1 Digitalisierung in Jobcentern – Bürger:innenorientierung bereits vor Einführung des Bürgergeldes

Dieser Beitrag argumentiert, dass die Digitalisierungsbestrebungen der vergangenen zehn Jahre in der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) die Hinwendung zu mehr Bürger:innenorientierung, wenn nicht verursacht, so zumindest positiv verstärkt haben. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass im Bereich des SGB II weit früher als in anderen (kommunalen) Verwaltungsbereichen ein funktionierendes Onlineangebot aufgebaut worden ist. Wir zeichnen den Weg von der Nutzer:innenorientierung bei der Gestaltung digitaler Oberflächen hin zur Bürger:innenorientierung bei der Leistungsgewährung nach, die schließlich Eingang in das Bürgergeld-Gesetz fand. Unsere Berichterstattung stützt sich auf beraterische Zusammenarbeit mit über 100 Jobcentern in den zurückliegenden 13 Jahren, zahlreiche Gespräche mit den dort Beschäftigten sowie eine schriftliche Erhebung zum Nutzungsgrad von digitalen Antragsservices im SGB II.

Die Kernbeobachtung lautet, dass die zwangsläufige Fokussierung auf das Nutzer:inneninteresse, das die Digitalisierungsvorhaben in den Jobcentern mit sich gebracht haben, dem Paradigmenwechsel zu mehr Bürger:innenorientierung im SGB II den Weg gebahnt hat. Folglich war der Bewusstseinswechsel, der spätestens mit dem Bürgergeld-Gesetz verordnet wurde, in vielen Jobcentern bereits angestoßen, wenngleich noch lange nicht abgeschlossen. Denn zum Zeitpunkt der Gesetzesverabschiedung im Dezember 2022 (Bürgergeldgesetz 2022) war ein Kernziel der Bürgergeldreform in den meisten Jobcentern längst realisiert, nämlich der „einfache Zugang zu Sozialleistungen“ durch eine „einfache, nutzerorientierte und barrierefreie Beantragung“ (Onlinezugangsgesetz. Gesetzesentwurf 2017, S. 2). Der Mentalitätswechsel, der mit dem Rollout einfach zu nutzender Onlineanträge einherging, war kein Selbstläufer. Ganz im Gegenteil – die Prämisse, es Bürgerinnen und Bürgern so einfach wie möglich zu machen, von daheim „Hartz IV“ zu beantragen, bedeutete eine deutliche Abkehr vom alten Prinzip des Förderns und Forderns. Sie war zu Beginn nicht getrieben durch Sinneswandel, sondern von der Wirklogik digitaler Self-Service-Solutions (Funke 2022, S. 202 f.). Denn diese müssen bei ihrer Entwicklung die Nutzenden in den Mittelpunkt rücken, um eine reibungslose Bedienbarkeit sicherzustellen.

Als Praxisartikel von Fachpraktikern wird darauf verzichtet, eine Kausalbeziehung in die eine oder andere Richtung zu postulieren. Zwar erscheint es uns naheliegend, dass die rege Beschäftigung mit der Entwicklung nutzerfreundlicher Onlineanträge zwangsläufig zur Entdeckung eines behördlichen Dienstleistungsauftrags gegenüber arbeitssuchenden Bürgerinnen und Bürgern geführt hat. Wir räumen jedoch ein, dass auch das Gegenteil der Fall sein könnte; dass also latente Ideen eines dekommodifizierenden Bürgergeldes schon lange in der Luft lagen und wiederum die Jobcenterwelt bewegten, weit früher als andere Behörden auf nutzerfreundliche Onlineangebote zu setzen.

Wir wollen uns daher in der Folge damit begnügen, die Digitalisierung des SGB II in den vergangenen 10 Jahren pointiert nachzuzeichnen. Dabei wollen wir herausarbeiten, dass sich die Jobcenter im Vergleich zu anderen Behörden als überraschende Champions der Verwaltungsdigitalisierung herausgestellt haben, dass dies mit der Entdeckung des Nutzers bzw. der Bürgerin als Fokuspunkt des eigenen Verwaltungstuns einherging und dass sich diese Entwicklung parallel sowohl im Bereich der kommunalen Jobcenter wie auch der gemeinsamen Einrichtungen vollzog. Letzteres ist umso bemerkenswerter, als sich die Digitalisierung der Kundenkommunikation samt Antragsstellung in beiden Communities weitgehend unabhängig voneinander abspielte.Footnote 1

2 Jobcenter als Hidden Champions?

Als der Gesetzgeber im August 2017 das Onlinezugangsgesetz (OZG) verabschiedete, versprach er, binnen fünf Jahren die Gesamtheit deutscher Verwaltungsleistungen auf digitalem Wege beantragbar zu machen. Dahinter stand der Wunsch, die zusehends breiter klaffende Lücke zwischen den Servicestandards privatwirtschaftlicher und staatlicher Dienstleistungen zu schließen (OZG 2017; Rüscher 2017; Schallbruch 2017).Footnote 2 Denn konnte man seine Reisebuchungen, Bank- oder Versicherungsgeschäfte längst 24/7 vom eigenen Smartphone aus erledigen, sah die Welt in den deutschen Behörden im Jahr 2017 nur wenig anders aus als 30 Jahre zuvor. Noch zum Zeitpunkt des Fristablaufs am 31. Dezember 2022 hatte sich die Situation kaum verbessert. Nur ein Bruchteil der zu 575 Bündel gruppierten Verwaltungsleistungen waren im Internet verfügbar; und wenn, dann nur in einem gering ausgeprägten digitalen Reifegrad (Nationaler Normenkontrollrat 2022, S. 31 f.).Footnote 3

Im Gegensatz zur vielfach enttäuschenden Situation in anderen Verwaltungsbereichen (Nationaler Normenkontrollrat 2022, S. 31–34) gestaltete sich die Situation für die Beziehenden von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II vielversprechender. Flächendeckend und deutlich vor der Zeit war es den deutschen Jobcentern gelungen, ihre Antragsleistungen digital bereit zu stellen.Footnote 4 Bereits im Juni 2020 hatte eine kleine Gruppe kommunaler Jobcenter den Neuantrag für Arbeitslosengeld II live geschaltet (BMI 2020). Gut zwei Jahre später, im Herbst 2022, zogen auch die gemeinsamen Einrichtungen nach und stellten ihrerseits den digitalen Neuantrag deutschlandweit online (Bundesagentur für Arbeit 2022). Deutlich vor der Frist war es damit im Bereich des SGB II gelungen, den Vorgaben des OZG Rechnung zu tragen und den Bürger:innen ein digitales Angebot zur Leistungsbeantragung zu unterbreiten. Hinsichtlich der aktiven Nutzung durch die Bürgerinnen und Bürger ergibt sich allerdings derzeit noch ein gemischtes Bild. Zwischen dem Zeitpunkt des Release im Juni 2020 und Mai 2023 wurden in den 104 kommunalen Jobcentern zwar rund 108.000 Anträge für Arbeitslosengeld II beziehungsweise Bürgergeld über die Onlinemasken gestellt;Footnote 5 doch hierbei handelt es sich nur um einen Bruchteil der insgesamt gestellten Anträge: Allein im Zeitraum März 2022 bis Februar 2023 sind beispielsweise insgesamt Anträge von knapp 1,8 Mio. Menschen bewilligt worden (Bundesagentur für Arbeit 2023, S. 13).

Eine Abfrage zum Verhältnis zwischen digitalen und auf herkömmlichem Weg gestellten Anträgen unter den 104 kommunalen Jobcentern im Juli 2023 offenbart, dass sich der Anteil der digitalen Erstanträge auf Bürgergeld an allen gestellten Erstanträgen im Jahr 2023 zwischen 1 % und 49 % bewegt, bei einem Mittelwert von 19 %, der Median bei 17 %.Footnote 6 Ähnlich sieht es in den gemeinsamen Einrichtungen aus. Hier liegen frei verfügbare, aktuelle Vergleichsdaten leider nicht für den Erstantrag, aber für den Weiterbewilligungsantrag vor. Die Onlinequoten reichen von knapp 1 % bis zu 33 %, bei einem Mittelwert von nur 5 % und einem Median von 4 %. Für den Erstantrag läge der Mittelwert laut mündlicher Selbstauskunft ähnlich wie in den kommunalen Jobcentern bei rund 20 %.Footnote 7 Die vergleichsweise geringeren Werte aufseiten der gemeinsamen Einrichtungen sind nicht zwangsläufig auf weniger nutzerfreundliche Onlineservices oder einem weniger an aktivem Werben zurückzuführen, sondern hängen einerseits mit den verschiedenen Datenquellen als auch der unterschiedlichen Antragstypen zusammen.Footnote 8 Interessant wäre ein Vergleich dieser Zahlen mit Zahlen aus früheren Jahren. Derartige belastbare Zahlen liegen nicht vor. Auch im Jahr 2023 veröffentlichte aktuelle Daten zu Online-Services in den Jobcentern aus anderen Quellen, beispielsweise aus dem OZG-Dashboard, sind zu hinterfragen.

Dennoch gilt für beide Jobcentergruppen, dass mit Ausnahme von wenigen Spitzenreitern das Gros der Behörden beim Einsatz des Onlineangebots hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. Angesichts der mittlerweile mehrjährigen Verfügbarkeit der Onlineanträge weisen sehr geringe Nutzungsraten bei einer Vielzahl von Organisationen auf ein ambivalentes Verhältnis vieler Jobcenter zum Ideal eines simpel und von zu Hause aus beantragbaren Bürgergeldes. Es bestehen nach wie vor vielfache Jobcenter-interne „Anreize“ und Verhaltensmuster, die antragsstellende Bürger:innen weg vom digitalen und hin zum alten, analogen Antragsweg per Post oder persönlicher Vorsprache lotsen. Anhand der Spitzenreiter lässt sich jedoch gleichermaßen ablesen, dass sowohl aufseiten der Bürger:innen das Potenzial sowie aufseiten einzelner Jobcenterleitungen der Wille besteht, das gesetzliche Ziel des einfach und digital beantragbaren Bürgergeldes zu verwirklichen. Im Folgenden wollen wir diese Ambivalenz zwischen Digitalisierungslust und -angst in der Entwicklung des digitalen Bürgergeldes für beide Jobcenter-Welten nachzeichnen.

2.1 Kommunale Jobcenter: Early Adopter und kontinuierlicher Austausch über gute Praxis

Die kommunalen Jobcenter erlebten ihren „Digitalisierungs-Startschuss“ im Jahr 2018. Im Rahmen des gemeinsamen „Benchlearning der kommunalen Jobcenter“, innerhalb dessen sich 102 kommunale Jobcenter seit nunmehr 17 Jahren mehrmals pro Jahr über Intention und Umsetzung des SGB II in den eigenen Häusern austauschen, hat die Organisationsberatung gfa | public die Geschäftsführungen über das OZG, seine Ansprüche und Intentionen sowie sinnvolle Digitalisierungsvorhaben in Sozialverwaltungen aufgeklärt. Seitdem gibt es ein kontinuierliches Arbeiten an der Digitalisierung der kommunalen Jobcenter, um Bürger:innen einen einfachen und zeitgemäßen Zugang zu den passiven Leistungen zu ermöglichen. Von kleinen Tools wie Online-TerminbuchungenFootnote 9, über Applikationen für die interne und externe Kommunikation zur Erleichterung der Arbeitsorganisation, bis hin zu robotergestützten Prozessautomatisierungen (RPA) haben sich viele kommunale Jobcenter auf den Weg gemacht, um die eigene Organisation zu digitalisieren. Dabei taten sich einzelne Early Adopter wie das Jobcenter Kreis Düren oder die Neue Wege – Kreis Bergstraße und die Pro Arbeit – Kreis Offenbach hervor. Letztere waren maßgeblich an der Finalisierung des ersten Clickdummys für einen Online-Erstantrag des Arbeitslosengeld II beteiligt. Dies geschah als Ausfluss aus einem der Digitalisierungslabore, die im Zuge der OZG-Umsetzung zur Entwicklung von Prototypen für einzelne Leistungsbündel, so auch den SGB II-Antrag, etabliert wurden.Footnote 10 Neben den Initiativen einzelner Jobcenter sind kommunale Jobcenter-Verbünde, beispielsweise in Hessen und Niedersachsen zu erwähnen, die eine Vorreiterrolle beim Start des ALG II-Onlineantrags übernommen haben.Footnote 11

Das Benchlearning war dabei über die letzten sechs Jahre hinweg kontinuierliche Plattform für Austausch und gemeinsames Lernen. Digitalisierung im Jobcenter wurde daher auch für solche Häuser direkt erlebbar, die selber nicht Zeit, Geld oder Mut hatten, bei diesem Thema voranzugehen. In diesem Prozess trafen Überzeugungstäter:innen auf Skeptiker:innen und entschiedene Gegner:innen digitaler Lösungen. Das zentrale Problem bestand darin, persönliche Einstellungen und Verhaltensmuster aufzubrechen. Im Zentrum stand und steht dabei die Spannung zwischen hoheitlicher Aufgabe und gesetzlichem Vermittlungsauftrag einerseits und Bürger:innenorientierung andererseits. Bürger:innen in den Mittelpunkt des Verwaltungshandelns zu stellen, ist keine logische Weiterentwicklung des weberianischen Verwaltungsideals (Weber 1972, S. 125 ff.), sondern ein Paradigmenwechsel, der durch Digitalisierung entscheidend vorangetrieben wird (Funke 2022).

Was hilft bei einem Paradigmenwechsel? Steter Tropfen höhlt den Stein. Immer und immer wieder wurden und werden seit nunmehr sechs Jahren Digitalisierungsthemen auf die Agenda der kommunalen Jobcenter gehoben. Auf diese Weise sind nicht alle Entscheider:innen in den kommunalen Jobcentern digitale Überzeugungstäter:innen geworden, aber die Ergebnisse in der Breite können sich sehen lassen: Haben im Januar 2018 noch 48 % der kommunalen Jobcenter angegeben, in den kommenden fünf Jahre keine Online-Anträge vorhalten zu wollenFootnote 12, sind es im Juli 2023 über 85 % der kommunalen Jobcenter, die mindestens den Bürgergeld-Erstantrag online vorhaltenFootnote 13; in über 70 % der Fälle werden auch der Weiterbewilligungsantrag und die Veränderungsmitteilung als Online-Service angeboten.Footnote 14 Im Ergebnis ist die notwendige Bedingung für ein digitales kommunales Jobcenter erfüllt, die passiven Leistungen sind als Online-Service nahezu flächendeckend verfügbar.

Leider korrespondiert dies nicht mit einer entsprechenden, umfassenden Nutzung dieser Online-Angebote durch die Bürger:innen. Die Nutzungsquoten der Online-Angebote von Jobcentern reichen im Jahr 2023 für den Erhebungszeitraum 01.01.–30.04.2023 von 1 % (niedrigste Nutzungsquote) bis 49 % (höchste Nutzungsquote) bei den Online-Erstanträgen sowie 1 % bis 31 % bei den Online-Weiterbewilligungsanträgen.Footnote 15 Woran fehlt es in der Welt der kommunalen Jobcenter? (1) An der Überzeugung vieler Entscheidungsträger:innen, dass Online-Services im Jahr 2023 von der Mehrheit der Mitarbeiter:innen und Bürger:innen geschätzt und genutzt werden (können); (2) an gut durchdachten und nutzer:innenorientiert gestalteten Services; sowie (3) an dem Gestaltungswillen, eine moderne Sozialverwaltung konsequent zu etablieren. Viele der verfügbaren Online-Services sind für die Bürger:innen unbekannt (weil unbeworben), schwer auffindbar (weil nicht suchmaschinenoptimiert und auf Websites „versteckt“) oder im Sinne einer User JourneyFootnote 16 nicht sauber zu Ende gebaut. Die kommunalen Jobcenter trauen sich (noch) nicht, eine digital-first-Strategie umzusetzen. Vielmehr wird es häufig den Bürger:innen selbst überlassen, die verfügbaren Online-Anträge zu finden und zu nutzen.

Dennoch macht der Zwischenstand im Jahr 2023 Mut. Ein Weg zurück in die rein analoge Welt wird es in den kommunalen Jobcentern nicht geben. Der Kipppunkt scheint erreicht, von dem aus die digitalen Angebote kontinuierlich verbessert und in die Breite getragen werden.

2.2 BA und gemeinsame Einrichtungen: Plötzlich vor der Zeit: Der (ungeplante) Sprung vom SGB III ins SGB II

Wollte man das Nebeneinander der Online-Service-Entwicklung von kommunalen Jobcentern und Bundesagentur für Arbeit mit dem Wettlauf zwischen Hase und Igel beschreiben, käme der Bundesagentur die Rolle des Hasen zu. Die Bundesagentur blickt schon lange auf eine Tradition als Verwaltungsinnovatorin zurück (Kaps und Oschmiansky 2023). Hierfür verfügt sie unter anderem über ein mehrere tausend Personen starkes IT-Entwicklungshaus in Nürnberg, das IT-Anwendungen nicht nur betreibt, sondern auch eigeninitiativ entwickelt. Als im Jahr 2013 das eGovernment-Gesetz die Bundesbehörden aufforderte, den Bürger:innen einen elektronischen Zugang zu diesen zu ermöglichen (§ 2 Abs. 1 eGovG), ließ sich die Bundesagentur daher nicht zwei Mal bitten. Unter dem Projektnamen Apollo machte sie sich im Folgejahr daran, einen digitalen Antrag für das Arbeitslosengeld I nebst unterstützenden Basisdiensten (Kundenportal, Bescheidablage) zu gestalten. Das SGB II war, obschon Bundesgesetz, vom Digitalisierungsgebot explizit ausgenommen (§ 1 Abs. 5 Nr.3 eGovG). Dennoch weckte das Vorhaben aufseiten des SGB III den Wunsch, ein ähnliches Angebot auch den Bürger:innen im benachbarten Sozialgesetzbuch zu machen, um keine Kluft zwischen den beiden Gruppen von Arbeitssuchenden entstehen zu lassen.Footnote 17 Mit nur kurzem zeitlichen Abstand startete die Bundesagentur daher im Jahr 2016 eine Vorstudie unter dem Arbeitstitel gE-Online, die die Machbarkeit und die wünschenswerte Ausgestaltung eines Online-Angebots im SGB II ausloten sollte. Erstmals wurden dabei Kund:innen nach ihren Wünschen und Erwartungen zu Jobcenter-Prozessen befragt und um Feedback zu Prototypen gebeten. Zur gleichen Zeit erlebten die Beschäftigten in den Jobcentern mit der Einführung der digitalen Akte ihren eigenen Digitalisierungsschub. Die Macher:innen der Vorstudie legten Anfang 2017 – also Monate vor der Verabschiedung des Onlinezugangsgesetzes – ihren Empfehlungsbericht vor, in dem sie als erste Aufbaustufe einfache Veränderungsmeldungen sowie den Weiterbewilligungsantrag digitalisieren wollten. Erst in einer zweiten Ausbaustufe waren weitere Antragsleistungen, insbesondere der Erstantrag, vorgesehen. Innerhalb der gemeinsamen Einrichtungen herrschte jedoch Zweifel, ob es angesichts der hohen Rechtskomplexität möglich oder aus Sicht der Kund:innenaktivierung wünschenswert sei, den Erstantrag auf Arbeitslosengeld remote zu ermöglichen. Die Sorgen, Kund:innen nicht mehr zu Gesicht zu bekommen oder Sozialbetrug Tür und Tor zu öffnen, wurden hinter vorgehaltener Hand geäußert. Der gesetzliche Auftrag des OZG schaffte hier mit seinem unmissverständlichen Auftrag Klarheit. Die rasche Entwicklung eines digitalen Neuantrags in den Digitallaboren unter Federführung hessischer und nordrhein-westfälischer kommunaler Jobcenter tat ihr Übriges. Im Mai 2019 ging das auf Jobcenter zugeschnittene Angebot jobcenter.digital live, allerdings noch nicht mit dem vollen Leistungsumfang. Bis zum digitalen Neuantrag der mittlerweile Bürgergeld betitelten Leistung sollten noch über zwei Jahre, nämlich bis Herbst 2022, vergehen. Der große Transformator war aus Sicht von Jobcenter-Führungskräften die Corona-Pandemie. Der starke Emaileingang und das positive Feedback von Kunden zur Möglichkeit des digitalen Unterlagenversands motivierte die Jobcenter, das Angebot nun stärker zu bewerben.Footnote 18 Doch auch im Herz der Bundesagentur haben die nutzerfokussierten Arbeitsweisen in der IT-Entwicklung den Blick auf die Antragsstellenden und ihre Bedürfnisse verstärkt, gleichwohl Effizienzerwägungen in der Zentrale oder Sozialamtsmentalität bei einzelnen Mitarbeiter:innen vor Ort weiterhin wirken.Footnote 19 Nicht zuletzt habe das Vorreitertum im SGB III eine Vorbildfunktion für das SGB II entwickelt und sei quasi „hinübergeschwappt.“Footnote 20

3 Fazit: Aus der Nutzer- wird Bürger:innenorientierung

Es wäre falsch, die Jobcenter-Welt als digitale Vorzeigearena einzuordnen. Dafür sind vergleichbare Verwaltungen im europäischen Ausland deutlich weiter auf dem Pfad der digitalen Transformation fortgeschritten (European Commission, 2020). Aber im langsamen Digitalisierungsbetrieb der deutschen Verwaltung reicht es auf jeden Fall für die Rolle eines Hidden Champion. Die Bürger:innen haben es nicht nur in den Titel des Bürgergeld-Gesetzes geschafft, sie haben als mündiges Subjekt auch Einzug in seine regulatorische Ausgestaltung gefunden. Diese Intention ist nicht direkt und allein auf die Erkenntnisse und Erfordernisse rund um Digitalisierungsvorhaben zu Tage getreten. Aber es ist festzuhalten, dass die in Digitalisierungsvorhaben vielbeschworene Nutzer:innenperspektive mit den gesellschafts- und sozialpolitischen Leitlinien der Ampelkoalitionäre im SGB II Hand in Hand gehen. Self-Service-Tools können nur funktionieren, wenn sie nutzerorientiert gestaltet werden. Diese Einsicht aus der IT-Welt wirkte in den Jobcentern, insbesondere in jenen, die sich gemeinsam mit IT-Dienstleistern aktiv an der Konzeption von Online-Anträgen beteiligten, als ein Promotor für den grundsätzlichen Wandel hin zur Bürger:innenorientierung. Und damit haben sie ein Kernanliegen des Bürgergeld-Gesetzes vorweggenommen.

4 Es ist noch viel zu tun: Digitalisierung und Service Design als Motor für eine bürger:innennahe Sozialverwaltung

Die Erkenntnisse aus den Jobcentern machen einerseits Hoffnung für die weitere Verwaltungsdigitalisierung, sind andererseits aber betrüblich genug. Denn das, was die kommunalen Jobcenter, respektive die BA und die gemeinsamen Einrichtungen geschafft haben, hätte nahezu jede andere Behörde auf allen föderalen Ebenen auch tun können. Dass SGB II-Anträge online verfügbar sind, ist ein erster, wichtiger Schritt, hin zu einer digitalen Jobcenterwelt. Es bleibt aber noch viel zu tun. Wenn die Online-Services doch so gut verfügbar sind, warum nutzen so wenige Bürger:innen sie? Erstens, weil selbst die – im Vergleich mit den banalen Online-pdf’s anderer Behörden – vergleichsweise ambitioniert gedachten Online-Formulare noch immer viele Hürden für Nutzer:innen beinhalten. Der Online-Antrag der BA über „Jobcenter.digital“ ist beispielsweise nach wie vor nur in deutscher Sprache verfügbar und viele Jobcenter verstecken ihre Online-Anträge regelrecht vor Bürger:innen und Mitarbeitenden. Zweitens aus Angst vor mangelnder digitaler Kompetenz aufseiten der Bürger:innen. Dieses Argument hält in der Realität nicht stand. Weder im europäischen Ausland, noch in der Privatwirtschaft gibt es Anzeichen dafür, dass gut gemachte digitale Angebote nicht von Bürger:innen aller Altersgruppen und Bildungsschichten mehrheitlich genutzt werden können. Es ist keine Kompetenzfrage, sondern eine Gewohnheitsfrage. Die Hürde für Bürger:innen bei der Antragsbearbeitung ist nicht ein möglicher Online-Zugang, es ist die schwer verständliche Behördensprache mit Rechtsfolgenbelehrung, die Reaktanz erzeugt und viele Nachfragen hervorruft.

Es braucht also einen noch einfacheren digitalen Zugang, um die Inanspruchnahme zu verbessern. Drei Dinge müssen dafür gegeben sein: Der digitale Zugang muss vorhanden (1), konsequent nutzergerecht (2) und bekannt (3) sein. Zurzeit ist nur das erste Kriterium erfüllt. Das Mittel zum Zweck für eine nutzergerechte Ausgestaltung ist Service Design. Die Bekanntheit von Online-Services wird durch fortwährende in- und externe Kommunikation sowie einen konsequenten digital-first-AnsatzFootnote 21 in kurzer Zeit nachweislich verbessert. Der Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition formuliert allgemeine Ansprüche hinsichtlich der Verwaltungsdigitalisierung; so auch zur Umsetzung des SGB II.Footnote 22 Eine konkrete Beschreibung einer digitalisierten, und in diesem Zuge zur bürger:innenorientierten gewandelten (Sozial)Verwaltung bleibt die Politik jedoch nach wie vor schuldig. Es drängt sich der Verdacht auf, dass es an Phantasie und Vorstellungskraft fehlt, wie eine solche moderne, digitale Verwaltungsorganisation in Aufbau, Ablauf und Steuerung aussehen müsste. Vielleicht fehlen aber auch nur Mut und Wille, denn die potenziell notwendigen Veränderungen rütteln an Grundfesten des deutschen Sozialstaats. Wo Case Manager:innen bereits seit Jahrzehnten eine ganzheitliche, rechtskreisübergreifende Fallarbeit postulieren und einzelne Kommunen in sogenannten Sozialbüros gegen die bisweilen künstliche Versäulung der Sozialgesetzbücher anarbeiten, ist es spätestens in der digitalen Welt auch aus Bürger:innensicht nicht mehr nachvollziehbar, dass für personenbezogene Sozialleistungen im Hintergrund zahlreiche einzelne, rechtlich und formal getrennt voneinander arbeitende Organisationen daran arbeiten, diese Leistungen adressat:innen- und fristgerecht zu erbringen. Es ist Zeit für eine rechtskreisübergreifende umfassend zuständige (digitale) Sozialbehörde mit zentralen Serviceeinheiten und lokal im Sozialraum verorteten Beratungseinheiten. Ansonsten wird vieles gut gemeint und ordentlich gemacht sein, aber in Summe Stückwerk bleiben.

Im Sinne eines Public Service Design sollte die Erbringung von staatlichen Leistungen noch viel stärker aus Bürger:innensicht gestaltet werden. Aktuell leitet sich die Leistungserbringung in der Regel aus Finanzierungsverantwortlichkeiten und Rechtskreisen ab, und zwar völlig unabhängig davon, wie sinnvoll dies in der täglichen Arbeit ist. Für die zukünftige Ausgestaltung digitalisierter (Sozial-)Verwaltungen sollten Bürger:innen nach ihren Bedürfnissen befragt werden; und wenn es um die interne Organisation der Leistungserbringung geht, die Mitarbeitenden. Welche Leistungen können perspektivisch ausschließlich digital erbracht werden, bei welchen Angeboten braucht es Orientierungshilfen auf welchen Kanälen und bei welchen Lebenssituationen ist die 1:1-Beratung und Leistungserbringung im Sozialraum das Mittel der Wahl? Welche Leistungen gehören organisatorisch gruppiert? Und wo sollten alte Behördengrenzen aufgebrochen werden? Die Antworten auf diese und weitere Fragen sollten die Bürger:innen geben. Spoiler aus Beratungsprojekten der letzten Jahre: Für die Beantragung von Geldleistungen wollen Bürger:innen in großer Mehrheit im Jahr 2023 nicht mehr persönlich in eine Sozialverwaltung kommen müssen.