Anders als die Kritik von Konservativen, Rechtspopulisten und Arbeitgeberverbänden suggeriert, hat die Bürgergeldreform mit dem System von Hartz IV nicht grundsätzlich gebrochen. Das Bürgergeld bleibt als soziale Mindestsicherung vielmehr einem Erwerbszentrismus verhaftet, der in diesem Text einer systematischen Kritik unterzogen wird. In vier Schritten wird der herrschaftsförmige, ungleichheitsgenerierende, reduktionistische und polit-ökonomisch widersprüchliche Charakter der Lohnarbeitszentrierung in der Sozialpolitik dargelegt und in Hinsicht auf das Bürgergeld reflektiert. Das Bürgergeld und die politische Kontroverse, die sich an ihm entzündet, erscheinen in diesem Licht als symptomatisch für die fortbestehenden Hürden für eine emanzipatorische und zeitgemäße Sozialpolitik.

1 Das Bürgergeld als Ende der Arbeitsgesellschaft (wie wir sie kennen)?

In The Problem with Work (2011) stellt Kathi Weeks fest, dass sich die politische Öffentlichkeit zwar oft mit den Problemen bestimmter Branchen und Typen von Arbeit befasst, aber weitaus seltener grundsätzliche Zweifel an der gesellschaftlichen Organisation und Stellung von Arbeit angemeldet würden: „We tend to focus more on the problems with this or that job, or on their absence, than on work as a requirement, work as a system, work as a way of life“ (Weeks 2011, S. 3). Diese Beobachtung lässt sich analog für Diskussionen über die Probleme und Zukunft des Sozialstaats anführen. Der Fokus des öffentlichen Diskurses liegt zumeist auf einzelnen sozial- und arbeitsmarktpolitischen Instrumenten oder auf der Höhe bestimmter Lohnersatz- und Transferleistungen. Die herrschenden Organisations- und Legitimationsweisen sozialer Absicherung, darunter die strukturelle Erwerbszentriertheit staatlicher Leistungsformen, werden in ihren Grundfesten hingegen selten radikaler infrage gestellt. Wo dies – wie im Falle der Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen – passiert, tritt massiver Widerstand auf den Plan.

Die Grundsicherungsreform der Ampelregierung, mit der im Januar 2023 das Arbeitslosengeld II durch das Bürgergeld abgelöst wurde, ist ein Paradebeispiel für dieses Phänomen. Im Fokus der öffentlichen Kontroverse um das Bürgergeld standen von Beginn an vor allem die Lockerung von Sanktionen sowie die Aufweichung des Vermittlungsvorrangs in den ersten Monaten des Leistungsbezuges. So sieht das Bürgergeld gegenüber Hartz IV für diesen Zeitraum eine Umstellung vom Work-first- zum Train-first-Prinzip vor: Die nachhaltige Aktivierung von Erwerbslosen durch individuelles Coaching, Umschulungs- und Weiterbildungsangebote soll an die Stelle des Prinzips schnellstmöglicher Vermittlung in Arbeitsverhältnisse rücken. Letzteres hat sich in der Praxis häufig als wenig nachhaltig im Sinne der Förderung einer kontinuierlichen Integration in armutsfeste Erwerbsverhältnisse erwiesen. Durch die Einschränkung des Vermittlungsvorrangs stellt das Bürgergeld den mit Hartz IV aufgehobenen Berufs- und Qualifikationsschutz von Arbeitssuchenden zwar noch längst nicht wieder her, schafft aber ein Moratorium, in dem individuellen Interessen an längerfristigen, subjektiv sinnvolleren und nachhaltigen Erwerbsperspektiven mehr Rechnung getragen wird als im Hartz-IV-System.

Unlängst nach Bekanntwerden der Reformpläne wurde die geplante Lockerung von Sanktionen durch CDU/CSU, AfD und die Arbeitgeberverbände massiv attackiert. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger erklärte, das Bürgergeld sei vor dem Hintergrund des Personalmangels „eine arbeitsmarktpolitisch fatale Wegmarke“, mit der „keine Brücken ins Arbeitsleben, sondern in das Sozialtransfersystem geschlagen“ würden.Footnote 1 Zudem zeuge ein Verzicht auf Sanktionen nicht von „Fairness und Respekt gegenüber den arbeitenden Menschen in diesem Land“. Ähnlich fundamentale Kritik kam aus der CDU. Laut Generalsekretär Carsten Linnemann falle das Bürgergeld hinter das Leitbild von Fordern und Fördern zurück, wonach erwerbsfähige Leistungsbezieher:innen eine „Bringschuld“ hätten, die Arbeit, die ihnen „angeboten“ werde, anzunehmen.Footnote 2 Wie der Arbeitgeberpräsident konstruiert auch Linnemann einen Interessengegensatz von Bezieher:innen von Bürgergeld und Erwerbstätigen: „Ist es tatsächlich sozial, Menschen, die arbeiten könnten, mit Sozialleistungen auszuhalten, während andere Menschen täglich schuften müssen, um diese Leistungen überhaupt zu ermöglichen?“ (Linnemann 2023) Ähnliche Töne gegen eine Lockerung der Sanktionen schlug auch die Alternative für Deutschland (AfD) an; sie fordert für den Fall ausbleibender Erfolge bei der Erwerbsarbeitsvermittlung die obligatorische Übernahme einer „Bürgerarbeit“, um einen Anspruch auf fortgesetzte Leistungsgewährung geltend machen zu können.Footnote 3

Die Behauptung, das Bürgergeld kehre vom sozial- und arbeitsmarktpolitischen Leitbild des Forderns und Förderns ab, zielt jedoch an der Realität der Grundsicherungsreform völlig vorbei. So setzt das Bürgergeld die Erwerbszentriertheit von Hartz IV mit kleineren Anpassungen ungebrochen fort. Nicht-Erwerbsarbeit wird allenfalls als temporäre Phase und Ausnahmesituation betrachtet, im Kern geht es weiterhin um die (Wieder-)Eingliederung der erwerbsfähigen Leistungsempfänger:innen in den Arbeitsmarkt, d. h. um die Rekommodifizierung von Arbeitskraft. Das Bürgergeld weist also in seiner jetzigen Form keinen Ausweg aus der dominanten wohlfahrtkapitalistischen Moralökonomie, in der das Recht auf soziale Absicherung an arbeits- und leistungsethische Normen gekoppelt wird – statt als universelles soziales Freiheitsrecht gewährt zu werden, das jedem Individuum qua Menschsein zusteht (zum Unterschied von freiheits- und leistungsbezogener Normativität in wohlfahrtsstaatlicher Politik: Heider und Opielka 2010). Damit bleibt das Bürgergeld als soziale Mindestsicherungsform dem Verständnis einer Arbeitsgesellschaft verhaftet, für die, wie ich in diesem Beitrag argumentieren möchte, die sozio-ökonomischen Voraussetzungen immer weniger bestehen.

Ausgehend von diesen Beobachtungen und der im letzten Abschnitt formulierten These rekonstruiert der vorliegende Text zentrale Probleme der erwerbszentrierten Sozialpolitik im Kontext zeitgenössischer Transformationen von Ökonomie und Gesellschaft (Kap. 2). Mit dem Ziel einer systematischen Kritik wird in vier Schritten der herrschaftsförmige, ungleichheitsgenerierende, reduktionistische und polit-ökonomisch widersprüchliche Charakter der Lohnarbeitszentrierung dargelegt.

2 Probleme der Erwerbszentriertheit in der Sozialpolitik

Im Zuge des 20. Jahrhunderts ist Erwerbszentriertheit zur zweiten Natur wohlfahrtskapitalistischer Gesellschaften und ihrer Subjekte geworden. Vom Schulalter an wird die gesamte Lebensführung zentral auf Erwerbsarbeit ausgerichtet. Mit der Ablösung des androzentrischen Familienlohnmodells durch das, auf eine Erhöhung der Erwerbsarbeitsquote von Frauen abzielende, arbeitsmarktpolitische Leitbild des Adult Worker Modells wird Erwerbszentriertheit in den frühindustrialisierten Gesellschaften seit den 1980er Jahren normativ und sozialpolitisch auf alle erwerbsfähigen Individuen ausgedehnt (Leitner et al. 2004). Dass jemand arbeiten muss, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, gilt in diesen Gesellschaften heute als selbstverständlich und geradezu natürlich, wird also von der großen Mehrheit der Bevölkerung kaum als gesellschaftliche Konvention infrage gestellt (Weeks 2011, S. 3). Erwerbszentriertheit ist mit anderen Worten ein hegemonialer sozialer Integrations- und Teilhabemechanismus frühindustrialisierter Gegenwartsgesellschaften.

So alt wie die Erwerbszentriertheit ist allerdings auch die Kritik an ihr. Es lassen sich vier verschiedene Modi der Kritik unterscheiden, die jeweils unterschiedliche Probleme und Aporien erwerbsarbeitszentrierter Gesellschaften und ihrer sozialen Sicherungssysteme herausarbeiten: die herrschaftskritische, die ungleichheitssoziologische, die feministisch-antireduktionistische und die polit-ökonomische Kritikvariante.

2.1 Erwerbszentrierung produziert Zwang und Unfreiheit (herrschaftskritische Perspektive)

Herrschaftskritische Ansätze in der Tradition der kritischen Theorie von Karl Marx verstehen Lohnarbeit als eine der kapitalistischen Gesellschaft eigentümliche Form der Arbeit, die durch ein Verhältnis der Unfreiheit konstituiert wird. So unterliegt Erwerbsarbeit in kapitalistischen Gesellschaften nicht der freien Wahl, sondern sie manifestiert sich im Lebensalltag der Menschen als Erwerbszwang. Anders als in den Alltagsökonomien des globalen Südens, die vielerorts durch einen hohen Grad an Subsistenzwirtschaft und Informalität gekennzeichnet sind (was freilich andere Formen des Zwangs mit sich bringt), mündete die Scheidung der Menschen von den Mitteln zur Herstellung und Reproduktion ihrer Lebensgrundlagen im globalen Norden in eine allgemeine Abhängigkeit von formellen Lohnarbeitsverhältnissen (Marx 1972, S. 183). Die Menschen sind gezwungen, einen großen Teil ihrer Lebenszeit für die Erwirtschaftung eines Lohns aufzuwenden, um davon Miete zu zahlen, Lebensmittel zu kaufen, mobil zu sein, vorzusorgen usw..

Erwerbsarbeitsverhältnisse sind hierbei im Kapitalismus herrschaftsförmig organisiert: Mit dem Verkauf der eigenen Arbeitskraft willigen Subjekte vertraglich ein, sich für die festgesetzte Arbeitszeit der Direktion von anderen Personen oder Organisationen zu unterstellen. Insofern sie weisungsgebunden sind, müssen Erwerbsarbeitende die ihnen zugewiesenen Aufgaben (auf eine bestimmte Weise) erfüllen – unabhängig davon, ob ihnen das zusagt oder widerstrebt, und ob sie ihre Arbeit als freudvoll und sinnstiftend erleben, oder für gesellschaftlich nützlich erachten. Es handelt sich beim Lohnarbeitsverhältnis herrschaftskritisch gewendet also um eine „durch Zwang gestützte Macht von Menschen über Menschen“ (Mader 2022, S. 11). Der Zwang ergibt sich strukturell aus der eingeschränkten Mitsprache über die Rahmenbedingungen des Arbeitsverhältnisses und aus der eingeschränkten Verfügbarkeit von Alternativen im Sinne von Exit-Optionen, die es Erwerbsarbeitenden erlauben würden, das Arbeitsverhältnis zu verlassen (ebd., S. 27). Das Ausmaß von Mitsprache- und Exitoptionen – und damit die Grade von Freiheit und Unfreiheit – hängen wiederum von der Handlungsmacht der Erwerbsarbeitenden innerhalb der Organisation und auf dem Arbeitsmarkt ab. Diese Handlungsmacht ist in kapitalistischen Gesellschaften wesentlich durch die Klassenlage bestimmt, deren Wirkung durch weitere Differenzachsen (Geschlecht, Staatsbürgerschaftsstatus, Ethnizität/“race“, Alter, Gesundheit, Sexualität, Religion) verstärkt oder auch abgemildert werden kann.

Unter der Prämisse der Erwerbsabhängigkeit erfahren Individuen aber nicht nur im Verhältnis zum Markt, sondern auch zum Staat eine Einschränkung ihrer Autonomie und Handlungsmacht. Die Unfreiheit des Lohnarbeitsverhältnisses setzt sich in die freiheitseinschränkenden Maßnahmen fort, mit denen der Sozialstaat seine Leistungserbringung an die Erfüllung der Mitwirkungspflicht von als erwerbsfähig geltenden Subjekten knüpft, in den Arbeitsmarkt reintegriert zu werden (siehe Kap. 1). Erwerbszentriertheit in der Sozialpolitik stellt damit auch ein demokratietheoretisches Problem dar. Denn demokratietheoretisch hat der Wohlfahrtsstaat die Funktion, Menschen unabhängig von ihrem Status und ihrem Einkommen gesellschaftliche Teilhabe und politische Partizipation zu ermöglichen (Marshall 1992). Durch die Kodifizierung von erkämpften sozialen Grundrechten (u. a. auf Bildung und auf menschenwürdige Arbeitsverhältnisse) sollen Bürger:innen in die Lage versetzt werden, über wesentliche Fragen des Gemeinwesens mitzuentscheiden, einschließlich solcher Fragen, die die Gestaltung des Wohlfahrtsstaats betreffen (Laruffa 2022). Die Erwerbszentriertheit der sozialstaatlichen Leistungsformen untergräbt, wie im Fall der Implementierung des Erwerbszwangs in der Grundsicherung besonders deutlich wird, diese demokratische Funktion. Der Sozialstaat schränkt hier nicht nur die Autonomie von Bürger:innen ein, ein Arbeitsverhältnis frei zu wählen; er höhlt zudem aktiv das Recht auf Mitsprache und Mitentscheidung über die wesentlichen Rahmenbedingungen und Instrumente der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik aus.

Die Bürgergeldreform hat hier gegenüber dem Hartz-IV-System keine grundsätzlichen Änderungen mit sich gebracht; wie schon das ALG II ist das Bürgergeld – im Unterschied zu einer sozialrechtlich verbürgten Lohnersatzleistung oder einem bedingungslosen/-armen Grundeinkommen – keine garantierte lebensstandard- und teilhabesichernde Sozialversicherung oder Transferleistung. Vielmehr handelt es sich beim Bürgergeld weiterhin um eine durch das Paradigma der aktivierenden Sozialpolitik bestimmte (und in diesem Sinne arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitisch überformte) staatliche Fürsorge- und Lohnergänzungsleistung, die vorrangig der Eingliederung von Individuen in die unteren, niedrig entlohnten Arbeitsmarktsegmente dient (Opielka und Strengmann-Kuhn 2022, S. 96).

Insofern es keine „,Wahlfreiheit‘ zwischen Erwerbsarbeit und Leistungsbezug“ erlaubt (Butterwegge 2022, S. 395), beschneidet auch das Bürgergeld weiterhin strukturell die Autonomie von als erwerbsfähig geltenden Bürger:innen. Der Erwerbszwang ist hierbei, analog zur oben skizzierten Beziehung von erwerbsfähigen Individuen zum (Arbeits-)Markt, auch in Beziehung zum Sozialstaat klassenspezifisch ausgeprägt: Erwerbsfähige mit höherer formaler Qualifikation haben mehr Handlungsmacht, um beispielsweise unattraktive und nicht passförmige Jobvermittlungsangebote abzulehnen; und solche mit Vermögen und Kapital sind für ihre Existenzsicherung nicht auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen, sodass sie im Vergleich mit unvermögenden Gesellschaftsgruppen die Option haben, sich dem Machtverhältnis, welches Erwerbszwang aufrechterhält, zu entziehen.

2.2 Erwerbszentrierung re-/produziert soziale Ungleichheiten (ungleichheitssoziologische Perspektive)

Die ungleichheitssoziologische Kritikvariante problematisiert, dass Erwerbszentriertheit diejenigen benachteiligt, prekarisiert und von Teilhabe ausschließt, die nicht arbeiten können oder – z. B. wegen ausländer- und asylrechtlicher Bestimmungen – dürfen, und die keine oder nur schlecht bezahlte Arbeit finden. Es handele sich daher bei der Erwerbsarbeit um keinen gerechten Mechanismus der Einkommensverteilung in einer Gesellschaft. Das sozialdemokratisch geprägte populäre Verständnis des Wohlfahrtsstaats begreift Sozialpolitik als Korrektiv von Marktmechanismen, die ohne staatliche Interventionen aus den gesellschaftlichen Fugen gerieten (Polanyi 1978; Esping-Andersen 1985). Individuen sollen sozial vor den Lebensrisiken der Marktgesellschaft wie Einkommensverlusten bei Erwerbslosigkeit oder Erwerbsunfähigkeit abgesichert werden. Indem der Sozialstaat durch seine Leistungsformen die Marktabhängigkeit und damit den Erwerbszwang für Arbeitskräfte abmildere, betreibe er deren Dekommodifizierung. Der neoliberale Umbau des Wohlfahrtsstaates, der Mitte der 1970er einzusetzen begann, wird nach dieser Logik als Abkehr vom wohlfahrtsstaatlichen Expansionskurs betrachtet, weil er die Dekommodifizierung zurückbaut und verstärkt auf Rekommodifizierung setzt (Kürzung der Arbeitslosengeldbezugszeit, Ausbau negativer Sanktionen, Erhöhung des Renteneintrittsalters etc.). Wichtig für die in diesem Text diskutierte Problematik ist jedoch: Solange sozialpolitische Leistungen erwerbszentriert organisiert sind, haben sie nur einen stark eingeschränkt dekommodifizierenden Charakter und schreiben die Marktabhängigkeit von Individuen damit indirekt fort. Im Falle des deutschen Wohlfahrtsstaates trifft das bis auf sehr wenige Ausnahmen (z. B. Kindergeld) auf so gut wie alle Leistungsformen zu.

Ungleichheitssoziologische Kritiken zeigen vor diesem Hintergrund auf, wie durch die sozialpolitische Erwerbszentriertheit soziale Ungleichheiten reproduziert und neue hervorgebracht werden (Lessenich 2016, S. 6). So bemessen sich Transfers und Leistungsformen des sozialen Sicherungssystems in Deutschland in der Regel am Erwerbseinkommen bzw. dem (früheren) Status im Erwerbsleben. Arbeitslosengeld und Rente sind nach dem Prinzip der Beitragsäquivalenz gestaltet, womit höhere Beitragszahlungen auch zu höheren Leistungen führen. Auch neuere, als Lohnersatzzahlungen konzipierte, sozialstaatliche Leistungsformen wie das 2007 eingeführte Elterngeld orientieren sich an der Einkommenshöhe. Im Vergleich zum bis 2006 einkommensunabhängig ausgezahlten Erziehungsgeld sorgt die Implementierung eines erwerbszentrierten Verteilungsmechanismus für eine Umverteilung öffentlicher Ressourcen zugunsten der mittleren und höheren Einkommensklassen: Wer mehr verdient, erhält auch mehr Elterngeld. Besonders schlecht gestellt sind Eltern, die bei Geburt des Kindes Einkommensersatz- oder Sozialleistungen wie das Bürgergeld beziehen, da das Elterngeld als Einkommen auf den Regelbedarf angerechnet wird (zur Kritik am Elterngeld und der familienpolitischen Reproduktion sozialer Ungleichheiten vgl. Hajek 2020; Haller 2018; Henninger et al. 2008).

Das Elterngeld ist nicht die einzige Leistungsform, mit der sich in den letzten Jahren die Erwerbszentrierung in der Sozialpolitik sogar noch verschärft hat – und damit auch die sozialstaatlich betriebene Verfestigung sozialer Ungleichheiten. Auch die vergangenen Rentenreformen zeugen von einer verstärkten Erwerbszentriertheit, da Ansprüche auf die Alterssicherung in Phasen der Ausbildung und der Erwerbslosigkeit signifikant abgewertet wurden. Das Bürgergeld hat hier im Vergleich zum ALGII keine Verbesserung mit sich gebracht. Zwar wird die Bezugszeit wie schon beim ALGII auf die Wartezeit für Rentenansprüche angerechnet; da das Jobcenter keine Rentenbeiträge zahlt, erhöhen sich während der Erwerbslosigkeit jedoch nicht die Entgeltpunkte. Dass der Erwerb von Rentenversicherungsansprüchen durch die vergangenen Reformen noch stärker auf die formelle Erwerbsarbeitsphase reduziert wurde, ist aus ungleichheitssoziologischer Sicht brisant. So hat sich diese Phase im selben Zeitraum strukturell in einer Weise verändert, dass armutsfeste Renten für einen wachsenden Bevölkerungsanteil unerreichbar werden: Sie hat sich durchschnittlich verkürzt (u. a. durch längere Ausbildungszeiten und den Ausbau von Teilzeitbeschäftigung); und sie hat sich flexibilisiert und prekarisiert, wodurch Unterbrechungen und Brüche in der sozialversicherungspflichtigen Erwerbsphase zugenommen haben. Bereits in den letzten Jahren ist der Anteil von Rentner:innen, die zur Einkommenssicherung im Alter ihre Rentenbezüge mit Leistungen der Grundsicherung und/oder einem Grundrentenzuschuss aufstocken müssen, kontinuierlich gestiegen. Die seit der Rentenreform 2001 bis heute schrittweise betriebene massive Senkung des Standardrentenniveaus wird durch diese Instrumente jedoch nicht annähernd kompensiert, sodass die Altersarmutsgefährdung für Geringverdienerhaushalte, die über keine weiteren Einkommensquellen wie privat erworbene Ansprüche auf Vorsorge verfügen, nur unzureichend bekämpft wird (Leitner 2022).Footnote 4

Soziale Ungleichheiten, die aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und aus den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen resultieren, verlängern sich auf diese Weise in das Nacherwerbsleben bzw. in das soziale Sicherungssystem hinein. Das gilt auch für geschlechtsbasierte Ungleichheiten, insofern dass Frauen aufgrund des durchschnittlich geringeren Einkommens (Gender Pay Gap) und der mit der überproportionalen Übernahme von Sorgeverpflichtungen einhergehenden kürzeren (Lebens-)Erwerbsarbeitszeiten (Gender Care Gap) in der Arbeitslosigkeit oder im Rentenbezug (Gender Pension Gap) im Durchschnitt deutlich niedrigere Sozialversicherungsbezüge als Männern zustehen (Bergmann et al. 2019).

2.3 Erwerbszentrierung macht das ‚Ganze der Arbeit‘ unsichtbar (feministisch-antireduktionistische Perspektive)

Die im Rahmen der feministischen politischen Ökonomie entwickelte antireduktionistische Kritikperspektive lehnt das vorherrschende Verständnis von Arbeit ab, das diese auf Erwerbsarbeit reduziert. Denn viele Tätigkeiten nehmen gar nicht die Form von Erwerbsarbeit an, sind aber für Gesellschaft und Individuen unerlässliche, notwendige Aktivitäten für die Produktion und Reproduktion des materiellen Lebens. Die feministische Ökonomin Adelheid Biesecker (2000) spricht hier vom „Ganzen der Arbeit“, das neben der Erwerbsarbeit auch Versorgungs-, Gemeinwesen- und Eigenarbeit umfasst. Haus- und Sorgearbeit, soziales und politisches Engagement und Eigenarbeiten (z. B. Gärtnern, Handwerken, Selbstproduktion) haben jeweils einen Eigenwert für Individuen, Gesellschaft und Gemeinschaft. Erwerbszentrierte Logiken machen diesen Eigenwert unsichtbar oder degradieren ihn, indem nicht-erwerbsförmige Arbeit vorrangig in ihrem Verhältnis zur Erwerbsarbeit in den Blick gerät. Beispielsweise wird Sorgearbeit im Haushalt sozial- und arbeitspolitisch vor allem im Rahmen eines Vereinbarkeitskonflikts von (familiärem) Privatleben und Erwerbsarbeit thematisiert und politisch gestaltet.

Aus antireduktionistischer Perspektive reproduziert die erwerbszentrierte Sozial- und Arbeitspolitik den Ungerechtigkeits- und Ausbeutungscharakter des kapitalistischen Lohnsystems. Denn wenn zutrifft, dass Individuen und Gesellschaft die Grundlagen ihrer materiellen Lebensbedingungen nicht nur erwerbsförmig, sondern auf unterschiedliche Weise, innerhalb und außerhalb von formeller Erwerbsarbeit, produzieren, dann kann das Lohnsystem in dem Maße kein gerechtes System der Sozialleistungsbemessung sein, wie es auch schon kein gerechtes System der Einkommensverteilung ist. Es berücksichtigt vorrangig die bezahlte Arbeit zur Messung von Leistung und Wert. Das große Ausmaß an anderen Formen von lebendiger Arbeit, wie unbezahlte Sorgearbeit, gesellschaftliche Kooperationsformen, soziale Beziehungsarbeit oder freiwilliges Engagement, werden hingegen nicht berücksichtigt, oder – wie bei der Ehrenamtspauschale und der rentenrechtlichen Anerkennung von Erziehungszeiten – sozialpolitisch im Verhältnis zum Lohn abgewertet. Wie materialistisch-feministische Theoretikerinnen unterschiedlicher Provenienz seit den 1970er Jahren überzeugend dargelegt haben, werden jedoch auch diese nicht-lohnförmigen Arbeiten direkt oder indirekt innerhalb von kapitalistischen Akkumulationsprozessen verwertet, insofern sie die sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen reproduzieren, in die Ökonomien notwendig eingebettet sind (Vogel 2022).

Aus der anti-reduktionistischen Kritikperspektive stellt sich die Erwerbszentrierung als eine Strategie der Verschleierung dar. Feministische Kapitalismusanalysen erweitern hier eines der zentralen arbeits- und werttheoretischen Argumente von Marx: Der Lohn diene nicht nur dazu, die von den Lohnarbeitenden für die Produktion von Mehrwert aufgewendete Mehrarbeit zu verbergen, wie Marx sagt, sondern er verschleiere darüber hinaus den Beitrag nicht-entlohnter Arbeit zum kapitalistischen Verwertungsprozess (Weeks 2011, S. 122). Der Erwerbszentrismus stabilisiert ideologisch den Dualismus aus Lohn- und Nichtlohnarbeit, der in erster Linie den Interessen derjenigen nützt, die von der Nichtentlohnung bzw. generellen ökonomischen Abwertung eines Großteils der gesellschaftlichen Arbeit profitieren. Nur so kann diese Arbeit kostengünstig angeeignet bzw. in ihrer Funktion für die Reproduktion der kapitalistischen Ökonomie als verfügbare Ressource vorausgesetzt werden.Footnote 5

Die Kritik am Reduktionismus des Erwerbszentrismus mündet häufig in Forderungen nach einem „erweiterten“ (Biesecker 2000) bzw. „transversalen“ Arbeitsbegriff (Haubner und Pongratz 2021), der der Hybridität und wechselseitigen Abhängigkeit von verschiedenen Arbeitsformen in einer Ökonomie Rechnung trägt (für einen Überblick: Littig und Spitzer 2011). Analytisch und politisch hat eine solche Erweiterung des Arbeitsbegriffs viele Vorteile. Wenn sie (anders als es derzeit der Fall ist) in das Feld der Sozialpolitik eingeführt würde, so verspräche dies verschiedene normative Probleme der Erwerbszentriertheit zu lösen, indem auch unbezahlte Arbeit sozialpolitisch gewürdigt würde. Zugleich bestünde die Gefahr, dass Forderungen nach einer Aufwertung von nicht-lohnförmigen Tätigkeiten die produktivistische Arbeits- und Leistungsethik, welche dem Erwerbszentrismus der sozialen Sicherungssysteme zugrunde liegt, nicht nur nicht überwinden, sondern auf weitere Lebensbereiche auszuweiten helfen. So bliebe womöglich auch eine Sozialpolitik, die der Vielfalt und Interdependenz von verschiedenen Arbeitsformen Rechnung trägt, prinzipiell der Idee einer leistungsgekoppelten Legitimation von sozialen Rechten verhaftet. Ebenso vorstellbar ist jedoch, dass die Erweiterung des Arbeitsbegriffs ein Zwischenschritt darstellt, um die Arbeits- und Leistungszentriertheit in der Sozialpolitik ganz zu überwinden, d. h. einer Entkopplung von Einkommen und Arbeit entgegen zu arbeiten. Das Ganze der Arbeit sichtbar zu machen, zielt nämlich letztlich darauf ab, den gesellschaftlichen und kooperativen Charakter von Arbeit hervorzukehren. Dies legt überhaupt erst die Grundlage für eine Kritik der gesellschaftlichen Arbeitsteilung unter kapitalistischen Bedingungen, welche Arbeit zum Zweck der Aneignung von Mehrarbeit als individualisierte Leistung isoliert und messbar macht.

Ein allen Individuen zustehendes teilhabe- und existenzsicherndes Grundeinkommen, das als Sozialdividende ausgezahlt wird, würde das Ganze der Arbeit am angemessensten abbilden. Es könnte im Sinne eines Anteils am „gesellschaftlichen Lohn“ definiert werden, welcher der kollektiven Dimension von Arbeit entspräche, „die sich über die Gesamtheit der gesellschaftlichen Zeit erstreckt und einer gigantischen Menge von nicht anerkannter und nicht entlohnter Arbeit Raum gibt“ (Vercellone 2010, S. 102). Das Bürgergeld stellt in seiner jetzigen erwerbsarbeitszentrierten Form keinen Schritt in diese Richtung dar, es wären aber durchaus reformpolitische Szenarien denkbar, wie es in diese Richtung entwickelt bzw. in ein nicht an arbeits- und leistungsethische Normen gekoppeltes neuartiges soziales Sicherungssystem integriert werden könnte (Opielka und Strengmann-Kuhn 2022).

2.4 Erwerbszentrierung steht im Widerspruch zum Strukturwandel der Arbeit (polit-ökonomische Perspektive)

Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/8 hat die periodisch wiederkehrende Diskussion über eine Krise und möglicherweise gar ein Ende der Erwerbsarbeitsgesellschaft erneut Konjunktur. Damit ist nicht gemeint, dass sich kapitalistische Gesellschaften bereits auf dem Weg in eine postkapitalistische Zukunft befänden, in der Erwerbsarbeit der Vergangenheit angehören wird. Vielmehr werden im Diskurs der Posterwerbsgesellschaft verschiedene Entwicklungen und Krisendynamiken thematisiert, die das Festhalten an Erwerbsarbeit als zentralem Vergesellschaftungsmodus für soziale Sicherheit und Teilhabe als hochgradig widersprüchlich erscheinen lassen. Besonders relevant für polit-ökonomische Kritikperspektiven auf den Erwerbszentrismus ist vor diesem Hintergrund der Strukturwandel der Arbeit im Zeichen eines stagnierenden Wachstums der Weltwirtschaft.

Die fortschreitende Automatisierung von Produktionsabläufen macht bestimmte Arbeit zunehmend überflüssig. Warnungen vor technologiebedingter Erwerbslosigkeit sind in aktuellen Debatten über die Ausweitung von Robotik, Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz in der Arbeitswelt entsprechend omnipräsent. Für Deutschland etwa prognostiziert eine aktuelle OECD-Studie ein technologieinduziertes Wegfallen von fast jedem fünften Arbeitsplatz bis 2035.Footnote 6 Wie der Wirtschaftshistoriker Aaron Benanav (2021) unlängst aufgezeigt hat, verkennt der vorherrschende Automatisierungsdiskurs allerdings die eigentliche Ursache von Beschäftigungsabbau im digitalen Zeitalter: der unter anderem von Robert Brenner (2006) analysierte lange Konjunkturabschwung industrieller Produktion als Wachstumsmotor des globalen Kapitalismus. „Mit dem Wachstum der Wirtschaft verlangsamt sich auch das der Beschäftigung, und ebendies – nicht der technologische Wandel – hat die Nachfrage nach Arbeit weltweit gedämpft“ (Benanav 2021, S. 9). Die Automatisierung von Arbeit führt in bestimmten Branchen zwar tatsächlich zu einem starken Abbau an Arbeitsplätzen, insbesondere im verarbeitenden Gewerbe, im Verwaltungsbereich sowie in den überproportional feminisierten und rassifizierten Niedriglohnbranchen des Dienstleistungssektors (z. B. Callcenter und Supermärkte), die einen hohen Grad an routinisierter Arbeit aufweisen. Doch hat technologischer Fortschritt in der Geschichte des Kapitalismus schon immer zum Wegfall von Arbeitsplätzen und zum Verschwinden ganzer Berufszweige geführt. Die Besonderheit der gegenwärtigen weltwirtschaftlichen Lage ist jedoch durch die Simultaneität von zwei Entwicklungen charakterisiert, die sich von früheren Zyklen der kapitalistischen Produktionsweise unterscheiden: Während die wenigen wirtschaftlichen Wachstumsbranchen des Gegenwartskapitalismus aufgrund ihres Digitalisierungs- und Automatisierungsgrades nicht mit einer analogen Steigerung von Arbeitsplätzen einhergehen („jobless growth“), führt das global insgesamt sinkende Produktivitätswachstum der Industrie zu einer insgesamt sinkenden Nachfrage nach Arbeit, sodass der Beschäftigungsabbau an der einen Stelle nicht durch eine Ausweitung der Beschäftigung an anderer Stelle kompensiert wird. Dieser Trend wird sich aller Voraussicht nach weiter verstärken, zumal das globale Überangebot an Arbeitskräften auch Druck auf den Wert der Arbeit und damit die Löhne in den reichen frühindustrialisierten Ländern ausübt (ebd.). Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat jüngst aufgezeigt, dass der global zu verzeichnende Beschäftigungsrückgang im Zeichen der Konjunkturkrise den Zwang zur Annahme qualitativ schlechter Arbeitsplätze befördert (ILO 2023).Footnote 7

Einerseits hat der Kapitalismus durch seine Produktivkraftentwicklung also selbst die Voraussetzungen für eine Erosion der Erwerbsarbeitsnorm geschaffen. Andererseits mündet die technisch möglich gemachte Befreiung von (bestimmten Formen von) Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen nicht bereits in das gute Leben, sondern tendiert dazu, Menschen aufgrund ihrer Abhängigkeit von marktvermittelten Einkommensquellen ins Elend zu stoßen (Zelik 2020, S. 170). Wohlfahrtsstaaten, die wie in Deutschland an der strukturellen Erwerbszentrierung ihrer Leistungsformen festhalten, erweisen sich hier nicht nur als zahnlos, um steigender Armut und sozialer Polarisierung entgegenzuwirken, sondern sie reproduzieren und verstärken hierfür wie im Falle des Bürgergeldes noch die Bedingungen: Zum einen, weil Menschen, denen ihr Erwerbseinkommen nicht bzw. kaum zum Leben reicht, in Phasen der Erwerbslosigkeit, im Nacherwerbsleben und zunehmend auch zur Aufstockung niedriger Einkommen von Leistungen der sozialen Grundsicherung abhängen, welche nicht armutsfest gestaltet sind (Der Paritätische 2023). Zum anderen, weil die Möglichkeit von Sanktionen in der sozialen Grundsicherung dem Staat die Mittel an die Hand gibt, um Erwerbslose in genau die prekarisierten Niedriglohnsektoren des Arbeitsmarktes einzugliedern, die kein auskömmliches Erwerbseinkommen mehr erlauben.Footnote 8

3 Hürden für eine nicht-erwerbszenrierte Sozialpolitik: Das Bürgergeld als Symptom

In Kap. 2 wurden in mehreren Schritten die Widersprüchlichkeit und der Reduktionismus der Erwerbszentrierung in wohlfahrtskapitalistischen Gegenwartsgesellschaften aufgezeigt: Sie bildet ein festes Element der Verteilungs- und Sozialpolitik, kann dabei jedoch die dafür vorgesehene Rolle, soziale Absicherung und Teilhabe auf einem lebensstandardsichernden Niveau zu garantieren, für eine wachsende Anzahl von Menschen immer weniger erfüllen. Dass der Sozialstaat die gesellschaftliche Norm der Erwerbszentriertheit wesentlich produziert und aufrechterhält, muss im Zusammenhang mit der grundsätzlichen wechselseitigen Abhängigkeit von Politik und Ökonomie gesehen werden, die sich in den frühindustrialisierten kapitalistischen Gesellschaften historisch herausgebildet hat. So schafft der Staat erst die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Voraussetzungen, unter denen sich die kapitalistische Ökonomie reproduzieren kann (Offe 1984). Umgekehrt ist er in seiner historisch gewordenen Form abhängig von ökonomischem Wachstum und einem damit einhergehenden stabilen Arbeitsmarkt, da er öffentliche Leistungen und soziale Infrastrukturen aus Steuern, Umlagen und Abgaben finanziert. Er besorgt die Verwandlung von Individuen in Erwerbstätige – d. h. die Kommodifizierung von Arbeitskraft zum Zwecke ihrer marktförmigen Verwertung – daher immer simultan sowohl im Hinblick auf das Ziel einer verbesserten Akkumulation des Kapitals als auch im Interesse des Eigenerhalts (Lessenich 2016, S. 4).

Das historische Beispiel des sozialdemokratischen Staates demonstriert, dass Sozial- und Arbeitsmarktpolitik auch dort, wo sie der Reproduktion der kapitalistischen Ökonomie dienen, zeitgleich Räume für nicht-kapitalistische Logiken auszuweiten helfen können (hier: Stärkung von Arbeitsrechten; demokratische Regulierung von Unternehmens- und Investorenhandeln; kollektive Absicherung gegen die Lebensrisiken der Marktgesellschaft wie Einkommensverlusten bei Erwerbslosigkeit oder Erwerbsunfähigkeit) (Wright 2017, S. 16). Der Neoliberalismus hat sich erfolgreich gegen die Ausweitung dieser Räume gestemmt, indem er den Sozialstaat auf einen Kostenfaktor reduzierte, an dem Einsparungen vorzunehmen seien, um die nationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Heute stehen kapitalistische Gesellschaften mit den sozial-ökonomischen Folgen der Klimakrise und dem Übergang in eine postfossile Produktionsweise vor Herausforderungen, die selbst marktliberale Ökonom:innen und Politiker:innen nicht mehr daran zweifeln lassen, dass staatliche Interventionen, einschließlich Investitionen in öffentliche Infrastrukturen und Güter, notwendig ausgebaut werden müssen. Es handelt sich daher um ein historisches Gelegenheitsfenster für die Entwicklung und Durchsetzung neuer wohlfahrtsstaatlicher Institutionen, die auch Auswege aus der Erwerbszentrierung weisen können.

Die Nutzung der emanzipatorischen Potenziale dieses Zeitfensters wird aktuell, wie das Einleitungskapitel zu diesem Beitrag anhand der Bürgergelddebatte in Deutschland skizziert hat, jedoch durch einen Machtblock konterkariert, bei dem die bürgerliche Klasse eine Allianz mit zunehmend autoritär gestimmten Fraktionen aus Kleinbürgertum und abgestiegener Arbeiter:innenklasse bildet (Demirović 2018). Die Bildung dieses Machtblocks reagiert auf die oben dargelegte Wachstumskrise des Kapitalismus und auf die damit einhergehende Destabilisierung seiner Legitimationsgrundlagen in Zeiten sich verschärfender sozialer Polarisierungen. Auf der Ebene politischer Repräsentation wird das emphatische Festhalten am sozialpolitischen Erwerbszentrismus auf einen Kompromiss gestützt: Einerseits wird die allgemeine Wachstumsabhängigkeit des Sozialstaats weiter beteuert, die die Erhöhung von Sozialausgaben an Dynamiken des Marktes knüpft. Andererseits wird der Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Politik nicht per se abgelehnt, sondern folgt dem Paradigma eines „dualistischen Wohlfahrtstaates“, in dem kategorisch zwischen verdienten („deserving“) und unverdienten („undeserving“) Adressat:innen unterschieden wird (Chueri 2022).

In der europäischen Migrationspolitik ist dieser sozialpolitische Dualismus ohnehin fest etabliert, insofern Leistungsansprüche an Staatsbürgerschaft geknüpft werden. Er bestimmt aber die Debatten über die soziale Grundsicherung insgesamt, wie die Konflikte um die Sanktionsfrage beim Bürgergeld demonstrieren. Die wohlfahrtspopulistische Unterscheidung in Leistungsträger:innen und Fürsorgeabhängige – in diejenigen, die „schuften“, und jene, die „durch Sozialleistungen ausgehalten“ werden (Linnemann 2023) – vollzieht im Kern eine Spaltung der Adressat:innen von Sozialpolitik in zwei Gruppen. Wo die erste Gruppe der dauerhaft in den Arbeitsmarkt eingegliederten Arbeitskräfte einen repressionsfreien sozialen Protektionismus genießen sollen, wird die zweite Gruppe zur Zielscheibe einer autoritären Sozialpolitik erklärt (Chueri 2022). Angesichts eines sich in den reichen Industriegesellschaften weiter polarisierenden Arbeitsmarktes soll auf diese Weise die kontinuierliche Verfügbarkeit von Arbeitskräften auch in den prekären Niedriglohnsektoren sichergestellt werden.

Dieses dualistische Wohlfahrtsparadigma findet seinen Widerhall in Meinungsumfragen, nach denen drei Viertel der Bevölkerung in Deutschland (und über 90 % der CDU-Anhänger:innen) strengere Sanktionen beim Bürgergeld gutheißen.Footnote 9 Der Kompromiss aus partiellem Ausbau des Sozialstaats bei gleichzeitig verstärkter Hierarchisierung und Spaltung seiner Adressat:innen kann sich demnach auf eine breite Masse in der Bevölkerung stützen. Indem sie Ressentiments, Unzufriedenheiten und Entsolidarisierungsprozesse im Kleinbürgertum und der Arbeiter:innenklasse mobilisiert und für sich nutzt, findet die Politik des dualistischen Wohlfahrtsstaates auch bei solchen gesellschaftlichen Gruppen Rückhalt, die von der Fortsetzung des Erwerbszentrismus und von Einsparungen bei Leistungen der Grundsicherung weniger profitieren. Die bürgerliche Klasse ist wiederum Nutznießerin einer gesellschaftlichen Deutungsweise, die nicht strukturell verursachte Unsicherheiten und Ungleichheiten, sondern ‚die Anderen‘ als ursächlich für die Probleme des Sozialstaats identifiziert; Forderungen der gesellschaftlichen Linken nach umfassenden Umverteilungspolitiken können damit effektiv abgewiegelt werden.

Eine emanzipatorische Sozialpolitik, die – wie einst der sozialdemokratische Staat mit seiner Implementierung sozialistischer Elemente in den bürgerlichen Wohlfahrtskapitalismus – darum bemüht ist, innerhalb der gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Konstellation die Räume für nicht-kapitalistische Logiken auszuweiten, steht heute vor mehreren großen Fragen: Wie müssten neue wohlfahrtsstaatliche Institutionen aussehen, die a) Autonomie und Handlungsmacht der Lohnabhängigen angesichts des freiheitseinschränkenden Erwerbszwangs vergrößern; b) soziale Ungleichheiten als Begleiterscheinung kapitalistischer Produktions- und Eigentumsverhältnisse durch Umverteilungsmechanismen abbauen sowie die ungleichheitsverstärkenden Effekte der sozialpolitischen Erwerbszentrierung beheben; c) das ,Ganze der Arbeit‘ und damit das ,Ganze der Ökonomie‘ berücksichtigen; d) in Zeiten einer Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Arbeitsplatzgenerierung gangbare Alternativen zur erwerbszentrierten Ausgestaltung und Finanzierung sozialer Leistungen entwickeln. Und e): Wie und von wem lassen sich wohlfahrtsstaatliche Institutionen, die in diesem Sinne autonomiefördernder, egalitärer und gerechter ausgestaltet wären, innerhalb der skizzierten gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse durch- und umsetzen?

Diese großen Fragen müssen heute im Zusammenhang mit einer zentralen Erkenntnis beantwortet werden: Die ökonomischen, ökologischen und sozialen Voraussetzungen für eine Neuauflage des keynesianischen nationalen Wohlfahrtsstaates, der seinerzeit ein hohes Maß an sozialer und materieller Absicherung für wachsende Bevölkerungsmehrheiten erzielte, haben heute keinen Bestand mehr. Kapitalismusendogene und ökologische Grenzen des Wachstums machen zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Abkehr von wachstumsabhängigen Wohlfahrtsmodellen notwendig; die Grundzüge der keynesianischen Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, nämlich Wirtschaftswachstum und Arbeitsplatzschaffung an die Ankurbelung von Massenkonsum zu knüpfen, kann im Sinne der sozial-ökologischen Nachhaltigkeit nicht als zukunftsfähig gelten (zu einer kritischen Erörterung solcher Fragen: Opielka 2017).

Das zum 1. Januar 2023 eingeführte Bürgergeld stellt in all diesen Punkten keinen Schritt hin zu einer emanzipatorischeren, nachhaltigeren und zeitgemäßen Sozialpolitik dar. Hierfür wären grundlegendere Strukturänderungen am sozialen Sicherungssystem notwendig gewesen, die über die Erhöhung von Regelbedarfen, Freibeträgen und Zuverdienstgrenzen hinausreichen. Trotz gradueller Entlastungen, die solche Anpassungen und die sanktionsfreie „Vertrauenszeit“ für die Leistungsbezieher:innen zweifellos bewirken, so auch Christoph Butterwegge, bleibt durch die Bürgergeldreform „der materielle Kern von Hartz IV“ insgesamt unangetastet (Butterwegge 2022, S. 396). Das Bürgergeld löst insofern auch nicht die maßgeblichen Probleme, die mit Hartz IV für die Leistungsbezieher:innen verbunden waren: Es hält mit der Aufhebung des Berufs- und Qualifikationsschutzes und damit einhergehenden strikten Zumutbarkeitsregelungen mit Ausnahme der ersten Monate einen hohen Zwang aufrecht, qualitativ schlechte und ungewollte Jobs anzunehmen, und flankiert damit sozial- und arbeitsmarktpolitisch die Niedriglohnsegmente des Arbeitsmarkts; graduelle Anpassungen wie die verbesserten Zuverdienstmöglichkeiten könnten diesen Effekt sogar noch verstärken, „denn es fällt Unternehmern dadurch leichter als bei Hartz IV, Leistungsbezieher/innen im Rahmen eines Kombilohns für wenig Geld anzuheuern“ (ebd.). Das Bürgergeld schützt wie schon Hartz IV nicht effektiv vor (Alters-)Armut und reproduziert bzw. verfestigt eine polarisierte Sozialstruktur. Es macht mit seiner Erwerbszentriertheit zudem das Ganze der Arbeit unsichtbar bzw. wertet nicht-entlohnte Tätigkeiten, wie im Falle der vollständigen Anrechnung des Elterngeldes, sogar nachdrücklich gegenüber (den zum Teil anrechnungsfrei bleibenden) Erwerbseinkommen ab.

Alles in allem wurde mit der Bürgergeldreform also die Chance vertan, die Weichen für eine nicht nur armutsvorbeugende, sondern insgesamt gerechtere und nachhaltigere soziale Existenzsicherung zu legen, die die Freiheitsräume von Individuen würdigt und ihre Autonomie gegenüber den aus den kapitalistischen Produktionsverhältnissen resultierenden Markt- und Verwertungszwängen stärkt und ausweitet. Letzteres müsste jedoch die Voraussetzung für einen Sozialstaat sein, der dafür sorgt, dass die zeitgenössischen Krisen kapitalistischer Akkumulations- und Arbeitsverhältnisse nicht auf Kosten derjenigen gesellschaftlichen Klassen und Gruppen bearbeitet werden, die ohnehin zu den Prekärsten und Vulnerabelsten zählen.