1 Einführung

Die Bekämpfung von Armut ist eine der ältesten, verbreitetsten und unumstrittensten Aufgaben von Wohlfahrtsstaaten. Insbesondere die Armut von Kindern als eindeutig nicht von ihnen selbst verursacht gilt dabei seit Anbeginn wohlfahrtsstaatlicher Eingriffe als oberste Priorität. Dies zeigt sich beispielhaft in der aktuellen Debatte um die Einführung einer Kindergrundsicherung in Deutschland (Funcke und Menne 2023). Die Absicherung von Kindern und anderen abhängigen Familienmitgliedern ist und war in den meisten etablierten Wohlfahrtsstaaten über die Familie als ökonomischer Einheit geregelt. Wo das Familieneinkommen, das ehedem vornehmlich über den männlichen Familienernährer verdient wurde, nicht reichte oder gar wegfiel, etablierten sich wohlfahrtsstaatliche Regelungen zur Umverteilung. Und auch gegenwärtig ist die Einheit der wohlfahrtsstaatlichen Umverteilung zumeist, insbesondere im Fall von Armut, die Familie. Sie gilt in den meisten Ländern als besonders unterstützenswert, auch bei der Umverteilung, die nicht armutsbezogen ist.

Im Falle von Armut hat Familie in vielen Ländern aber auch die Funktion der Solidareinheit, sodass Ressourcen der Familie mit betrachtet werden, wenn ein Antrag auf Sozialleistungen gestellt wird. Dies ist auch beim im Jahr 2023 eingeführten Bürgergeld der Fall, das wie die Vorgängerleistung „Hartz IV“ Familien im Rahmen der Bedarfsgemeinschaften berücksichtigt. Diese zumeist als Bedarfsprüfung geregelte finanzielle Verpflichtung von Familienmitgliedern, sich gegenseitig finanziell zu unterstützen, bevor öffentliche Gelder fließen, kann somit das Einkommen von Familien gegenüber gleichverdienenden Individuen ohne Familie reduzieren. Ein besonderer Schutz von Familie scheint hier nicht gegeben.

Dieses „Plus und Minus“, wie wir es hier vereinfacht nennen, haben wir in einem international vergleichenden Forschungsprojekt erstmals systematisch für verschiedene Familienformen untersucht. Dabei haben wir herausgearbeitet, welche Familienformen von wohlfahrtsstaatlicher Umverteilung profitieren, welche gegenüber Individuen ohne Familie eher benachteiligt werden, und für welche Familienformen es gegenüber einem Individuum ohne Familie keine Unterschiede gibt. Diese Differenzen in den Regelungen der Umverteilung entsprechen aber nicht notwendigerweise den tatsächlichen Differenzen in der Umverteilung, da Regelungen zum Teil nicht umgesetzt oder in Anspruch genommen werden. Folglich können sich die in den Regelungen vorgesehenen finanziellen Vor- und Nachteile für verschiedene Familienformen (die Umverteilungslogiken) faktisch von diesen unterscheiden, wodurch sich Nachteile gegenüber anderen Familienformen vergrößern oder Vorteile verkleinern können.

In diesem Beitrag nehmen wir die Differenz zwischen der gesetzlich vorgesehenen und der tatsächlichen Umverteilung in den Blick, die u. a. durch Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen bedingt sein können. Konkret interessiert uns im europäischen Vergleich, wo die Differenz zwischen der de jure und der de facto Umverteilung besonders hoch bzw. kaum gegeben ist, und ob (und welchen) armen Familien dadurch weniger oder mehr Ressourcen zur Verfügung stehen als vorgesehen. Dabei sollen die Differenzen nach Umverteilungsinstrument abgebildet werden, d. h. wir analysieren getrennt nach Sozialabgaben, Leistungsansprüchen und Steuern, um erfassen zu können, welches Umverteilungsinstrument jeweils für die Differenz zwischen Umverteilungsregelungen und deren Umsetzung verantwortlich ist. Wir führen die Analyse anhand von EU-SILC-Daten und dem europäischen Mikrosimulationsinstrument EUROMOD für eine Vielzahl unterschiedlicher Familienformen durch.

Hierzu schauen wir uns zunächst den Kenntnisstand zur wohlfahrtsstaatlichen Armutsbekämpfung, zu den unterschiedlich adressierten Familienformen und zur Umsetzung der Regelungen in Bezug auf arme Familien an, präsentieren dann unser methodisches Vorgehen und die Ergebnisse, bevor wir diese zusammenfassen und diskutieren.

2 Forschungsstand

Wie und in welchem Ausmaß Wohlfahrtsstaaten arme Menschen unterstützen, ist eng mit der in allen Wohlfahrtsstaaten und zu allen Zeiten diskutierten Frage nach der Ursache von Armut verbunden und der damit zusammenhängenden Frage nach der individuellen Verantwortung, diese zu vermeiden (schon Polanyi 1944; Titmuss 1958). Für Kinder ist unumstritten, dass sie für die Armut, in der sie leben, nicht verantwortlich sind. Kinder gelten somit seit jeher als deserving poor, also Arme, denen legitimerweise finanziell geholfen wird. Dieses Konzept der deservingness (Van Oorschot und Roosma 2017; Whelan 2021) bezieht sich jedoch nicht nur auf Kinder.

Schon im alten Rom galt der Mann oder der Haushaltsvorstand (pater familias) als verantwortlich für das Wohl der Familie (Elias 1997). Diese Sicht auf die Familie als ökonomische Einheit mit einem männlichen Oberhaupt hatte sich, wenn auch aus andersartigen Gründen, in den meisten Ländern, die heutzutage als Wohlfahrtsstaaten definiert werden, durchgesetzt (Pfau-Effinger 2004). Folgerichtig haben die meisten Wohlfahrtsstaaten weitere Familienmitglieder als abhängige Familienmitglieder konzipiert und sie im Falle des Wegfalls des Familieneinkommens (Land 1980) vor Armut geschützt. In gegenwärtigen Wohlfahrtsstaaten ist die gesonderte Stellung von Familie auch in Ausnahmeregelungen zu erkennen wie beispielsweise für verschiedene Bedingungen der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik, durch die einige „Aktivierungs“-Kriterien abgeschwächt werden, beispielsweise wenn die Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses nicht eingefordert wird, weil damit ein Umzug der Familie inklusive Schulwechsel der Kinder verbunden wäre.

Die wohlfahrtsstaatliche Konzeption der Familie als ökonomische Einheit galt und gilt in vielen Ländern jedoch auch für die gegenseitige Verantwortung, die man finanziell füreinander trägt. Und insbesondere, wo es um Armut geht, wird dieses Prinzip der Subsidiarität angewandt (Saraceno 2004). Wenn ein Familienmitglied Ansprüche auf armutspräventive Leistungen stellt, muss nach diesem Prinzip zunächst kontrolliert werden, ob nicht andere Familienmitglieder dem Armutsgefährdeten unter ihnen (finanziell) helfen können, bevor der Staat in der Verantwortung steht. Das gegenwärtig wichtigste Instrument in diesem Zusammenhang ist die Bedürftigkeitsprüfung. Das heißt aber auch, dass (arme) Familien gegenüber (armen) Individuen ohne offizielle Familienmitglieder – denn nur bei offiziell anerkannten Familienmitgliedern können familienbezogenen Regelungen Anwendung finden – finanziell benachteiligt werden können (eine Übersicht in Frericks et al. 2020).

Die verschiedenen Umverteilungsregelungen in Bezug auf Familien wurden allerdings nicht einheitlich gestaltet (siehe Daly und Scheiwe 2010; Saraceno 2023). So gibt es, abhängig von Land und Zeitpunkt, Regelungen, die sich nur auf verheiratete Paare beziehen und andere, die auch nicht-verheiratete einbeziehen. Dabei können sie sich in Bezug auf das Plus (Leistungen), das Minus (Steuern, Beiträge) oder beide Seiten der Umverteilungsmedaille unterscheiden. Auch wird oft danach unterschieden, ob Familien in einem Haushalt zusammenleben oder nicht. Und bei Kindern wird bei der Umverteilung beispielsweise danach unterschieden, wie alt sie sind oder wie viele Geschwister es gibt. Es ist also nicht so, dass sich die Umverteilung danach unterscheidet, ob man eine Familie hat oder nicht, sondern auch sehr stark danach, in welcher Familienform man lebt. Diese Differenzen in den Regelungen der Umverteilung haben wir Umverteilungslogiken genannt, und sie, für arme und nicht-arme Familien, anderweitig systematisch herausgearbeitet (Frericks und Gurín 2023; Frericks et al. 2023a, 2023b).

In diesem Beitrag hingegen widmen wir uns der Differenz zwischen der Umverteilung de jure und de facto. Denn für die faktische Armutsbekämpfung ist natürlich bedeutend, inwieweit die in den wohlfahrtsstaatlichen Regelungen vorgesehene Umverteilung tatsächlich umgesetzt wird. Wir wissen aus der Literatur, dass Leistungen oft nicht abgerufen werden. Dieses als Nichtinanspruchnahme bekannte Phänomen führt dazu, dass Anspruchsberechtigte weniger Leistungen empfangen, als die Regelungen vorsehen. Die Gründe hierfür können bei den Anspruchsberechtigten liegen, aber auch auf der administrativen Seite (Van Oorschot 1998; Hernanz et al. 2004; Vinck et al. 2018). Auf der anderen Seite können Anspruchsberechtigte auch höhere Leistungen erhalten als es die Umverteilungsregelungen erwarten ließen. Dieses Phänomen, das auf Betrug oder administrativen Fehlern, aber auch auf Fehlern in der Simulation beruhen kann, ist in der Literatur bekannt als beta errors (Goedemé und Janssens 2020). Ein weiteres Phänomen, das zu einer Differenz zwischen der de jure und der de facto Umverteilung führt, ist die unterschiedliche Nutzung steuerlicher Regelungen. So können Individuen oder Familien höhere Steuern zahlen, wenn sie von bestimmten Regelungen keinen Gebrauch machen, oder niedrigere, wenn sie beispielsweise Steuerbetrug betreiben. Die Umverteilung durch Steuern wird aber in den meisten Studien nicht berücksichtigt, weil eher einzelne Leistungen im Fokus stehen (Fuchs et al. 2020; Otto und Van Oorschot 2019). Sie spielen allerdings gerade bei der Umverteilung in Bezug auf Familie eine gewichtige Rolle (Bradshaw und Nieuwenhuis 2021; Frericks et al. 2023a, b). Es kann somit sein, dass ein vorgesehenes Plus für eine armutsgefährdete Familie bei der Umsetzung verpufft oder viel geringer oder auch höher ausfällt, oder ein vorgesehenes Minus viel weniger hart umgesetzt wird.

Aufgrund dieser drei Phänomene können wir also erwarten, dass sich die de facto Umverteilung von der de jure Umverteilung unterscheidet. Und da sich Anspruchsberechtigungen nach Familienform unterscheiden können (Nelson und Nieuwenhuis 2021), erwarten wir auch Differenzen in der Umsetzung nach Familienform. Diese Familienformen können sich, außer im Familienstatus, auch in der Einkommenshöhe unterscheiden, was zu Differenzen in der Inanspruchnahme von Umverteilungsansprüchen führen kann (Harnisch 2019). Aufgrund der deutlichen Länderunterschiede bei den Bedürftigkeitsprüfungen (Frericks et al. 2020; Jacques und Noël 2018) ist zudem anzunehmen, dass nicht alle Familien bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen beantragen, weil zum einen möglicherweise das Wissen um Anspruchsberechtigung und Beantragung fehlt und zum anderen Bedürftigkeitsprüfungen stigmatisierend oder abschreckend sein können (Hernanz et al. 2004). Daher analysieren wir hier im Ländervergleich, ob und zu welchem Grad die de facto Umverteilung der de jure Umverteilung entspricht.

3 Daten und Methode

Um Differenzen zwischen der de jure und der de facto Umverteilung für arme Familien erfassen zu können, nutzen wir das Mikrosimulationsmodell der Europäischen Union EUROMOD (Version I4.109+) (ISER 2022) in Verbindung mit den Mikrodaten der EU-Statistik über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC). Mithilfe dieser Daten lässt sich zum einen die de facto Umverteilung durch Angaben zum verfügbaren Haushaltseinkommen sowie zu den monetären Sozialleistungen und Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen der Befragten erfassen. Zum anderen lässt sich durch den Einsatz von EUROMOD die de jure Umverteilung bestimmen, indem simuliert werden kann, welche verfügbaren Haushaltseinkommen, Sozialleistungen sowie Steuern und Sozialversicherungsbeiträge die Befragten auf Basis der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Regelungen erhalten müssten.

Die de jure Umverteilung untersuchen wir auf Basis der wohlfahrtsstaatlichen Regelungen des Jahres 2019. Aus diesem Grund verwenden wir zur Analyse der de facto Umverteilung die EU-SILC-Daten aus 2020, da sie die Einkommensvariablen des vorherigen, bereits vollendeten Kalenderjahrs 2019 enthalten.

Wir analysieren die Differenzen zwischen der de jure und der de facto Umverteilung für acht europäische Länder. Dazu gehören Österreich, die Niederlande, Spanien, Schweden, Finnland, Slowenien und Lettland, da diese Länder bei den tatsächlichen verfügbaren Haushaltseinkommen, Sozialleistungen sowie Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen auf Registerdaten zurückgreifen. So begegnen wir dem Problem, dass Befragte in Surveys häufig ungenaue Angaben zu ihren Einkommen machen. Zusätzlich nehmen wir als Vergleichspunkt Deutschland in unsere Analyse mit auf. Hier beruhen die Angaben zu den tatsächlichen Einkommen, Sozialleistungen und Steuern jedoch allein auf den Survey-Daten, was bedeutet, dass die Unterschiede zwischen der de jure und der de facto Umverteilung durch ungenaue Angaben der Befragten verzerrt sein können.

Wir können eine Bandbreite verschiedener Familienformenauf der Basis von zwei fundamentalen Merkmalen erfassen, nämlich dem Vorhandensein und der Anzahl der Kinder und ob es sich um ein Paar oder eine/n Alleinerziehende/n handelt. Wir folgen einem breiten Familienbegriff und beziehen neben Familienformen mit Kindern auch Paare ohne Kinder in unsere Analyse mit ein, da wohlfahrtsstaatliche Regelungen Paare oft gesondert berücksichtigen. Daneben variieren wir die Anzahl der Kinder in der Familie und untersuchen Familienformen mit ein, zwei und drei oder mehr Kindern. Aus der Kombination dieser Merkmale ergeben sich sieben Familienformen.

Um arme Familien zu analysieren, nutzen wir einen bestimmten Armutsbegriff und untersuchen armutsgefährdete Familien. Die bedeutet, dass wir uns auf Familien beschränken, denen weniger als 60 % des mittleren (d. h. medianen) Äquivalenzeinkommens zur Verfügung steht. Zur Bestimmung des Äquivalenzeinkommens wird das Nettoeinkommen des gesamten Haushalts in Abhängigkeit von der Anzahl und dem Alter der Haushaltsmitglieder gewichtet. So kann im Unterschied zum Pro-Kopf-Nettoeinkommen berücksichtigt werden, dass bestimmte Zahlungen wie z. B. die Miete nur einmal geleistet werden müssen (Hauser 2018). Indem wir damit nicht nur Familien mit Sozialhilfebezug untersuchen, können wir eine größere Bandbreite an wohlfahrtsstaatlichen Regelungen in unserer Analyse berücksichtigen, da Sozialhilfeleistungen oft den Bezug weiterer Sozialleistungen ausschließen oder mit diesen verrechnet werden. Außerdem wäre eine alleinige Analyse von Familienformen mit Sozialhilfebezug aufgrund geringer Fallzahlen nicht möglich (Tab. 1).

Tab. 1 Zahl der Haushalte (gewichtet und ungewichtet)

Wir gehen davon aus, dass die untersuchten Familienformen in einem Haushalt leben und beschränken uns bei den Familienformen mit Kindern auf Haushalte mit Kindern unter 18 Jahren. Die Stichprobe unserer Analyse besteht dementsprechend aus Haushalten mit den sieben Familienformen. Für die Analyse nutzen wir das in den EU-SILC-Daten vorhandene Querschnittsgewicht für Haushalte, da auf diese Weise Verzerrungen durch Non-Response und aufgrund der Auswahlwahrscheinlichkeiten der Haushalte ausgeglichen werden können. Für unsere Analyse ergeben sich damit folgende Fallzahlen.

Für die Analyse von de jure und de facto Umverteilung vergleichen wir zunächst den Mittelwert pro Familienform und Land für das tatsächliche und simulierte verfügbare Haushaltseinkommen. Das verfügbare Haushaltseinkommen ist für unsere Analyse der geeignete Indikator, da es – ausgehend vom Bruttoeinkommen – durch die Sozialleistungen auf der einen Seite und die Steuern und Sozialversicherungsbeiträge auf der anderen Seite bestimmt wird. Damit bildet es das Plus und Minus wohlfahrtsstaatlicher Umverteilung ab. Um einen genaueren Einblick in diese Umverteilung zu erhalten, untersuchen wir zusätzlich die tatsächlich erhaltenen und simulierten Sozialleistungen und die tatsächlichen und simulierten Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Um eine Vergleichbarkeit der Beträge zwischen den Ländern zu gewährleisten, sind alle Werte in Kaufkraftparitäten (KKP) angegeben.

EUROMOD erlaubt eine sehr akkurate Simulation der Sozialleistungen, Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Trotzdem ist es möglich, dass es in einzelnen Fällen unzureichende Informationen bspw. für die Vermögensgrenzen bei bedürftigkeitsgeprüften Leistungen gibt (Maier und Ricci 2022). Deshalb ist es möglich, dass die Differenzen zwischen den tatsächlichen und den simulierten Werten zu einem gewissen Grad auf Simulationsfehler zurückzuführen sind.

4 Empirische Ergebnisse

4.1 Haushaltseinkommen

Eine Analyse des tatsächlichen und simulierten verfügbaren Haushaltseinkommens zeigt, dass bis auf wenige Ausnahmen das tatsächliche durchschnittliche verfügbare Haushaltseinkommen pro Familienform unter dem simulierten liegt (Abb. 1). Mit anderen Worten: Armutsgefährdete Familienformen haben de facto weniger Geld zur Verfügung als dies de jure der Fall sein sollte. Das ist lediglich bei Alleinerziehenden mit einem Kind in Spanien nicht der Fall sowie in Lettland bei Paaren ohne Kinder, wo das tatsächliche verfügbare Einkommen geringfügig über dem simulierten liegt.

Abb. 1
figure 1

(Quelle: eigene Darstellung auf Basis von EUROMOD und EU-SILC)

Tatsächliches und simuliertes verfügbares Haushaltseinkommen, Mittelwerte in KKP.

Eine zweite allgemeine Beobachtung ist, dass in fast allen Fällen das durchschnittliche verfügbare Einkommen sowohl in der simulierten als auch in der tatsächlichen Form umso höher ist, je mehr Kinder eine Familie hat. Dies gilt sowohl für Alleinerziehende als auch für Paare. Es gibt jedoch Ausnahmen: In den Niederlanden haben Alleinerziehende mit einem Kind gegenüber Alleinerziehenden mit zwei Kindern höhere simulierte und tatsächliche Einkommen, während dies in Schweden nur bei den tatsächlichen Einkommen der Fall ist. In Deutschland liegt das tatsächliche verfügbare Einkommen bei Paaren mit zwei Kindern unter dem von Paaren mit einem Kind. Eine andere Ausnahme ist Spanien, wo das tatsächliche und simulierte Einkommen von Paaren umso geringer ausfällt, je mehr Kinder sie haben; jedoch haben in Spanien Paare ohne Kinder niedrigere Einkommen als solche mit Kindern. Über alle Länder betrachtet haben Paare mit drei oder mehr Kindern die höchsten durchschnittlichen verfügbaren Einkommen.

Vergleicht man die Höhe der durchschnittlichen verfügbaren Einkommen der Familienformen zwischen den Ländern, so gibt es – trotz der Umrechnung in KKP – erhebliche Differenzen zwischen den acht untersuchten Staaten. Es gibt also deutliche Unterschiede darin, was sich eine durchschnittliche armutsgefährdete Familie in den verschiedenen Ländern leisten kann. Lettland hat die niedrigsten durchschnittlichen verfügbaren Einkommen bei den untersuchten Familienformen, gefolgt von Spanien. Die durchweg höchsten simulierten verfügbaren Einkommen zeigen sich in Österreich, Finnland und Deutschland sowie – bei Alleinerziehenden mit einem Kind – in den Niederlanden. Blickt man dagegen auf die tatsächlichen verfügbaren Einkommen, so ist die Differenz zu den simulierten Einkommen gerade in Österreich besonders hoch. Deswegen weisen bei den meisten untersuchten Familienformen Finnland, Deutschland und die Niederlande die höchsten tatsächlichen verfügbaren Einkommen auf. Bei den simulierten Einkommen liegen Schweden und Slowenien im Mittelfeld, wobei diese beiden Länder z. T. recht große Differenzen zwischen den simulierten und den tatsächlichen Werten aufweisen, wenn auch weniger stark ausgeprägt als in Österreich. Dies gilt für Alleinerziehende mit zwei oder drei oder mehr Kindern sowie für Paare mit drei oder mehr Kindern in Slowenien und für Paare ohne Kinder oder mit einem Kind in Schweden. Im Vergleich aller Länder gibt es in Lettland die geringsten Unterschiede zwischen simulierten und tatsächlichen verfügbaren Einkommen.

Ein Blick auf die monetären Sozialleistungen auf der einen Seite und die Steuern und Sozialversicherungsbeiträge auf der anderen Seite hilft, diese Ergebnisse zum Haushaltseinkommen besser zu verstehen.

4.2 Sozialleistungen

Bei den durchschnittlichen monetären Sozialleistungen pro Familienform zeigt sich ein ähnliches Bild wie beim verfügbaren Haushaltseinkommen: In fast allen Fällen liegen die im Durchschnitt der jeweiligen Familienform tatsächlich erhaltenen Sozialleistungen unter den simulierten (Abb. 2). Dies bedeutet, dass die armutsgefährdeten Familien in den acht Ländern weniger Sozialleistungen erhalten, als dies den Umverteilungsregelungen zufolge der Fall sein sollte. Das lässt sich nur durch eine deutlich ausgeprägte Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen erklären. Eine weitere Gemeinsamkeit mit den Ergebnissen zum Haushaltseinkommen ist, dass fast überall die erhaltenen Sozialleistungen umso höher ausfallen, je mehr Kinder eine Familie hat. Eine Ausnahme sind lediglich Alleinerziehende in Slowenien, wo Alleinerziehenden mit zwei Kindern gegenüber solchen mit drei oder mehr Kindern höhere Beträge erhalten.

Abb. 2
figure 2

(Quelle: eigene Darstellung auf Basis von EUROMOD und EU-SILC)

Tatsächliche und simulierte Sozialleistungen, Mittelwerte in KKP.

Was die Höhe der erhaltenen Leistungen pro Familienform angeht, weisen Spanien und Lettland – analog zu den Ergebnissen für das Haushaltseinkommen – die niedrigsten Werte auf. Alleinerziehende erhalten in den Niederlanden die höchsten tatsächlichen und simulierten Sozialleistungen, bei Paaren zeigt hingegen Finnland die höchsten tatsächlichen Werte. Blickt man allein auf die Höhe der simulierten Leistungen, so ist bei Paaren Österreich Spitzenreiter, allerdings gibt es ganz gravierende Differenzen zu den de facto erhaltenen Sozialleistungen, die deutlich darunterliegen. Hier unterscheidet sich Österreich ganz deutlich von den anderen untersuchten Staaten, da sowohl Alleinerziehende als auch Paare mit drei oder mehr Kindern de facto nicht einmal die Hälfte der simulierten Sozialleistungen erhalten. Bedeutsame, allerdings weniger extreme Unterschiede zwischen den tatsächlichen und den simulierten Leistungen gibt es im Fall Sloweniens und – bei Alleinerziehenden – in Finnland. Bei Finnland ist aufschlussreich, dass Paare mit ein oder zwei Kindern im Durchschnitt höhere tatsächliche als simulierte Sozialleistungen vorzuweisen haben. Es gibt hier also sehr deutliche Unterschiede zwischen Paaren und Alleinerziehenden. Höhere tatsächliche gegenüber simulierten Leistungen finden sich sonst nur noch bei Paaren mit zwei Kindern in Schweden. Die geringsten Differenzen zwischen tatsächlichen und simulierten Sozialleistungen gibt es in Lettland. Deutschland liegt bei den Sozialleistungen im Mittelfeld, wobei die durchschnittlichen simulierten Sozialleistungen pro Familienform bei allen untersuchten Familienformen geringer sind als die tatsächlichen.

4.3 Steuern und Sozialversicherungsbeiträge

Neben den Sozialleistungen, die ein Plus für das Haushaltseinkommen bedeuten, spielen auch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, im Folgenden kurz Abgaben genannt, als Minus vom Haushaltseinkommen, eine wichtige Rolle. Vergleicht man die Skala auf der vertikalen Achse zwischen Abb. 2 und 3, so zeigt sich, dass die Beträge für die Abgaben nicht ganz so hoch ausfallen wie die der Sozialleistungen. Abb. 3 muss dabei so gelesen werden, dass positive Werte eine negative Auswirkung auf das verfügbare Haushaltseinkommen haben. Dementsprechend sind höhere tatsächliche als simulierte Werte finanziell nachteilig für die betreffende Familienform.

Abb. 3
figure 3

(Quelle: eigene Darstellung auf Basis von EUOMOD und EU-SILC)

Tatsächliche und simulierte Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, Mittelwerte in KKP.

Analog zu den Ergebnissen für das Haushaltseinkommen und die Sozialleistungen sind die Abgaben in Spanien und Lettland vergleichsweise niedrig. Bei Alleinerziehenden und Paaren ohne Kinder weisen die Niederlande, aber auch Finnland (bei Alleinerziehenden mit drei oder mehr Kindern) die durchschnittlich höchsten tatsächlichen und simulierten Abgaben auf. Bei Paaren mit Kindern sticht Deutschland heraus, da es sehr große Abweichungen zwischen den tatsächlichen und simulierten Abgaben gibt, wobei die tatsächlichen Abgaben klar über den simulierten liegen. Gemeinsam mit Österreich ist Deutschland ein Sonderfall, da in den anderen sechs Ländern die simulierten Abgaben i. d. R. höher sind als die tatsächlichen. In Deutschland und Österreich zahlen die untersuchten Familienformen also tatsächlich mehr Abgaben, als dies laut den Regelungen der Fall sein sollte. Die hohen Differenzen zwischen tatsächlichen und simulierten Abgaben in Deutschland müssen jedoch mit Vorsicht interpretiert werden, da für Deutschland keine Registerdaten verwendet werden konnten (siehe Daten und Methode).

Umgekehrt zahlen die meisten untersuchten Familienformen in den anderen sechs Ländern tatsächlich geringere Abgaben als erwartet. Besonders deutlich ist dies in den Niederlanden, wo die Abgaben am höchsten ausfallen. Aber auch bei Alleinerziehenden und Paaren mit zwei Kindern sowie Paaren mit einem Kind in Slowenien und – im Verhältnis zu den geringen Abgaben – in Spanien bei Alleinerziehenden mit einem oder zwei Kindern und Paaren mit drei oder mehr Kindern werden deutlich niedrigere Abgaben erbracht als simuliert.

5 Diskussion

Unsere Analyse hat gezeigt, dass es für armutsgefährdete Familien in den acht untersuchten Ländern teils erhebliche Differenzen zwischen geregelter und tatsächlicher Umverteilung gibt, die in fast allen Fällen zu geringeren verfügbaren Einkommen der Familien führen als vorgesehen. Eine Gemeinsamkeit unter den acht Ländern ist dabei, dass Paare durchweg höhere Steuern und Sozialversicherungsbeiträge leisten müssen als Alleinerziehende (sowohl bei der tatsächlichen als auch bei der simulierten Umverteilung) sowie Familienformen mit mehr Kindern mehr Umverteilung erfahren. In sieben der acht Länder erhalten Alleinerziehende höhere Sozialleistungen (tatsächlich und simuliert) als Paare. Nur in Spanien ist das nicht der Fall. Aus dem Ländervergleich der Sozialleistungen sowie der Steuern und Sozialversicherungsbeiträge ergibt sich, dass sich das Maß der Umverteilung zwischen den Ländern z. T. deutlich unterscheidet und – wenig überraschend – dort größer ist, wo die verfügbaren Haushaltseinkommen höher ausfallen (Niederlande, Finnland, Deutschland) und dort niedriger ist, wo die verfügbaren Haushaltseinkommen geringer sind (Lettland, Spanien).

Ein wichtiges Ergebnis der empirischen Analyse ist, dass gerade die Sozialleistungen dafür verantwortlich sind, dass die de facto Umverteilung bei armutsgefährdeten Familien unter der de jure Umverteilung liegt. Diese Differenzen lassen sich nur durch die Nichtinanspruchnahme dieser Sozialleistungen erklären. Jedoch zeigt sich, dass darüber hinaus auch andere Faktoren von Bedeutung sind. So gibt es einige Fälle, in denen bestimmte Familienformen höhere Leistungen erhalten als erwartet. Ob dies auf nicht simulierbare Sonderregelungen, administrative Fehlentscheidungen oder falsche Angaben der Antragssteller:innen zurückzuführen ist, lässt sich nicht sagen.

Insgesamt betrachtet gleichen in sechs der acht Länder bei den meisten Familienformen die geringer erhaltenen tatsächlichen als simulierten Leistungen die geringeren tatsächlichen als simulierten Abgaben zumindest in geringem Maße wieder aus. Die Familien erhalten zwar im Durchschnitt weniger Geld vom Wohlfahrtsstaat als vorgesehen, jedoch leisten sie zumeist auch weniger Abgaben an den Staat als sie müssten. Warum letzteres der Fall ist, lässt sich im Rahmen der vorliegenden Analyse nicht klären. Festzuhalten bleibt aber, dass dies relevante Auswirkungen auf das Haushaltseinkommen der Familien hat. Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass künftige Analysen zur Einkommenssituation armutsgefährdeter Familien über die Frage nach der Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen hinausgehen sollten.

Besondere Fälle sind Deutschland und Österreich, da hier deutlich niedrigere tatsächlich erhaltene als simulierte Sozialleistungen und deutlich höhere tatsächliche als simulierte Abgaben vorherrschen. Im Falle Deutschlands sind gerade die deutlich höheren tatsächlichen als simulierten Abgaben bei Paaren auffällig, die jedoch zum Teil auf ungenaue Angaben der Befragten beruhen dürften. Die niedrigeren tatsächlichen als simulierten Sozialleistungen in Österreich lassen sich allerdings nur auf eine Nichtinanspruchnahme von Leistungen zurückführen. Die höheren tatsächlichen als simulierten Steuern und Sozialversicherungsbeiträge können dagegen zum Teil durch die Nichtinanspruchnahme von steuerrechtlichen Regelungen erklärt werden, ein Phänomen, das in der Forschungsliteratur bisher wenig beachtet wurde. In Österreich besteht zwar eine allgemeine Pflicht zur Steuererklärung (BMF 2023), es ist jedoch möglich, dass gerade armutsgefährdete Familien nicht in der Lage sind, diese zu ihrem größtmöglichen Vorteil zu nutzen. Von ähnlichen Mechanismen darf man auch in Deutschland ausgehen, zumal eine Steuererklärung dort nur für bestimmte Familienformen (z. B. Verheiratete) verpflichtend ist und deswegen möglicherweise nur ein Teil der untersuchten Familienformen eine Steuererklärung vorgenommen hat.

6 Fazit

Familie wurde und wird in zahlreichen europäischen Wohlfahrtsstaaten als ökonomische Einheit gesehen, die Verantwortung – auch finanzieller Art – füreinander trägt. In der Gestaltung von Armutsbekämpfung und wohlfahrtsstaatlicher Umverteilung hat Familie daher eine zentrale Bedeutung. Umverteilung zeigt sich grundsätzlich als „Plus und Minus“, also als Leistungen auf der einen Seite und als Abgaben auf der anderen Seite, die zusammengenommen die Umverteilung darstellen. Für die Bekämpfung von Armut ist dabei wichtig, in welchem Maße Familien Leistungen, die ihnen rechtlich zustehen, auch tatsächlich erhalten und Abgaben, die sie zu erbringen haben, auch wirklich leisten. Der vorliegende Beitrag hat deswegen in europäisch vergleichender Perspektive untersucht, ob und zu welchem Grad die de facto Umverteilung der de jure Umverteilung entspricht.

Um die de facto und die de jure Umverteilung untersuchen zu können, haben wir für armutsgefährdete Familien analysiert, welche Differenzen es zwischen dem tatsächlichen verfügbaren Haushaltseinkommen und dem verfügbaren Haushaltseinkommen gibt, das diese Familien laut den wohlfahrtsstaatlichen Reglungen erhalten sollten. Dazu haben wir das Mikrosimulationsmodell der Europäischen Union EUROMOD und die EU-SILC-Daten des Jahres 2020 verwendet. EUROMOD erlaubt eine Simulation des verfügbaren Haushaltseinkommens für die im EU-SILC-Survey befragten Familien auf Basis der geltenden wohlfahrtsstaatlichen Regelungen. Die Ergebnisse dieser Simulation haben wir mit den Befunden zum tatsächlichen verfügbaren Haushaltseinkommen aus den EU-SILC-Daten verglichen. Um Unterschiede zwischen armutsgefährdeten Familien erfassen zu können, haben wir sieben verschiedene Familienformen untersucht, die sich bei den Merkmalen Paarhaushalt/Alleinerziehende und der Anzahl der Kinder unterscheiden. Unsere Analyse haben wir für acht europäische Länder durchgeführt (Österreich, die Niederlande, Spanien, Schweden, Finnland, Slowenien, Lettland, und, trotz der dargelegten Datenschwächen, Deutschland). Um genauere Einblicke in wohlfahrtsstaatliche Umverteilung zu erhalten, haben wir zusätzlich die tatsächlichen und geregelten Sozialleistungen sowie Steuern und Sozialversicherungsbeiträge untersucht.

Die Ergebnisse unserer Analyse zeigen, dass es in allen acht Ländern deutliche Unterschiede zwischen der de jure und der de facto Umverteilung gibt, die dazu führen, dass armutsgefährdete Familien geringere tatsächliche verfügbare Einkommen haben als rechtlich vorgesehen. Diese Differenzen fallen in den Ländern größer aus, die höhere verfügbare Einkommen aufweisen wie Österreich und Deutschland, und dort niedriger, wo die verfügbaren Einkommen geringer sind wie in Spanien und Lettland. Dieses Ergebnis ist vor allem auf die Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen zurückzuführen, die in Österreich besonders stark ausgeprägt ist. In sechs der acht Länder (Niederlande, Schweden, Finnland, Spanien, Lettland, Slowenien) leisten die untersuchten Familienformen jedoch auch geringere Steuern und Sozialversicherungsbeiträge als dies aufgrund der wohlfahrtsstaatlichen Regelungen zu erwarten wäre, was in einem gewissen Maße die nicht in Anspruch genommenen Sozialleistungen ausgleicht. Dies ist jedoch in Deutschland und Österreich anders, wo armutsgefährdete Familien höhere Abgaben leisten, als dies laut den Simulationen der Fall sein sollte.

Aus diesen Befunden lässt sich ableiten, dass wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen zur Armutsbekämpfung deutlich erfolgreicher sein könnten, wenn mehr Familien die für sie vorgesehenen Leistungen und abgabenrechtlichen Vergünstigungen tatsächlich nutzen würden bzw. könnten. Warum gerade Österreich hier so prägnant heraussticht, stellt eine bedeutsame Frage für künftige Forschung dar. Außerdem machen die Ergebnisse für die Steuern und Sozialversicherungsbeiträge deutlich, dass neben der oft beachteten (Nicht-)Inanspruchnahme von Sozialleistungen auch Abgaben eine wichtige Rolle spielen, die in künftiger Forschung mehr Beachtung finden sollten. Nicht unbedeutsam für unsere Analyse war zudem die Qualität der Daten – und unser Forscherinnenherz schlägt für Registerdaten.