1 Einleitung

„Großer Wurf oder alles beim Alten?“ so oder ähnlich verlaufen derzeit viele Debatten über das neu eingeführte Bürgergeld (Schmitz-Kießler 2022; ​Börner und Kahnert in diesem Band). Das Bürgergeld soll ein menschenwürdiges Existenzminimum sicherstellen, Chancengerechtigkeit und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen oder gar „Unterstützung in allen Lebenslagen“ (BMAS 2023) liefern. Schon jetzt ist klar, wenn Anspruchsberechtigte die ihnen zustehenden Leistungen nicht für sich nutzen, dann werden die hier angerissenen Ziele zwangsläufig verfehlt. Obwohl verschiedene Studien zeigen, wie weit verbreitet Nichtinanspruchnahme bei Grundsicherungsleistungen (SGB II & SGB XII) ist, spielte sie bei der Planung der Reform und der Begründung des Gesetzes keine Rolle.

Auf der semantischen Ebene verknüpft das neu eingeführte Bürgergeld soziale Rechte mit dem Bürger:innenstatus. Ein genauerer Blick auf diese Verbindung ist ertragreich für ein besseres Verständnis des eingeführten Bürgergeldes und für das Phänomen der Nichtinanspruchnahme. In seinem wegweisenden Aufsatz hat bereits T.H. Marshall (Marshall 2000) auf die enge Verknüpfung von Staatsbürgerrechten und sozialen Rechten hingewiesen. Einerseits, so Marshall, werden bürgerliche und politische Rechte dazu genutzt, um soziale Rechte einzufordern oder abzusichern – etwa indem in Wahlen ein Mehr an sozialer Absicherung gefordert wird. Andererseits stellen soziale Rechte eine zentrale Voraussetzung für ein universelles Staatsbürgerrecht dar. Nur auf der Basis sozialer Rechte können bürgerliche und politische Rechte realisiert werden. Mit der Einführung eines Rechtsanspruchs auf Sozialhilfe im Jahr 1962 zielte man dementsprechend nicht nur auf eine materielle Versorgung, sondern auf die Gewährleistung und Absicherung von staatsbürgerlichen Rechten (Hinrichs 2018).

Mit dem Bürgergeld stellt sich erneut die Frage, wie gut Marshalls Theorie auf Fürsorgeleistungen zutrifft. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive gibt es gute Gründe zu der Annahme, dass ein Rechtsanspruch allein nicht ausreicht, um Leistungsbeziehende in den Status gleichberechtigter Bürger:innen zu versetzen. Das liegt zum einen an sozialpolitisch definierten Leistungsvoraussetzungen, die tief in die freiheitliche Lebensgestaltung eingreifen (z. B. Bedürftigkeitsprüfung; Wahlfreiheiten in Bezug auf den Aufenthaltsort und bei der Arbeitsplatzwahl). Das liegt zum anderen am gesellschaftlich seit langem etablierten Deutungszusammenhang, nach dem Fürsorgeleistungen gleichsam Indikator eines unvollständigen Bürgerstatus sind. Die Armuts- und Legitimitätsforschung hat hier zahlreiche Befunde zusammengetragen, die aufzeigen, dass der Leistungsbezug mit einer sozialen Abwertung einhergeht (Oorschot et al. 2017). Zu vermuten ist, dass gerade im Bereich der Nichtinanspruchnahme die sozialpolitische und die individuelle Perspektive von staatsbürgerlicher Teilhabe auseinanderfallen. Um Nichtinanspruchnahme besser als bisher zu verstehen, soll in diesem Beitrag die Perspektive der Subjekte auf Grundsicherungsleistungen und deren Stellenwert bei der Bearbeitung alltagsweltlicher Probleme im Mittelpunkt stehen.

Grundlage für die vorliegende Analyse ist eine qualitative Studie aus dem vom BMAS geförderten Forschungsprojekt „Nichtinanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen“ (2021–2023). In diesem wurden kurz vor der Einführung des Bürgergeldes anspruchsberechtigte Erwerbsfähige und Rentner:innen in offenen Interviews zu den Hintergründen ihres Verzichts auf Grundsicherung (nach SGB II bzw. SGB XII) befragt. Der folgende Abschnitt setzt das Untersuchungsvorhaben in Relation zur bestehenden Forschung. Nach der methodologischen Positionierung und der Konkretisierung der Fragestellung wird das Vorgehen der Untersuchung erläutert. Daran anschließend werden die Ergebnisse der Studie vorgestellt. Es konnten vier Typen der Nichtinanspruchnahme aus den empirischen Daten erschlossen werden, die verschiedene Strategien nutzen, um ohne die Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen ihren Alltag zu bewältigen. Abschließend werden die Befunde vor dem Hintergrund der Bürgergeldreform eingeordnet.

2 Nichtinanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen

Die Nichtinanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen ist ein bisher wenig beachtetes Phänomen. Dabei zeigt sich: Es ist nicht nur ein weiter Weg hin zu unserem heutigen Grundsicherungssystem. Auch der individuelle Weg zur Leistung ist weit. Je nach Schätzung verzichten zwischen 35–55 % aller Anspruchsberechtigten der Grundsicherung für Arbeitsuchende auf Leistungen nach dem SGB II (Harnisch 2019; Bruckmeier et al. 2021). Bei der Grundsicherung im Alter bzw. bei Erwerbsminderung nach SGB XII sind es sogar etwa 60 %, die die ihnen zustehenden Leistungen nicht für sich nutzen (Buslei et al. 2019). Ein großer Teil der Anspruchsberechtigten in Deutschland lebt damit unterhalb des gesetzlich festgelegten menschenwürdigen Existenzminimums.

Bei der ersten Annäherung an das Thema der Nichtinanspruchnahme erscheint der Verzicht auf die Unterstützung mindestens nachteilig, wenn nicht gar widersinnig oder irrational. Wieso verzichten Menschen auf Geldleistungen, die sie in Anbetracht ihrer Situation bekommen und gut gebrauchen könnten? Ursachen für den Verzicht werden meist auf der Ebene individueller Defizite vermutet und Erklärungen für die Nichtinanspruchnahme mit dem Konzept von ‚Hürden‘ entwickelt (Lucas et al. 2021, S. 168), die Anspruchsberechtigte aus unterschiedlichen Gründen nicht überwinden (können). Dabei lässt sich das Handeln der Nichtinanspruchnehmenden – qua Ausgangsproblem – ausschließlich in Relation zu den Angeboten des Grundsicherungssystems deuten und damit nur im Verhältnis zu den sozialpolitischen Regulierungen verstehen, die an eine Inanspruchnahme geknüpft sind (Vobruba 2020, S. 114–121). Mit der Frage nach den Ursachen mumüssen also gleichzeitig die Beschaffenheit des Grundsicherungssystems und vor allem seine gesellschaftliche Einbettung in den Blick genommen werden.

Neben dem vergleichsweise hohen bürokratischen Aufwand oder weitreichenden Informationsproblemen, die Schwierigkeiten im Zugang darstellen können (van Mechelen und Janssens 2022), ist der gesellschaftliche Normkontext, in dem sich das Grundsicherungssystem bewegt, nicht minder von Bedeutung. Bedürftigkeitsgeprüfte Fürsorgeleistungen wie die Grundsicherung sind legitimatorisch besonders voraussetzungsvoll (Sielaff und Wilke 2023).Footnote 1 Denn eng an die Kategorie der Bedürftigkeit geknüpft, definiert der Bezug von Sozialleistungen nicht nur die Position in der Gesellschaft, sondern vermittelt darüber hinaus ein ganzes Bild von vermeintlichen Charaktereigenschaften. Folgerichtig wird als Grund für die Nichtinanspruchnahme nicht selten Scham oder die Angst vor Stigmatisierung angeführt (Hümbelin 2019; van Mechelen und Janssens 2022, S. 100).

Eng verklammert mit dem gesellschaftlichen Verständnis von Bedürftigkeit und Armut ist die gesellschaftliche Aushandlung der Aufgaben und Ziele des Grundsicherungssystems. Die Aufgabe der Sozialpolitik im Allgemeinen ist es, auf soziale Probleme zu reagieren und soziale Ordnung zu schaffen (Lessenich 2012). Sie stellt einerseits Unterstützung bereit und wirkt andererseits als gesellschaftliches Steuerungselement normierend auf ihre Nutzenden (Vobruba 2020, S. 114–121; ​Wilke 2021). Das gilt insbesondere für Fürsorgeleistungen. Neben dem Schutz der Menschenwürde soll sie die Eigenverantwortung der Nutzenden stärken und dazu beitragen, dass diese unabhängig von ihr leben können (§ 1 Abs. 2 SGB II, § 1 SGB XII). Die Umsetzung erfolgt unter anderem über die Konditionalisierung von Leistungen. Besonders deutlich wird dies an dem im SGB II über Sanktionen abgesicherte Prinzip des ‚Fördern und Forderns‘ im aktivierenden Sozialstaat. Aber auch bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (SGB XII) wird normierend in die Alltagsgestaltung eingegriffen, etwa wenn es um den Besitz eines Autos oder längere Aufenthalte im Ausland geht.

Werden diese Überlegungen für eine soziologische Analyse der Nichtinanspruchnahme genutzt, so erscheint ein Perspektivwechsel weg von einer auf (individuelle) Defizite fokussierten Analyse notwendig. Es ist zu vermuten, dass die wohlfahrtsstaatlich gesetzten Ziele und Anforderungen, die anhand von bestimmten und vor allem typisierten Fällen definiert sind, nur selten mit den tatsächlichen Bedürfnissen der Anspruchsberechtigten übereinstimmen (​Vobruba 2000, S. 112). Wenn die Anforderungen, Ziele oder Auswirkungen der Inanspruchnahme aus Sicht der Anspruchsberechtigten nicht für sie relevant oder tragbar erscheinen, so ist naheliegend, dass sie die Grundsicherung nicht für sich nutzen. Entgegen einer defizitorientierten Auffassung von der Nichtinanspruchnahme, kann dann gerade der Verzicht aus subjektiver Sicht eine sinnvolle Handlung darstellen.

Deutlich wird, dass das Problem der Nichtinanspruchnahme kein eindimensionales Phänomen, sondern im Gegenteil einen vielschichtigen und komplexen Gegenstand darstellt, der nur über das Einnehmen unterschiedlicher Perspektiven erfasst werden kann. Je nach angelegter Perspektive können dann auch die Gründe oder Ursachen für die Nichtinanspruchnahme ganz unterschiedlich aufgefasst und etwa als Hürden im Zugang zur Maßnahme oder aber als mangelnde Übereinstimmung zwischen subjektiven und gesellschaftlichen bzw. wohlfahrtsstaatlichen Einstellungen und Bedürfnissen bzw. Anforderungen an das Grundsicherungssystem bestimmt werden. Die unterschiedlichen Perspektiven sind nicht hierarchisch zu verstehen, sondern als jeweils spezifische Blicke auf das Phänomen unter mehreren, die erst im Zusammenspiel eine umfassende Darstellung zulassen.

Während eine ganze Reihe von Untersuchungen über Hürden existiert, wurde die Sicht der Verzichtenden selbst bisher kaum in die Diskussion um die Nichtinanspruchnahme mit aufgenommen. Der vorliegende Beitrag möchte sich dieser Lücke annehmen und einen Einblick geben, wie Betroffene ihre Situation selbst beschreiben, welche Bedeutungen sie dem Grundsicherungsbezug beimessen und welche Strategien sie tatsächlich nutzen, um ihren Alltag zu bewältigen. Denn werden Anspruchsberechtigte als aktiv handelnde Person begriffen, die in schwierigen Situationen ihre Wohlfahrt selbst in die Hand nehmen (​​​Bareis und Cremer-Schäfer 2013) – auch dadurch, dass sie wohlfahrtsstaatliche Ressourcen (nicht) für sich nutzen –, dann werden zusätzliche (Qualitäts-)Anforderungen als „ein eigenständiges Qualitätsurteil ‚von unten‘“ (​​​van Rießen 2020, S. 28) an das Grundsicherungssystem sichtbar.

3 Vom Warum zum Wozu – eine subjekttheoretische Untersuchungsperspektive

Bisherige Studien, welche sich den Ursachen der Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen widmen, bedienen sich nahezu ausschließlich quantitativ ausgerichteter Zugänge. Gründe werden dabei im strukturellen Aufbau der Maßnahme (Information, Zugang etc.) und auf der Ebene von individuellen Einflussfaktoren (Stigma, Transaktionskosten und Informations(verarbeitungs)probleme) vermutet und gesucht. Gemein ist den Studien eine spezifische Perspektive auf Nichtinanspruchnahme. Sie konzipieren Nichtinanspruchnahme von vornherein als eine Handlung, die es zu vermeiden bzw. zu verringern gilt. Bewusst oder unbewusst bedienen sie sich damit einer sozialpolitikzentrierten Sicht auf die Subjekte, bei der die Inanspruchnahme von Grundsicherung als angestrebte Handlung konzipiert ist. Forschungsmethodisch resultiert daraus eine selektive Beobachtung des Phänomens. Für die Frage nach der Nichtinanspruchnahme sind dann nur diejenigen Faktoren relevant, die dem erklärten Ziel im Wege stehen (Hürden). Aus dieser selektiven Sicht bleibt unberücksichtigt, dass Betroffene selbst und (auch unabhängig vom Grundsicherungssystem) produktiv in die Verarbeitung ihrer sozialen Lage eingreifen. Handlungsorientierungen, die zwar im Zusammenhang mit dem Grundsicherungssystem stehen, aber nicht das Ziel der Inanspruchnahme verfolgen, bleiben damit für die Analyse unsichtbar.

Die Idee, dass Menschen in kritischen Lebenslagen selbst aktiv handeln, ist dabei nicht neu. In den 1980er Jahren hat sich in Europa die sogenannte dynamische Armutsforschung entwickelt. Entgegen der Vorstellung einer dauerhaften und statischen sozialen Lage, in der Betroffene als passive Opfer externer Umstände oder Institutionen aufgefasst werden, zeigen wesentliche Ergebnisse aus den im Längsschnitt angelegten Studien der dynamischen Armutsforschung insbesondere die Handlungsfähigkeit der Betroffenen sowie die Verknüpfung von Armut mit biografischen Ereignissen (​​Leisering und Buhr 2012, S. 148; ​Giesselmann und Vandecasteele 2018). Methodisch notwendig wird dadurch eine stärkere Berücksichtigung von „Fallanalysen und [der] Rekonstruktion biographischer Orientierungen der Betroffenen, also die subjektive Seite von Lebensläufen […], mit besonderem Augenmerk auf die Handlungsorientierungen in Bezug auf Institutionen“ (​Leisering und Buhr 2012, S. 161).

Die daraus entstandenen Befunde akteurseigener Deutungen und Handlungspotenziale stellen eine wichtige Innovation in der empirischen Armutsforschung dar (Vobruba 2000, S. 106). Für die Rekonstruktion von Entscheidungsprozessen bezüglich der Nutzung von institutionellen Angeboten müssen demnach auch Orientierungsmöglichkeiten außerhalb der staatlichen Steuerungsperspektive und dem, was man gemeinhin erwartet, miteinbezogen werden (Vobruba 2020, S. 112–122).

Um die Perspektive auf das Grundsicherungssystem zu erweitern, ist es also notwendig die subjektive Sicht der Anspruchsberechtigten – ausgehend von ihrem Alltagserleben – in den Blick zu nehmen. Ein erster Schritt in diese Richtung lässt sich in der Untersuchung von Betzelt et al. (2017) finden. In dieser auf qualitativ-biographischen Interviews basierenden Studie stellen die Autor:innen fest, dass Befragte aus dem bewussten Verzicht auf Sozialleistungen – trotz der massiven ökonomischen Einschränkungen – Autonomiegewinne schöpfen. ​Eckhardt (2021; in diesem Band) hingegen fasst den Verzicht als ein Element einer alltagspraktischen Selbstpositionierung im Verhältnis zu staatlich hervorgebrachten Fremdpositionierungen und betont insbesondere das Selbstverständnis der Verzichtenden in Abgrenzung zur Kategorie der Bedürftigkeit.

Ein anderer und hier genutzter Zugang lässt sich ausgehend von der sozialpädagogischen (Nicht-)Nutzerforschung entwickeln. Sozialpädagogische Angebote sind insofern mit dem staatlichen Grundsicherungssystem vergleichbar, dass auch diese von Anspruchsberechtigten wahrgenommen werden (müssen). Gegenstand der Nutzerforschung ist es, den subjektiven Nutzen dieser Angebote für Inanspruchnehmende zu rekonstruieren (Schaarschuch und Oelerich 2020, S. 17). Ihr liegt ein Akteursbild zugrunde, in dem Nutzer:innen selbst als aktive Produzent:innen ihrer Lebensverhältnisse betrachtet werden. Die prinzipielle Annahme besteht darin, „dass Menschen eine Menge Arbeit aufwenden, um innerhalb gegebener Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse wenigstens in Ansätzen ein Leben zu führen, das ihren eigenen Vorstellungen entspricht“ (​Bareis 2012, S. 291). Entscheidend ist diesem Ansatz zufolge also der „Gebrauchswert“ sozialer Angebote. Es wird darüber hinaus argumentiert, dass Individuen sich selbst – und zwar über die Aneignung, nicht nur von gegenständlichen bzw. materiellen Dingen, sondern gleichermaßen von symbolischen und kulturellen Gehalten –, ihre Einstellung, ihr Verhalten etc. vermittelt über gesellschaftliche Verhältnisse überhaupt erst hervorbringen. Damit ergibt sich der individuelle Nutzen eines jeweiligen Angebots auch erst in der produktiven Aneignung desselben. Gleichzeitig rücken die gesellschaftlichen Bedingungen in den Fokus, unter denen der potenzielle Nutzen realisiert oder auch nicht realisiert werden kann.

Im Kontrast zu ökonomisch zentrierten Erklärungen ist dieser Ansatz von vornherein konzeptionell breit gefasst und wird nicht auf finanzielle Anreize beschränkt. Vielmehr wird untersucht, inwieweit die Angebote aus Sicht der Adressierten eine Ressource darstellen, die es ihnen ermöglichen, „ein ‚eigenes‘ Leben zu leben und nicht nur im gesellschaftlich verordneten Sein zu existieren“ (​Cremer-Schäfer 2008, S. 89 f.).

Wenn es um die Anwendbarkeit der Nutzerforschung auf die Nichtinanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen geht, tauchen jedoch schnell praktische und konzeptionelle Probleme auf. So tendiert der Ansatz aufgrund seiner marxistischen Theorietradition dazu, den Sozialstaat als übergriffige Institution sehr stark zu betonen und Handlungsspielräume der Subjekte nicht ausreichend zu berücksichtigen.Footnote 2 Darüber hinaus wird in dieser Theorie der Nutzen erst über die produktive Aneignung des Angebots erschlossen. Er lässt sich forschungsmethodisch also nur dann explizit bestimmen, wenn vormals eine Inanspruchnahme bestand (​Kessl und Klein 2010, S. 73). Falls Befragte keine Berührungspunkte zum Grundsicherungssystem aufweisen, bleibt der „Gebrauchswert“ eines sozialstaatlichen Angebots unbestimmt. Für die Untersuchung der Nichtinanspruchnahme bietet es sich folglich an, von der Konzeption der Anspruchsberechtigten als Nutzende abzurücken und stattdessen direkt am Alltagshandeln der Menschen in konkreten Situationen anzusetzen (Herzog 2020, S. 261). Der Fokus liegt damit nicht mehr im Speziellen auf der Maßnahme und deren Nutzen an sich, sondern auf der Alltagsbewältigung der Menschen in (finanziell) schwierigen Situationen, die sich als Mitglieder der Gesellschaft natürlich immer in Relation zum Grundsicherungssystem befinden. Sowohl die Inanspruchnahme als auch die Nichtinanspruchnahme lassen sich dann als Strategien interpretieren, die auf die Bearbeitung des Alltags ausgerichtet sind und auf individuellen Relevanzsetzungen eines ‚eigenen Lebens‘ basieren. So ist aus Sicht der Anspruchsberechtigten die Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen immer nur eine Möglichkeit unter vielen, um ihre schwierige Situation zu bearbeiten. Statt also ausschließlich den Weg zum Grundsicherungsbezug zu betrachten und eventuelle Hürden zu identifizieren, sind die Ausgangspunkte unserer Analyse konkrete Alltagssituationen, in denen sich die Verzichtenden befinden, und ihre jeweiligen Handlungsstrategien, um diese zu bewältigen.

Mit der Orientierung am Alltagshandeln der Menschen ist eine handlungstheoretische Perspektive unabdingbar (Bareis 2012). Für unsere Studie verstehen wir den symbolischen Interaktionismus als Grundlage. Ähnlich zu den Annahmen aus der Nutzerforschung, steht auch hier die Annahme im Vordergrund, dass Menschen ihre Erfahrungswelt und die Deutungen derselben selbst und als Ergebnis von Interaktionen erst hervorbringen (Blumer 1980). Das Handeln wird dabei einerseits durch vorherrschende gesellschaftliche Deutungsmuster beeinflusst. Anderseits verändert es die Bedeutungen derselben, durch einen Akt der interpretativen Auseinandersetzung. Daran anschließend ist es das Ziel unserer Untersuchung, die subjektiven Deutungen beziehungsweise die alltagsweltlichen Logiken hinter der Nichtinanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen nachzuvollziehen und zu verstehen. Was sind die konkreten Ausgangssituationen für die Nichtinanspruchnahme? Welche Handlungsweisen legen die Befragten für die Bearbeitung derselben an den Tag? Und auf welcher Grundlage handeln sie? Also welche relevanten Deutungen – insbesondere bezüglich des Grundsicherungsbezugs – sind maßgeblich für ihre Alltagsstrategien? Damit verschieben wir die Forschungsperspektive vom Warum zum Wozu, erweitern die Perspektive über das Grundsicherungssystem hinaus und fragen: Welche Bedeutung hat die Nichtinanspruchnahme für die Bearbeitung des Alltags und der schwierigen Situation? Oder einfach formuliert: Wozu ist das aus Sicht der Verzichtenden eigentlich gut?

4 Forschungsmethode und Sample

Um die Bedeutung der Nichtinanspruchnahme für die Alltagsbewältigung der Anspruchsberechtigten zu untersuchen, wurden im Rahmen unserer Studie im Zeitraum von März bis Oktober 2022 insgesamt 24 episodische Interviews (Flick 2011) mit Personen im Raum Thüringen geführt. In diesen wurde sowohl episodisch-narratives Wissen (Erinnerungen an spezifische Situationen bezüglich der Nichtinanspruchnahme) mittels Erzählaufforderungen, als auch das semantische Wissen (Bedeutungszuschreibungen und Deutungen von Begrifflichkeiten, wie etwa dem Grundsicherungsbezug) unter Einsatz von zielgerichteten Fragen erhoben.Footnote 3 Acht Interviews wurden aus der Analyse ausgeschlossen, weil sich im Laufe der Interviews herausstellte, dass für die Befragten aus rechtlicher Sicht doch kein Anspruch auf Grundsicherung besteht oder bestand, dass eine verzögerte Antragsstellung oder eine sogenannte sekundäre Nichtinanspruchnahme vorlag.Footnote 4 Die Auswertung der verbleibenden Interviews erfolgte mittels der Grounded Theory Methodologie auf der Basis der Ideen von Glaser und Strauss (Glaser 2010[1967]; Strübing 2021).

Das Sample umfasst Interviews mit Längen von ca. 40 Minuten bis zu zwei Stunden und beinhaltet Personen aus dem städtischen sowie ländlichen Raum. Darunter sind Frauen und Männer im Alter zwischen 27 und 70 Jahren, die entweder Anspruch auf Leistungen nach SGB II oder SGB XII haben oder hatten. Die Zeiträume, in denen sich die Befragten in der Nichtinanspruchnahme befinden oder befanden, variieren von wiederkehrenden Phasen mehrerer Monate bis hin zu einem dauerhaften Zustand über mehrere Jahre. Es wurden sowohl alleinstehende Personen als auch Personen in unterschiedlichen Familienkonstellationen und mit Care-Aufgaben interviewt. Das Sample enthält zwar eine Person mit Migrationshintergrund. Dieser ist in ihren Erzählungen jedoch nur bedingt relevant, sodass Sample und Ergebnisse bezüglich dieser Dimension eingeschränkt sind.

5 Alltagsweltliche Logiken des Verzichts: Idealtypen der Nichtinanspruchnahme

Im Zuge der Auswertung wurden zunächst die jeweiligen Ausgangssituationen für die Nichtinanspruchnahme und anschließend die Handlungsstrategien der Verzichtenden rekonstruiert. Aus dem empirischen Material lassen sich vier Typen entwickeln, die sich klar durch ihren Handlungskontext voneinander unterscheiden und entsprechend ihrer Situation unterschiedliche Handlungsstrategien anwenden. Maßgeblich für die Alltagsbewältigung und damit für die Unterscheidung der Typen sind dabei folgende weitere aus dem Material erarbeiteten Dimensionen: die subjektive Deutung des Grundsicherungsbezugs und die Interaktion mit dem sozialen Umfeld, welches mehr oder weniger als Ressource für materielle und finanzielle Güter beziehungsweise Informationen genutzt wird. Eine Übersicht der Typen ist in Tab. 1 dargestellt. Mit Blick auf die Forschungsfrage (wozu eigentlich Nichtinanspruchnahme?), wurden die erarbeiteten Idealtypen von uns nach der Bedeutung der Nichtinanspruchnahme für die jeweilige Bearbeitung ihrer Alltagssituation benannt. Im Folgenden werden die vier Typen: Kontingenz (1), Autonomie (2), Entlastung (3) und Abgrenzung (4) vorgestellt und jeweils anhand eines Referenzfalls aus dem Sample verdeutlicht.Footnote 5 Die Typen zeigen in unterschiedlichen Facetten, dass die Grundsicherung für manche Menschen nicht alltagspraktisch nutzbar erscheint und von anderen als so ausgrenzend empfunden wird, dass sie sich bewusst vom Grundsicherungssystem abwenden.

Tab. 1 Idealtypen der Nichtinanspruchnahme

5.1 Kontingenz – oder die Bewahrung ständiger Vorläufigkeit

Die Ausgangssituation von Typ Kontingenz (1) ist eine Phase des (gefühlten) Übergangs zwischen der Beendigung einer Ausbildung (auch Schule oder Studium) und der Aufnahme einer zukünftigen Wunschtätigkeit beziehungsweise dem Ziel der Selbstverwirklichung durch die selbstbestimmte Aufnahme einer Tätigkeit. Tatsächlich gelingt dieser Übergang jedoch nicht, sodass es um die Aufrechterhaltung einer ständigen Vorläufigkeit geht. Die Vorstellung, eigentlich doch ‚auf dem Weg zu sein‘, kann so – und auch ohne jeglichen Fortschritt – über einen langen Zeitraum aufrechterhalten werden. Ohne festes finanzielles Einkommen oder anderweitige Absicherung besteht in dieser Phase einerseits ein andauernder Druck Einkommen zu generieren, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Andererseits dürfen aufgenommene Tätigkeiten oder sonstige Sicherungsmaßnahmen nicht die Form einer permanenten Lösung der finanziellen Unsicherheit annehmen, um so das Selbstbild (sich in einem Übergang zu befinden) unabhängig von der tatsächlich gelebten Alltagsrealität nicht zu gefährden. In dieser Vorstellung des eigenen Daseins ist die Möglichkeit, Grundsicherung zu beziehen, im Grunde nicht vorhanden. Wenn sie in Erzählungen überhaupt erwähnt wird, dann als endgültiges Zeichen des Scheiterns, als unwiderruflicher Zustand, das eigene Ziel nicht erreicht und damit (im Leben) versagt zu haben. Um also einerseits Einkommen zu generieren und andererseits jegliche Festlegungen zu vermeiden, wird die so empfundene Phase des Übergangs mit wechselnden Aushilfs- und Nebenjobs bestritten. Gleichzeitig wird versucht, genügend Zeit für die Verfolgung des eigentlichen Ziels zu schaffen bzw. bereitzuhalten. Die vielen verschiedenen Aufgaben bei gleichzeitig ständiger Unsicherheit durch geringe und unregelmäßige Einkommen sind Auslöser für großen Stress bis hin zu schwerwiegenden psychischen Problemen. Auch das soziale Umfeld bietet nur kurzzeitige Entlastung. So dient es zwar immer wieder als fragile Ressource für materielle beziehungsweise finanzielle Güter und Informationen, kann damit jedoch nur begrenzt Sicherheit bieten. Durch die nur unregelmäßigen und wechselnden Einkommen besteht immer wieder Anspruch auf Grundsicherung. Um jedoch Kontingenz – oder die ständige Vorläufigkeit zu bewahren und sich damit der Möglichkeit des Scheiterns zu verweigern, wird diese nicht in Anspruch genommen.

Als Referenz wird der Fall von Peter Linz herangezogen.Footnote 6 Peter ist als junger Erwachsener in eine Großstadt gezogen, wo er sich im Bereich Musik und Veranstaltungen selbstständig machen wollte. Er wohnt zusammen mit seiner Lebenspartnerin (die sich in einer ähnlich prekären Situation befindet) in einer Mietwohnung. Um einerseits genug Einkommen für die Lebenshaltungskosten aufzubringen, andererseits aber jegliche andere berufliche Festlegung zu vermeiden, die das Scheitern bezüglich der eigenen Karriereziele bedeuten würden, finanziert er seinen Lebensunterhalt mit wechselnden Aushilfs- und Nebenjobs. Die finanziell prekäre Situation belastet ihn sehr:

„[…] Und, ähm, hm (nachdenkend) bin in so eine/ in so eine prekäre Situation so reingerutscht, dass ich/ ich wollte halt nicht viel Lohnarbeit machen, gleichzeitig brauchte ich aber irgendwie das Geld und habe dann, äh, sogar ein Jahr lang, […] dass ich dann irgendwie zwei Minijobs gleichzeitig gemacht hatte. Das heißt, ich hatte nicht nur, äh, eigentlich super wenig Geld und, äh, und habe/ und wäre eigentlich, äh, einkommenssteuerpflichtig oder wie auch immer irgendwie, auf jeden Fall sozialversicherungspflichtig gewesen, ähm, habe das aber so umgangen. Und war noch nicht mal krankenversichert, weil es war noch die Zeit, wo man nicht automatisch krankenversichert war. […] Ähm und das war natürlich ein total untragbarer Zustand. […] Ähm, dann fing das mit der, mit der Krankenkassenpflicht an. Und ähm ab dem Zeitpunkt, äh, habe ich dann Schulden angesammelt […] und, äh, ja, der, der Leidensdruck wurde höher. Also der, der finanzielle, der, der existenzielle Leidensdruck wurde höher. Ähm, ich hatte nicht jeden Monat genug Geld für Miete und, und, äh, andere existenzielle Sachen. Ähm, habe Geld geliehen, ähm, äh, boah, das war/ das war irgendwann sehr unangenehm.“ (Peter Linz, Abs. 7–11).

Trotz der extrem belastenden Umstände beantragt Peter für lange Zeit keine Grundsicherung. Statt in dieser eine Unterstützung in der eigenen Notsituation zu sehen, wird sie als ‚amtliche Bescheinigung des Versagens‘ aufgefasst. Als Maßstab wird die „Leistungsgesellschaft“ angelegt, für die die eigenen Bemühungen nicht ausreichen. Mit dem Bezug von Grundsicherung wird schließlich der Ausschluss aus der (Leistungs-)Gesellschaft verbunden.

„Ähm, also wir reden von/ von Stigmatisierung, von Tabuisierung, ähm, irgendwie an/ an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu sein oder/ oder dann irgendwelche auch sozusagen es amtlich bescheinigt zu bekommen, man/ man ist/ man hat versagt, so das, ähm, wenn man ein Karriereziel hatte, man/ man hat das jedenfalls nicht geschafft, ähm, Leist/ die Leistungsgesellschaft will einen nicht, dafür reicht die Leistung nicht, ja?“ (Peter Linz, Abs. 64).

Die Nichtinanspruchnahme und die damit verbundene Aufrechterhaltung von Kontingenz hat jedoch Grenzen. In unserem Sample beobachten wir bei Personen dieses Typs schwerwiegende psychische Belastungen und Krisen, die das Leben der Betroffenen nachhaltig negativ beeinflusst haben. In der Zuspitzung der eigenen Lebenssituation haben unsere Befragten irgendwann dann doch Grundsicherung beantragt. Der spätere Grundsicherungsbezug erscheint aber keinesfalls zwingend für diesen Typ.

5.2 Autonomie – oder die Abkehr von vorherrschenden Normalitätsvorstellungen

Der Handlungskontext von Typ Autonomie (2) unterscheidet sich grundsätzlich von demjenigen des Typs Kontingenz. Statt die eigene Position in der ‚Leistungsgesellschaft‘ erst noch zu suchen, ist die Ausgangssituation von Typ Autonomie durch die Entscheidung geprägt, sich aus der vorherrschenden Normalität zurückzuziehen. Dieser Situation geht eine hohe Belastung im Beruf bzw. eine Sinnkrise bezüglich der eigenen Lebensgestaltung voraus. Das Angestelltenverhältnis wird bewusst verlassen und eine selbstbestimmte Lebensweise gesucht. Um den Lebensunterhalt weiterhin bestreiten zu können, werden einerseits die Lebenshaltungskosten auf das Nötigste reduziert, andererseits wird auf alternative Wirtschaftsformen (Subsistenzwirtschaft, Tauschökonomie etc.) zurückgegriffen. Mit der Abkehr von der Erwerbsarbeit und von den auf Konsum ausgerichteten, kapitalistischen Strukturen wird das Gefühl der Selbstbestimmung erreicht. Im Gegensatz zur hohen Belastung, die Typ Kontingenz im Alltag erfährt, wird die Alltagsbewältigung von Typ Autonomie dann auch als erstrebenswerter Zustand oder Befreiung gedeutet. Möglich wird diese Lebensweise durch ein weitreichendes soziales Netzwerk, das nicht nur materielle und finanzielle Ressourcen bereitstellen kann, sondern auch als Sicherungsnetz fungiert und Sozialintegration ermöglicht.

Auch ohne die Aufnahme einer Lohnarbeit ist die eigene Leistung – das eigene Leben selbstbestimmt gestalten zu können – maßgebliche Quelle für soziale Anerkennung, Integration und das Selbstwertgefühl von Typ Autonomie. Der Leistungsbezug wird hingegen als ein ‚Nicht-Können‘ und häufiger noch als ein ‚Nicht-Wollen‘ gedeutet, sodass die Inanspruchnahme von Grundsicherung bei gleichzeitiger Leistungsfähigkeit als ‚Schmarotzen‘ abgewertet und trotz rechtlichen Anspruchs nicht in Betracht gezogen wird.

Als Referenzfall dient hier die Erzählung von Emil Wagner. Emil ist 35 Jahre alt und empfindet das Leben in einem Angestelltenverhältnis mit Blick auf die Konsumgesellschaft als sinnlos:

„Also ich war Hausmeister und da gab es noch drei andere Hausmeister:innen und das war einfach, die da haben so eine Fresse gezogen und hatten so keinen Spaß an ihrer Arbeit und das konnte ich nicht nachvollziehen, wie man sich jeden Morgen irgendwo hinschleppen kann, nur um seine Kohle zu kriegen, die man dann in der mickrigen Freizeit, die man hat, irgendwie auf den Kopf hauen kann. Also der eine hatte damals einen Mercedes SLK gefahren. Aber der hatte ja, also der ist mit dem Auto halt zur Arbeit gefahren. Da könnte man auch nicht arbeiten gehen und kein Auto haben und der hätte Zeit, Fahrradfahren zu gehen in meiner Welt. Das ist alles sehr schwer nachvollziehbar für mich, warum Leute so leben. Die sich auch tolle Häuser bauen, die super teuer sind. Die sind einfach nur zum Pennen da drin. So, wozu?“ (Emil Wagner, Abs. 44).

Mit der Abkehr von der Erwerbsarbeit und den vorherrschenden Normalvorstellungen findet Emil in der links-alternativen Szene auf einem Bauwagenplatz sein Zuhause. Dort wohnt er zusammen mit seiner Lebensgefährtin und den gemeinsamen Kindern. Das wenige benötigte Geld verdient er durch Gelegenheitsjobs im handwerklichen Bereich. Obwohl er einen rechtlichen Anspruch auf Grundsicherung hat, verzichtet er auf das zusätzliche Geld. Emil deutet den Leistungsbezug auf persönlicher Ebene als einen Ausdruck von Faulheit („[…] ich habe viele Leute [im Grundsicherungsbezug] kennengelernt, wo ich das Gefühl hatte, dass sie (…) plump gesagt, ihre Faulheit durch Idealismus kaschieren“ Abs. 26) Für ihn ist es dagegen wichtig, die eigene Leistung beziehungsweise Arbeit in einen Gemeinschaftsbezug zu setzen. Dadurch bekommt er soziale Anerkennung, die für ihn einen Lebensantrieb darstellt. Aus diesem Grund engagiert er sich auch stark für die Gemeinschaft:

„Und da kriege ich die Anerkennung, die vielleicht andere Leute in einem geregelten Beruf bekommen und die ist für mich superwichtig. Ich lebe für zwei Sachen, dafür, dass ich anderen Leuten helfen kann und da ganz viel zurückbekomme, das macht mich glücklich, und dafür, dass ich Anerkennung bekomme für die Sachen, die ich auch für mich mache. Dass das Leute cool finden. […] Also der Sozialverband ist mir da unglaublich wichtig, ohne den, also ich würde das nicht alleine im Wald irgendwie machen wollen.“ (Emil Wagner, Abs. 72).

Wenn Emil an seine Zukunft denkt, an eine Zeit, in der er vielleicht nicht mehr leistungsfähig sein wird, sorgt er sich schon manchmal. In diesen Momenten gibt ihm die Möglichkeit, Grundsicherung zu beziehen, Sicherheit („Aber ich kriege auch immer wieder die Zuversicht, also für mich ist da die soziale Grundsicherung, wie sie in unserem Land organisiert ist, ist so eine Art Backup. So ein/ so ein Sicherungsnetz.“ Abs. 94).

5.3 Entlastung – oder der Zwang zur Genügsamkeit

Während die ersten beiden Typen vor der Phase der Nichtinanspruchnahme noch keine Berührung mit dem Grundsicherungssystem hatten, sind diese für Typ drei und vier charakteristisch. Personen des Typs Entlastung (3) haben einschneidende Erfahrungen mit Ämterstrukturen – oft, aber nicht ausschließlich mit der Grundsicherung – gemacht.Footnote 7 Typ Entlastung kann, etwa aus gesundheitlichen Gründen, keiner Erwerbsarbeit nachgehen oder ist bereits in Rente. Er hat nur ein geringes Einkommen (z. B. Rente, Einkommen durch den oder die Partner:in oder Gelegenheitsjobs) und könnte dieses mittels Grundsicherung aufstocken. Entgegen den ersten beiden Typen empfindet sich Typ Entlastung aufgrund der eigenen (gesundheitlichen) Probleme auch als legitim anspruchsberechtigt. Weil der Grundsicherungsbezug aber mit einer zu hohen Unsicherheit und (psychischer) Belastung verbunden wird, verzichten Personen dieses Typs auf das zusätzliche Geld. Der Alltag ist durch Entbehrungen geprägt. Im Gegensatz zu Typ Autonomie wird die eigene Situation als ausweglos und ungerecht empfunden. Ein soziales Umfeld ist kaum vorhanden, sodass auch von dieser Seite keine Unterstützung bereitsteht.

Monika Auer ist 67 Jahre alt und wohnt allein in einer kleinen Mietwohnung in einer mittelgroßen Stadt in Thüringen. Sie leidet unter einem schlechten gesundheitlichen Zustand. Früher hatte sie mal Grundsicherung bezogen, heute lebt sie von ihrer Rente. Sie könnte Grundsicherung nach SGB XII beziehen, verzichtet aber auf das zusätzliche Geld:

„Das kann ich nicht, da bin ich/ Äh, ich begreif das nicht, was die manchmal schreiben. Und da hab ich dann wieder Angst, dass ich irgendwas VERschreibe, da reinschreibe, was gar nicht so gemeint war, […] dass ich meinetwegen, wenn ich jetzt (.) irgendwas beantrage und nachher da schreiben die: Nee, das ist nicht so, ähm, […] Sie müssen das bezahlen. Oder ziehen das schon ab und alles und äh. Oder ich/ ich schreibe was rein, was ich/ was ich gar nicht wollte und was die trotzdem machen. Und wenn ich dann sage, nee, so war das nicht gemeint: Sie haben das so unterschrieben.“ (Monika Auer, Abs. 325–331).

Die Antragsstellung wird als nicht zu durchschauen und damit als nicht zu bewältigen empfunden und ist mit der Sorge verbunden, ungewollt Verpflichtungen einzugehen beziehungsweise durch die Unterschrift ‚denen‘ unwiderruflich ausgeliefert zu sein und keinen Einfluss mehr auf die eigene Situation zu haben. Statt in der Grundsicherung eine Unterstützung zu sehen, wird diese als Bedrohung wahrgenommen. Monika möchte sich dem nicht aussetzen und findet in der Nichtinanspruchnahme zumindest diesbezüglich Entlastung von den überfordernden Bedingungen.

Um ihre ansonsten von Verzicht und Leid geprägte Situation zu ertragen, übt Monika sich in Genügsamkeit („Hauptsache, ich hab meine Wohnung und kann die noch bezahlen und, äh, (..) hab eben genug zum Leben. […] Ich bin ein genügsamer Mensch“ Abs. 335–337). Tatsächlich ist diese Genügsamkeit aber nicht selbst gewählt, denn auch hier sieht Monika keine Möglichkeit Einfluss auf ihre Situation zu nehmen und fühlt sich den Umständen ausgeliefert („[…] also was ich auch bei vielen Dinge sage, es muss nicht sein.[…] Und da, es fällt mir schwer, aber es muss ja gehen, der Zwang ist da, es muss gehen.“ Abs. 43–45). Sie fühlt sich verlassen („Das ist das Schlimme, ich hab niemanden.“ Abs. 73) und resigniert gegenüber ihrer Situation („Na ja, und da sag ich mir eben, es hat nicht sollen sein, da musst du durch. So ist schon manchmal so schlimm, dass ich hier in Tränen/ Gott sei Dank sieht’s keiner, aber das sind eben die Sachen, wo man dann nicht nachdenken darf.“ Abs. 341).

5.4 Abgrenzung – oder die Demonstration der eigenen Leistungsfähigkeit

Typ Abgrenzung (4) schließlich zeichnet sich durch einen emanzipativen Akt des Verzichts aus, der in der Nichtinanspruchnahme mündet. Typ Abgrenzung hat eine strikt dichotome Vorstellung von Leistungsbeziehenden und unterteilt diese in würdige (diejenigen, die unverschuldet in die Situation geraten seien und sich bemühten) und unwürdige Beziehende (diejenigen, die keine Lust hätten zu arbeiten und das Grundsicherungssystem ausnützten). Aufgrund eines Schicksalsschlages (etwa Scheidung, Arbeitsplatzverlust, aber auch Krankheit) sehen sich Personen dieses Typs in der Situation, unverschuldet auf Grundsicherung angewiesen zu sein. Da sie sich als würdige Leistungsbezieher:innen verstehen, fühlen sie sich durch Bevormundung und übermäßige Kontrolle der eigenen finanziellen Verhältnisse jedoch der falschen Kategorie zugeordnet – der der Unwürdigen. Für diese sei eine entsprechende Behandlung zwar verständlich und angebracht, gegenüber ihnen selbst aber vollkommen unangemessen. Mit dem Verzicht auf Grundsicherung kann dieser Typ sich schließlich absolut und demonstrativ von dem Stereotyp der faulen Leistungsbeziehenden abgrenzen und die eigene Identität als „normal“ festigen.

Der Alltag von Typ Abgrenzung zeichnet sich durch eine strikte Organisation aus, wie auch mit wenig Geld gewirtschaftet werden kann. Dabei steht in der Wahrnehmung des Alltags (im Gegensatz etwa zu Typ Entlastung) nicht die Einschränkung durch fehlende finanzielle Ressourcen im Vordergrund. Stattdessen wird die Alltagsbewältigung als Zeichen der eigenen Bemühungen oder der eigenen Leistung hervorgehoben, um sich auch hier von den vermeintlich Faulen abzugrenzen. Auch in den Erzählungen in Bezug auf das soziale Umfeld werden die Abgrenzungsbemühungen sichtbar. So wird auf der einen Seite der frühere Grundsicherungsbezug im sozialen Umfeld verheimlicht. Auf der anderen Seite werden Beispiele von Personen aus dem sozialen Umfeld im Leistungsbezug herangezogen, um sich von diesen zu distanzieren.

Als Beispiel wird hier der Fall von Gerd Kast vorgestellt. Nachdem seine Arbeit „wegrationalisiert“ wurde, ist er in die Arbeitslosigkeit, Kriminalität und eine Suchtkrankheit ‚abgerutscht‘. Mittlerweile ist er rehabilitiert, hat geheiratet, Kinder und arbeitet zusammen mit seiner Frau in Teilzeit bei einem sozialen Träger. Trotz Anspruch auf Aufstockung verzichten sie auf das zusätzliche Geld. Als Grund dafür nennt er die unangemessene und entwürdigende Behandlung vom Amt ohne jegliche Berücksichtigung seiner individuellen Situation:

„Also das ist halt immer dieses Problem, dass man einfach, (.) wenn man ehrlich agiert, wird man trotzdem in die Schiene von denen gezogen, die halt nicht ehrlich agieren. Und das stört uns auch so dran. Ne? […] Das ist halt schade. (.) Ja? Die sehen, dass wir arbeiten. Die fordern uns trotzdem auf, äh trotz, dass wir dreißig Stunden die Woche arbeiten. Und dass wir uns einen anderen Job suchen sollen. Ne? Trotz, dass wir grade auch äh (.) im Vorfeld Probleme hatten, äh überhaupt eine ordentliche Lebensführung (.) an den Tag zu bringen. Ja?“ (Gerd Kast, Abs. 11).

Obwohl Gerd also alles daran setzt „eine ordentliche Lebensführung“ vorzuweisen und es schafft, trotz aller vorheriger Probleme Leistungsbereitschaft demonstriert („trotz, dass wir dreißig Stunden die Woche arbeiten“), fühlt er sich von den Mitarbeiter:innen auf dem Amt so behandelt, wie er es ausschließlich gegenüber denjenigen erwarten würde „die halt nicht ehrlich agieren“. Allen Bemühungen zum Trotz werden die eigenen Leistungen im Bezug nicht anerkannt. Letztlich schafft die Nichtinanspruchnahme eine klare und selbstversichernde Zuordnung „normal“ zu sein (Abs. 11).

„Also, (.) es gibt ja auch diese typischen ähm sozial/ die ziemlich sozial schwach sind. (.) Ne? Und das möchten wir einfach nicht, dass unsere Familie so/ so wird. (lacht) (.) Ja. Wir geben da schon Acht drauf, dass wir da, (.) auch wenn wir nicht viel Geld haben, das, (…) wie soll ich sagen, (.) dass wir halt normal sind einfach. Also, (.) dass wir keine Assis sind. (.) Ne? (lacht) Mir fehlte einfach das Wort jetzt dafür. (lacht)“ (Gerd Kast, Abs. 39).

Um trotz des geringen verfügbaren Einkommens den Lebensunterhalt bestreiten zu können, wird der Alltag strikt durchorganisiert („wir machen mittlerweile ne Wochenplanung“ Abs. 238) und auf jegliche spontanen Ausgaben verzichtet. In der Erzählung wird dieser entgegen aller Einschränkungen als leicht zu bewältigen dargestellt und dient damit gleichermaßen als Beleg, weder faul noch unwürdig zu sein („Wir hätten Anspruch auf Leistung, aber leben, Spaß haben und wissen, wie wir mit dem Geld umgehen müssen. Und haben trotzdem Geld übrig halt, ne? […] Ja. Und deswegen sind uns die zweihundert Euro [Grundsicherung – vom Amt berechnet, Anm. Autor:innen] völlig egal. […] (lacht) Ist einfach so. Deswegen tun wir uns das Theater nicht mehr an.“ Abs. 300–304). Im sozialen Umfeld sucht Gerd keine Hilfe. Stattdessen wird die Eigenständigkeit im Vergleich zu den anderen hervorgehoben („Wir sind ja, glaube ich, schon die Selbstständigen/ ständigsten hier aus der Familie. (lacht)“ Abs. 346).

In der Zusammenschau der vier Typen zeigt das Material unterschiedliche Logiken des Verzichts. Während die einen durch den Verzicht Selbstwertgefühl generieren oder Anerkennung (bzw. Teilhabe) erfahren, nehmen andere den Alltag in der Nichtinanspruchnahme als überfordernd und permanente Belastung wahr oder resignieren angesichts ihrer empfundenen Ausweglosigkeit. Kurz gesagt, macht für die untersuchten Typen die Inanspruchnahme aus subjektiver Perspektive aus unterschiedlichen Gründen keinen Sinn. In der Alltagsbewältigung wenden Anspruchsberechtigte als aktive Produzent:innen ihrer Lebensverhältnisse vielfältige Strategien an, um ihre schwierige Situation auch ohne (bzw. gerade ohne) den Bezug von Grundsicherungsleistungen zu bewältigen. Dabei ist der jeweilige Handlungskontext ausschlaggebend: sowohl für die Bedeutungszuschreibungen zum Grundsicherungsbezug, als auch für die Alltagsbewältigung bzw. -wahrnehmung und die Interaktion mit dem sozialen Umfeld.

6 Fazit

Aus sozialpolitischer Perspektive stellen Grundsicherungsleistungen soziale Rechte dar, die gleichwertige Teilhabechancen gewährleisten sollen. Die empirisch große Verbreitung der Nichtinanspruchnahme deutet darauf hin, dass die Einschätzungen der Bürger:innen von dieser sozialpolitischen Perspektive abweichen. Mit einem subjektzentrierten qualitativen Untersuchungsdesign lassen sich die alltagsweltlichen Logiken des Verzichts aufzeigen. Diese Perspektive ist in der Nichtinanspruchnahmeforschung bisher durch die starke Fokussierung auf mögliche Hürden bei der Antragsstellung bzw. Inanspruchnahme verborgen geblieben. Die Analyse zeigt: Subjektseitige Strategien und Deutungen sind eng verwoben mit gesellschaftlichen und sozialpolitischen Ordnungsvorstellungen. Insgesamt zeigt sich, dass das Grundsicherungssystem auch, aber nicht nur, als negativ und exkludierend empfunden wird. Betroffene bewegen sich zwischen dem Wunsch nach Integration und Selbstbestimmung und können diese je nach Bewältigungsstrategie mehr oder weniger erreichen. Für die Nichtinanspruchnehmenden stellt die Grundsicherung keine anwendbare Ressource für die Lebensbewältigung dar.

Sozialpolitisch sieht das 2023 eingeführte Bürgergeld punktuelle Verbesserungen vor. Auch betont es auf der semantischen Ebene einen gleichwertigen Bürgerstatus von Leistungsbeziehenden. Ob es zu einer spürbaren Veränderung des Inanspruchnahmeverhaltens kommt, erscheint angesichts der Befunde jedoch fraglich. Dazu sitzen die Deutungen der Grundsicherung als Zeichen des persönlichen Versagens, als Ausdruck von Faulheit oder Leistungsunfähigkeit, als Bedrohung beziehungsweise Last oder gleich als Kennzeichen unwürdiger Armut zu tief. Auch erste empirische Befunde zu den Corona-Sozialschutzgesetzen deuten in diese Richtung. Die Sozialschutzgesetze nahmen wesentliche Elemente der Bürgergeldreform vorweg, führten jedoch nicht zu einem spürbaren Anstieg in der Inanspruchnahme von Leistungen (Aprea et al. 2021). So spielten die im Erhebungszeitraum bereits geltenden Zugangsbedingungen der Corona-Sozialschutzgesetze auch für unsere Interviewten schlicht keine Rolle.

Die erarbeiteten Typen können helfen zielgerichtete Maßnahmen einzuleiten, die die Inanspruchnahme erleichtern. So ist es insbesondere mit Blick auf Typ Entlastung zentral, die sozialrechtliche Drohkulissen abzubauen und den unterstützenden Charakter der Grundsicherung hervorzuheben. Einfache und entstigmatisierende Sprache in Informationsmaterialien und Anträgen können ein erster Schritt in diese Richtung sein. Die neu eingeführten Karenzzeiten (bezüglich der tatsächlichen Kosten der Unterkunft und der Vermögensfreibeträge – siehe § 12 & § 22 SGB II) sind vor allem mit Blick auf Typ Kontingenz ein guter Anfang, eine – wenn auch nur kurze – Zeit der Sicherheit zu bieten, in der gleichzeitig die selbstbestimmte Gestaltung eigener Ziele gewahrt bleibt und ermöglicht wird. Doch auch hier wird deutlich: Ohne tiefgreifende Veränderungen wird sich an der Wahrnehmung durch Grundsicherung „an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu sein“ (Peter Linz) kaum etwas ändern. Es ist davon auszugehen, dass Menschen weiterhin große Entbehrungen und Belastungen auf sich nehmen, anstatt das Ihnen zustehende Recht tatsächlich einzulösen. Eine Sicht auf die Nichtinanspruchnahme von Grundsicherung als eine individuelle und selbstverantwortliche Entscheidung ist damit verkürzt. Nichtinanspruchnahme geht mit massiven Einschränkungen in der Lebensgestaltung und sozialpolitischen Folgeproblemen einher und muss als gesellschaftliches und soziales Problem in den sozialpolitischen Diskurs mit aufgenommen und bei der (zukünftigen) Ausgestaltung des Grundsicherungssystems berücksichtigt werden.