1 Zukunftslabor und Bürgergeld

Der Begriff „Bürgergeld“ wurde erstmals vom Kronberger Kreis um die liberalen Ökonomen Wolfram Engels und Joachim Mitschke in den 1970er Jahren als Synonym für die Umsetzung eines Grundeinkommens als „Negative Einkommensteuer“ verwendet. Das zu Beginn des Jahres 2023 in Kraft getretene Bürgergeld-Gesetz, eine Reform der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II), hat allerdings weder mit Grundeinkommen noch mit Negativer Einkommensteuer viel zu tun. Wir gehen der Frage nach, wie es dazu kam und ob in der Zukunft möglicherweise doch noch eine Entwicklung in Richtung Grundeinkommen zu erwarten sein könnte. Außerdem werfen wir einen Blick auf den Prozess von den Parteiprogrammen der „Ampel“-Koalition über den Koalitionsvertrag bis zum Gesetz, da er Hinweise für weitere Reformschritte gibt.Footnote 1

Wie ist diese Reform systematisch einzuordnen? Handelt es sich dabei um ein „Grundeinkommen light“ oder nur um eine bessere Sozialhilfe? Welche Perspektiven für die Zukunft des Sozialstaats bildet diese Reform und welche Fragen bleiben kurzfristig noch offen? Welche weiteren Anpassungen sollte es im Zuge der Reform geben? Wie könnte oder sollte der Weg nach dem Bürgergeld-Gesetz aussehen?

Wir wollen diesen Fragen vor dem Hintergrund einer seit Jahrzehnten geführten wissenschaftlichen und politischen Diskussion um die Zukunft des Sozialstaats (Strengmann-Kuhn 2005; Opielka 2008) nachgehen und dabei auf veröffentlichte Befunde aus einem für diese Diskussion einschlägigen Projekt der Zukunftsforschung Bezug nehmen, auf das von der sogenannten Jamaika-Koalition in Kiel mit dem Koalitionsvertrag in 2017 initiierte „Zukunftslabor Schleswig–Holstein“, dessen Ergebnisse ursprünglich im Frühjahr 2021 vorgelegt werden sollten.Footnote 2 Das Projekt sollte in einem wissenschaftlich angeleiteten öffentlichen Diskurs eine Vision für die Zukunft und Nachhaltigkeit der sozialen Sicherung entwickeln und dabei vor allem auch die Rolle eines Grundeinkommens bzw. Bürgergeldes prüfen: Durch eine Bestandsanalyse bestehender sozialer Sicherungssysteme vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und der fortschreitenden Digitalisierung sowie einer Prognose zu den Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme, durch die Darstellung verschiedener alternativer Modelle sowie der Entwicklungsmöglichkeit bestehender sozialer Sicherungssysteme und durch die Aufbereitung und Auswertung der Erfahrungen auf Bundes- und EU-Ebene (Opielka 2019).

Im Kontext des Zukunftslabors wurde ein differenziertes Modell aus vier Reformszenarien entwickelt, die durch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zu den Auswirkungen auf die Fiskal- und Arbeitsmarktpolitik simuliert werden sollten (Opielka und Peter 2020). Alle vier Reformszenarien beinhalten ein mehr oder weniger weitreichendes Grundeinkommen sowie damit systematisch korrespondierende Reformideen zur Finanzierung der Kranken- und Pflegeversicherung: 1) Bürgergeld 2) Grundeinkommen 3) Sozialversicherung (mit Grundsicherung oder Garantiesicherung) 4) Bürgerversicherung (siehe Abb. 1, detailliert Hutflesz und Opielka 2020, S. 63 ff.).Footnote 3 Im Folgenden werden wir uns auf die vier Szenarien zur Reform der Einkommenssicherung konzentrieren, die Reformoptionen für die Kranken- und Pflegeversicherung können hier nur kurz berührt werden.

Abb. 1
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(Quelle: Überarbeitet nach Opielka und Strengmann-Kuhn 2022, S. 96 (mit weiteren Nachweisen))

Abbildung: Vier Reformszenarien zur Zukunft des Sozialstaats.

Die vier Reformszenarien lassen sich mit den aus der politischen Soziologie bekannten vier Typen des Wohlfahrtsregimes in Verbindung bringen, die erstmals von Gøsta Esping-Andersen formuliert wurden: liberal, sozialdemokratisch (sozialistisch) und konservativ. Diese drei Typen wurden später durch einen vierten, garantistischen Typ ergänzt (Opielka 2008, 2017, 2024).

Das „Bürgergeld“ (Szenario 1) im Sinne der „Negativen Einkommensteuer“ passt in seiner Reinform zu einem liberalen Wohlfahrtsstaat. Es wurde in Deutschland vor allem innerhalb von FDP und CDU diskutiert. Das Konzept der „Negativen Einkommensteuer“ hat der liberale Ökonom Milton Friedman bekannt gemacht. Es bedeutet, dass Personen mit geringen Einkommen vom Finanzamt eine Auszahlung erhalten, um das Existenzminimum abzusichern. Sie zahlen also quasi eine „negative“ Steuer. Die negative Einkommensteuer verringert sich mit steigendem Einkommen bis zu einem sogenannten Break-Even-Point, ab dem die Zahlung einer „positiven“ Einkommensteuer beginnt. Dadurch erhalten Menschen mit geringen Einkommen auch über dem Existenzminimum noch eine „negative Einkommensteuer“. Durch einen solchen integrierten Steuer-Transfer-Tarif versprechen sich Ökonom:innen einen fließenden Übergang in den Arbeitsmarkt.

Das „Grundeinkommen“ (Szenario 2) im Sinne einer „Sozialdividende“ entspricht finanztechnisch der „Negativen Einkommensteuer“, nur, dass hier das Existenzminimum als allgemeine „Dividende“ auf den Volkswohlstand vorab an alle Bezugsberechtigten geht. Zusätzliche Einkommen werden dann versteuert. Je nach Modell kann das Grundeinkommen auch selbst versteuert werden, Eine Sozialdividende ist also ein „Grundeinkommen“ im eigentlichen Sinn, nämlich eine Zahlung an alle Bürger:innen. Ideengeschichtlich entspricht ein solches „Grundeinkommen“ einer sozialistischen Reformprogrammatik (dazu und generell zur Geschichte des Grundeinkommens Opielka und Vobruba 1986).

Reformideen in Richtung eines Grundeinkommens, die die an Berufsgruppen orientierte „Sozialversicherung“ (Szenario 3) fortschreiben, legen vor allem Wert darauf, dass das komplexe Nebeneinander von Sozialversicherungen für die meisten Arbeitnehmer:innen und privilegierten Systemen der Beamten- und der berufsständischen Versorgung nicht aufgeweicht wird. In diesem Szenario möchte man als Reformidee die eher diskriminierende „Sozialhilfe“ (bisher auch „Hartz4“) durch modernere, weniger diskriminierende Formen einer „Grundsicherung“ oder „Garantiesicherung“ ersetzen, die aber an der Bedarfsorientierung der Sozialhilfe festhalten. Konservativ ist dieses Szenario, weil es an der berufsständischen Architektur der Sozialpolitik mit einer Grundsicherung nur im Bedarfsfall festhält. Zusätzlich ist das Modell heute einem eher konservativen Familienmodell verhaftet. Dieses Modell entspricht dem nun realisierten „Bürgergeld“, ein erstaunlicher Begriffswandel (siehe unten).

Das vierte Reformmodell „Bürgerversicherung“ (Szenario 4) würde die Grundeinkommenssicherung innerhalb einer Bürgerversicherung sicherstellen, beispielsweise in Form einer „Grundeinkommensversicherung“, die alle Bürgerinnen und Bürger erfasst, sodass kein Gegensatz zwischen Einkommensteuern und Sozialabgaben entsteht, allenfalls der, dass man Abgaben zur Bürgerversicherung nicht durch Abzüge mindern kann. Ein solches Modell würde man aufgrund seiner bürgerrechtlichen Orientierung als „garantistisch“ bezeichnen.

Es fällt auf, dass der Begriff „Bürgergeld“ im Szenariomodell des Zukunftslabors anders verwendet wird als im Koalitionsvertrag der Ampel und im Bürgergeld-Gesetz. Dahinter steht ein bemerkenswerter, historisch interessanter semantischer Wandel. Aufbauend auf den eingangs erwähnten Überlegungen des Kronberger Kreises wurde in der deutschen Diskussion der Begriff Bürgergeld so verstanden wie im Szenariomodell 1, beispielsweise mit der „Kommission Bürgergeld/Negative Einkommensteuer KoBüNE“ der FDP, die 2004–5 von Andreas Pinkwart geleitet wurde (KoBüNE und Pinkwart 2005). Stärker beachtet wurde das Grundeinkommens-Modell „Solidarisches Bürgergeld“ des damaligen Thüringer Ministerpräsidenten Dieter Althaus, das Mitte der 2000er Jahre vorgestellt, auf seine Finanzierbarkeit berechnet wurde (Opielka und Strengmann-Kuhn 2007) und ebenso zu einer Kommission bei einem Parteivorstand führte, diesmal der CDU. Überraschend nutzte die damalige SPD-Parteivorsitzende Andrea Nahles den bislang liberal-konservativ verorteten Begriff „Bürgergeld“ im Jahr 2019 für eine parteiprogrammatische Revision der von Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem damaligen Chef des Bundeskanzleramtes, Frank-Walter Steinmeier, in den Jahren 2003–4 initiierten „Agenda 2010“ mit der folgenreichen Reform „Hartz IV“. Das SPD-Bürgergeld hatte aber mit Grundeinkommen oder Negativer Einkommensteuer nichts zu tun.

Noch vor der SPD haben Bündnis 90/Die Grünen das Ziel einer Überwindung von „Hartz IV“ propagiert. Vor dem Hintergrund der jahrzehntelangen Diskussion der Grünen zum Grundeinkommen (Opielka und Strengmann-Kuhn 2021) versuchte der damalige Parteivorsitzende Robert Habeck im Jahr 2018 die Kontroverse um das Grundeinkommen mit dem Vorschlag einer „Garantiesicherung“ zu befrieden (Habeck 2018).Footnote 4 Dieser Vorschlag wurde anschließend von der grünen Bundestagsfraktion (Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen 2020) konkretisiert, weiterentwickelt und schließlich von der Partei ins Wahlprogramm übernommen. Die Garantiesicherung ist dabei kein Grundeinkommen, sondern hat wie der Nahles/SPD-Vorschlag „Bürgergeld“ das Ziel, innerhalb der strukturell zunächst unveränderten, korporatistisch gegliederten und insoweit konservativen deutschen Sozialstaatsarchitektur inkrementalistisch, step-by-step, die bedarfsorientierten Fürsorgeleistungen des Typus Sozialhilfe bürgerrechtlich zu modernisieren, gehört also nach der obigen Systematik in die Kategorie „Sozialversicherung (mit Grundsicherung)“ (Szenario 3). Die FDP suchte über ihre Friedrich-Naumann-Stiftung mit einem ifo-Gutachten 2019 ein Update ihrer Bürgergeld-Konzeption, weg von der Negativsteuer hin zu einer Grundsicherung (Blömer und Peichl 2019). Dass die drei Ampel-Parteien SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen zur Überraschung der politischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit in den Koalitionsverhandlungen im Herbst 2021 ein „Bürgergeld“ lancierten, erscheint daher durchaus naheliegend, obwohl es sich nicht um ein Bürgergeld im Sinne einer Negativen Einkommensteuer handelt. Sowohl bei FDP wie Grünen ist aber in den Partei- bzw. Wahlprogrammen vorgesehen, das Bürgergeld bzw. die Garantiesicherung schrittweise in das Steuersystem zu integrieren. In ihrem Grundsatzprogramm postulieren Bündnis 90/Die Grünen sogar, sich „an der Leitidee eines Bedingungslosen Grundeinkommens“ zu orientieren (Bündnis 90/Die Grünen 2020, S. 89).

2 Das Bürgergeld der Ampel und der Weg vom Koalitionsvertrag zum Gesetz

Da zwei Parteien der Regierungskoalition ihre Reformvorschläge Bürgergeld nannten, setzte sich dieser Begriff im Koalitionsvertrag durch, es flossen aber Vorstellungen aller drei Konzepte in die Vereinbarungen zum Bürgergeld ein. So sah der Koalitionsvertrag der sogenannten „Ampel“ vor, dass es (auf Wunsch der Grünen) ein Sanktionsmoratorium gab, die Anrechnung des Zuverdienstes (auf Wunsch der Liberalen) reduziert und (auf Wunsch der SPD) auf die Überprüfung von Vermögen sowie Angemessenheit der Wohnung in den ersten zwei Jahren verzichtet wird. Hervorheben lässt sich zudem, dass zwar auf Sanktionen nicht grundsätzlich verzichtet, aber der Vermittlungsvorrang abgeschafft werden soll. Kompetenzen und Entwicklungsbedarfe der Erwerbsfähigen sollen besser ermittelt und Weiterbildung wie Qualifizierung verbessert sowie durch ein Weiterbildungsgeld auch finanziell unterstützt werden. Die Jobcenter sollen mehr Gestaltungsspielraum bekommen. Darin wird das Bemühen deutlich, bei erwerbsfähigen Grundsicherungsempfänger:innen die Arbeitsförderung in nachhaltige und bessere Jobs zu stärken. Damit würden sich die Bedingungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) an wesentlichen Stellen ändern.

Im verabschiedeten Bürgergeld-Gesetz tauchen allerdings nicht alle der im Koalitionsvertrag verabredeten Punkte auf, andere wurden insbesondere durch den Vermittlungsausschuss zwischen Bundesrat und Bundestag auf Druck der CDU/CSU abgeschwächt. So dauerte beispielsweise das Sanktionsmoratorium nicht wie vorgesehen 12, sondern nur 6 Monate und die Karenzzeit, in der es eine abgeschwächte Prüfung des Vermögens und der Wohnungskosten gibt, wurde von 2 Jahren auf 1 Jahr verkürzt (siehe dazu den Beitrag von Börner und Kahnert in diesem Band). Zentrale Kernelemente wie die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs und eine bessere Förderung von Weiterbildung, die Ersetzung der Eingliederungsvereinbarung durch einen Kooperationsplan, erste Schritte für eine bessere Grenzbelastung durch eine abgeschwächte Einkommensprüfung sowie die Entfristung des „sozialen Arbeitsmarkts“ (§ 16i SGB II) blieben erhalten. Darüber hinaus plant die Regierungskoalition ein zweites Reformgesetz, in dem weitere Punkte des Koalitionsvertrags umgesetzt werden sollen. Dabei geht es insbesondere um die Weiterentwicklung des Sozialen Arbeitsmarkts sowie weiterer Arbeitsmarktmaßnahmen, eine Rahmenregelung zur Angemessenheit der Kosten der Unterkunft und weitere Verbesserungen bezüglich der Grenzbelastung.

Das „Bürgergeld“ der Ampel gehört also in das dem konservativen Wohlfahrtsstaats-Regime entsprechende Szenario „Sozialversicherung (mit Grundsicherung)“ in der oben dargestellten Systematik. Für den weiteren Prozess sehen wir einerseits Notwendigkeiten innerhalb des Rahmens einer Grundsicherung. Es gibt aber nach unserem Dafürhalten auch das Potenzial für Weiterentwicklungen in Richtung der anderen Typen einer Grundeinkommenssicherung. Dabei sind die angesprochenen Entwicklungsmöglichkeiten nicht als Alternativen zu betrachten, vielmehr könnten sie sich auch gegenseitig ergänzen.

3 Weiterentwicklung des Bürgergelds als Grundsicherung

Für die systemimmanente, „konservative“ Weiterentwicklung des Bürgergelds als Grundsicherung haben Bundesregierung und Bundestag im Bürgergeld-Gesetz eine „Evaluationsklausel“ integriert (Bähr et al. 2023, S. 6). Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit wurde mit der Evaluation beauftragt, deren Ergebnisse bis Ende 2025 vorliegen sollen. Es wird für das Evaluationsteam nicht einfach sein, angesichts der enorm widersprüchlichen Interessen im sozialpolitischen Feld diese interne Evaluation wissenschaftlich zu positionieren. Insoweit hilft der historisch-analytische Blick auf die Entwicklung der Grundsicherung zumindest seit der Einführung der sogenannten „Hartz 4“-Regelung im SGB II zwischen 2003 und 2022, der einen erheblichen institutionellen Wandel zeigt, wobei zentrale Strukturmerkmale erhalten blieben (siehe Börner und Kahnert in diesem Band). Wir werden daher die Möglichkeiten der Weiterentwicklung des Bürgergelds in diesem Spannungsverhältnis betrachten.

3.1 Niveaufrage

Alle relevanten sozialpolitischen Akteure fordern seit Jahren eine wirksame und strukturell abgesicherte Anhebung des Grundsicherungsniveaus der Regelsätze, um die Verfestigung materieller Armut zu verhindern. Hier ist nicht der Raum, um die vielfältigen Implikationen dieser Diskussion zu würdigen, vom Bemessungsmodus (Statistikmodell vs. Warenkorb) über die Bezugseinheit (Haushalt, Individuum), dem Verhältnis zu anderen Minima (Pfändungsfreigrenze, Steuerfreibetrag), der Einbettung in andere Transferleistungen (Wohngeld, Kostenfreiheit öffentlicher Dienstleistungen und so weiter) bis hin zur nachhaltigkeitspolitischen Frage, was und wieviel „der Mensch“ eigentlich braucht (Brune und Strengmann-Kuhn 2024). Irene Becker hat ein durchaus plausibles Modell entwickelt, das zu einem 46 % höheren Regelsatz führt (Becker 2022). Auch die Selbstverortung von Menschen im früheren Grundsicherungs- und jetzigen Bürgergeld-Bezug als arm oder nicht-arm ist keineswegs eindeutig (Jacobs 2023) und muss sozialpolitisch beachtet werden. Der Koalitionsvertrag hält sich in Sachen Niveau zurück. Lediglich für Kinder ist eine Anhebung der Leistungen vorgesehen. Wir gehen davon aus, dass die Niveaufrage erst in der nächsten Legislaturperiode seriös behandelt werden kann.Footnote 5 Möglicherweise erleichtern die mit dem „Bürgergeld“ verbundenen Strukturreformen auch eine großzügigere Antwort auf die Niveaufrage.

Kurzfristig wirkte sich die seit dem Ukraine-Überfall durch Russland überinflationäre Verteuerung der Energiekosten, vor allem der fossilen Energien, gerade in den untersten und erheblich von Transferleistungen lebenden Einkommensgruppen dramatisch aus. Auch die überinflationäre Steigerung der (Kalt-)Mieten und Immobilienpreise führt vor allem in Ballungsräumen zu einer Strapazierung sozialstaatlicher Instrumente wie Wohngeld oder Wohnungsbauförderung für Schwellenhaushalte. Einmalzahlungen halfen den Betroffenen über erste Notlagen, reichten aber häufig schon von der Höhe nicht aus, den Kaufkraftverlust auszugleichen. Deswegen braucht es systematische Lösungen, zumal mittelfristig durch die wünschenswerte Internalisierung ökologischer Kosten mit weiteren Preissteigerungen zu rechnen ist, die Menschen mit geringen Einkommen stark belasten. Ohne sozialpolitische Flankierung könnte die Beschleunigung der Klimapolitik das Abkoppeln armutsnaher Haushalte von der Wohlstandsentwicklung gravierend zuspitzen und damit zur Delegitimierung der Klimapolitik wesentlich beitragen („Gelbwesten“) (ausführlich: Opielka 2023, 2024). Das geplante Klimageld im Koalitionsvertrag kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten, eine Konkretisierung steht allerdings aus und sollte nicht auf die lange Bank geschoben werden. Ein als jährliche (oder monatliche) Pro-Kopf-Pauschale an alle Bürger:nnen ausgezahltes Klimageld bzw. Energiegeld als Bestandteil eines in Richtung Grundeinkommen erweiterten Bürgergeldes könnte dabei auf Erfahrungen der Schweiz zurückgreifen. Dort wird es über die Krankenversicherung ausgezahlt.Footnote 6 Solange es in Deutschland keine Bürgerversicherung gibt, ist das aber nicht eins zu eins übertragbar. Eine Alternative wäre eine Auszahlung über die Finanzämter, wenn das Bürgergeld in das Steuersystem integriert würde. Ein um ein Klimageld ergänztes Bürgergeld dürfte die Akzeptanz sowohl für den Klimaschutz wie für ein Grundeinkommen steigern.

Sozialpolitiksystematisch enthält die Niveaufrage nach der Höhe des Bürgergelds vier Dimensionen: (1) zum einen den Regelsatz, um den es in den Fach- wie öffentlichen Diskussionen in der Regel geht. Der Regelsatz einer Grundsicherung soll einerseits das Existenzminimum abdecken, zugleich aber auch die Teilhabe an der Gesellschaft sicherstellen. In Deutschland kommt seit 1989 das sogenannte Statistikmodell zum Einsatz, bei dem das Minimum über die realen Ausgaben armutsnaher Haushalte bestimmt wird. Auf Grundlage der Daten aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) werden bei den Alleinstehenden (Einpersonenhaushalten) die unteren (ärmsten) 15 %, bei den Paaren mit Kind (Familienhaushalte) die unteren 20 % für die Referenzgruppenbildung herangezogen, sofern sie nicht ausschließlich von existenzsichernden Leistungen nach SGB II, SGB XII oder dem Asylbewerberleistungsgesetz leben. Das soll Zirkelschlüsse vermeiden. Der Regelsatz wird also als relative, nicht als normative Armutsgrenze bestimmt. Statt 15 bzw. 20 % könnte auch ein höherer Wert herangezogen werden, was den Anteil der Bürgergeldberechtigten ausweiten würde. Darüber hinaus gibt es systematische Kritikpunkte an der Berechnung, durch die der Regelsatz und damit die Zahl der Berechtigten erhöht würden. So werden Zirkelschlüsse nicht vollständig vermieden, weil derzeit diejenigen, die Anspruch auf Leistungen hätten, aber keine beziehen (verdeckt Arme), in der Referenzgruppe verbleiben. Vor allem wird der Regelsatz politisch im Gegensatz zum unmittelbaren Ergebnis des Statistikmodells kleingerechnet, weil im Nachhinein etliche Ausgabeposten wieder gestrichen werden, was eigentlich mit der Systematik des Statistikmodells nicht vereinbar ist. (2) Zum zweiten geht es um die Wohnkosten, also in der Regel Miete und Nebenkosten. Offensichtlich können auch für eine Bestimmung von Wohnminimum bzw. -teilhabe nicht beliebig Wohnkosten übernommen werden, entsprechend komplex sind die sozialrechtlichen Regelungen der Angemessenheit des Wohnraums. (3) Drittens beinhaltet das Bürgergeld einen Anspruch auf Kranken- und Pflegeversicherung. Die von der Bundesagentur für Arbeit an die Gesetzlichen Krankenkassen gezahlten Beträge werden nicht transparent gemacht, wir gehen derzeit von etwa 110 EUR monatlich pro Erwachsenem aus, wobei die tatsächlichen Kosten bei über 310 Euro liegen.Footnote 7 Würden die Zahlungen aufgrund von Kostensteigerungen angehoben, würde entsprechend das Niveau des Bürgergeldes steigen, auch wenn diese Beiträge den meisten an der Diskussion Beteiligten nicht präsent sind. (4) Schließlich gehören viertens auch zahlreiche Vergünstigungen für Bürgergeldberechtigte bei öffentlichen Dienstleistungsgebern zur faktischen Höhe des Bürgergelds: vergünstigter ÖPNV, günstigere oder gar freie Eintritte in Museen oder Bädern, reduzierte oder entfallende Beiträge für öffentliche Musik- und Kunstschulen, aber auch für Kindertagesstätten, freie Schulen und so weiter. Die Komplexität dieser vier Dimensionen beeinflusst im Übrigen auch die sogenannte „Armutsfalle“, also den Übergang zwischen Bürgergeldbezug und Erwerbsarbeit.

3.2 Sanktionen

In der Diskussion um einen Umbau der Sozialpolitik in Richtung „Aktivierung“ und „workfare“ standen in den letzten Jahrzehnten die sogenannten Sanktionen in den Grundsicherungssystemen im Zentrum (siehe Börner und Kahnert sowie insbesondere Beetz und von Harbou in diesem Band). Die Ampelkoalition hat sich darauf geeinigt die Sanktionen zu modifizieren. So wurden aus obrigkeitsstaatlichen „Sanktionen“ demokratiekompatible „Leistungsminderungen“ (§ 31 f., SGB II), was auch der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts entspricht, das in seinem Urteil vom 05.11.2019 (1 BvL 7/16) unterstreicht, dass es bei Leistungsminderungen nicht um Repression gehen darf, sondern um ein Mittel die Bedürftigkeit zu überwinden. Weil dies bei Kürzungen über 30 % nicht nachgewiesen werden könne, seien diese verfassungswidrig. Geringere Kürzungen können hingegen mit dem Grundgesetz vereinbar sein, wenn sie diesem Zweck dienen. Der Gesetzgeber könne aber auch auf Sanktionen ganz verzichten. Im Bürgergeld sind nun Minderungsstufen von 10 bis 30 % vorgesehen. Die im Gesetzentwurf vorgesehene „Vertrauenszeit“ und weitere Regelungen aus dem Geist der Großzügigkeit ließen sich im Bundesrat und Vermittlungsausschuss gegen CDU und CSU nicht durchsetzen, die in Sanktionen noch immer ein probates Mittel der Verhaltenssteuerung der Armutspopulation und Warnhinweise an den Rest der Bevölkerung erkennen wollen.

Diese sozialpolitische Kontroverse soll durch die Evaluation der gelockerten Sanktionen im Bürgergeld-Gesetz wissenschaftlich gelöst werden. Das Sanktionsregime sollte vor allem das Verhältnis von Fallmanagement und Bürgergeld-Beziehenden in Richtung „Augenhöhe“ entwickeln: „Hierzu wurde die bisherige Eingliederungsvereinbarung durch den sogenannten Kooperationsplan abgelöst und die Möglichkeit von Leistungsminderungen entschärft.“ (Bähr et al. 2023, S. 6).

Durch diese Entschärfung wird die faktische Bedeutung der Leistungsminderungen zusätzlich verringert. Dahinter steht eine grundsätzliche, teils emotionale, Auseinandersetzung über das Wesen einer Mindestsicherung. So steckt in einem Grundeinkommen die Idee der Garantie des Existenzminimums als Bürgerrecht, unabhängig von einer Gegenleistung. Auf der anderen Seite waren Aktivierung und Workfare nie nur eine funktionale Politik zur praktischen Problemlösung der Arbeitsmarktintegration, sondern stets zentrales Element eines neokonservativen Werteprogramms, das in den letzten Jahren durch das Aufkommen des Rechtspopulismus eine noch breitere Resonanzbasis fand. Es geht dabei um die Unterscheidung „würdiger“ von „unwürdiger“ Armut. Die Kategorie der „Unwürdigen“ wird schon immer von Alleinerziehenden („welfare mothers“) und von People of Colour bevölkert, die entweder aus rassistischen oder ethnischen Gründen als Gegenbild der herrschenden, meist weißen und männlichen Normalität verstanden werden. Von daher wird auch eine wissenschaftlich gut begründete Evaluation reduzierter bis minimierter Sanktionen immer mit einem Hintergrundrauschen kulturellen Unbehagens rechnen müssen.

Für die immanente Weiterentwicklung des Bürgergeldes bedeuten diese Gesichtspunkte zur Sanktionspraxis, dass sie einerseits inkrementalistisch in Richtung Grundeinkommen läuft und zugleich von zentralen Akteuren das Gegenteil beteuert wird. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde das Thema Sanktionen den politikkulturellen Kämpfen entzogen, wenn Sanktionen – oder „Leistungsminderungen“ – alle Bürgerinnen und Bürger gleichbehandeln, also nicht gezielt auf Arme und Armutsnahe fokussieren, wenn also die Sozialpolitik universalistischer ausgerichtet würde. „Universalistisch“ können im Übrigen alle vier diskutierten Reformszenarien sein, sowohl das liberale, das sozialistisch/sozialdemokratische, selbst konservative – das Universalismus meist über die Ausweitung von Leistungen für Familien und Alte adressiert – und das garantistische.

An dieser Stelle soll ein komplexes Hemmnis für eine Entwicklung in Richtung Universalismus betrachtet werden, nämlich das Thema „Bedarfsorientierung“, dessen Hintergrundnormativ „Bedarfsgerechtigkeit“ die Diskussion um Workfare und Aktivierung prägt. Nur die „wirklich Bedürftigen“ sollen durch die Sozialpolitik gefördert werden. Der Selektionsmechanismus für Bedürftigkeit sind Sanktionen, denn mit Sanktionen wird Bedürftigkeit als Problem der Schwächeren erst sichtbar, ganz im Unterschied zum Bedürftigkeitsdiskurs beispielsweise in der Krankenversicherung, wo Bedürftigkeit, nämlich Krankheit, nicht mit Sanktionen verbunden wird. In einer kleinen Studie des „Zentrum für neue Sozialpolitik“ wurde das Problem gut adressiert: 66 % der Befragten plädierten allgemein für Bedürftigkeitsprüfungen. Wird jedoch durch die Politik die „Bedarfsgerechtigkeit“ sichergestellt, im Wesentlichen eine progressive Umverteilungswirkung, schrumpft der Anteil der Prüfungsfreunde auf 26 % (Rüppel et al. 2023). Das entspricht durchaus dem deutschen steuerpolitischen Normativ, nach wirtschaftlicher „Leistungsfähigkeit“ zu besteuern, also nicht einfach eine flat tax für alle. Dem bisweilen vorgestellten Dualismus zwischen einer am Bedarfsprinzip orientierten Sozialpolitik und einer am Leistungsprinzip orientierten Steuerpolitik wurde aber verschiedentlich widersprochen, einerseits durch die Sozialversicherungen, die beiden Prinzipien folgen, anderseits, in dem die Grenzen zwischen Sozialpolitik und Steuerpolitik gerade in jüngerer Zeit systematisch perforiert werden (Grundrentenzuschlag, Kindergrundsicherung). Das mit der Digitalisierung einhergehende „Once-only-Prinzip“, dass nämlich Daten nur einmal erhoben werden sollen, unterstützt diese Verschränkung von Sozial- und Steuerpolitik. Damit sind wir wieder beim Universalismus.

Der armutspolitisch grundierte und damit schon historisch diskriminierend, nämlich ausschließend, exkludierend verstandene Begriff der Sanktionen würde, so die Annahme, in einem universalistischen System seinen punitiven, bestrafenden Charakter verlieren. Einfacher formuliert: Straßenverkehrsordnung und Steuerrecht gelten für alle Bürgerinnen und Bürger gleich. Je mehr das Bürgergeld das Feld der Armutspolitik verlässt und zur allgemeinen Bürgerpolitik wird, umso weniger können politisch restriktive Kräfte hier skandalisierend wirken. Das heißt nicht, dass die Anspruchsberechtigten einer Grundeinkommensleistung im rechtsfreien Raum handeln. Sie haben nur einen Anspruch wie alle anderen, kein Almosen, kein Armen-Sonderrecht. Praktisch ist dies heute im Kindergeld realisiert, einer universellen Sozialleistung. Dies bedeutet auch: „Sanktionsfreiheit“ im emphatischen, bürgerrechtlichen Sinn ist letztlich nur in einem universalistischen Sozialsystem möglich.

Abschließend soll zum Thema Sanktionen der Bogen noch einmal weit gespannt werden. Unter der Signatur „Targeting versus Universalism“, also der Spannung zwischen Zielgerichtetheit und Universalismus, findet seit langem auch in der internationalen Sozialpolitikforschung eine intensive Diskussion statt, die durch den Report der Weltbank Revisiting Targeting in Social Assistance (Grosh et al. 2022) aktualisiert wurde. Die Zeitschrift Global Social Policy hat darauf diesem Spannungsverhältnis ein lesenswertes Schwerpunktheft gewidmet (Cook et al. 2022). Neben der armuts- und disziplinierungspolitischen Dimension beinhaltet eine zielgerichtete, „bedarfsorientierte“ Sozialpolitik durchaus bürgerrechtlich unproblematische bis begrüßenswerte Dimensionen, wie wir dies am Beispiel der Gesundheitsdienste und generell der sozialen Dienstleistungen bereits ansprachen Nicht jede und jeder braucht aus Gleichheitsgründen eine Blinddarmentfernung. Es existieren auch bei Geldleistungen besondere Bedarfe, beispielsweise bei Wohnkosten oder bei Beeinträchtigungen (Behinderungen). „Targeting“ kann und muss daher mit Universalismus verknüpft werden. Die Spannung lässt sich auflösen, wenn im Sozialsystem nicht anders sanktioniert wird wie im Steuersystem, Strafen oder Leistungsminderungen also keinen punitiven, diskriminierenden Charakter tragen, sondern Regeln sind, die für alle Bürger:innen gelten.

3.3 Mehr Universalismus wagen – Bürgergeld für alle Bürgerinnen und Bürger

In Deutschland gibt es nicht eine Grundsicherung für alle, sondern sie ist nach unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen aufgeteilt. Das hat sich durch das Bürgergeld nicht geändert. Dass es nicht für alle gedacht ist, zeigt schon der Titel des Sozialgesetzbuchs (SGB) Zweites Buch (II) in der Fassung vom 16.12.2022, nämlich „Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende“. „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ ist dabei eigentlich nicht zutreffend, denn das Bürgergeld ist für Menschen, die erwerbsfähig und im erwerbsfähigen Alter sind. Dazu zählen insbesondere auch fast eine Million Erwerbstätige, sowie Menschen, die aktuell nicht arbeitsuchend sind, weil sie zum Beispiel kleine Kinder erziehen oder sich in Weiterbildungsmaßnahmen befinden. Damit ersetzt das Bürgergeld bisher nur das bisherige „Arbeitslosengeld II“, im Volksmund „Hartz 4“ genannt. Es ersetzt nicht die Sozialhilfe und die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung des SGB XII, es ist auch kein „Teilhabegeld“ für Menschen mit Beeinträchtigung, wie es mit dem Bundesteilhabegesetz so dringend gefordert wurde. Es gilt nicht für Asylbewerber:innen, sie sind noch keine Bürger:innen Deutschlands, sie wollen es vielfach noch werden. EU-Bürger:innen erhalten es, wenn sie erwerbstätig sind, aber nicht, wenn sie zur Arbeitsuche nach Deutschland gekommen sind. Es gilt auch nicht für Studierende, denn sie sind nicht „arbeitsuchend“. Für sie gibt es Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG), wobei der Ausschluss auch dann gilt, wenn sie gar keinen Anspruch auf BAföG-Leistungen (mehr) haben. Zu einem wirklichen Bürgergeld ist der Weg also noch weit.

Um das Politikpotenzial des Bürgergeldes in Richtung Universalismus auszuloten, wollen wir ein wenig ausholen und die Rolle des Bürgerstatus in der deutschen Sozialpolitik betrachten. Die deutsche sozialpolitische Tradition ist am Bürgerstatus eigentlich nicht interessiert, wenn man in die meisten Standardwerke der Sozialpolitikforschung blickt.Footnote 8 Deutsche Tradition ist dort der Bismarcksche Sozialstaat, der Arbeitnehmersozialstaat, der sich an der abhängigen Erwerbsarbeit orientiert und die Arbeitnehmer:innen entlang von Lebensrisiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Unfällen, Pflegebedürftigkeit und Alter absichert.

Die so oft beschworene deutsche Tradition des lohnarbeitszentrierten Sozialstaats mit seinem „Normalarbeitsverhältnis“ – Vollzeit, lebenslang, männlich – basierte auf der Privatisierung der sogenannten Reproduktion und der überwiegend weiblichen unbezahlten Sorgearbeit. Dabei unterschieden sich allerdings Ost und West, die DDR und die BRD, nicht unerheblich. Das Normalarbeitsverhältnis wurde in der DDR zumindest bis in die 1970er Jahre zunehmend auch eines der Frauen.Footnote 9 Das änderte sich schon vor der Deutschen Einheit und weiter bis heute in eine partielle Re-Patriarchalisierung der Arbeit, trotz Kita-Anspruch und Ausbau von Ganztagsschulen. Osten und Westen konvergieren, ob das den „wirklichen“ Bedarfen der Beteiligten entspricht oder nur einem patriarchalen Skript, ist nicht leicht zu entscheiden. Frauen übernehmen jedenfalls überwiegend die Familienarbeit und arbeiten dann überwiegend, in 2020 zu 65,5 %, in Teilzeit, erwerbstätige Väter nur zu 7,1 %.Footnote 10 „Normal“ ist wieder der Mann, die Sozialpolitik orientiert sich an ihm, wie die Diskussion um die Rente mit 63 zeigt, die mehrheitlich von Männern in Anspruch genommen wird,Footnote 11 der Ausgleich der Sorgearbeit durch Elterngeld, Kindererziehungszeit und Pflegezeit wiederum zahlt weit überwiegend bei Frauen ein (Blank und Blum 2017). Eine erste These wäre also, dass durch einen Blickwechsel vom Arbeitnehmer zum Bürger, von der Arbeitnehmerin zur Bürgerin mehr Geschlechtergleichheit entsteht.

Der lohnarbeitszentrierte Sozialstaat, der Verzicht auf eine universalistische, am Bürgerstatus orientierte Sozialpolitik, barg aber stets noch weitere Risiken des Ausschlusses, der Exklusion. Denn auch Menschen mit Behinderung bzw. Beeinträchtigung oder chronischer Krankheit, Menschen mit Migrationsgeschichte, Menschen in Rentennähe und Rentner:innen überhaupt, aber auch kleine Selbständige, Langzeiterwerbslose und generell Personen am Rande des Arbeitsmarktes sind von Ungleichheit und Armutsrisiken betroffen. Die zweite These wäre also, dass eine Sozialpolitik, die sich am Bürgerstatus orientiert, insgesamt zu mehr Gleichheit und Inklusion beiträgt.

Das politische Problem des Universalismus ist allerdings, dass es der Partikularismus politisch einfacher hat, denn Gruppeninteressen lassen sich kollektiv bündeln und lobbyistisch vertreten. Allgemeininteressen haben es erstaunlicherweise schwerer. Zwar reklamieren Populisten schon immer, die Interessen „des Volkes“ zu vertreten, doch in der Regel trägt populistische Politik schon deshalb wenig zu Universalismus und Gemeinwohl bei, weil sich Populisten stets „gegen“ irgendetwas erheben und dazu Normative wie Klasse oder Rasse nutzen, die zwangsläufig bestimmte Gruppen ausschließen („Klassenfeinde“, rassisch oder ethnisch „Minderwertige“ usf.). Wie schwer es Gemeinwohl und Universalismus haben, zeigt sich dramatisch am Problem von Klimakrise und Nachhaltigkeit. Es betrifft alle und wird doch politisch und denunziatorisch immer wieder als grüner Lobbyismus partikularisiert. Nachhaltigkeit und Sozialpolitik müssen folglich unbedingt zusammengeführt werden (Schoyen et al. 2022; Opielka 2023). Wir wollen uns hier auf das Thema Bürgergeld begrenzen und das Thema Universalismus als Problem von Inklusion und Stakeholdergruppen reflektieren.

Sozialpolitik soll, folgen wir Talcott Parsons und Niklas Luhmann, vor allem zur Inklusion beitragen. Die selektive, exkludierende, partikularistische und allgemein gouvernementale Orientierung und Funktion des Wohlfahrtsstaates ist vielfach analysiert und kritisiert worden. Dagegen setzten zahlreiche Sozialpolitikforschende, hervorzuheben sind Thomas H. Marshall oder Gøsta Esping-Andersen, die inklusive, inkludierende, universalistische und dekommodifizierende Orientierung und Wirkung des Wohlfahrtsstaates (Opielka 2008). In diesem rhetorischen Dualismus scheint eine Problemstellung auf, die als Zeichen über der Weiterentwicklung des Bürgergeldes steht: Inwieweit würde der Bürgerstatus als zentrales Zugangsprinzip sozialstaatlicher Ansprüche sowohl normativ wie institutionell Kategorisierungsprozesse überwinden? Wird das Bürgergeld hierfür hilfreich sein, gerade für am Arbeitsmarkt eher benachteiligte Gruppen?

Es lohnt sich dabei, drei Stakeholdergruppen des Bürgergeldes zu unterscheiden. Die erste Gruppe sind die Klient:innen, neuliberal gerne „Kunden“ genannt. Ihnen soll das Bürgergeld dienen, ihr Armutsrisiko minimieren, ihre Teilhabe sichern. Allerdings zeigt sich, wenn man genauer hinschaut, dass das Bürgergeld weder für alle Bürgerinnen und Bürger gedacht ist, noch, dass es selbst diejenigen regelmäßig erreicht, für die es gedacht ist.

Selbst diejenigen, die als Erwerbsfähige oder Angehörige einen Anspruch auf Bürgergeld haben, beziehen es in vielen Fällen nicht. Die Zahl der Leistungsempfänger:innen beträgt in 2023 etwa 5,6 Mio. Die Nichtinanspruchnahmequote ist erheblich, wenn auch noch recht dunkel. Für eine Anhörung des Bundestags zur Bürgergeldreform im November 2022 macht sich das ifo-Institut, eigentlich ein Hort der Neoklassik, sportlich die dramatischen Quoten zu eigen: „Mikrosimulationsstudien zufolge nimmt rund die Hälfte der Leistungsberechtigten die (verschiedenen) Grundsicherungsleistungen nicht in Anspruch.“Footnote 12 Einfach hochgerechnet, hätten damit mehr als 11 Mio. Menschen in Deutschland einen Anspruch auf Bürgergeld. So viele werden es wohl nicht sein, zumal ein Gutteil nur geringe Ansprüche besitzen dürfte und die Nicht-Beantragung einem ökonomischen Kalkül sparsamer Zeitverwendung folgt.Footnote 13 Die vorliegenden qualitativen Studien, beispielsweise von Mareike Sielaff und Felix Wilke (siehe ihr Beitrag in diesem Band), machen nachdenklich.Footnote 14

Damit kommt die zweite Stakeholdergruppe ins Spiel, die Mitarbeitenden im Feld der Sozialen Arbeit. Das Bürgergeld sollte, so die Absicht im Koalitionsvertrag der Ampel, die es auf den Weg brachte, unbürokratisch und digital beantragt werden können. Aber so einfach ist das nicht, wie erste Studien zeigen, vor allem die Studie von Petra Kaps und Frank Oschmiansky am Beispiel der Bundesagentur für Arbeit (Kaps und Oschmiansky 2023; siehe auch Funke und Christ in diesem Band). Vielen potenziellen Leistungsempfänger:innen fehlt die digitale Kompetenz, die „digital literacy“, auch darum sind sie nicht selten prekär am Arbeitsmarkt. Bedauerlicherweise halten sich gerade in der Sozialen Arbeit die Vorbehalte gegen Digitalisierung besonders kräftig. Wie aber sollen hilflose Helfer helfen? Auch die sozialrechtliche und administrative Beratungskompetenz in Bezug auf die Inanspruchnahme des Bürgergelds verdient Verbesserung. Insoweit ist bemerkenswert, dass ein über viele Jahre nur im subkulturellen Feld zirkulierender Beratungsführer zur Inanspruchnahme von „Hartz 4“ mit der Reform zum Bürgergeld in seiner 32. Auflage nun im etablierten Nomos-Verlag vorliegt (Thomé 2023).

Schließlich die dritte Stakeholdergruppe, die Politik im weiteren Sinn. Kommunalpolitik, Länder, Bund, Europa, dabei die Parlamente wie die Exekutive, die sozialpolitischen Verbände wie Gewerkschaften und Arbeitgeber, die Parteien und ihre Stiftungen, die Soziale Arbeit als Lobbyfeld, die Armutsbetroffenen und ihre Lobbyisten, die Wohlfahrtsverbände, die Sozialpolitikwissenschaft in ihren zahlreichen Disziplinen, die großen Anstalten wie Bundesagentur für Arbeit, Krankenkassen, Pflegekassen, Rentenversicherungen, Sozialgerichte bis zum Bundessozialgericht, hunderttausende von Menschen in abertausenden von Institutionen machen das Feld der Sozialpolitik aus und damit den Rahmen des Bürgergeldes. Die einen bremsen die Abkehr vom lohnarbeitszentrierten Sozialstaat, die anderen begrüßen sie und sehen im Bürgergeld einen schmalen Vorboten des Grundeinkommens. Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts, machte sich in einem wegweisenden Aufsatz in der führenden deutschen juristischen Zeitschrift Gedanken über eine „Zeitenwende auch im Sozialstaat“, in deren Zentrum die Universalisierung der Sozialen Sicherung steht, also Bürgerversicherungen für das Alter und Steuerfinanzierung für Gesundheit und Pflege (Schlegel 2023). Wir stehen mit unseren Überlegungen zur Weiterentwicklung in Richtung Universalisierung des Sozialstaats und des Bürgergelds also nicht allein auf weiter Flur.

4 Weiterentwicklungen in Richtung Grundeinkommen

Im abschließenden Teil unseres Beitrags beschäftigen wir uns mit gezielten Weiterentwicklungen des Bürgergelds in Richtung Grundeinkommen. Auch sie bewegen sich nicht im luftleeren Raum. Im weiter oben bereits vorgestellten „Zukunftslabor Schleswig–Holstein“ ging es genau um die Frage, ob und wie die soziale Sicherung in Richtung Grundeinkommen und Universalisierung entwickelt werden kann und soll (Opielka und Peter 2020; Opielka 2023, S. 141 ff.).

4.1 Anrechnung von Erwerbseinkommen

Die Ampelkoalition erhofft sich durch niedrigere Anrechnungsraten für Erwerbseinkommen mit der Bürgergeld-Reform eine Reduzierung der sogenannten „Armutsfalle“ und eine Dynamisierung der Arbeitsmärkte. Sie hat das Ziel, dass Erwerbsarbeit auch im unteren Einkommenssegment nicht prohibitiv belastet werden soll. Die Bundesregierung hat zu dieser Frage einen Forschungsauftrag vergeben, um Vorschläge zur Reduzierung der Grenzbelastung auch im Zusammenspiel mit anderen Sozialleistungen vorzulegen, die als Grundlage des zweiten Bürgergeld-Gesetzes dienen sollen. Das Ergebnis liegt inzwischen vor (Peichl et al. 2023). Eine deutliche Erhöhung der Leistungen sowie die Senkung der Transferentzugsraten würden die Zahl der Berechtigten deutlich erhöhen und je nach Variante hohe fiskalische Kosten auslösen. Außerdem gibt es unterschiedliche Effekte für das Arbeitsangebot: Einerseits ergeben sich durch die geringere Grenzbelastung gerade für bisher Erwerbslose oder geringfügig Beschäftigte positive Arbeitsangebotseffekte, andererseits kann die Leistungsausweitung negative Arbeitsanreize auslösen, die wiederum durch die Mindestlohnerhöhung und generell steigende Löhne zumindest abgeschwächt werden könnten. Neben den fiskalischen Wirkungen und den komplexen Arbeitsangebotswirkungen sollte aber auch berücksichtigt werden, dass durch eine Verringerung der Transferentzugsraten zunehmend Erwerbstätige Anspruch auf Bürgergeld erhalten würden. Eine Abwicklung über die Jobcenter erscheint für diese Gruppe nicht angebracht. Außerdem zahlt diese Gruppe in der Regel Einkommensteuern. Die Konsequenz könnte eine stärkere Integration von Steuer- und Transfersystem sein, also eine Entwicklung in Richtung Negative Einkommensteuer und damit dem „Bürgergeld“ in der Zukunftslabor-Systematik. Das ist nicht unmöglich und wurde in vielen Varianten vorgedacht (Blömer und Peichl 2018; Buhlmann et al. 2020). Je mehr das Bürgergeld den Charakter eines universellen Grundeinkommens erhält, umso eher wird diese Entwicklung von Zweifeln an dessen Wohlfahrtseffekten begleitet werden. So simulieren Diego Daruich und Raquel Fernández bei einem großzügigen Grundeinkommen eine deutliche Reduzierung des Arbeitsangebots und in der Folge negative Kapitalmarkteffekte sowie geringere elterliche Investitionen in ihre Kinder (Dariuch und Fernández 2023). Diese Befürchtungen wollte das erwähnte Zukunftslabor durch kluge sozialpolitische Ausgestaltungen entkräften. Am Bürgergeld wird sich einiges davon schon jetzt studieren lassen.

4.2 Grundrente und Bürgerversicherung

Würde das Ampel-Bürgergeld in Richtung Bürgerversicherung, beispielsweise in Form einer „Grundeinkommensversicherung“ (Opielka 2008) entwickelt, kämen die großen programmatischen Linien von SPD und Bündnis 90/Die Grünen stärker zur Geltung. Die sogenannte „Grundrente“ der letzten Großen Koalition, faktisch ein „Grundrentenzuschlag“Footnote 15, hat die Grundsicherung für Rentner:innen der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) für lange gesetzlich Versicherte zunehmend, allerdings nicht vollständig ersetzt. Nicht oder nicht ausreichend lang Versicherte sind aber auch weiterhin auf Grundsicherung im Alter angewiesen. Insoweit sollte auch bei der Bürgergeld-Reform der Blick auf die Statik der Alterssicherungssysteme gelegt werden, sowohl in Bezug auf die Grundsicherung im SGB XII als auch die Weiterentwicklung der GRV zu einer Bürgerversicherung, die idealerweise allen Versicherten eine Grundrente garantiert. Für das Ziel Bürgerversicherung spricht empirisch, dass in den letzten Jahrzehnten und durch die Corona-Pandemie erneut beschleunigt der Anteil der Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt an die Sozialversicherung gewaltig stieg (Schlegel 2023).Footnote 16 Die enormen Steuerleistungen an die Sozialversicherungen zeigen: Sie wandeln sich zunehmend in Bürgerversicherungen, doch sie halten am Mythos der Erwerbsbezogenheit fest. Eine Bürgergeld-Reform, die auch die Finanzierung und Konstruktion der Sozialversicherungen mit in den Blick nimmt, könnte mit solchen Mythen und damit Illusionen aufräumen.

4.3 Von der Kindergrundsicherung zu einem partiellen Grundeinkommen (auch) für Erwachsene

Die Einführung einer Kindergrundsicherung gehört zu weiteren Schwerpunkten des Ampel-Koalitionsvertrages. Sie hängt für alle Haushalte mit Kindern mit der Bürgergeld-Reform zusammen. Wir sehen eine Brücke in Richtung Grundeinkommen über den sogenannten „Garantiebetrag“, der laut Koalitionsvertrag „perspektivisch so hoch“ liegen soll, wie die maximale Steuerersparnis durch die Kinderfreibeträge, also derzeit (2023) 354 EUR.Footnote 17 Das erinnert an die geltende Regelung zum Kindergeld als Vorauszahlung auf die Steuerersparnis durch den Kinderfreibetrag: faktisch ist das Kindergeld dadurch in das Einkommensteuersystem als partielles Grundeinkommen für Kinder integriert, es umfasst je nach Alter heute zwischen 58 und 76 % des Regelsatzes für Kinder. Dieser Betrag soll perspektivisch beim „Garantiebetrag“ der Kindergrundsicherung deutlich höher sein. Außerdem soll dieser „Garantiebetrag“ für volljährige Kinder, anders als das heutige Kindergeld, direkt an diese und nicht mehr an die Eltern ausgezahlt werden, hätte also für diese Personengruppe, bei der es sich insbesondere um Studierende handelt, den Charakter eines partiellen Grundeinkommens. Dieses im Koalitionsvertrag verankerte perspektivische Ziel würde bedeuten, dass die Kinderfreibeträge durch den Garantiebetrag ersetzt werden. Eine solche Lösung ist auch für Nicht-mehr-Kinder denkbar. Alexander Spermann schlug mit dem „Basisgeld“ ein partielles Grundeinkommen in Höhe des Regelsatzes vor, das in ähnlicher Weise den Grundfreibetrag in der Einkommensteuer ersetzt (Spermann 2019). Der Steuertarif könne dann so angepasst werden, dass sich für die meisten Steuerzahlenden am verfügbaren Nettoeinkommen nichts verändern würde, es würden aber im Vorhinein alle ein Basisgeld erhalten. Die Kindergrundsicherung könnte die sozialpolitische Entwicklung in der Zukunftslabor-Systematik damit in Richtung „Grundeinkommen“ führen.

Diese Überlegungen werden in einem neuen ifo-Gutachten zur Umwandlung von Freibeträgen in Steuergutschriften mit Verteilungsrechnungen unterlegt (Blömer et al. 2024). Das Gutachten stellt Steuergutschriften ausdrücklich in die inkrementalistische Linie Richtung Grundeinkommen: Umverteilung zugunsten von niedrigen Einkommen, aber bei Aufkommensneutralität notwendigerweise höhere Grundsteuersätze, was wiederum Erwerbsanreize reduziert und Zusatzlasten der Besteuerung erhöht. Dieser Trade-off ist unvermeidlich.

Das hoch komplexe Thema „Kindergrundsicherung“ birgt für die Weiterentwicklung des Bürgergeldes in Richtung Grundeinkommen auch über den „Garantiebetrag“ und die Idee eines Teil-Grundeinkommens hinaus zahlreiche Implikationen. Wir wollen abschließend zwei herausgreifen. Zunächst wollen wir auf die armutspolitische Bedeutung schauen oder, positiver formuliert, auch im Sinne des ersten Ziels der Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen: „Keine Armut“. Das eint auf den ersten Blick das Bürgergeld, die Kindergrundsicherung und die Forderungen nach einem Grundeinkommen. Wir haben weiter oben das Problem der Höhe des Bürgergeldes unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet. Die Diskussion um die Kindergrundsicherung zeigt, wie schwierig hier sozialpolitische Lösungen zu finden sind. In der Armutsforschung, die wesentlich die sogenannten Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung prägt, wird fast durchweg das soziokulturelle Existenzminimum mit der 60 %-Grenze des verfügbaren Medianeinkommens ineinsgesetzt. Dies sei, so heißt es in einer Stellungnahme von Armutsforschenden zur Kindergrundsicherung in der „etablierten Sozialberichterstattung“ Konsens, wenn man weniger hat, „dann lebt man in Armut“. Allenfalls sei die Schwelle „eher höher anzusetzen“ (Arbeitskreis Armutsforschung 2023, S. 2). Die Bertelsmann Stiftung wiederum nimmt in einem ebenfalls sehr engagierten Policy Brief immerhin zur Kenntnis, es gebe neben dem genannten Konzept der „Einkommensarmutsgefährdung“ noch eine „sozialstaatliche Armutsdefinition“, nämlich das jetzt im Bürgergeld definierte soziokulturelle Existenzminimum (Funcke und Menne 2023, S. 5), das je nach Bedarfsgemeinschaft um etwa 15 bis 20 % unter der ersten Armutsgrenze liegt.

Die Pointe ist nun, dass beides nicht zu reichen scheint. So heißt es bei den Armutsforschenden: „Sinnvoll ist (…) die Ausrichtung an dem Ziel eines ‚guten Aufwachsens‘ und damit der Orientierung an der gesellschaftlichen Mitte“ (Arbeitskreis Armutsforschung 2023, S. 7). Die Bertelsmann Stiftung sieht die „Neubestimmung der kindlichen Existenzsicherung“ ebenso: „Diese muss sich an einer gesellschaftlichen Mitte orientieren – denn Kinder können sich nicht selbst aus Armut befreien und haben ein Recht auf gutes Aufwachsen und Teilhabe“ (Funcke und Menne 2023, S. 10). Fiskalische Kosten „von 20 bis 37 Mrd. Euro“ erscheinen realistisch, aber auch „gut investiert“ (ebd., S. 8).Footnote 18 Eine Orientierung an der Mitte heißt dabei wohl nicht, dass damit ein Durchschnitt abgesichert werden soll. Vielmehr geht es gerade bei Kindern im Sinne des Ziels der Chancengleichheit darum, dass der Abstand zur Mitte nicht zu groß sein sollte. Wie groß dieser Abstand zur Mitte ist, bleibt letztlich eine normative politische Entscheidung. Je näher dieser Wert am Durchschnitt ist, desto stärker ist allerdings die sozialpolitische Konsequenz, dass durch die Kinder auch die Eltern in Richtung „Mitte“ geschoben würden. Kinder aufzuziehen würde damit zu einem sozialstaatlichen Sicherungspfad in Richtung Durchschnitt.Footnote 19

Während die armutspolitische Konvergenz von Bürgergeld und Kindergrundsicherung sicherlich noch vieler Diskussionen bedarf, dürfte die sozialpolitische bzw. ordnungspolitische Bedeutung der Konvergenz weniger umstritten, aber doch auch äußerst weitreichend sein. Dies zeigt die ausführliche Stellungnahme des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, der Dachorganisation der gemeinnützigen und der öffentlichen Wohlfahrtspflege, zur Kindergrundsicherung auf eindrucksvolle Weise. Hier wird kenntnisreich auf Strukturprobleme hingewiesen: „Die bislang starke steuerrechtliche Prägung des Kindergeldes als zentraler familienpolitischer Leistung, die durch den Garantiebetrag abgelöst werden soll, mag dann andere Lösungen suggerieren als der bedarfsabhängige, stark sozialrechtlich geprägte Zusatzbetrag. Insoweit gibt es auch Vorschläge, die Anspruchsinhaberschaft für Garantiebetrag sowie Zusatzbetrag unterschiedlich festzulegen“ (Deutscher Verein 2023, S. 357). Das wäre natürlich ganz unpraktisch und keine einheitliche Leistung für Kinder. Zugleich zeigen diese und weitere systematische Fragen, wie komplex eine Grundeinkommenssicherung aussieht, die sich – wie bei Kindern und Jugendlichen im schulpflichtigen Alter nun einmal Konsens – nicht an einer vorgängigen Subsidiarität von Erwerbsarbeit, also einer faktischen Arbeitspflicht orientiert. Probleme von „Care-Leavern“, also bisher in Einrichtungen lebenden Kindern, aber auch das Problem der Unterhaltsverpflichtung in Scheidungsfamilien, der Teilpauschalierung von Wohnkosten oder die Frage der Exportpflicht von Sozialleistungen nach EU-Recht stellen sich nicht nur für die Kindergrundsicherung. Sie würden sich auch für ein Bürgergeld stellen, das sich immer mehr in Richtung Grundeinkommen entwickelt.

Die Diskussion um die Kindergrundsicherung kann hier die Entwicklung des Bürgergeldes insoweit voranbringen, als sozialpolitisch Konservative gegenüber universalistischen Regeln eher skeptisch sind, nicht jedoch gegenüber einem familienpolitischen Universalismus – lassen wir den rechtspopulistischen bis rechtsextremen Konservatismus einmal außer Betracht, der sich nur auf deutsche Familien mit blonden Haaren beschränken will. Die quantitative Relevanz der Kindergrundsicherung, ihr Beitrag zur Integration und Modernisierung von Sozial- und Steuerverwaltung könnte die Dynamik des Bürgergeldes in Richtung Grundeinkommen unterstützen.

5 Ergebnis

Vor dem Hintergrund einer Systematik der Zukunftsperspektiven des Sozialstaats, wie sie zuletzt im „Zukunftslabor Schleswig–Holstein“ unsererseits vorgeschlagen wurde, erscheint das „Bürgergeld“ im Koalitionsvertrag der Ampelregierung auf den ersten Blick konservativ und bestandswahrend und weit entfernt von den mutigen Grundeinkommensexperimenten wie zuletzt in Finnland (Merrill et al. 2022). Unsere Diskussion zeigt jedoch, dass die Synthese der unterschiedlichen Herkunftslinien das Potenzial zu einer inkrementalistischen und nachhaltigen Reform der Sozialpolitik in Richtung Bürgerversicherung und Grundeinkommen birgt. Die Ängste der politischen Eliten sind hierbei weitaus größer als die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger, genau in diese Richtung hin zu gestalten. Die angedeutete Integration mit anderen Sozialleistungen (Wohngeld, Kindergrundsicherung) und vor allem ein einfacherer und digitaler Zugang zu den Leistungen dürften die bisher hohe Nichtinanspruchnahme der Grundsicherung verringern und das Bürgergeld in Richtung Grundeinkommen für alle Sozialbürgerinnen und -bürger bewegen.