1 Einleitung

Mit dem Bürgergeld-Gesetz vom 16. Dezember 2022Footnote 1 wurde die Grundsicherung für Arbeitsuchende auf mehreren Ebenen reformiert. Hierzu zählte zunächst eine Veränderung der Terminologie – die Begriffe „Arbeitslosengeld II“ und „Sozialgeld“ wurden durch den wohl eingängigeren und attraktiveren (so Spitzlei 2023, S. 174) Begriff des „Bürgergeldes“ ersetzt (dazu auch: Herbe und Pahlsherm 2023, S. 25). Eine ausdrückliche Begründung der Begriffswahl erfolgte in dem Gesetzentwurf der BundesregierungFootnote 2 nicht (kritisch dazu: Welti 2022, S. 174 ff.). Verbunden mit der Änderung der Terminologie war eine Änderung der Leistungsausrichtung (Herbe und Pahlsherm 2023, S. 31 f.). Der Regierungsentwurf benennt als Ziele, „mehr Respekt, mehr Chancen auf neue Perspektiven und mehr soziale Sicherheit in einer modernen Arbeitswelt zu verankern und unnötige bürokratische Belastungen abzubauen“.Footnote 3

Hierzu, so der Gesetzentwurf weiter, solle vor allem die Abkehr vom sogenannten Vermittlungsvorrang um jeden Preis, d. h. auch in niedrigqualifizierte Tätigkeiten, zu Gunsten eines stärker auf (Nach-)Qualifizierung bauenden Ansatzes führen: „Die Einführung des Bürgergeldes begründet eine bedeutende sozialpolitische Reform: Menschen im Leistungsbezug sollen sich stärker auf Qualifizierung, Weiterbildung und Arbeitsuche konzentrieren können, die Potenziale der Menschen und die Unterstützung für eine dauerhafte Arbeitsmarktintegration sollen stärker im Fokus stehen.Footnote 4

Ziel der Leistung bleibt dabei weiterhin die Unterstützung zur Arbeitsmarktintegration. Es ging dem Gesetzgeber nicht darum, eine Art bedingungsloses Grundeinkommen zu schaffen, für das in früheren Konzepten ebenfalls der Begriff des Bürgergeldes gebraucht wurde (dazu Opielka und Strengmann-Kuhn in diesem Band; Welti 2022, S. 174; Spitzei 2023, S. 121).

Insofern konsequent hat sich der Gesetzgeber mit dem Bürgergeld-Gesetz auch nicht vollständig von den als „Sanktionen“ bekannten und nunmehr in „Leistungsminderungen“ umetikettierten Verringerungen von Leistungen bei Pflichtverletzungen oder Meldeversäumnissen verabschiedet. Die gleichwohl weitreichenden Änderungen des Systems der Leistungskürzungen fanden ihren Grund neben der neuen Akzentsetzung des Bürgergeld-Gesetzes vor allem in der Umsetzung der Anforderungen des Sanktionsurteils des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 5. November 2019 (Aktz.: 1 BvL 7/16 – BVerfGEFootnote 5 152, S. 68). Dieses mitberücksichtigend, zeichnet der vorliegende Beitrag die Entwicklung von Sanktionen zu Leistungsminderungen seit den sog. Hartz-Reformen bis zur Einführung des Bürgergeldes nach und bewertet die Neuregelung hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG).

2 Sanktionen im Hartz IV-Regime

Leistungskürzungen bei vermeintlich pflichtwidrigem Verhalten von Leistungsbezieher:innen werden häufig in direkten Zusammenhang gesetzt mit den sog. Hartz-Reformen, insbesondere „Hartz IV“,Footnote 6 dem Kernstück der „Agenda 2010“ der Bundesregierung unter Gerhard Schröder zur Liberalisierung des Arbeitsmarkts und Reform des Sozialstaats. Tatsächlich sollten die Sanktionsregelungen unter dem SGB II in alter Fassung (a.F.) maßgeblich der Umsetzung des Grundsatzes des „Förderns und Forderns“ dienen, wie auch aus der Gesetzesbegründung der Erstfassung von 2003 hervorgeht.Footnote 7

Übersehen wird häufig, dass auch das der Hartz IV-Reform und der Einführung des Arbeitslosengelds II (Alg II) vorangegangene System der Grundsicherung, bestehend aus Sozialhilfe und sogenannter Arbeitslosenhilfe, Sanktionstatbestände enthielt und der Gesetzgeber Leistungsbezieher:innen oft mit drastischen Formulierungen zu Eigenbemühungen anhielt (zur historischen Entwicklung: Luik 2021, S. 177 ff.). In der zentralen Sanktionsnorm (§ 25) des Bundessozialhilfegesetz (BSHG) hieß es noch bis zur Ablösung des Gesetzes durch das SGB II im Jahr 2005: „Wer sich weigert, zumutbare Arbeit zu leisten, (…) hat keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt.“ In der Ursprungsfassung des BSHG von 1961 (und noch bis 1974) fand sich die Norm gar unter der Überschrift „Folgen bei Arbeitsscheu und unwirtschaftlichem Verhalten“ (umfassend hierzu: Brütt 2011, S. 223 ff.). Hieraus wird ersichtlich, dass Grundsicherung in Deutschland seit jeher – und damit avant la lettre – unter dem Workfare-Gedanken stand, d. h. existenzsichernde Transferleistungen vom Verhalten der Leistungsbezieher:innen abhängig gemacht wurden. Mit den Sanktionsregelungen im SGB II in der Fassung zwischen 2005 und 2022 wurden die Kürzungsnormen des früheren Systems (§ 25 BSHG und die Sperrzeitregelung des § 159 SGB III) dann kombiniert (Hohner 2017, S. 36).

Das Sanktionsrecht des Hartz IV-Regimes fand sich ursprünglich in den §§ 31 und 32 SGB II; seit 2011 (und wie heute) dann zusätzlich auch in den §§ 31a und 31b SGB II.Footnote 8 Während sich im Normtext der §§ 31–32 SGB II selbst auch in der damaligen Fassung nicht der Begriff „Sanktion“, sondern jener der „Minderung“ fand, war doch der betreffende Unterabschnitt mit „Sanktionen“ überschrieben. Auch nach der damaligen Systematik wurde zwischen Meldeversäumnissen (§ 32 SGB II) und anderen Pflichtverletzungen (§ 31 SGB II) unterschieden. §§ 31a und 31b SGB II regelten damals wie heute Rechtsfolgen bzw. Beginn und Dauer der Minderungen.

Als Pflichtverletzung galten nach § 31 Abs. 1 SGB II a.F. insbesondere Verstöße gegen die damalige Eingliederungsvereinbarung (die mit dem Bürgergeld-Gesetz durch den Kooperationsplan ersetzt wurde). Wie auch heute verletzten Leistungsbezieher:innen ihre Pflichten, wenn sie sich weigerten, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, oder ein gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen, fortzuführen oder wenn sie deren Anbahnung verhinderten. Dasselbe galt, wenn sie eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nicht antraten, abbrachen oder Anlass für den Abbruch gaben. Anders als heute wurde auch der Nichtantritt usw. einer Arbeitsgelegenheit („Ein-Euro-Job“) explizit als Sanktionsgrund genannt; dies bleibt allerdings auch heute weiter miterfasst (über § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB II).Footnote 9 Weitere Voraussetzung für eine Sanktion war freilich die vorherige schriftliche Rechtsfolgenbelehrung der Leistungsempfänger:innen oder deren Kenntnis, und dass diese für ihr zu sanktionierendes Verhalten keinen wichtigen Grund darlegen und nachweisen konnten. Weitere, wenig praxisrelevante, Minderungstatbestände (z. B. beharrlich unwirtschaftliches Verhalten) finden sich auch heute unverändert in § 31 Abs. 2 SGB II.

Bei Vorliegen einer dieser Pflichtverletzungen war nach der Rechtsfolgenregelung des § 31a SGB II a.F. das damalige Alg II zwingend (d. h. ohne Ermessensspielraum der Jobcenter) in einer ersten Stufe um 30 % des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person maßgebenden Regelbedarfs zu mindern. Bei einer wiederholten Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres minderte sich das Alg II in der zweiten Stufe um 60 % des Regelbedarfs und jede weitere Pflichtverletzung führte in der dritten Stufe zum vollständigen Entfall der Leistungen (d. h. einschließlich der Kosten für Unterkunft und Heizung). Die Dauer der jeweiligen Minderung betrug nach § 31b SGB II a.F. starr drei Monate – unabhängig davon, ob die betroffene Person in der Zwischenzeit ihre Pflichten erfüllte oder dies zumindest versuchte. Allein auf der dritten Stufe konnte das Jobcenter in diesem Fall nach Ermessen die Sanktion auf die zweite Stufe senken (§ 31a Abs. 1 S. 6 SGB II a.F.).

Gewisse Abfederungsmöglichkeiten sah § 31a Abs. 3 SGB II a.F. für Minderungen von mehr als 30 % des Regelbedarfs vor. Auf Antrag konnten die Jobcenter hier nach Ermessen Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen. Im Fall des Zusammenlebens der Sanktionierten mit minderjährigen Kindern war dies zwingende Rechtsfolge.

Eine besondere Verschärfung gab es für unter 25-jährige Leistungsbezieher:innen. Für diese waren gem. § 31a Abs. 2 SGB II a.F. bei erster Pflichtverletzung nur noch die Kosten für Unterkunft und Heizung zu tragen, bereits in der zweiten Stufe kam es zur vollständigen Streichung des Alg II. Auch hier war bei nachträglichem Wohlverhalten ein Wechsel von der zweiten auf die erste Stufe im Ermessenswege möglich. Ebenfalls nach Ermessen konnten Leistungsminderungen für diese Personengruppe auf sechs Wochen begrenzt werden (§ 31b Abs. 1 S. 4 SGB II a.F.).

Grundsätzlich zu unterscheiden waren Pflichtverletzungen nach § 31 SGB II auch nach altem Recht von den viel häufiger sanktionierten Meldeversäumnissen nach § 32 SGB II. Die auch mit dem Bürgergeld-Gesetz weitgehend unverändert gebliebene Regelung sah für Fälle, in denen sich Leistungsbezieher:innen trotz Belehrung oder Kenntnis und ohne wichtigen Grund nicht beim Jobcenter meldeten oder auch zu ärztlichen oder psychologischen Untersuchungsterminen nicht erschienen, eine Kürzung des Alg II um 10 % des maßgeblichen Regelbedarfs vor. Anders als nach heutiger Rechtslage betrug auch hier der Minderungszeitraum drei Monate (statt heute ein Monat); eine Addition mit anderen Sanktionen war explizit vorgesehen (§ 32 Abs. 2 SGB II a.F.).

3 Das Sanktionsurteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019

Verfassungsrechtliche Bedenken an einzelnen Elementen oder sogar der Gesamtheit des ursprünglichen Sanktions-Regimes wurden bereits früher formuliert (vgl. aus der umfangreichen Literatur bereits Kramer 2004, S. 178 ff.; ferner Nešković und Erdem 2012, S. 326 ff.; Richers und Köpp 2010, S. 997 ff.; umfassend: Hohner 2017, S. 137 ff.; für die Verfassungsmäßigkeit der Regelungen vgl. Berlit 2013, S. 195 ff.; Lauterbach 2011, S. 584 ff.). Es handelte sich hierbei seit jeher um einen der nicht nur sozialpolitisch, sondern auch verfassungsrechtlich umstrittensten Teile des Hartz IV-Systems. Starker Kritik ausgesetzt waren u. a. die Regelungen für unter 25-Jährige, die vielfach für gleichheitswidrig und somit für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG gehalten wurden (z. B. Davilla 2010, S. 557 ff.). Andere hielten jede Minderung für verfassungswidrig, insofern sie zu einer Kürzung des verfassungsrechtlich zu gewährleistenden Existenzminimums führte. Schließlich, so diese Ansicht, erstrecke sich das Abwägungsverbot des absoluten Menschenwürdeschutzes auch auf das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, das seine normative Grundlage in der Verbindung von Art. 1 Abs. 1 GG mit dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG hat (Hohner 2017, S. 145 ff.). Eine vermittelnde Ansicht wollte hier zwischen einem sanktionsfesten Kernbereich des Würdeschutzes, der unkürzbaren Gewährleistung des physischen Existenzminimums (Unterkunft, Nahrung, medizinische Grundversorgung usw.) und einem sanktionsoffenen Randbereich, den kürzbaren Leistungen zur Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben, differenzieren (Richers und Köpp 2010, S. 1001).

Die Kritik an den Sanktionsregelungen wurde auch in Teilen der Justiz aufgegriffen, so insbesondere vom Sozialgericht Gotha, das nach einer für unzulässig erklärten Richtervorlage 2015, im Folgejahr erneut dem BVerfG die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit weiter Teile der damaligen Sanktionsregelungen (nämlich §§ 31 Abs. 1, 31a und 31b SGB II) vorlegte (SG Gotha, Beschluss vom 02.08.2016 – S 15 AS 5157/14). Hierdurch hatte sich das BVerfG erstmals eingehend mit dem Normgefüge zu befassen – was es in seinem Sanktionsurteil vom 5. November 2019 auch tat (BVerfGE 152, S. 68–151).

Dabei stellte das BVerfG unter Anknüpfung an seine Rechtsprechung aus 2010 zur Verfassungswidrigkeit der damaligen Alg II-Regelsätze (Urteil vom 09.02.20210 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 – BVerfGE 125, S. 175, 223) zunächst klar, dass die Regelungen des SGB II an einem einheitlichen Grundrecht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz zu messen seien – und erteilte damit einer Aufspaltung in einen Kernbereich der physischen- und einen Randbereich der soziokulturellen Existenzsicherung eine Absage (BVerfGE 152, S. 68, 113 f.). Der Gesetzgeber verfüge allerdings über einen Gestaltungsspielraum hinsichtlich Art und Höhe der Leistungen. Es sei daher nicht zu beanstanden, wenn er sich für den Nachranggrundsatz entscheide, also nur subsidiär leiste, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können (BVerfGE 152, S. 68, 114–116). Insofern könne der Gesetzgeber Leistungsbezieher:innen auch dazu anhalten, an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit, etwa durch die Aufnahme einer Erwerbsarbeit, selbst aktiv mitzuwirken; auch dürften diese Mitwirkungspflichten grundsätzlich durchsetzbar ausgestaltet werden (BVerfGE 152, S. 68, 116–118). Vor diesem Hintergrund hielt das BVerfG die in § 31 Abs. 1 SGB II a.F. geregelten sanktionsbewehrten Mitwirkungspflichten selbst für „geeignet, das legitime Ziel der Rückkehr in Erwerbsarbeit zu erreichen“ und für grundsätzlich verfassungsgemäß (BVerfGE 152, S. 68, 121–123).

Allerdings erklärte das BVerfG auch, dass sich aus dem Grundrecht auf Gewährleistung des Existenzminimums besonders hohe Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit der Rechtsfolgenregelung von Sanktionen ergeben, die es in der damaligen Fassung des SGB II als nicht erfüllt ansah. Dabei hielt es auch fest, dass je länger eine Minderungsregel in Kraft sei, desto weniger dürfe sich der Gesetzgeber auf schlichte Vermutungen zu ihrer Wirksamkeit verlassen, sondern müsse (empirisch) fundierte Einschätzungen hierzu einholen (BVerfGE 152, S. 68, 118–119). Vor allem aber müssten die Belastungen durch Leistungsminderungen stets im rechten Verhältnis zur Erreichung des Ziels der Überwindung der Bedürftigkeit stehen und zumutbar sein. Außerdem müsse es den Betroffenen tatsächlich möglich sein, Minderungen abzuwenden und auch existenzsichernde Leistungen wiederzuerlangen (BVerfGE 152, S. 68, 119).

Vor diesem Hintergrund erklärte das BVerfG die damaligen Sanktionsregeln insofern für verfassungswidrig, als § 31a Abs. 1 SGB II a.F. Kürzungen von mehr als 30 % des Regelbedarfs ermöglichten. Auch bei Kürzungen bis 30 % des Regelbedarfs müsse aber – anders als im damaligen Gesetz vorgesehen – die Möglichkeit bestehen, bei außergewöhnlichen Härten von Sanktionen abzusehen. Außerdem dürfte eine Sanktion nicht mit der starren Dauer von drei Monaten verhängt werden, sondern sie müsse enden, wenn der oder die Betroffene die geforderte Handlung nachhole (BVerfGE 152, S. 68, 128 ff.).

Über 30 % hinausgehende Kürzungen des damaligen Alg II erachtete das BVerfG für unverhältnismäßig. Hier bezog sich das Gericht auch auf Studien, die zeigten, dass Kürzungen der Regelbedarfsleistungen um 60 % gar nicht handlungsmotivierend wirkten (BVerfGE 152, S. 68, 144). Noch gravierender sei die Lage bei vollständigem Wegfall der Leistungen auf der dritten Sanktionsstufe, da hier auch der Verlust der Wohnung drohe: „Tatsächlich ginge mit dem Verlust der Wohnung gerade der Ausgangspunkt dafür verloren, durch Erwerbsarbeit wieder selbst für sich sorgen zu können. (…) Dann nimmt die Sanktion den Betroffenen sogar ihre Chance, wieder auf eigenen Füßen zu stehen.“ Eine sog. Totalsanktion sei insofern kontraproduktiv, im schlimmsten Fall drohe der Beratungsabbruch und ein Abrutschen in die Kriminalität (BVerfGE 152, S. 68, 146 f.). Sanktionen, so das BVerfG, dürften niemals repressiv eingesetzt werden, um vermeintliches Fehlverhalten zu bestrafen, sondern müssen immer der Überwindung der Hilfebedürftigkeit dienen (BVerfGE 152, S. 68, 118. Kritisch zu dieser Unterscheidung, da sie wesentlich den Aspekt der Stigmatisierung ausblende: Davy 2023, S. 478).

Das BVerfG erklärte somit weite Teil der damaligen §§ 31a, 31b SGB II für verfassungswidrig. Die Sanktionsregelungen waren aber weiterhin bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber unter den genannten Einschränkungen anwendbar (BVerfGE 152, S. 68, 150 f.). Über die damalige besonders scharfe und hoch umstrittene Regelung für unter 25-Jährige (§ 31a Abs. 2 SGB II a.F.) sowie über die Regelung zu Meldeversäumnissen (§ 32 SGB II a.F.) hatte das BVerfG nicht zu entscheiden, da sie nicht Gegenstand des ursprünglichen Verfahrens vor dem Sozialgericht Gotha und damit auch nicht der Vorlagefragen waren.

Die Entscheidung des BVerfG führte zu keiner kurzfristigen Anpassung des Normtextes des SGB II durch den Gesetzgeber. Vielmehr wendeten die Jobcenter die Regelungen der § 31 ff. SGB II a.F. nur noch mit den Einschränkungen aus dem Urteil des BVerfG an. Im Koalitionsvertrag von 2021 versprachen die Koalitionspartner eine Neuregelung der Normen im Zuge der Bürgergeldeinführung. Bis dahin sollte ein einjähriges Sanktionsmoratorium eingeführt werden („Mehr Fortschritt wagen“, Koalitionsvertrag 2021–2025 zwischen SPD, BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und FDP, 2021, S. 76.). Das Moratorium trat allerdings erst zum 1. Juli 2022 in KraftFootnote 10 und büßte mit Einführung des Bürgergeldes zu Anfang 2023 bereits wieder seine Geltung ein.

4 Sanktionszwecke und empirische Wirksamkeit

Nach ihrer gesetzgeberischen Zweckbestimmung sollten Sanktionen, wie oben dargestellt, der Umsetzung des Grundsatzes des „Förderns und Forderns“ im SGB II dienen. In der Begründung der Ursprungsfassung des SGB II von 2003 („Hartz IV“), mit der das Alg II eingeführt wurde, heißt es: „Dem Grundsatz des Förderns und Forderns entsprechend soll der erwerbsfähige Hilfebedürftige verpflichtet werden, konkrete Schritte zur Behebung seiner Hilfebedürftigkeit zu unternehmen. Diese Regelung konkretisiert den […] Grundsatz des Forderns, demzufolge der erwerbsfähige Hilfebedürftige alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung seiner Hilfebedürftigkeit und der Hilfebedürftigkeit der mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Angehörigen durch Einsatz seiner Arbeitskraft auszuschöpfen hat.“Footnote 11

Ob zu der wirksamen Durchsetzung dieser als Hilfe zur Selbsthilfe, aber auch als Schutz der Solidargemeinschaft (dazu Eichenhofer 2021, S. 194) verstandenen Obliegenheit die Möglichkeit von Leistungskürzungen erforderlich ist, ist auch in der juristischen Literatur umstritten (zur Übersicht: Beaucamp 2023, S. 165 f.). Mit dem Bürgergeld-Gesetz wollte der Gesetzgeber nach der Gesetzesbegründung zunächst den Eingliederungsprozess als wesentlichen Bestandteil des SGB II weiterentwickeln, wodurch eine vertrauensvolle Zusammenarbeit „auf Augenhöhe“ zwischen Jobcentern und Bürger:innen erleichtert und eine Vertrauenskultur gestärkt werden solle.Footnote 12 Die Aufnahme einer Erwerbsarbeit steht damit weiter im Vordergrund, auch wenn nicht mehr eine schnelle Arbeitsaufnahme um jeden Preis erstrebt wird (Welti 2022, S. 175).

Der Leistungsgewährung liegt also weiterhin das Paradigma der eigenverantwortlichen Selbsthilfe durch Inanspruchnahme und Verwendung der eigenen Möglichkeiten und Ressourcen – soweit dies objektiv und subjektiv zumutbar und verhältnismäßig ist – zugrunde, also auch der zumutbare Einsatz der eigenen Arbeitskraft (Herbe und Pahlsherm 2023, S. 17). Die Anknüpfung an die Mitwirkung der leistungsberechtigten Personen ist dem Sozialrecht immanent und passt sich daher auch in dessen System der Mitwirkungsanforderungen als Verkörperung der Eigenverantwortung und damit Hilfe zur Selbsthilfe ein (Eichenhofer 2021, S. 191). Hierbei solle die Teilhabe am Arbeitsleben unter (menschen-)würdigen Bedingungen die Entfaltung der Persönlichkeit und Erfahrung von Achtung und Selbstachtung ermöglichen (Luik 2021, S, 183 f.), aber auch als ein Signal für die Arbeitsmoral der Gesamtgesellschaft betrachtet werden (Richers und Köpp 2010, S. 1001). Sanktionen würden – wie in der Gesetzesbegründung zum Bürgergeld-Gesetz ausgeführt – insoweit dem Gerechtigkeitsempfinden der überwiegenden Bevölkerung, der Leistungsberechtigten und der Mitarbeitenden in den Jobcentern entsprechen.Footnote 13

In der Begründung des Bürgergeld-Gesetzes stützt sich die Bundesregierung zunächst darauf, dass die Erfahrungen während der Kontaktbeschränkungen in der COVID-19-Pandemie bestätigt haben, dass die große Mehrheit der leistungsberechtigten Menschen aktiv mitwirke und dieser Personenkreis kaum eine Rolle bei Sanktionen spiele. Es gebe jedoch einen Teil der Leistungsberechtigten, die fehlende Durchsetzungsmöglichkeiten der Jobcenter genutzt hätten, um sich den Integrations- und Vermittlungsbemühungen zu entziehen.Footnote 14 Statistiken der tatsächlichen Sanktionsquoten, die durch die Bundesagentur für Arbeit regelmäßig veröffentlicht werden (Bundesagentur für Arbeit 2023), bestätigen, dass lediglich ein geringer Teil der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in der Praxis sanktioniert wird. Wie in Abbildung 1 dargestellt, betrug in den Vor-Corona-Jahren 2011 bis 2019Footnote 15 die Quote der Personen mit mindestens einer Sanktion lediglich zwischen 3,0 und 3,4 %. Bei den unter 25-Jährigen war sie geringfügig höher, sie schwankte zwischen 3,7 % im Jahr 2017 und ihrem Höchstwert im Jahr 2012 mit 5,2 % (Abb. 1). Insgesamt handelte es sich dabei um 145.660 Personen im Jahr 2011 bis zu einem Höchstwert von 149.708 Personen 2012 und im Jahr 2019 um 120.899 Personen, die zumindest eine Sanktion erhalten haben.

Abb. 1
figure 1

(Quelle: Bundesagentur für Arbeit 2023, Tab. 3)

Leistungsminderungsquote für erwerbsfähige Leistungsberechtigte (ELB) mit mindestens einer Leistungsminderung insgesamt und unter 25 Jahre.

Betrachtet man hierbei die Gründe der Sanktionierung fällt auf, dass die Meldeversäumnisse nach § 32 SGB II den größten Anteil (zwischen 64,6 % 2011 und 78,0 % 2019) ausmachen, wohingegen die Weigerung der Aufnahme oder der Fortführung einer Arbeit, Ausbildung oder Maßnahme (zwischen 9,9 % im Jahr 2016 und 15,2 % im Jahr 2011) sowie die Weigerung der Erfüllung von Pflichten aus einer Eingliederungsvereinbarung (zwischen 8,1 % im Jahr 2014 und 16,2 % im Jahr 2011) deutlich dahinter zurückblieben (Bundesagentur für Arbeit 2022). Fasst man dies zusammen, wurden lediglich 1 % der Leistungsbezieher:innen wegen einer arbeitsmarktbezogenen Pflichtverletzung sanktioniert, sodass sich die Frage nach dem Einfluss von Kürzungen auf die Motivation Betroffener zur Mitwirkung an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit stellt (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

(Quelle: Eigene Abbildung auf Basis von Statista mit Daten der Bundesagentur für Arbeit (Zeitreihen zu Sanktionen nach Ländern))

Verteilung der Sanktionsgründe unter neu festgestellten Sanktionen für den Bezug von Hartz IV von 2011 bis 2021.

Dies beantwortet die Bundesregierung unter Verweis auf verschiedene Studien des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) dahingehend, dass aus der Forschung bekannt sei, dass die Möglichkeit von Leistungsminderungen etwaigen Pflichtverstößen tendenziell vorbeuge und sie dadurch zu einer beschleunigten Aufnahme von Arbeit oder Ausbildung beitrügen (Ex-ante-Wirkung), eine tatsächlich erfolgte Leistungsminderung verstärke diese Wirkung (Ex-post-Wirkung).Footnote 16 Knize et al. (2022 S. 13 und 17 f.) verweisen darauf, dass Sanktionen mit Verhaltensänderungen und verstärkten Bemühungen um die Aufnahme einer Erwerbsarbeit einhergingen, sie insofern eine Anreizwirkung entfalten können. Sie können aber auch mit psychischen Belastungen und verstärkten seelischen Problemen wie Angst und Niedergeschlagenheit, Existenzängsten, Isolation und lähmender Überforderung verbunden sein. Zudem führt die Bundesregierung weiter aus, dass sich negative Effekte bei der Qualität der Beschäftigung zeigten: „Die Betroffenen haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, eine niedrig entlohnte Beschäftigung aufzunehmen als Personen, deren Leistungen nicht gemindert wurden. Darüber hinaus haben die betroffenen Personen langfristig eine vergleichsweise geringere Wahrscheinlichkeit, qualifikationsadäquat beschäftigt zu sein. Weiterhin können Leistungsminderungen die Lebensbedingungen der Betroffenen stark beeinträchtigen und auch kontraproduktive Reaktionen, wie einen gänzlichen Rückzug vom Arbeitsmarkt, auslösen.“Footnote 17 Obwohl diese unterschiedlichen Effekte aus den zitierten ersten Forschungsergebnissen (zur Kritik an der fehlenden Tatsachenforschung für Rechtssetzung und Rechtsanwendung: Baldschun und Klenk 2001, S. 76 und 85 f.; einen Überblick über Evaluationen von Sanktionen geben Wolff 2021, S. 184 ff. sowie Knize et al. 2022) bekannt waren, hielt der Gesetzgeber an diesen fest. Er betrachtet die Arbeitsmarktintegration durch stärkere Konzentration auf Qualifizierung, Weiterbildung und die Arbeitssuche, gerade im Hinblick auf die geänderte Situation auf dem Arbeitsmarkt – „Arbeitskräfte, insbesondere qualifizierte Arbeitskräfte, werden vielerorts gesucht“ – als zentrales Ziel der Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende.Footnote 18 Dies entspricht dem Ergebnis von Knize et al. (2022, S. 21 f.) in der Zusammenfassung verschiedener Studien, wonach eine Abschaffung von Sanktionen sich derzeit nicht begründen ließe. Vielmehr könne durch eine Reform sichergestellt werden, dass die Anreizwirkungen von Sanktionen erhalten bleibe, zugleich aber sehr starke Einschränkungen der Lebensqualität vermieden würden, sodass Sanktionen auch seltener mit einer niedrigen Qualität aufgenommener Beschäftigungsverhältnisse verbunden seien und eher zu einer Arbeitsmarktintegration beitragen.

5 Neuregelungen durch das Bürgergeld-Gesetz

Durch das Sanktionsurteil des BVerfG von 2019 war der Gesetzgeber verpflichtet worden, die grundsätzlich zulässige Minderung von staatlichen Leistungen verfassungsgemäß auszugestalten. Die Minderungstatbestände sind in ihrer Struktur gleichgeblieben, wurden aber in wesentlichen Details verändert. Wie schon nach den bisherigen Regelungen auch, knüpfen Leistungsminderungen zum einen an sogenannte Meldeversäumnisse nach § 32 SGB II (Nichterscheinen nach Aufforderung des Trägers, sich zu melden oder bei einem ärztlichen oder psychologischen Untersuchungstermin zu erscheinen) und an die im Folgenden näher dargestellte Verletzung von Pflichten aus § 31 SGB II an.

5.1 Pflichtverletzungstatbestände nach § 31 SGB II

Die Pflichtverletzungstatbestände sind im Wesentlichen gleichgeblieben, im konkreten Wortlaut des § 31 SGB II nicht mehr zu finden ist die Weigerung, eine Arbeitsgelegenheit nach § 16d SGB II anzunehmen, was aber keine praktische Konsequenz hat, da diese weiter miterfasst ist (s. o.). Zum 1.7.2023 erfolgte zudem eine Anpassung aufgrund der Einführung der Kooperationsvereinbarung und der Streichung der Eingliederungsvereinbarung in § 15 SGB II. Anknüpfungspunkt ist nach dieser Neuregelung nicht mehr die Nichterfüllung einer „Pflicht“ aus der Vereinbarung, sondern es bedarf der Weigerung, einer Aufforderung des Jobcenters aufgrund einer (auch nicht zustande gekommenen) Kooperationsvereinbarung (vgl. § 15 Abs. 5 und 6 SGB II) nachzukommen.

Dies ist nach der in der Gesetzesbegründung vertretenen Auffassung auch konsequent, da der Charakter der Kooperationsvereinbarung ein anderer sei als jener der bisherigen Eingliederungsvereinbarung, die bei Weigerung des Abschlusses durch einen Verwaltungsakt ersetzt werden konnte. Es soll sich bei der Kooperationsvereinbarung um einen nicht rechtsverbindlichen Plan zur Verbesserung der TeilhabeFootnote 19 und nicht mehr um einen öffentlich-rechtlichen Vertrag handeln.Footnote 20 Ob diese Auffassung auch von der Rechtsprechung, insbesondere des Bundessozialgerichts (BSG), geteilt werden wird, bleibt abzuwarten, da sich die durch das BSG aufgestellten Kriterien zur rechtlichen Einordnung der Eingliederungsvereinbarung auch auf den Kooperationsplan übertragen lassen (vgl. dazu ausführlich: Kern 2023, S. 84 f.). Gerichtlicher Rechtsschutz gegen die Festlegungen im Kooperationsplan ist, folgte man der rechtlichen Einordnung durch den Gesetzgeber, nicht möglich. Stattdessen sieht § 15a Abs. 1 Satz 1 SGB II die Möglichkeit eines Schlichtungsverfahrens vor (vgl. dazu Kern 2023, S. 85 f.).

Minderungen setzen nach der nunmehrigen Struktur der Regelung voraus, dass die im Kooperationsplan festgehaltenen Eingliederungsziele durch die Leistungsbezieher:innen nicht erfüllt werden und zudem eine Aufforderung, diese zu erfüllen, bekanntgegeben wurde. Diese Aufforderung ist nach § 15 Abs. 5 Satz 2 SGB II mit einer Rechtsfolgenbelehrung zu versehen. Kommt ein Kooperationsplan gar nicht erst zustande oder kann er nicht fortgeschrieben werden, erfolgt eine  Aufforderung zu erforderlichen Mitwirkungshandlungen, welche ebenfalls mit einer Rechtsfolgenbelehrung zu versehen ist.

Die Jobcenter haben bei der Entscheidung, ob diese Aufforderungen ergehen, kein Ermessen (Hökendorf und Jäger 2023, S. 15 f.). Zwar handelt es sich bei diesen um Verwaltungsakte, die mit Widerspruch und Klage angegriffen werden können. Jedoch hat die Erhebung dieser Rechtsbehelfe nach § 39 Nr. 2 SGB II keine aufschiebende Wirkung. Die Wirkung der Aufforderung wird also bei Rechtsbehelfen nicht suspendiert, wodurch sie sofort vollziehbar ist, somit die Kürzung der Leistung trotzdem erfolgt. Damit der Rechtsschutz durch Widerspruch und Anfechtungsklage effektiv ist, müsste die Aussetzung der sofortigen Vollziehung bei dem Jobcenter (§ 86a Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 4 Sozialgerichtsgesetz – SGG) oder die Anordnung der aufschiebenden Wirkung bei dem Gericht der Hauptsache (Sozialgericht) nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG beantragt werden.

5.2 Rechtsfolgen der Pflichtverletzung und Meldeversäumnisse

Eine größere Änderung haben aufgrund der Vorgaben des BVerfG die Regelungen der Rechtsfolgen bei Leistungsminderungen in §§ 31a ff. SGB II erfahren. Die Leistungsminderung bei Vorliegen einer Pflichtverletzung wurde gestaffelt in drei Stufen, unabhängig vom Alter der leistungsberechtigten Person. Bei einer ersten Verletzung von Mitwirkungspflichten nach § 31 SGB II mindert sich der Regelbedarf um 10 % für die Dauer von einem Monat. Erfolgt innerhalb eines Jahres nach Beginn des ersten Minderungszeitraums einer bereits festgestellten Pflichtverletzung eine weitere Pflichtverletzung, wird der Regelbedarf für zwei Monate um 20 % und bei der Feststellung jeder weiteren Pflichtverletzung innerhalb dieses Zeitraums um 30 % für drei Monate gekürzt. Bei Meldeversäumnissen nach § 32 SGB II mindert sich der Regelbedarf für einen Monat um 10 %.

Nach § 31a Abs. 4 Satz 1 SGB II sind Leistungsminderungen bei wiederholten Pflichtverletzungen oder Meldeversäumnissen auf insgesamt 30 % des Regelbedarfs begrenzt. Die früher mögliche Kürzung der Kosten der Unterkunft und Heizung ist ausgeschlossen (§ 31 Abs. 4 Satz 2 SGB II). Dies führt dazu, dass bei Personen, die nur Kosten der Unterkunft und Heizung erhalten, keine Leistungsminderung mehr möglich ist. Bei Personen, mit geringen Regelbedarfsanteilen, führt dies auch zu einer Begrenzung der möglichen Minderungsbeträge. Ohne diese ausdrückliche Klarstellung würden die Kosten der Unterkunft und Heizung durch die Anrechnung des Einkommens und Vermögens „aufgezehrt“ werden, die durch die Leistungsabsenkung von der vorrangigen Anrechnung auf die Bedarfe nach den §§ 20, 21 und 23 SGB II freigeworden sind (Berlit 2023, S. 24).

Die Leistungsminderung ist, soweit sie mindestens einen Monat betragen hat bzw. hätte, aufzuheben (§ 31a Abs. 1 Satz 6 SGB II) oder auch gar nicht erst festzustellen (so Berlit 2023, S. 25), sobald die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten die Pflichterfüllung nachholen oder sich nachträglich ernsthaft und nachhaltig bereit erklären, dieser Pflicht künftig nachzukommen. Hiermit setzt der Gesetzgeber eine Forderung des BVerfG um, die, wie oben erwähnt, damit begründet wurde, dass eine Leistungsminderung nicht Strafe für ein Fehlverhalten sein darf, sondern ein Mittel zur Umsetzung der Arbeitsmarktintegration. Daher sollen die leistungsberechtigten Personen die Möglichkeit haben, die Minderung ihrer existenzsichernden Leistungen durch eigenes Verhalten abzuwenden oder zu verkürzen.Footnote 21 Bei der Erklärung, der Pflicht künftig nachzukommen, stellen sich Feststellungs- und Prognoseprobleme. Allerdings sind dabei keine „überspannten“ Anforderungen an die Ernsthaftigkeit und Glaubhaftigkeit der Erklärung zu stellen (Berlit 2023, S. 24).

Zudem wurde in § 31a Abs. 3 SGB II ebenfalls in Umsetzung des Urteils des BVerfG geregelt, dass eine Leistungsminderung dann nicht zu erfolgen hat, wenn sie im Einzelfall eine außergewöhnliche Härte bedeuten würde. Dieser unbestimmte Rechtsbegriff unterliegt der vollen sozialgerichtlichen Kontrolle und stellt an die Ausnahmesituationen, die aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu beachten sind, hohe Anforderungen (Berlit 2023, S. 25). Hierbei ist eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen und dabei sowohl die Folgen der Minderung als auch der Zweck der nicht erfüllten Mitwirkungshandlung zu betrachten; dies kann z. B. bei der Mitbetroffenheit von Kindern relevant werden.

Im Hinblick auf das Verfahren sieht § 31a Abs. 2 SGB II auf Verlangen der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person eine persönliche Anhörung nach § 24 SGB X vor; bei wiederholten Pflichtverletzungen oder Meldeversäumnissen soll die Anhörung persönlich erfolgen. Bei unter 25-jährigen hat zudem innerhalb von vier Wochen nach Feststellung einer Leistungsminderung ein Beratungsangebot zu erfolgen, in dem die Inhalte des Kooperationsplanes zu überprüfen sind und bei Bedarf fortgeschrieben werden (§ 31a Abs. 6 SGB II).

6 Verfassungsrechtliche Bewertung der Neuregelung

Mit der Neufassung der Minderungsregeln in §§ 31 ff. SGB II hat der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung zum Bürgergeld-Gesetz die recht detaillierten Vorgaben, die das BVerfG in seiner Entscheidung von 2019 gemacht hatte, umfassend umzusetzen versucht.Footnote 22 Darüber hinaus kam er mit der Streichung der schärferen Regelung für unter 25-Jährige sowie der Verkürzung des Minderungszeitraums bei Meldeversäumnissen von drei Monaten auf einen Monat möglichen weiteren, in der Entscheidung des BVerfG nicht direkt benannten Einwänden, zuvor.

Nach weitverbreiteter Meinung in der Literatur ging der Gesetzgeber mit dem Bürgergeld-Gesetz über das vom BVerfG Geforderte hinaus, reizte seinen Spielraum bei der Neuregelung des Minderungsrechts (so etwa bei der Bemessung der ersten beiden Minderungsstufen) also nicht voll aus (Hoenig und Schuette 2023, S. 15; Spitzlei 2023, S. 128; Welti 2022, S. 175). Immerhin erachtete das BVerfG in einer ebenso kurzen wie überraschenden Passage am Ende seines Urteils sogar die Regelung eines vollständigen Leistungsentzugs für sog. Totalverweigerer als potenziell verfassungskonform (BVerfGE 152, S. 68, 148. Kritisch dazu: Thiele 2019).Footnote 23

Zweifel an der Vereinbarkeit mit den Vorgaben des BVerfG könnten allenfalls die sparsamen Ausführungen zur empirischen Tatsachengrundlage in der Gesetzesbegründung zum Bürgergeld-Gesetz hervorrufen. Schließlich hatte das BVerfG ja deutlich gemacht, dass sich der Gesetzgeber gerade angesichts der intensiven Grundrechtsbetroffenheit der Materie nicht auf bloße Mutmaßungen verlassen dürfe. Vor diesem Hintergrund hätte man eine ausführliche Darlegung des Forschungsstands hinsichtlich der Effektivität von Leistungskürzungen – sowohl bzgl. des „Ob“ als auch des „Wie“ derselben – im Existenzsicherungsrecht erwarten dürfen. Dass das BVerfG selbst die von ihm geforderte empirische Absicherung hat vermissen lassen, insofern es eine Absenkung von Leistungen bis zu 30 % des Regelbedarfs für verfassungsgemäß erklärte, dürfte den Gesetzgeber nicht hiervon entbinden. Tatsächlich finden sich in der Gesetzesbegründung nur knappe und darüber hinaus sehr pauschale Verweise auf vier empirische Studien, u. a. zu Gerechtigkeitsvorstellungen in der Bevölkerung.Footnote 24 „Geheilt“ wird dieses Manko aber dadurch, dass für 202 bzw. 2025 die Evaluation der Neuregelungen durch das IAB sowie eine darauf aufbauende Revision des SGB II angekündigt wird.Footnote 25

Freilich gibt es auch eine Verfassungsrechtsdogmatik jenseits des „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“ (Schlink 1989, S. 168), sodass man auch bei Erfüllung aller durch das BVerfG vorgegebenen Kriterien weiterhin triftig über eine Grundrechtswidrigkeit von Kürzungen zur Gewährleistung des Existenzminimums streiten kann. So ist der Einwand, dass die Menschenwürde einer Abwägung mit anderen Verfassungsgütern nicht zugänglich sei, was eine Kürzung des verfassungsrechtlich gebotenen Existenzminimums grundsätzlich verbiete, nicht aus der Luft gegriffen (Hohner 2017, S. 145 ff.; Thiele 2019). Allerdings lässt sich dem entgegnen, dass das einschlägige Grundrecht seine normative Fundierung eben nicht nur in Art. 1 Abs. 1 GG, sondern auch im Sozialstaatsprinzip findet und insofern die Abwägungsfestigkeit der Menschenwürde nicht gleichsam naturgesetzlich auf das abgeleitete Grundrecht durchschlägt. Hier könnte man auch den Vergleich zur Schrankendogmatik des ebenfalls normativ „zusammengesetzten“ Allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ziehen.

Unabhängig von der Positionierung zu dieser ebenso technischen wie fundamentalen rechtsdogmatischen Frage dürfte eine fortbestehende verfassungsrechtliche Kritik am nun geltenden Sanktionsrecht auf absehbare Zeit nicht praxiswirksam werden. Mit Ulrike Davy ist nämlich im Grundsatz davon auszugehen, dass das BVerfG mit seinem Urteil „das Sanktionenregime des SGB II gegenüber weiterer Kritik immunisiert hat.“ Es werde schwer sein, so Davy, „das BVerfG dazu zu bewegen, sich der Frage der Zulässigkeit von Sanktionen unter dem Blickwinkel der Menschenwürde erneut zu stellen“ (Davy 2023, S. 478).

7 Fazit

Ob Leistungsminderungen und der dahinterstehende Zweck der Hilfe zur Selbsthilfe und der Arbeitsmarktintegration wünschenswert sind, ist juristisch nicht zu beantworten. Insgesamt handelt es sich um sozialpolitische Entscheidungen, die das Grundgesetz und auch das BVerfG dem Gesetzgeber belässt (Rixen 2021, S. 176). Grundsätzlich gilt, dass Sozialleistungen nicht bedingungslos erbracht werden (müssen) (Lauterbach 2011, S. 584). Entsprechend hat auch das BVerfG festgestellt, dass die Verfassung nicht die Gewährung von bedarfsunabhängiger und voraussetzungsloser Sozialleistung gebietet; es verweist in diesem Zusammenhang auf den Selbsthilfegrundsatz (so bereits BVerfG Kammerbeschluss vom 7.7.2010–1 BvR 2556/09 Rn. 13). Es wäre somit verfehlt, den Handlungsspielraum der Legislative in der Sozialpolitik durch dem GG und der Rechtsprechung des BVerfG entnommene Vorgaben auf die Regelung von Detailfragen zusammenschrumpfen zu lassen (ähnlich: Rixen, 2021, S. 175 f.). In Bezug auf Leistungsminderungen gilt daher auch, dass nur, weil das BVerfG diese für zulässig gehalten hat, dies nicht bedeutet, dass sie auch zwingend erforderlich wären. Vielmehr obliegt die grundsätzliche Entscheidung, dieses Instrument zu nutzen oder eben nicht, dem parlamentarischen Gesetzgeber. Dabei sollte dieser künftig aber mehr als dies in der Vergangenheit der Fall war, empirische Erkenntnisse zu Wirkungen – und auch Nebenwirkungen – von Sanktionen berücksichtigen.