehen.