1 Zwischen digitaler Dynamik und neuen Klüften

1.1 Digitaler Zugang ist Voraussetzung für umfassende Teilhabe

Dass die Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP das Thema Digitalisierung auch im Rahmen der Bürgergeld-Reform auf die Agenda genommen hat, ist nicht nur zeitgemäß, sondern höchste Zeit. Unsere Art zu arbeiten und zu leben und das gesellschaftliche Miteinander haben sich durch die Digitalisierung tiefgreifend verändert. Während der Corona-Krise wurden Digitalisierungsprozesse allerorts beschleunigt. Innerhalb kürzester Zeit stellte ein Gros der Unternehmen und Organisationen auf mobile Arbeit um, Vorbehalte gegenüber Homeoffice wurden abgebaut, Mitarbeiter:innen mit der nötigen Technik ausgestattet und Arbeitsprozesse digitalisiert (Alipour et al. 2020). Es wurden Transformationsprozesse in Gang gesetzt, die nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche berührten (Breyer-Mayländer et al. 2022).

Für diejenigen, die Zugang zum digitalen Raum haben, eröffneten sich auch in der Krise eine Vielzahl von Möglichkeiten der Kommunikation und Bewältigung des Alltags: von Online-Shopping und Lieferservices bis zu digitalem Homeschooling und mobiler Arbeit im Homeoffice. Online-Fitnesskurse, virtueller Musikunterricht, Familien-Chat-Gruppen oder digitale Spieleabende halfen über die trostlose Zeit der Kontaktbeschränkungen hinweg. Später war es möglich, teilweise ausschließlich per Handy-App, mobil ein Ticket für einen Zeit-Slot im Freibad oder im Zoo zu erhalten.

Fast jeder fünfte Haushalt verfügt inzwischen über Internetfernsehen. Streaming-Anbieter wie Netflix & Co. gehören zu den Krisengewinnern ebenso wie Online-Versandhändler und Online-Lieferservices (Statistisches Bundesamt 2022). Im Schnitt verfügten im Jahr 2019 Familien über rund drei Computer im Haushalt (Statistisches Bundesamt 2020). Und die Dynamik hält an: Die gesellschaftliche Nachfrage nach weiteren Produkten ist laut Digitalisierungs-Index der Deutschen Wirtschaft der größte Treiber der Digitalisierung in Deutschland (BMWK 2023).

Das Internet ist dabei zentrales Informationsmedium in nahezu allen Lebensbereichen: Rund 77 % der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahren suchte 2022 im Internet, wenn sie sich über etwas näher und umfangreicher informieren wollten. Von allen Medien wird das Internet am häufigsten bei der Informationssuche verwendet und damit fast so häufig wie das persönliche Umfeld um Rat gefragt: Rund 80 % gaben im Rahmen der Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse an, Verwandte, Freunde und Bekannte zu fragen, wenn sie sich intensiver informieren wollten (Institut für Demoskopie Allensbach 2023).

Internetzugang, entsprechende Hard- und Software sowie ausreichend Datenvolumen sind offensichtlich zentrale Voraussetzungen für umfassende soziale, kulturelle und politische Teilhabe in dieser Gesellschaft. Doch damit geht eine neue soziale Kluft einher: Für diejenigen, die – aus Mangel an technischer Ausstattung oder fehlendem Know-how – digital abgehängt sind, wird der gesellschaftliche Ausschluss mit fortschreitender Digitalisierung ungleich größer.

1.2 Armut führt zu digitaler Ausgrenzung

Das Statistische Bundesamt meldete, dass nach Daten der EU-Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) der Anteil derjenigen, die sich nach eigener Aussage keinen Internetzugang leisten können, im Jahr 2022 bei 2,6 % lag und damit gegenüber dem Vorjahr leicht gestiegen sei (Statistisches Bundesamt 2023). Doch ein Internetzugang allein reicht noch nicht aus: Auch entsprechende Endgeräte kosten Geld, ebenso wie Software, Sicherheitsupdates oder Berechtigungen, z. B. zur Nutzung von Streaming-Diensten.

Dass es in Deutschland tiefe Gräben zwischen Haushalten/Familien mit unterschiedlichem Einkommen gibt, wurde während der Pandemie zuallererst an den Schulen sichtbar. Homeschooling? Eine gute Lösung – für alle Schüler:innen, die einen eigenen Laptop und ausreichend Datenvolumen hatten. Die Statistik zeigt: Je höher das Einkommen, desto mehr solcher Geräte sind im Schnitt in einem Haushalt mit mindestens einem Kind vorhanden. Familien mit hohem Nettoeinkommen (5000 bis 18.000 EUR) standen 2019 durchschnittlich fast vier PCs zur Verfügung. In Familien der untersten Einkommensgruppe (unter 2000 EUR) waren es durchschnittlich nur gut zwei solcher Geräte (Statistisches Bundesamt 2020).

Das Ausmaß digitaler Ausgrenzung dürfte in der Realität auch für einkommensarme Erwachsene erheblich sein. Nach einer Expertise der Paritätischen Forschungsstelle ist das Risiko, digital abgehängt zu werden, für arme Menschen besonders groß (Schabram et al. 2023). Die Autor:innen gingen der Frage nach, ob und inwiefern Armut digitale Teilhabe behindert, und werteten dazu Daten des Sozio-oekonomischen Panels des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aus (Berichtsjahr: 2019). Das Ergebnis: Armen Menschen fehlt es im Vergleich zu nicht von Armut Betroffenen doppelt so oft an den nötigen technischen Geräten und Voraussetzungen zur digitalen Teilhabe, zudem haben sie viel seltener Gelegenheit zum Auf- und Ausbau digitaler Kompetenzen über den Beruf. Kurzum: Es fehlt an Geld für Technik und an Gelegenheit, digitale Kompetenzen zu erwerben. Die Studie zeigt: Rund ein Drittel der Deutschen sorgt sich, angesichts der rasanten technischen Entwicklung nicht mithalten zu können. Das Risiko, tatsächlich abgehängt zu werden, ist jedoch für Armutsbetroffene ungleich höher: Jede:r fünfte Armutsbetroffene in Deutschland verfügt nicht einmal über einen eigenen Internetanschluss. Ein weiterer Befund der Studie: Es fehlt häufig nicht nur an eigener Technik, sondern auch an digitaler Praxis. Während viele Erwerbstätige Gelegenheit haben, über ihren Beruf digitale Kompetenzen auf- und auszubauen, spielen digitale Arbeitsmittel bei von Armut betroffenen Erwerbstätigen kaum eine Rolle. Zwei Drittel der Armutsbetroffenen gaben an, beruflich nie Laptop, Smartphone oder Tablet zu nutzen, über die Hälfte hat auch sonst beruflich nie mit digitalen Anwendungen oder Programmen zu tun.

2 Es fehlt an Technik!

2.1 Das Bürgergeld ist zu niedrig für digitale Teilhabe

Internetzugang und Computer sind kein Luxus, sondern gehören ohne Frage zum Existenzminimum. Und dieses hat der Staat laut Grundgesetz allen Bürger:innen zu garantieren. In einem Grundsatzurteil vom 9.2.2010 hatte das Bundesverfassungsgericht das Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nachdrücklich bestätigt und dabei auch festgehalten, dass es nicht nur um das physische Existenzminimum geht. Trotzdem findet digitale Kommunikation bis heute keine angemessene Berücksichtigung bei der Ermittlung der Regelsätze. Das Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums „sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind“ (BVerfG 1 BvL 1/09, vom 9. Februar 2010, Leitsatz). Das Grundrecht umfasst für das Bundesverfassungsgericht explizit „auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben…, denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen.“ (BVerfG 2010, Rn. 135)

Zwar erkennt die Bundesregierung inzwischen (drei Jahrzehnte nach Einführung des Mobilfunks in Deutschland) auch ein Mobiltelefon als Grundbedarf an und berücksichtigte im Regelbedarfsermittlungsgesetz 2020 erstmals entsprechende Verbrauchsausgaben für die elektronische Kommunikation zur Nutzung von Festnetzanschlüssen für Telefon und Internet mit Flatrate-Tarifen (Deutscher Bundestag 2020). Die auf Basis der sogenannten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2018 ermittelten Verbrauchsausgaben dürften jedoch hinter den tatsächlichen Ausgaben für digitale Kommunikation weit zurückbleiben (zu den Schwächen des sogenannten Statistikmodells siehe unten). Dazu kommt die chronische Unterdeckung des Regelbedarfs, an der sich auch mit dem Bürgergeld nichts geändert hat.

„Immer mehr findet nur noch digital statt. Wenn mein Rechner kaputt geht, bin ich komplett außen vor. Ich kann ihn nicht ersetzen“, schildert eine Teilnehmerin beim Paritätischen Aktionskongress gegen Armut 2021 und beschreibt damit ein grundsätzliches Dilemma vieler Menschen, die auf Grundsicherungsleistungen angewiesen sind (Der Paritätische Gesamtverband 2021, S. 21). Der Regelsatz mit aktuell (2024) 563 EUR für einen alleinlebenden Erwachsenen ist – wie vom Paritätischen Wohlfahrtsverband und anderen Expert:innen wiederholt nachgewiesen – insgesamt viel zu niedrig, um auch nur eine gesunde und ausgewogene Ernährung oder ein Mindestmaß an Teilhabe sicherzustellen. Puffer, um etwas zurückzulegen, für Notfälle, Reparaturen oder größere Anschaffungen wie eben einen Computer, gibt es nicht (Aust et al. 2020).

Dass es hier ein strukturelles Problem gibt, räumte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales selbst ein, als es ein Jahr nach Pandemiebeginn nach massivem Druck der Zivilgesellschaft Geld für die Anschaffung von Laptops für Schüler:innen aus armen Familien bereitstellte, um im Homeschooling ein Mindestmaß an Chancengerechtigkeit herzustellen. Zwischenzeitlich hatten sich Betroffene Unterstützung einklagen müssen. Das Thüringer Landessozialgericht etwa hatte mit Beschluss vom 8. Januar 2021 (Az.: L 9 AS 862/20 B ER) festgestellt, dass die Ausgaben für die zur Teilnahme am Online-Unterricht notwendige Hardware einen „unabweisbaren Mehrbedarf“ darstellen. Angemessene Ausgaben von bis zu 500 EUR seien deshalb durch das Jobcenter zu übernehmen. Es war offensichtlich geworden: Die Anschaffung eines Laptops für ein Schulkind ist vom Regelsatz in der Grundsicherung nicht abgedeckt. Und der Versuch, Hilfen über die Schulen zu leisten, war administrativ gescheitert. Das Bundesarbeitsministerium verfügte daraufhin im Februar 2021, dass notwendige Ausgaben zur digitalen Teilhabe am Unterricht, darunter auch Tablets und Notebooks mit bis zu 350 EUR als Mehrbedarf in der Grundsicherung anzuerkennen seien (Der Paritätische Gesamtverband 2023). Eine nachhaltige Lösung blieb die Bürgergeld-Reform jedoch schuldig.

2.2 Die Regelbedarfsermittlung erfolgt nicht sachgerecht

Mit der Bürgergeld-Reform hat sich nichts geändert, was die Methode der Regelsatzermittlung angeht. Angepasst wurde lediglich der Mechanismus der Fortschreibung der Regelsätze in den Jahren, für die keine aktuellen Daten aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) vorliegen. Diese wird nur alle fünf Jahre erhoben, zuletzt 2018, sodass das Bürgergeld praktisch auf Daten des Konsumverhaltens von 2018 beruht. Wenn die Anpassung des Fortschreibungsmechanismus auch eine Verbesserung bringt, da Preisentwicklungen besser im Regelsatz abgebildet werden als früher, bleibt das Verfahren zur Ermittlung als solches höchst fragwürdig.

Die Kritik vieler Expert:innen an der Methode zur Ermittlung der Höhe des Regelbedarfs, die seit 2011 im Wesentlichen unverändert durch alle Bundesregierungen angewendet wird, bezieht sich u. a. auf die Wahl der Bezugsgruppe sowie die inkonsequente und im Grundsatz unzulässige Mischung aus Statistik- und Warenkorbmodell: Durch Streichungen einzelner Ausgabenpositionen als nicht regelbedarfsrelevant (Warenkorbmodell) wird das Statistikmodell ad absurdum geführt, was im Ergebnis zu einer strukturellen Unterdeckung des Regelbedarfs führt. Dabei werden durch die Bundesregierung insbesondere solche Ausgabenpositionen gestrichen oder gekürzt, die im weitesten Sinne für gesellschaftliche Teilhabe stehen. Die Paritätische Forschungsstelle kommt zu dem Ergebnis, dass die angewendete Methode nicht sachgerecht ist und die auf diese Weise ermittelten Regelsätze in keiner Weise bedarfsdeckend sind: „Die Regelbedarfe reichen nicht aus für eine angemessene Ernährung. … Der Lebensstandard weicht insbesondere bei der sozialen Teilhabe dramatisch von der gesellschaftlichen Normalität ab, sodass hier von sozialer Ausgrenzung zu sprechen ist.“ (Aust et al. 2020, S. 1).

Diese Kürzungen, u. a. in den Bereichen Freizeit, Unterhaltung und Kultur, Verkehr oder Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen, summieren sich auf rund 20 %. Von dem, was die untersten 15 % der nach Einkommen geschichteten und damit ärmsten Haushalte im Monatsdurchschnitt für den täglichen Verbrauch ausgeben, wird Grundsicherungsbeziehenden nur rund 80 % als pauschalierte Leistung zugestanden (2024: 563 EUR). Dass ein Regelsatz in dieser Höhe im Ergebnis an der Lebensrealität vorbeigeht und kaum reicht für die Deckung der Grundbedürfnisse, wird dabei regelmäßig durch Studien und Umfragen bestätigt. So kam eine repräsentative Umfrage im März 2020 zu dem Ergebnis, dass der Betrag, der im Durchschnitt zur Deckung des täglichen Lebensunterhalts eines Erwachsenen (ohne Wohnkosten) als nötig erachtet wird, mit damals 728 EUR pro Monat um fast 70 % über dem liegt, was einem alleinlebenden Grundsicherungsbezieher tatsächlich regierungsamtlich zugestanden wurde (damals: 432 EUR). Hier noch nicht berücksichtigt waren coronabedingte Mehraufwände und steigende Lebensmittelpreise, wie sie kurz darauf anfielen (Der Paritätische Gesamtverband 2020). Insbesondere die Kosten für eine gesunde Ernährung werden in der Grundsicherung nicht angemessen berücksichtigt, wie auch Ernährungswissenschaftler warnen (Kabisch et al. 2021).

Was das Thema digitale Teilhabe angeht, liegt das Grundproblem weniger in etwaigen Streichungen, sondern in dem Versuch, alles in einen pauschalen Regelsatz zu pressen. Anschaffungen wie etwa ein Kühlschrank oder eben der Kauf eines Computers sind im Konstrukt des pauschalierten Regelbedarfs nicht adäquat abgebildet. So sind für den „Kauf und die Reparatur von Festnetz- und Mobiltelefonen sowie anderer Kommunikationsgeräte“ derzeit 3,75 EUR monatlich im Regelsatz berücksichtigt, für „Datenverarbeitungsgeräte sowie System- und Anwendungssoftware (einschl. Downloads und Apps)“ weitere 4,35 EUR.Footnote 1 Im Falle der Notwendigkeit einer Neuanschaffung wäre der:die Betroffene im Zweifel auf die Inanspruchnahme eines Darlehens angewiesen, das wiederum aus dem ohnehin zu knappen Regelsatz zurückgezahlt werden müsste. Diese offensichtlich lebensfernen Werte liegen in der Erhebungsmethode der EVS begründet, für die repräsentativ ausgewählten Haushalte jeweils für ein Quartal lang ein Haushaltstagebuch führen. Erfasst werden nur tatsächlich angefallene Ausgaben; pro Ausgabeposition wird dann ein Durchschnitt ermittelt. Je weniger Computer, Kinderfahrräder oder Waschmaschinen also insgesamt gekauft werden, desto niedriger werden die Durchschnittswerte. Hier scheitert das Statistikmodell an der Wirklichkeit und den tatsächlichen Preisen langlebiger Gebrauchsgüter. Sachgerechter wäre beispielsweise, grundsätzlich die Möglichkeit wieder einzuführen, die es im alten Bundessozialhilfegesetz gab, einmalige Leistungen für außerordentliche Anschaffungen langlebiger Gebrauchsgüter wie einen Computer zu gewähren.

3 Es fehlt an Praxis!

3.1 Digitale Teilhabe braucht mehr als Laptop und Bytes

Im Rahmen eines beteiligungsorientierten Pilotprojekts zur digitalen Teilhabe Armutsbetroffener ist der Paritätische Gesamtverband mit Haupt- und Ehrenamtlichen aus rund 80 gemeinnützigen Organisationen und Einrichtungen aus dem gesamten Bundesgebiet sowie deren Klient:innen der Frage nachgegangen, was es braucht, um armen Menschen gleichwürdige Teilhabe im digitalen Raum zu ermöglichen. Ziel war es, gemeinsam einen digitalen Kongress zu konzipieren und durchzuführen, an dem die Klient:innen selbstbestimmt teilnehmen konnten. Den an dem Projekt mitwirkenden Organisationen wurden insgesamt 100 Laptops zur Verfügung gestellt, um interessierten Klient:innen die Teilnahme am Kongress sowie an vorbereitenden Videokonferenzen zu ermöglichen.

Eine Umfrage unter den Projektteilnehmenden bestätigte, dass die größte Hürde auf dem Weg zur digitalen Teilhabe die aus finanziellen Gründen fehlende oder veraltete Technik ist. Doch digitale Teilhabe ist nicht nur eine Frage der technischen Ausstattung. Es zeigte sich, dass der Prozess große personelle Ressourcen in der Begleitung vor Ort und intensive Trainings und Probeläufe vorab benötigte. Der sichere Umgang mit der Technik und ein souveräner Auftritt im digitalen Raum braucht Wissen und Übung. Für viele Teilnehmer:innen stellte bereits die aus organisatorischen Gründen erforderliche Anmeldung per E-Mail-Adresse zur Konferenzplattform eine große Barriere dar, die Stress auslöste, da sie noch nie eine eigene E-Mail-Adresse eingerichtet oder genutzt hatten.

Im Ergebnis ist es im Rahmen des Pilotprojekts gelungen, einen erfolgreichen Prozess und am Ende einen bemerkenswerten Kongress umzusetzen, der auch konzeptionell neue Standards hinsichtlich der Barrierefreiheit setzte. Das Feedback der Projektteilnehmenden war durchweg positiv: Vielerorts wurden Folgeaktivitäten umgesetzt, die Klient:innen berichteten von positiven Erfahrungen der Selbstwirksamkeit, die ihr Selbstbewusstsein auch im Umgang mit Ämtern und Behörden sehr gestärkt hätten. Die inhaltlichen Impulse, die von den Armutsbetroffenen selbst und den Hauptamtlichen aus den beteiligten Organisationen eingebracht wurden, stimmten jedoch sehr nachdenklich: Ohne die intensive Flankierung im Pilotprojekt hätten viele Teilnehmer:innen den digitalen Anschluss nicht gefunden.

Die Relevanz von Schulungen und begleitender Unterstützung wird auch durch die Forschung unterstrichen. Digitale Kompetenzen müssen erworben und trainiert werden, „digital literacy“ muss erarbeitet werden. Wo Berufstätige sich durch „training on the job“ technisch auf einem aktuellen Stand halten, fehlt es Arbeitslosen häufig an vergleichbaren Experimentier- und Lernräumen. Eine Schweizer Studie untersuchte Hürden und Chancen der Digitalisierung für Armutsbetroffene und Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und kommt im Ergebnis zu der Empfehlung, dass es neben funktionierenden Geräten einfach verständliche, kostenfreie Kurse und zusätzliche Unterstützung braucht, wobei insbesondere die Möglichkeit der Beratung innerhalb einer Peer-Group als nützlich erachtet wird (Hegedüs et al. 2023). Der Nutzen offener, fachlich betreuter Angebote wie Digitalsprechstunden oder Digital-Cafés, die vielfach von gemeinnützigen Organisationen wie Nachbarschaftszentren angeboten werden, wurde auch von Teilnehmer:innen am Paritätischen Pilotprojekt bestätigt.

3.2 Digitale Teilhabe braucht Erprobungs- und Erfahrungsräume

Bereits das Ausweichen auf öffentlich zugängliche Rechner ist im Alltag eine dauerhafte Herausforderung, wie ein Teilnehmer des Aktionskongresses gegen Armut 2021 anschaulich berichtete:

„Bei uns im Kreis stellt das Jobcenter keine Arbeitsplätze zur Verfügung, die Arbeitssuchende nutzen könnten, um nach Stellen zu recherchieren, Bewerbungen zu schreiben, auszudrucken und irgendwo hinzuschicken. … Man wird mehr oder weniger gezwungen, eine bestimmte Anzahl an Bewerbungen rauszuschicken jeden Monat. Wie soll das jemand machen, der keinen eigenen Rechner hat? Wir haben im Mehrgenerationenhaus, in dem ich aktiv bin, einen Rechner, der ist aber jetzt weggefallen. Weil wir das vom Konzept her nicht mehr realisieren konnten. Jetzt stehen die Menschen da und wissen nicht, was sie machen sollen, wie sie ihre Bewerbungen schreiben sollen.“ (Hanke L., zitiert nach: Der Paritätische Gesamtverband 2021, S. 22).

Gemeinnützigen Begegnungsorten wie Nachbarschaftszentren oder Beratungseinrichtungen kommt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle zu, für die diese jedoch in der Fläche kaum adäquat ausgestattet sind. Aus der Beratungspraxis Paritätischer Mitgliedsorganisationen wird wachsender Unterstützungsbedarf hinsichtlich digitaler Aktivitäten angezeigt. In nahezu allen Lebensbereichen ist die Online-Kommunikation das neue Normal: Ob Wohnungssuche, die Bewerbung für einen Aushilfsjob, die Suche eines Kindergartenplatzes oder die Kommunikation mit dem Jobcenter – kaum eine Herausforderung, mit der Klient:innen in Beratungseinrichtungen kommen, ließe sich ohne Internet lösen. Im Rahmen eines Fachgesprächs zum Thema Armut und Digitalisierung (19.4.2023) berichteten Mitarbeitende der Beratungsstelle „Arbeit Perspektive Bielefeld“, dass ihre Klient:innen in der Regel nicht über die entsprechende Technik und vielfach nicht einmal über E-Mail-Adressen verfügen. Fehlendes Know-how, Sprachprobleme oder Einschränkungen wie Analphabetismus führten zu zusätzlichen Problemen, die das Ausfüllen eines Online-Formulars zur schier unüberwindlichen Herausforderung machten. Der dadurch anfallende Unterstützungsbedarf ist mit den vorhandenen Ressourcen der Beratungsstelle kaum zu bewerkstelligen. Für notwendige Bildungsangebote zur Selbstbefähigung, die dringend benötigt würden, fehlen personelle Ressourcen (Schabram 2023).

4 Ein Online-Formular allein löst keine Probleme

Neben fehlender Technik und mangelnder Praxis kommt eine weitere Schwierigkeit hinzu: Das, was (nicht nur) staatliche Akteure bisweilen unter „Digitalisierung“ verstehen, ist nicht immer State-of-the-Art und schon gar nicht zwingend nutzer:innenorientiert und barrierearm. Vielfach bedeutet Modernisierung der Verwaltung bisher noch immer, dass ein Online-Formular zur Verfügung gestellt wird, um am Ende den Antrag dann doch eben auszudrucken, zu unterschreiben und einzureichen. Häufig fehlt es an mehrsprachigen Erläuterungen und an Hinweisen in leichter oder doch wenigstens einfacher Sprache. Das „Merkblatt“ der Bundesagentur für Arbeit mit allen notwendigen Erläuterungen zum Bürgergeld umfasst nach wie vor 100 Seiten (!), die Ausfüllhinweise der Bundesagentur für Arbeit, um Nutzer:innen die (digitale) Antragstellung zu erleichtern, immer noch 12 Seiten. Dass darüber hinaus noch eine ganze Reihe an Erklärvideos bereitgestellt werden, macht die Sache kaum übersichtlicher (siehe: www.jobcenter.digital).

Banale Probleme tauchen beispielsweise u. a. durch fehlende Möglichkeiten zum Zwischenspeichern auf. Die Kolleg:innen aus der Beratungsstelle „Arbeit Perspektive Bielefeld“ berichten, dass das gemeinsame Ausfüllen von Anträgen mit Klient:innen häufig unterbrochen und verschoben werden muss, weil mitten im Prozess eine Frage nicht beantwortet werden könne. Dies führe für alle Beteiligten zu viel Frust, da ein neuer Termin vereinbart werden muss, bei dem dann der Antrag komplett neu bearbeitet werden müsse. Skeptisch bewerten sie insbesondere, dass ohne ein persönliches Gespräch oder ein Anschreiben jenseits des Formulars Sachverhalte kaum in der Komplexität jedes Einzelfalls beschrieben und erklärt werden können. Das Leben vieler Klient:innen passe eben nicht auf die massenverwaltungstauglichen Vorgabemasken. Die Folge seien sich in die Länge ziehende Verfahren, weil Anträge zunächst abgelehnt werden und dann nach Widerspruch weitere Nachweise abgefragt würden. Demgegenüber habe der Weg der nicht-elektronischen Antragstellung, bei der Sachverhalte detaillierter erläutert, aber auch Fragen zunächst offengelassen und später beantwortet werden können, in vielerlei Hinsicht Vorteile (Schabram 2023).

Mit dem 2017 in Kraft getretenen Onlinezugangsgesetz (OZG) sollten ursprünglich innerhalb von fünf Jahren alle öffentlichen Verwaltungsleistungen digitalisiert werden. Nachdem dieser ambitionierte Zeitplan scheiterte, wurde ein zweiter Anlauf – dieses Mal ohne Umsetzungsfrist – im Mai 2023 auf den Weg gebracht. Das Gesetz zur Änderung des Onlinezugangsgesetzes sowie weiterer Vorschriften zur Digitalisierung der Verwaltung (OZGÄndG) nimmt auch das Thema Barrierefreiheit stärker in den Fokus. Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Freie Wohlfahrtspflege begrüßte dies explizit in einer Stellungnahme, formulierte jedoch gleichzeitig Skepsis bezüglich einer wirklich diskriminierungsfreien Umsetzung. Um einer digitalen Spaltung vorzubeugen, sei auch in Zukunft, so das Plädoyer, ein Anspruch auf analoge Kommunikation zu gewährleisten (Mattern 2022).

5 Fazit: Der weite Weg zur digitalen Teilhabe für alle

Schnelle Hilfen und ein einfacher Zugang zu Sozialleistungen, so heißt es im Gesetz zum neuen Bürgergeld, sollen das Vertrauen in den Sozialstaat stärken. Die digitale Antragstellung soll ein zentraler Baustein auf dem schnellen Weg vom individuellen Anspruch zum Leistungsbezug sein. Kann unter den skizzierten Umständen dieses Versprechen gehalten werden? Skepsis ist angebracht. Praktiker:innen aus Beratungsstellen prognostizieren vielmehr neue Ausschlüsse und befürchten, dass staatliche Leistungen künftig eher noch schwieriger und in geringerem Ausmaß diejenigen Menschen erreichen, die zwingend darauf angewiesen wären, aber digital abgehängt sind. So häufen sich Problemanzeigen, nach denen die nicht-elektronische Antragstellung verkompliziert und erschwert werde, die Bearbeitung entsprechender Anträge oftmals mit Verzögerungen einhergingen und staatliche Stellen zur digitalen Abgabe von Anträgen drängten oder in Einzelfällen gar die persönliche Annahme von Unterlagen verweigerten.

Die Potenziale der Digitalisierung, die nicht nur für Behörden Effizienzgewinne, sondern auch für viele Antragstellende große Erleichterungen bringen könnten, werden nicht ausgeschöpft, so lange nicht gleichzeitig auch in die Voraussetzungen digitaler Teilhabe für alle investiert wird. Es muss sichergestellt sein, dass sich jede:r die technische nötige, zeitgemäße Ausstattung leisten kann und anfallende Kosten durch einen wirklich armutsfesten Regelsatz auch abgedeckt und Kosten für notwendige größere Anschaffungen als einmalige Leistungen übernommen werden. Es braucht einen Ausbau digitaler Infrastruktur wie bspw. auch mehr öffentlichen Zugang zu freiem Internet, wobei Konzepte universeller (Gratis-)Grundversorgung interessante Anknüpfungspunkte bieten (Gough 2022). Es braucht vor allem aber auch Erprobungs- und Experimentierräume, in denen digitale Kompetenzen erlernt und Erfahrungen gesammelt werden können. Gemeinnützige soziale Organisationen als wichtige Anlaufstellen für vulnerable Gruppen können hier einen unverzichtbaren Beitrag zur umfassenden digitalen Teilhabe leisten, indem sie Zugänge ermöglichen und Befähigung fördern. Dafür brauchen sie aber deutlich mehr Ressourcen, als ihnen derzeit zur Verfügung stehen.

Schließlich darf bei allen Zukunftsvisionen vom schönen digitalen Leben für alle das Recht auf ein analoges Leben nicht aus dem Blick geraten. Digitalisierung soll das Leben leichter machen und verschafft idealerweise in Behörden zeitliche Freiräume, die anderweitig, zum Beispiel für persönliche Beratung, genutzt werden können. Sie darf aber nicht dazu missbraucht werden, Menschen in existenzieller Not auf ein Online-Formular zu verweisen und ihnen persönliche Beratung und Unterstützung zu verwehren, falls sie diese benötigen, um ihrem Rechtsanspruch auf existenzielle Grundsicherungsleistungen Geltung zu verschaffen.