1 Einleitung

Die Zugänglichkeit des Sozialstaats entscheidet maßgeblich darüber, ob es seinen Adressat:innen gelingen kann, notwendige Unterstützung für sich nutzbar zu machen (Bareis et al. 2015). Entlang eines menschenrechtlichen Ansatzes zu sozialer Sicherung spezifiziert das UN-Forschungsinstitut zu sozialer Entwicklung (UNRISD – United Nations Research Institute for Social Development) Zugänglichkeit als die Notwendigkeit grundsätzlicher Erreichbarkeit bzw. Barrierefreiheit, Anpassbarkeit, Annehmbarkeit und Angemessenheit der Sozialleistungen.Footnote 1 Gelingt es nicht, diese Standards herzustellen, kann davon ausgegangen werden, dass die Quote der Nichtinanspruchnahme steigt, soziale Politiken ins Leere laufen und so die Gefahr der Entstehung und Verstetigung sozialer Ungleichheit wächst. Während Formen der Nichtinanspruchnahme, die auf Unkenntnis und Unzugänglichkeit beruhen, eher Hinweise auf einen Mangel an Barrierefreiheit und Erreichbarkeit liefern, zeugt der willentliche Verzicht auf Sozialleistungen dabei mutmaßlich vor allem auch von einem Mangel an Anpassbarkeit, Annehmbarkeit und Angemessenheit der Leistungen oder der Leistungsdistribution. Damit indiziert der Verzicht mindestens eine mangelnde Passung zwischen dem Sozialleistungssystem und potenziellen Rezipient:innen und kann darüber hinaus auch als Form der Kritik an und Abgrenzung von gegenwärtigen sozialpolitischen Ausrichtungen und Verteilungsformen gelesen werden (Tabin undLeresche 2016; Warin 2016; Goedemé und Janssens 2020). Indem die Bedingungen fokussiert werden, unter denen es Adressat:innen (nicht) gelingt, soziale Sicherung für sich nutzbar zu machen, besteht eine Chance, Funktionsdefizite aufzudecken und einen Beitrag dazu zu leisten, das Inklusivitätspostulat des Sozialstaats in seiner Umsetzung beurteilen zu können.

Die diesem Beitrag zugrunde liegende Studie zum Verzicht auf Sozialleistungen (Eckhardt 2022) verfolgt zu diesem Zweck einen subjektorientierten Ansatz und betrachtet den Verzicht in einem sozialen Normkontext, in dem der Sozialstaat als „Ort der Ordnung und Umordnung sozialer Verhältnisse“ (Eckhardt 2022, S. 15) begriffen wird, um die Zugänglichkeit seiner Strukturen aus Nutzer:innensicht erfassbar zu machen. Im Vordergrund steht hier die Art und Weise, wie sich die Verzichtenden von der gegenwärtigen Sozialstaatlichkeit adressiert, positioniert und in Verantwortung genommen fühlen und wie sie sich dazu auf der Grundlage ihrer persönlichen Dispositionen und biografischen Eigenheiten verhalten.

Für diesen Beitrag wurden die Ergebnisse der Studie dahingehend spezifiziert, welche Sozialstaatskonstruktionen durch die Interviewpersonen geleistet werden und in welcher Form im Verzicht eine Abgrenzung von diesen Konstruktionen liegt. Letztlich soll so herausgestellt werden, inwiefern die Neuerungen des Bürgergeldes eine präventive Wirkung gegen den Verzicht als eine Form der Nichtinanspruchnahme entfalten können.

Das Kapitel beginnt mit einer kurzen Beschreibung der zugrunde liegenden Untersuchung und des Forschungsansatzes sowie des theoretischen Hintergrunds und einiger Kernergebnisse. Im dritten Abschnitt werden darauf aufbauend die drei vorgefundenen Sozialstaatskonstruktionen und Abgrenzungsmodi der Verzichtenden erläutert, um dann, im vierten Abschnitt, ein übergeordnetes Muster (Verzicht als Abgrenzung von Bedürftigkeit) darzustellen. Letztlich wird diskutiert, inwiefern auf Basis dieser Ergebnisse das Bürgergeld zu einer Minderung des Verzichts beitragen kann.

2 Die subjektorientierte Untersuchung des Verzichts

Im Zentrum der qualitativen Untersuchung steht die subjektivierungstheoretische Betrachtung des Verzichts formal Bedürftiger auf sozialstaatliche Unterstützung im Kontext des sich transformierenden Sozialstaats. Dazu werden Annahmen aus dem sozialkonstruktivistischen Paradigma der Soziologie und der Hermeneutischen Wissenssoziologie mit dem poststrukturalistischen Impetus nach dem Vorbild der Wissenssoziologischen Diskurs- bzw. Dispositivanalyse und der darauf aufbauenden Interpretativen Subjektivierungsanalyse gekoppelt (Bührmann und Schneider 2008; Keller 2014; Bosančić 2016). Die Studie fokussiert auf die Diskrepanz zwischen dem durch die Verzichtenden wahrgenommenen sozialstaatlichen Anforderungsrahmen als Vorgabe eines idealen Seins und den tatsächlichen Subjektivierungsweisen. So soll einerseits herausgestellt werden, wie die Verzichtenden glauben nach sozialstaatlicher Diktion sein zu müssen und andererseits, wie sie sich auf Grundlage ihrer persönlichen Dispositionen und biografischen Eigenheiten dazu verhalten. Letztlich systematisiert eine dispositivtheoretische Abstraktion die Ergebnisse und fundiert sie vor ihrem übergeordneten, gesellschaftstheoretischen Hintergrund. In diesem Sinne stehen nicht die individuellen Motivlagen für die Nichtinanspruchnahme im Fokus, sondern das zugrunde liegende Bedingungsgefüge, das für den Verzicht als Handlungsorientierung wirksam wird und die weiteren gesellschaftsstrukturellen Auswirkungen und Nebenfolgen.

Datenbasis der Untersuchung sind 11 teilnarrative, episodische Interviews (Flick 2011) mit Verzichtenden zwischen 20 und 69 Jahren, die unterschiedlichen sozio-ökonomischen Herkunftsbedingungen und Bildungshintergründen zuzuordnen sind. Sie wurden in einem dreistufig-iterativen Prozess aus Einzelfallanalysen, komparativer Analyse und dispositivanalytischer Einordnung und Abstraktion angeleitet durch das Integrative Basisverfahren nach Jan Kruse (2014) ausgewertet.

Die vorgefundenen Formen des Verzichts und die Lebensentwürfe der Verzichtenden sind wie erwartet vielfältig. Gemein ist ihnen, dass sie abseits von Markt und Staat Wege finden (müssen), um ihre Existenz zu sichern. Ihre „Arbeitsweisen am Sozialen“ (Bareis et al. 2015) reichen vom Anbau und Vertrieb von Cannabis, Schwarzarbeit oder kleineren Diebstählen, über die Existenzsicherung auf Basis von ehrenamtlichen Tätigkeiten bzw. familiären Ressourcen bis zum Leben in alternativen Zusammenschlüssen oder auch ganz oder zeitweilig in Obdachlosigkeit. Alle Interviewpersonen haben eigene Motive und es lassen sich diverse strukturelle Hindernisse benennen, die etwas über die Unzugänglichkeit des sozialen Leistungssystems aussagen. Für manche sind z. B. bürokratische Hürden unüberwindbar, manche bewerten die persönlichen Kosten als zu hoch, manche haben Grundsicherungsleistungen auch schon einmal in Anspruch genommen und haben den Kontakt zum Jobcenter einseitig abgebrochen, manche scheitern am Formularwesen und manche waren nie in Kontakt mit der Sozialverwaltung. Durch die mit dem Verzicht verbundenen Autonomiegewinne werden zum Teil existentiell bedrohliche Teilhabeeinschränkungen hingenommen, die durch eine Inanspruchnahme vermieden werden könnten. In der komparativen Betrachtung zeigt sich zudem, dass die Umgangsweisen mit dem Verzicht abhängig sind von persönlichen Dispositionen, biografischen Hintergründen, je prägenden, lebensleitenden Motiven und Grundverständnissen von Gerechtigkeit, Armut und Bedürftigkeit sowie subjektiven Gesellschaftsentwürfen und Ordnungskonzepten. Die weitergehende Analyse der wahrgenommenen Anforderungsrahmen und den Subjektivierungs- und Selbstkonstitutionsweisen zeigt darüber hinaus, dass dem Verzicht eine grundsätzlich konflikthafte Beziehung zum Sozialstaat oder einzelner Funktionsbereiche zugrunde liegt. Die Ergebnisse auf Einzelfallebene lassen unter anderem Schlüsse darauf zu, welchen Einfluss kulturelle Orientierungen, internalisierte Bilder von Armut und Bedürftigkeit, individuelle Gerechtigkeitsvorstellungen und Gesellschaftsentwürfe oder spezifische Ordnungskonzepte darauf haben, welche sozialstaatlichen Anforderungen als dominant wahrgenommen und bearbeitet werden.

Für diesen Beitrag wurden spezifische Sozialstaatskonstruktionen und darauf fußende Abgrenzungsmodi der Verzichtenden fokussiert. Es zeigen sich drei grundlegende Sozialstaatskonstruktionen, die nachstehend mitsamt der Art und Weise, wie der Verzicht abgrenzend zu ihnen wirksam wird, ausgeführt werden. Zunächst wird die Konstruktion eines entgrenzten, übergriffigen Sozialstaats beschrieben, der weit in die privaten Anliegen und das alltägliche Leben hineinreichen will und dem durch den Verzicht ausgewichen wird. Hier dient der Nichtbezug vor allem einer Begrenzung der empfundenen Übergriffigkeiten. Nachstehend wird der Sozialstaat als Gefahr beschrieben, eine Konstruktion, nach der die Verzichtenden die Wirkweisen des Sozialstaats und seiner Sozialverwaltung als ernsthafte Schadensquelle für ihr Wohlergehen beurteilen. Sie müssen dem entgehen, um sich selbst zu schützen. Letztlich wird die Einordnung des Sozialstaats als soziale Errungenschaft erörtert, die eine Grundlage dafür bildet, dass der Verzicht auch ein Weg zu neuen Synthesen sein kann, innerhalb derer alternative Formen der Armutslinderung als Selbsthilfe betrieben werden können.

3 Sozialstaatskonstruktionen und Abgrenzungsmodi der Verzichtenden

3.1 Der übergriffige Sozialstaat

Dominiert eine wahrgenommene Auflösung der Grenze zwischen dem eigenen Privat- und Alltagsleben und sozialstaatlichen Eingriffen, lässt sich die Konstruktion einer als übergriffig empfundenen Sozialstaatlichkeit ableiten, der durch den Verzicht entgangen werden kann. Eine geteilte Wahrnehmung bezieht sich hier auf die Verantwortungszuweisung für die eigene Lebenslage als selbstverschuldet, die für die interviewten Personen nicht hinnehmbar erscheint. Die entsprechenden Formierungsversuche appellieren mitunter an die Änderungsbereitschaft privater Angewohnheiten oder Lebensstile, die stets dahingehend geprüft werden (könnten), ob ihre Vermeidung oder Unterlassung zur Überwindung der Bedürftigkeit beiträgt. Im folgenden Zitat beschreibt der 34-jährige Theologe Lars, der es in der Phase der Arbeitssuche nach Abschluss seines Studiums nicht zum Bezug hat kommen lassen, wie sich der initiale Kontakt zum Jobcenter für ihn dargestellt hat:

„Als ich dann diese Anträge gesehen habe […], dass die meine Kontoauszüge haben wollen ich darf da nichts schwärzen, ey, es geht euch wirklich nichts an, wo ich irgendwas kaufe. Und selbst wenn da jetzt ‚Sexshop‘ stehen würde, das hat die nichts anzugehen. Aber, das wollten die alles genau wissen. Und dann sollte ich mich dann ständig rechtfertigen, ‚brauchen Sie denn wirklich dieses oder jenes‘, wo ich mir nur denke ‚Ey! Leute!‘“ (Interview Lars Pulser)Footnote 2

Offenkundig werden innerhalb dieser Konstruktion diverse Fehlannahmen zu den Befugnissen und Berechtigungen der Sozialverwaltung, so glaubten weitere Interviewpersonen zum Beispiel, dass sie nach dem Antrag unverzüglich in Maßnahmen verwiesen werden, dass Hausbesuche jederzeit unangekündigt vollzogen werden können und dass verpflichtende Drogentests bei positivem Ausgang zum Leistungsentzug führen könnten.

Unter anderem der Zwang zur Offenlegung eigener und familiärer wirtschaftlicher Verhältnisse wird innerhalb dieser Konstruktionsweise als nicht hinnehmbar beurteilt. Dabei fällt auf, dass diese Interviewpersonen den gegenwärtigen Sozialstaat auch in seinen restriktiven Elementen generell eher positiv beurteilen, in Bezug auf die eigene Person aber ablehnen. Vor allem die Befragten, die aus Familien mit auskömmlichen wirtschaftlichen Verhältnissen stammen und deren internalisierte Bilder von Bedürftigkeit auf einer strikten Trennung zwischen würdiger und unwürdiger Armut beruhen, scheuen sich vor der Darlegung ihrer Finanzen. Vor dem Hintergrund einer Naturalisierung sozialer Ungleichheit orientieren sie sich am Leitbild einer Leistungs- und Qualifikationsgerechtigkeit und sehen die Erfüllung der Reziprozitätsnorm als eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe an. Sie zeigen eine hohe Kooperationsbereitschaft gegenüber den Instanzen der Arbeitsvermittlung und erfüllen die Mitwirkungsanforderungen weitestgehend, setzen aber dann Grenzen, wenn ihnen die Eingriffe in ihre Angelegenheiten zu weit gehen. Würdig bedürftig ist man ihrer Ansicht nach vor allem dann, wenn die Bedarfslage unverschuldet eingetreten ist und auf einer Arbeits- und/oder Leistungsunfähigkeit beruht. Die Handlungsorientierung zum Verzicht gründet daher mitunter auch in der Einordnung des Selbst als grundsätzlich leistungsfähig und der sozialstaatlichen Unterstützung daher nicht würdig. Vor allem wenn grundsätzlich arbeitsfähige Personen sozialstaatliche Unterstützung beziehen, werden Eingriffe in das Leben und den Alltag dieser Personen als gerechtfertigt angesehen, die für sich selbst durch den Verzicht zurückgewiesen werden. Möglich wird der eigene Verzicht dabei vor allem durch den Rückgriff auf familiäre Ressourcen, wodurch die Konsequenzen der ausbleibenden Unterstützung zunächst nicht existentiell bedrohlich werden.

Die Abgrenzung äußert sich auch über die Verweigerung gegenüber Fremdpositionierungen und Zuweisungen bestimmter Verantwortlichkeiten. Es wird hier eine Aversion gegen die Gleichstellung mit jenen arbeitslosen Personen deutlich, denen Merkmale ‚unwürdiger‘ Armut zugeschrieben werden. Im folgenden Zitat beschreibt ein Befragter seine Befürchtung mit Bezug von Sozialleistungen in eine Maßnahme verwiesen zu werden, wo er mit ehemaligen Strafgefangenen mindere Tätigkeiten ausführen muss, die nicht seinen Fähigkeiten entsprechen:

„Dann würde ich wahrscheinlich erst mal irgendwo ganz unten landen in so einer Maßnahme und so. Und das ist alles ein richtiger Horror für mich irgendwie, da mit irgendwelchen Ex-Knastis oder so oder irgendwie die Straßen sauber zu machen und so, für einen Euro die Stunde. Oh nein. Ich versuche halt immer noch irgendwie, da noch so eine andere Lösung zu finden für mich.“ (Interview Arno Thiel)

Auch die Wahrnehmung einer entmündigenden Sozialverwaltung als Kernelement des Sozialstaats spielt offenbar eine wichtige Rolle bei der Entscheidung zum Nichtbezug und auch hier werden Merkmale der Übergriffigkeit deutlich. Diese beziehen sich auf die empfundene Absprache der Fähigkeit, den eigenen Alltag selbst sinnvoll gestalten können und auf die daraus resultierenden Vorgaben. Die Verzichtenden fühlen sich primär als Verwalter*innen ihrer eigenen Arbeitslosigkeit adressiert, deren Hauptbeschäftigung es sein muss, diese Arbeitslosigkeit und die damit einhergehende Bedürftigkeit zu überwinden. Durch den Verzicht gewinnen die Betroffenen in diesem Sinne auch die Hoheit über ihre persönliche Lebenszeit zurück, können sie frei einteilen und erhalten sich die Möglichkeit zu Spontanität, Eigensinn, Verantwortungs- und Rechenschaftsfreiheit.

3.2 Sozialstaat als Gefahr

Als Gefahr für die Existenz tritt der Sozialstaat dann in Erscheinung, wenn die Verzichtenden seine Wirkung auf ihr Wohlergehen als so nachhaltig negativ einschätzen, dass sie aus diesem Grund jeglichen Kontakt vermeiden und auf notwendige Unterstützung verzichten. Im Rahmen dieser Konstruktionsweise sind die Verzichtenden darauf bedacht eine größtmögliche Distanz zwischen sich und die Sozialverwaltung zu bringen, um den Adressierungen, Fremdpositionierungen und Responsibilisierungen auch aus Selbstschutz zu entgehen. Hierbei scheinen biografische Umstände sowie frühe Diskriminierungserfahrungen mit den Instanzen des Sozialstaats ebenso von Einfluss zu sein, wie das Bestreben, eigensinnig bei sich bleiben zu wollen. Im Unterschied zu den Konstruktionsweisen des übergriffigen Sozialstaats dominieren hier aber nicht die wahrgenommenen Eingriffe in die Privatsphäre durch den Zwang zur Offenlegung wirtschaftlicher Verhältnisse oder die Fremdverfügung über die eigene Zeit, sondern das Bemühen, den direkten persönlichen Angriffen und punitiven Maßnahmen auszuweichen. Die Interviewpersonen, auf die das besonders zutrifft, lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen. Zum einen sind es jüngere, leistungsfähige Personen ohne Beeinträchtigungen, zum anderen ältere Personen, bei denen eine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit aus körperlichen oder psychischen Gründen vorliegt. Letztere haben zum Teil bereits lange Berufsleben hinter sich und sind mit über 50 Jahren arbeitslos geworden.

Innerhalb der erstgenannten Gruppe fällt auf, dass sie Wege finden um alltäglich – mal mehr mal weniger erfolgreich, mal mehr, mal weniger legal – an Geld zu gelangen. Sie greifen vermehrt auf gegenkulturelle Wissensressourcen zurück, positionieren sich als gesellschaftsabgewandt und erleben sich als neben der Gesellschaft und ihren Regeln existierend. Dabei betonen sie ihre Handlungsfähigkeit und zeigen, dass die homogenisierenden und kategorialen Zuweisungen des Sozialleistungssystems für sie nicht zutreffen. Im Gegensatz dazu kategorisieren sie sich offensiv und zum Teil ironisierend selbst, bezeichnen sich als Abweichler, Träumer, Outlaw, Gangster, Spieler oder Querulant. In der biografischen Betrachtung zeigt sich dabei, dass frühere Kontakte mit dem Sozialleistungssystem von negativen Erfahrungen geprägt sind. Bruchstellen im Lebenslauf und persönliche Krisen führten hier zu einem Erstkontakt mit der Sozialverwaltung, bei dem sie abgewiesen oder abgewertet wurden.

Im folgenden Zitat beschreibt ein in Polen ausgebildeter Handwerker, der sich teilweise über Schwarzarbeit finanziert und immer mal wieder in Wohnungslosigkeit lebt, seine Einstellung zu einer möglichen Inanspruchnahme:

„[…] wo du irgendwelchen Mist machst für drei Euro als Maßnahme, wo ich denke, wenn ich da hingehen muss, kann ich in meinem eigenen Job, kann ich mich selber nicht entwickeln, kann ich nicht meine Kohle verdienen. Und das ist so, statt Hilfe, wir reduzieren dich zum armen Arschloch, der nichts kann, der nicht gelernt hat.“ (Interview Per)

Neben dem Verlust seiner Möglichkeiten zur Selbstentfaltung zeugt Pers Aussage auch davon, dass eine sozialstaatliche Reduktion seiner Person auf die Merkmale arbeitslos, ausbildungslos, (kenntnis-)arm mit einem Bezug von Sozialleistungen einherginge, die absolut nicht dazu passt, wie er sich selbst sieht und gesehen werden möchte.

Bei der zweiten Gruppe der älteren oder beeinträchtigten Personen wird die Konstruktion des Sozialstaats als Gefahr noch deutlicher. Vor Eintritt des eigenen Bedarfsfalls nach zum Teil langer Berufstätigkeit hatten sie eine mehrheitlich positive Sichtweise auf den Sozialstaat und haben die gesellschaftliche Ordnung eher bejaht. Sie haben an einen weitestgehend sozial gerechten Staat geglaubt, der auf den Ausgleich der Interessen setzt und seinen Bürger:innen im Bedarfsfall beisteht. Mit Eintritt des Bedarfsfalls wurde diese Gewissheit im Kontakt mit einer punitiven, direkt als ungerecht erlebten Sozialverwaltung nachhaltig geschädigt. Der Entscheidung zum Verzicht ging eine Reihe von Aberkennungserfahrungen und eine längere Phase des Aushaltens dieser wiederkehrenden Situationen voraus. Die Schilderung von Suizidgedanken war vor allem bei diesen Interviewpersonen gegenwärtig und in ihren Erzählungen erreichen sie oft die Grenzen des Sagbaren, arbeiten vermehrt mit Metaphern („wehrlos“, „kleines Arschloch“, „Hund“, der*die „Geschubste“, „Spielball“, „Bittsteller vor dem Schreibtisch“, „in die Mühlen geraten“). Durch den Verzicht versichern sie sich in diesem Sinne selbst, dass sie all das nicht sind, sondern eine Arbeitskraft von Wert und ein:e mit Menschenrechten ausgestattete:r Bürger:in, fähig, sich selbst zu behaupten. Mit dieser Selbstversicherung durch Verzicht gehen eine Reihe von Teilhabeeinschränkungen und Deprivationen einher, bis hin zur mangelhaften Versorgung der Grundbedürfnisse mit Nahrung, Wärme, Kleidung oder menschlichem Kontakt. Eine 63-jährige Interviewpartnerin hat monatelang von einer im Ehrenamt verdienten Aufwandsentschädigung von 100 EUR gelebt. Nachstehend beschreibt sie, wie sie sich über den Monat finanziert hat:

„Ja, ich hab dann immer von den 100 EUR dann. Da hab ich dann immer so gemacht, ich hab dann immer mal eine Woche Brot und eine Woche Nudeln und eine Woche mal Kartoffeln und eine Woche mal Reis und dann hab ich mal eine Woche mal lauwarmes Wasser mal gemacht.“ (Interview Marlene Dutte)

Die Erzählungen zeigen symbolische und materielle Manifestationen der Bedrohungssituation und besonders Papiere, Dokumente und Akten, die in der Kommunikation mit dem Jobcenter relevant sind, treten als Objektivierungen der Lage hervor. Auch architektonische Gegebenheiten und das allgemeine bürokratische Setting spielen eine Rolle. Die Erzählungen zeugen von einem (Über-)Lebensstress, der das Gefühl der Handlungsmacht über eigene Entscheidungen nahezu unmöglich macht. Das Überleben im Moment wird zur Maxime, während Zukunft und Vergangenheit eine untergeordnete Rolle spielen. Erst im Rückblick ist es so teilweise möglich, die Lebenssituation im Nichtbezug zu beschreiben. Dabei gründen die Erfahrungen der Abwertung auch auf der erzwungenen Gleichstellung mit Personen, die ihr bisheriges Leben nicht durch eigene Erwerbsarbeit finanziert haben. Diese Gleichstellung, von Dörre et al. (2013, S. 371) als „Zwangshomogenisierung“ bezeichnet, bildet hier die Grundlage für ihre Empfindungen der Abwertung. Trotz jahrelanger Leistungsbereitschaft fühlen sie sich am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie positioniert und die vormals größtenteils positive Sichtweise auf den Sozialstaat schlägt um in Angst vor weiterer Entwürdigung. Ein ehemaliger DDR-Facharbeiter, der nach der Wende erstmalig arbeitslos wurde und sich danach 20 Jahre mit Arbeiten auf Baustellen finanzieren konnte, bevor er erneut arbeitslos wurde, führt seine schwere Depression direkt auf seine Erlebnisse mit der Arbeitsvermittlung zurück. Er beschreibt seine Entscheidung für den Verzicht wie folgt:

„Neee … ich hab kein Lust mehr, mich da prügeln zu lassen. Und den Daumen auf‘m Deckel zu spüren. Sie haben zu liefern, wenn nicht, Sanktionen, Sanktionen, Sanktionen, Sanktionen. Die fragen nicht warum und wieso, die hauen gleich mitte Keule drauf und wollen dir gleich auf den Kopp hauen. Und det kann ich nicht mehr. Nochmal in die Mühlen will ich nicht mehr geraten.“ (Interview Christian Penck)

Es scheint hier einen täglichen Kampf um den eigenen Platz in der Gesellschaft und gegen die Gefahren des sozialen Ausschlusses zu geben, der einen Großteil des Tagesablaufs bestimmt. Hier kommen auch die symbolischen und materielle Objektivationen der Bedrohungslage häufig zur Sprache. So wurden die Papiere, Dokumente und Akten häufig als Teil der Bedrohungslage konstruiert und auch die architektonischen Gegebenheiten und das bürokratische Setting scheinen Ängste auszulösen. Der Schritt in den Verzicht wird positiv beurteilt und scheint einem emanzipativen Akt gleichzukommen.

3.3 Sozialstaat als Errungenschaft

Bei einigen Interviewpersonen wird der Verzicht deutlich diskursiver und expansiver wirksam und mitunter zum konstitutiven Element des eigenen Selbst. Damit ist gemeint, dass die Verzichtenden ihren Nichtbezug in ihrem sozialen Umfeld thematisieren und ihn darüber hinaus im Rahmen ihrer Identität für wichtig halten. Als dominante Formierungsversuche treten Fremdpositionierungen als Arbeits- und Konsumbürger:in hervor, von denen der Nichtbezug eine Abgrenzung erlaubt. Diese Verzichtenden begreifen den Sozialstaat als sozial konstituiert und machen ihn durch ihr Einsehen in die Änderbarkeit sozialer Verhältnisse einem eigenen analytischen Blick zugänglich. Auch hier wird der Sozialstaat nicht gänzlich abgelehnt, jedoch wird er als grundsätzlich reformbedürftig verstanden und in seiner alltäglichen Operationalität als nicht kompatibel mit dem eigenen Leben eingeordnet. Angesprochene Themen sind hier zum Beispiel die Perpetuierung sozialer Ungleichheit durch sozialstaatliche Intervention, Inkompatibilitäten sozialer Leistungssysteme, sowie die Verlagerung von Angelegenheiten des öffentlichen Interesses in die Sphäre der Individuen. In diesem Zuge werden zum Beispiel auch Angebote der „Mitleidsökonomie“ (Groenemeyer und Kessl 2013) kritisch gesehen, da der Staat so die Verantwortung für die Existenzsicherung Bedürftiger an die Zivilgesellschaft auslagere. Die analytisch-kritische Grundhaltung zum Sozialstaat wird hier auch durch kapitalismus- und konsumkritische Einstellungen begleitet, innerhalb derer Protest und ziviler Ungehorsam als legitime Widerstandsformen gegen die empfundene Dysfunktionalität des Sozialstaats angesehen werden. Dabei sind die hier interviewten Personen bemüht, durch positive Eingriffe und soziales Engagement selbst im Rahmen der eigenen Möglichkeiten etwas an den kritisierten gesellschaftlichen Verhältnissen zu ändern.

Praktiziert wird dies wiederum eher solitär oder im Zusammenschluss mit anderen, jeweils unter häufiger Betonung der Notwendigkeit von Selbsthilfe. Ein Bewohner einer Initiative zur sozialistischen Selbsthilfe mit eigenem Gelände und Wohnhaus beschreibt im Folgenden das Ansinnen der Gruppe:

„Wir zeigen, dass es die [Solidarität, Anm. d. Verf.] eben doch gibt, ne. Dass man sich nicht immer rumstoßen lassen muss von der Gesellschaft, also von den Behörden vor allen Dingen nicht. Die sagen, es gibt nur immer dies und dies und alles andere geht nicht. Das ist ja hier quasi ein lebender Beweis, also ich mein, dies Ganze wär ja eigentlich platt gemacht worden, […] aber irgendwie haben wir es geschafft. […] Das ist der Wahnsinn, was man alles machen kann, obwohl man eigentlich kein Geld hat.“ (Interview Paul Menners)

Dies basiert auch auf einem oppositionellen Bewusstsein als Mitglieder einer marginalisierten Bevölkerungsgruppe und wiederum auf der Erkenntnis, dass die gesellschaftliche Position, die ihnen zugewiesen wurde, ungerecht ist und veränderbar sein kann (Mansbridge 2001). Solidarität wird hier als täglich praktizierte soziale Handlung betrachtet, durch die aktiv an der Denaturalisierung sozialer Ungleichheit gearbeitet wird und die neoliberale Ideologie der Einzelverantwortung untergraben wird. Dabei ist das Bemühen groß, die Ursachen der kritisierten Zustände zu identifizieren, zu dekonstruieren und angemessene Wege zu entwickeln, um darauf zu reagieren. Der Verzicht bietet eine Grundlage für diese analytische Distanz zur Stärkung der eigenen legitimen Sprecher:innenposition. Das Einsehen in den Sozialstaat als gesamtgesellschaftliches Produkt scheint eine Voraussetzung dazu zu sein, die Krise des Nichtbezugs als Chance für utopisches Denken oder neue Synthesen zu nutzen. Hier zeigt sich aber gleichermaßen, dass die Entwicklung einer solchen reflexiven Fähigkeit wiederum voraussetzungsvoll ist und eine Reihe an weiteren Ressourcen (z. B. kulturelles, soziales Kapital) erfordert.

4 Verzicht als Abgrenzung von Bedürftigkeit

Die identifizierten Sozialstaatskonstruktionen und Abgrenzungsmodi zeigen, dass der Verzicht als Vehikel funktioniert, um sich aus auf vielfache Weise als unterdrückend empfundenen Strukturen zu befreien. Sie zeigen auch, dass zentrale Elemente der wahrgenommenen sozialstaatlichen Formierungsversuche nicht in Einklang zu bringen sind mit der Art und Weise, wie sich die Verzichtenden selbst vor dem Hintergrund persönlicher und biografischer Dispositionen verstehen und verstanden wissen wollen. Gemeinsam ist den Verzichtenden eine negative Abgrenzung von dem, was individuell mit der Kategorisierung als ‚bedürftig‘ verbunden wird. Bedürftig-Sein und einhergehende Adressierungen, Positionierungen und Responsibilisierungen werden als nicht in das eigene Selbstverständnis integrierbar angesehen. Bedürftige sind nicht leistungsfähig, haben kein Mitspracherecht, sie dürfen nicht über die Sinnhaftigkeit der Verwaltungsabläufe oder der Maßnahmen entscheiden, sind den Stellvertreter:innen der distribuierenden Institutionen ausgeliefert und nicht in der Lage dazu, die Reziprozitätsnorm des Sozialstaats zu erfüllen. Durch den Nichtbezug können die Verzichtenden dieser Zuschreibung und den einhergehenden Machtwirkungen entgehen. Es wird möglich, sich als leistungsfähig oder aktiv, unabhängig, als selbstbestimmt und als würdig und mündig zu positionieren. Der Dualität bedürftig oder nicht und der damit einhergehenden Homogenisierung zu einer marginalisierten Gruppe (den Bedürftigen) wird das eigene Potenzial entgegengesetzt, sich selbst positionieren zu können.

Die subjektiven Bilder von Bedürftigkeit sind dabei vor allem auch davon geprägt, wer oder was als der Hilfe würdig oder unwürdig verstanden wird und wer es verdient etwas von den gesamtgesellschaftlich erarbeiteten Ressourcen zu erhalten. In den Vorstellungen finden sich verschiedene, historisch aufgeladene Narrative von Armut und Bedürftigkeit wieder und es lässt sich der Wandel des Bedürftigkeitsbegriffs von der Vormoderne bis zum heutigen sozialstatistischen Verständnis nachzeichnen, nach dem Bedürftigkeit grundsätzlich überwindbar ist.

In der hier zugrunde liegenden Studie (siehe zweiter Abschnitt) wird ein Bedürftigkeitsdispositiv als Macht-Wissens-Komplex beschrieben, in dem die Subjektivierungsweisen der Verzichtenden verankert sind und anhand dessen zum Beispiel die Denaturalisierung von Bedürftigkeit als Komponente der Selbstkonstitution moderner Individuen deutlich wird. Bedürftigkeit als heute zentrale sozialstatistische Kategorie scheint sich einem anthropologischen Verständnis von Bedürftigkeit, nach dem im menschlichen Sein eine grundsätzliche Verletzbarkeit und Angewiesenheit auf Andere angelegt ist, anzulagern und es zunehmend zu verdrängen. Eine sozial-statistische Bedürftigkeit hat klar bestimmte Grenzen, die die Gesamtgesellschaft mitunter von der Last befreit, Bedürftigkeit zu erkennen und anzuerkennen. Bedürftigkeit ist im aktivierungspolitischen Sinne eine grundsätzlich überwindbare Eigenschaft, wobei die vergesellschaftete Eigenverantwortung westlicher spätkapitalistischer Gesellschaften als Grundlage der Herausbildung einer solchen Annahme erscheint. Auf dieser Grundlage werden Inkohärenzen und Inkonsistenzen ersichtlich, die mit dem gegenwärtigen Gefüge aus herrschenden sozialpolitischen Leitbildern, deren Vermittlung in Policy Regimes und den Identitäten der Sozialstaatsbürger:innen sowie deren sozialen Praktiken einhergehen (Bogedan et al. 2009). Ein besonders dominantes Missverhältnis ist dabei die Beziehung zwischen Eigenverantwortung als sozialstaatliches Paradigma und der empfundenen aufgezwungenen Untätigkeit im Fall einer Bedarfslage. Die Verzichtenden treffen auf einen fundamentalen Gegensatz zwischen kulturalisierter Eigenverantwortung, Forderung nach Aktivität und Flexibilität und einer parallel verordneten Passivität mit der Kategorisierung als bedürftig.

5 Verzichtsprävention durch Bürgergeld?

Angesichts dieser Befunde stellt sich nun wie einleitend angekündigt die Frage, ob das Bürgergeld eine präventive Wirkung gegen den Verzicht auf Sozialleistungen entfalten kann. Die identifizierten Sozialstaatskonstruktionen und Abgrenzungsmodi zeigen, dass der Verzicht mitunter als Vehikel funktioniert, um sich aus auf vielfache Weise als unterdrückend empfundenen Strukturen zu befreien. Sie zeigen auch, dass zentrale Elemente der wahrgenommenen sozialstaatlichen Formierungsversuche nicht in Einklang zu bringen sind mit der Art und Weise, wie sich die Verzichtenden selbst vor dem Hintergrund persönlicher und biografischer Dispositionen verstehen und verstanden wissen wollen. Sie wollen sich nicht als sozialpolitische „Problemträger“ (Vobruba 2009, S. 146) positionieren lassen, die durch „vorauseilende Anpassungsleistungen“ (ebd.) zeigen müssen, dass sie den „Funktionsbedingungen von Ökonomie und Sicherheit“ (ebd.) genüge tun können. Ihre Wahrnehmungen des Sozialstaats als entgrenzt und übergriffig, als Gefahr oder als reformbedürftiges Konstrukt gehen einher mit wahrgenommenen Formierungsversuchen, denen sie auf die beschriebenen Abgrenzungsmodi eine Absage erteilen. Um dem Verzicht als eine Form des Nichtbezugs entgegenzutreten, bräuchte es demnach mehr, als eine Verbesserung der Erreichbarkeit und Zugänglichkeit sozialstaatlicher Hilfen (siehe dazu auch den Beitrag von Sielaff und Wilke in diesem Band). In diesem Sinne formuliert der UN-Berichterstatter über extreme Armut und Menschenrechte Olivier De Schutter in einem Bericht zur Nichtinanspruchnahme, dass der Eintrittspunkt einer menschenrechtlichen Betrachtungsweise sozialer Sicherung darin bestehen müsse, sie nicht als Gefälligkeit einer wohlwollenden Regierung zu betrachten, sondern als Menschenrecht (De Schutter, 2022, S. 19: „The starting point should be to recast social protection not as a favour provided by benevolent governments, but as a human right“). Eine sich anschließende Kernfrage ist, ob das Bürgergeld dazu in der Lage ist, den moralischen Bezugspunkt der Beurteilung würdiger und unwürdiger Armut aufzulösen. Damit einher ginge ein gesellschaftlicher Bewusstseinswechsel, in dessen Folge marginalisierte Lebenslagen, aus denen Bedürftigkeit resultieren kann, nicht dahingehend beurteilt werden, ob sie selbstverschuldet eingetreten sind und ob der oder die Bedürftige Hilfe verdient.

Während das Bürgergeld durchaus Potenzial bietet die Erreichbarkeit und Barrierefreiheit im Hilfesystem zu verbessern, scheint es daher insbesondere in seiner jetzigen Anwendung für die verzichtsrelevanten Zugänglichkeitskriterien der Anpassbarkeit, Annehmbarkeit und Angemessenheit von geringer Reichweite zu sein. Lediglich die eingeräumte Karenzzeit für Erstempfänger:innen könnte jenen, die im Rahmen der Wahrnehmung einer übergriffigen Staatlichkeit eine Kosten-Nutzen-Abwägung anstellen, die Entscheidung zum Bezug erleichtern. In diesem Beitrag wäre es die Konstruktion eines übergriffigen Sozialstaats, die hier potenziell abgemildert werden könnte. Angesichts bestehender Unsicherheiten durch die neuen Regelungen, deren rechtssichere Klärung in diversen Punkten noch aussteht, ist aber auch dies fraglich.

Und vor allem für jene, deren Motive tiefer gehen und auf den sozialen Normkontext zurückzuführen sind, bräuchte es wahrscheinlich weitere, flankierende Maßnahmen, die darauf hinwirken, dass Elemente der Beschämung und Stigmatisierung abgebaut werden oder eine Automatisierung der Distribution erreicht wird.

Basierend auf den Ergebnissen dieser Untersuchung ergibt sich außerdem die Notwendigkeit einer Neubewertung des gesellschaftlichen Verständnisses von Bedürftigkeit sowie eine kritische Überprüfung der sozialstaatlichen Begriffssetzung einer grundsätzlichen Überwindbarkeit von Bedürftigkeit durch Eigeninitiative und Aktivität. Eine inklusive Teilhabepolitik müsste im Gegensatz die grundsätzliche Unüberwindbarkeit der menschlichen Bedürftigkeit betonen. Dies würde zunächst ein diskriminierungsfreies, anerkennendes, proaktives Verwaltungshandeln voraussetzen, das auf Augenhöhe mit den Betroffenen agiert, verschiedene Bedürftige gleich – aber gleichzeitig individuell verschieden – behandelt und die komplexen Wechselwirkungen sozialer Leistungen mit berücksichtigt.