1 Der weite Weg zum Bürgergeld

Das seit 2023 geltende „Bürgergeld“ sollte die unbeliebte Sozialleistung „Hartz 4“ ablösen, zugleich aber auch (noch) kein „Grundeinkommen“ sein. Es war ein weiter Weg zum Bürgergeld und für viele Menschen ist der Weg zum Bürgergeld noch weit. Um diesen Weg nachzuzeichnen und zu deuten, muss das neue Bürgergeld in seiner sozialpolitischen Geschichte und Bedeutung reflektiert werden. Wie viel „Hartz 4“ und damit „Aktivierung“ und „Kommodifizierung“, also nachdrückliche Eingliederung in den Erwerbsarbeitsmarkt steckt auch im neuen „Bürgergeld“? Zugleich verändert sich mit den Zugangsbedingungen auch für Bürgerinnen und Bürger der Weg zur Grundsicherung. Dieser Weg soll unter dem Aspekt der Nichtinanspruchnahme beleuchtet werden. Denn bei bedürftigkeitsgeprüften Sozialleistungen gilt mehr als für andere Leistungen: Es ist ein weiter Weg vom individuellen Anspruch bis zum Leistungsbezug, den viele Menschen nicht gehen (wollen). Warum so viele Menschen auf ihren sozialrechtlichen Anspruch verzichten und ob sich durch das Bürgergeld etwas an diesem Sachverhalt ändern kann, das sind zentrale Fragen, die in diesem Band bearbeitet werden.

1.1 Grundzüge des Bürgergeldes

In der Systematik der bundesdeutschen Sozialpolitik gehört das Bürgergeld zu den Grundsicherungsleistungen. Es unterstützt jene Menschen in Deutschland, die ihren finanziellen Bedarf nicht decken können. Zur Grundsicherung gehören auch andere Leistungen, wie das Asylbewerberleistungsgesetz, die Sozialhilfe und Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Bäcker et al. 2020, S. 246 ff.). Das Bürgergeld ist aber durch seinen Empfänger:innenkreis und seine enge Bindung an den Arbeitsmarkt der bedeutendste Teil der Grundsicherungsleistungen. Nach Angaben der Monatsstatistik der Bundesagentur für Arbeit bezogen Anfang 2024 ca. 4 Mio. erwerbsfähige Personen Bürgergeld. Hinzu kommen ca. 1,5 Mio. nicht erwerbsfähige Angehörige.

Um den weiten Weg zum Bürgergeld nachvollziehen zu können, hilft eine erste Einordnung. Als Bestandteil des Grundsicherungssystems steht das Bürgergeld in der armutspolitischen Tradition der Fürsorgeleistungen (Bäcker 2021, S. 44). Vom repressiven System der Armenfürsorge ohne Rechtsanspruch (​Boeckh et al. 2022) unterscheidet sich das Bürgergeld grundlegend. Gleichzeitig bricht es nicht mit den zentralen Strukturprinzipien von Fürsorgeleistungen: Bedarfsorientierung und Bedürftigkeitsprüfung (Bahle 2021, S. 246; Opielka 2008, S. 25 f.). Das heißt, Ansprüche werden nur dann gewährt, wenn eigene Ressourcen des Haushalts den Bedarf nicht decken können. Aus der Bedarfsorientierung ergibt sich im Regelfall ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Leistungen. Das betrifft im Sinne des sogenannten Subsidiaritätsprinzips erstens den Einsatz eigener Einkommens- und Vermögensressourcen. Zweitens werden, was der Familienkomponente des Subsidiaritätsprinzips entspricht, Unterstützungsleistungen naher Angehöriger oder Haushaltsmitglieder eingefordert. Und drittens müssen vorgelagerte Sozialleistungen berücksichtigt werden (insbesondere: Wohngeld). Um Grundsicherung zu erhalten, müssen Antragstellende einen Mangel an eigenen Ressourcen immer erst in einer Bedürftigkeitsprüfung nachweisen. In der praktischen Umsetzung setzt die Bedürftigkeitsprüfung eine aktive Mitwirkung und die Erbringung umfangreicher Nachweise voraus. Auch im Leistungsbezug ist eine aktive Mitwirkung verpflichtend. Beziehende müssen Bemühungen zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit nachweisen und werden bei mangelnder Mitwirkung sanktioniert. Im Schatten monetärer Unterstützungsleistungen müssen sich Beziehende deshalb immer auch einer sozialstaatlichen ‚Behandlung‘ unterziehen (Offe 1984, S. 111; ähnlich: Vobruba 2020, S. 114–116). Wie umfassend die ‚Behandlung‘ ist, wurde mit dem Bürgergeld-Gesetz modifiziert. Eine genaue Analyse dieser Veränderungen ist für die politische Bewertung der Reform, aber auch für die Adressat:innen des Bürgergelds entscheidend.

Das ab 2023 in Kraft getretene Bürgergeld-Gesetz umfasst zahlreiche Änderungen der sogenannten Grundsicherung für Arbeitssuchende. Wir fassen an dieser Stelle die zentralen Änderungen überblicksartig zusammen.Footnote 1 Wie sich unterschiedliche Reformelemente in die bisherige Systematik der Grundsicherung fügen und wie diese Änderungen sozialwissenschaftlich zu deuten sind, wird umfassend in den Beiträgen des Bandes bearbeitet:

  • Anhebung der Regelbedarfe um ca. 53 EUR auf 502 EUR (für Alleinlebende) ab 01.01.2023 (und erneut um 61 EUR auf 563 EUR ab 01.01.2024).

  • Einführung von Karenzzeiten für die Berücksichtigung von Wohnkosten und Vermögen bei der Bedürftigkeitsprüfung und Anhebung des Schonvermögens.

  • Anhebung der Hinzuverdienstgrenzen und Freibeträge bei Erwerbstätigkeit.

  • Sanktionsregelungen werden moderat angepasst. Eine zunächst vorgesehene Karenzzeit wurde im Gesetz nicht eingeführt.

  • Abschaffung des Vermittlungsvorrangs. Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen erhalten eine höhere Priorität gegenüber der unmittelbaren Aufnahme einer Erwerbstätigkeit.

  • Eingliederungsvereinbarungen werden durch Kooperationspläne ersetzt. Leistungsbeziehende erhalten einen größeren Spielraum zur Gestaltung von Eingliederungsmaßnahmen.

2 Systematische Überlegungen

Der vorliegende Band lässt sich programmatisch auch als Versuch verstehen, die Sozialpolitikforschung und die Armutsforschung näher aneinander heranzuführen. Die Diskurse beider Forschungsrichtungen sind bei genauer Betrachtung erstaunlich separiert. In der Armutsforschung werden die Lebenslagen von Bevölkerungsgruppen mit geringen Einkommen aus der Perspektive sozialer Probleme in den Blick genommen. Es geht darum, Armut aufzudecken, die Lebensverhältnisse in Armut zu beschreiben und gesellschaftliche Folgen von Armut in den Blick zu nehmen (z. B. Huster et al. 2018). In Deutschland ist der Armutsdiskurs sehr stark durch die Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung institutionalisiert. Sie sollen regelmäßig wie ein Brennglas bestimmte Problembereiche für von Armut Betroffene oder Gefährdete aufzeigen. Auch wenn der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung formal dem Arbeits- und Sozialministerium zugeordnet ist, so ist dessen politische Relevanz vergleichsweise begrenzt. Der Armuts- und Reichtumsbericht kann hier stellvertretend für die Rolle der Armutsforschung im politischen System gesehen werden: Man deutet auf Missstände und legt den Finger in die Wunde – das Ganze bleibt aber wenig folgenreich.

Die Sozialpolitikforschung ist demgegenüber deutlich stärker institutionalisiert und an relevante Interessengruppen und Entscheidungsträger angebunden. Aus Perspektive der Sozialpolitikforschung werden Lebenslagen von Bevölkerungsgruppen mit geringen Einkommen deutlich pragmatischer im Wechselspiel mit verschiedenen gesellschaftlichen Interessensgruppen analysiert. Armutsprobleme werden hier immer auch im Kontext von Geld-, Moral-, Rechts- und Organisationsproblemen betrachtet.

Die Nichtinanspruchnahme als ein Schwerpunkt in diesem Band befindet sich an der Schnittstelle zwischen Armuts- und Sozialpolitikforschung. Erste Forschungen zur Nichtinanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen in Deutschland fanden zu Beginn der 1980er Jahre statt (Hartmann 1981) und wurden später von Armutsforscher:innen fortgeführt (z. B. Becker und Hauser 2003). Für den sozialpolitischen Diskurs war die Frage der Nichtinanspruchnahme bisher eher randständig. Sie ist für sozialpolitische Fragen aber hoch anschlussfähig. Die Beiträge zur Nichtinanspruchnahme in diesem Band führen diese Anschlussfähigkeit facettenreich vor. Aus der sozialpolitischen Rekonstruktion der Bürgergeldreform mit ihren Pfadabhängigkeiten und politischen Verortungen wird sehr deutlich, wie kleinteilig und langwierig politische Reformprozesse sind, und welche Rolle verschiedene Stakeholder in diesem Prozess einnehmen (Opielka und Strengmann-Kuhn in diesem Band). Durch die Rekonstruktion von Lebensperspektiven in Nichtinanspruchnahme gewinnt wiederum die Sozialpolitikforschung wichtige Einblicke: In das ‚Warum?‘ und ‚Wozu?‘ der Nichtinanspruchnahme (Sielaff und Wilke in diesem Band). Während die Sozialpolitikforschung in der Regel eine Steuerungsperspektive einnimmt und Sozialpolitik als Instrument der Integration von Subjekten in die Gesellschaft betrachtet (Vobruba 2000, S. 104–121), lässt sich aus der Perspektive der Bürger:innen deutlich differenzierter auf Integrations- und Desintegrationspotenziale von Sozialpolitik schauen. Denn nicht jeder sozialpolitisch geschaffene Tatbestand hilft den Bürger:innen bei der Bewältigung des Alltags. Nicht selten stellen die mit dem Bezug einhergehenden Konsequenzen so große Hürden für die Leistungsberechtigten dar, dass sie darauf bewusst verzichten. Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass aus dem Verzicht oft sozialpolitische Folgekosten entstehen. In bedürftigkeitsgeprüften Systemen wird Nichtinanspruchnahme – solange die Leistungsgewährung nicht automatisiert abläuft – aufgrund der sozialstaatlichen Anforderungen immer Teil des Systems sein. Das lehrt auch die internationale Forschung zur Nichtinanspruchnahme von bedürftigkeitsgeprüften Sozialleistungen (Mechelen und Janssens 2022).

3 Disziplinäre Verortung

Der Band hat ein verbindendes Anliegen. Er möchte Wissenschaft & Praxis verbinden und das Bürgergeld damit auch stärker in den Fokus der Sozialen Arbeit rücken. Der wissenschaftliche Beitrag zum Band besteht vorrangig in einer soziologischen und rechtswissenschaftlichen Analyse. Die Perspektive der Ökonomie oder der Zeitgeschichte auf das Bürgergeld ist dagegen im Band kaum abgebildet. Der Grund ist vor allem der Profession der Herausgeber geschuldet. Die Ökonomie spielt in der Gestaltung sozialpolitischer Reformen immer eine wesentliche Rolle, sowohl als Teilbereich der Wissenschaft als in Form des Wirtschaftssystems. Neben unmittelbaren fiskalischen Auswirkungen gestaltet die Bürgergeldreform beispielsweise die Schnittstelle zum Arbeitsmarkt um. Ob sich aus der Reform nennenswerte wirtschaftliche Effekte ergeben, muss untersucht werden. Für derartige Diskussionen sei an andere Stellen verwiesen.Footnote 2

Die Einbindung der (sozialarbeiterischen) Praxis in diesen Band gestaltete sich schwieriger als gedacht. Dabei sind die sozialen Dienste auf vielfache Weise mit potenziellen Empfänger:innen des Bürgergeldes verwoben. Insbesondere die Nichtinanspruchnahme ist prädestiniert als Handlungsfeld der Sozialen Arbeit. Der Beitrag von Welskop-Deffaa (in diesem Band) zeigt einige der Verknüpfungen auch eindrücklich auf. Was auf der Tagung im Juni 2023 in Jena gelang, auf der mehrere Beiträge dieses Bandes erstmals diskutiert wurdenFootnote 3, nämlich in einen Wissensaustausch zu treten mit Akteuren aus der Sozialen Arbeit, war bei der Zusammenstellung des Bandes schwieriger. Die vor Ort involvierte Praxis ist nicht nur stark in Alltagsherausforderungen eingebunden, sondern pflegt auch andere Formen kommunikativen Austausches als die Wissenschaft. Beiträge aus der sozialraumorientierten Sozialarbeit wie aus der Thüringer Wohlfahrtspflege haben deshalb leider nicht den Weg von der Tagung in diesen Band geschafft. Tatsächlich sehen wir in den unterschiedlichen Kommunikationswegen zwischen Praxis und Wissenschaft durchaus eine Gefahr, weil es einen gebrochenen Informationsfluss gibt. Wenn Befunde und Diagnosen aus der Praxis in Form und Inhalt an wissenschaftliche Diskussionen nicht anschlussfähig sind, so können sie auch nicht zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Analyse werden. Gleichzeitig werden dann wissenschaftliche Analysen als praxisfern wahrgenommen und zunehmend weniger rezipiert. An der Nichtinanspruchnahme lässt sich dies recht gut studieren: Weil Praxisakteure vor Ort in der Regel mit Leistungsempfänger:innen Kontakt haben, und Nichtinanspruchnehmende in ihrer Lebenswirklichkeit nur selten vorkommen, unterschätzen sie tendenziell die Nichtinanspruchnahme. Beispielsweise können Voigtländer et al. (2013, S. 33 f.) durch einen Vergleich von Mikrosimulation und Befragungen unter Behördenmitarbeitenden beim Wohngeld zeigen, dass letztere die Nichtinanspruchnahme deutlich unterschätzen. Nicht nur hier ist dringend ein verstärkter gegenseitiger Austausch notwendig – auch wenn sich der Weg dahin als nicht einfach erweist.

4 Beiträge im Band

Im ersten Themenblock des Bandes geht es um den sozialpolitischen und sozialrechtlichen Weg zum Bürgergeld. Den weiten Weg der politischen Genese des Bürgergeldes zeichnen die Beiträge von Börner/Kahnert und Opielka/Strengmann-Kuhn auf ganz unterschiedliche Weise nach. Eng an der Metapher des Weges angelehnt spüren Börner/Kahnert pfadabhängigen Entwicklungen der Bürgergeldreform nach. Mithilfe soziologischer Institutionentheorien analysieren sie die Gesetzgebungsprozesse in den Jahren 2003–2022. Anhand der zentralen Reformelemente „Fördern und Fordern“, „Eingliederungsvereinbarung“ und „Sanktionen“ zeigen sie sehr präzise sozialpolitische Richtungswechsel auf. Institutionentheoretisch folgen die Reformen bis zum Bürgergeld einem Pfad inkrementellen Wandels. Empirisch lässt sich zeigen: Auch wenn die Bürgergeldreform neue sozialpolitische Elemente enthält, einen Paradigmenwechsel stellt sie nicht dar – vielmehr deutete sich der politische Richtungswechsel bereits seit 2008 an.

Die Frage nach den zeitlichen Kontinuitäten steht auch im Mittelpunkt des Beitrags von Opielka/Strengmann-Kuhn. Der Begriff „Bürgergeld“ tauchte bereits in den 1970er Jahren im politischen Diskurs auf. Damals allerdings eher in einer liberal-konservativen Denktradition, wie später auch das „Solidarische Bürgergeld“ des Thüringer CDU-Ministerpräsidenten Althaus. Dass ein so besetzter Begriff unter der SPD seine politischen Vorzeichen ändert und den Titel einer großen Sozialreform trägt, ist schon erstaunlich. Indem Opielka/Strengmann-Kuhn die Bürgergeldreform in vier idealtypische Reformszenarien und Wohlfahrtsregime-Typen einordnen, eröffnen sie gleichzeitig den Blick auf mögliche Zukunftsszenarien: Den Fokus legen sie auf Anschlussmöglichkeiten für eine Transformation des Bürgergeldes in Richtung eines Grundeinkommens.

Zukunftsszenarien spielen im Beitrag von Laufenberg ebenfalls eine zentrale Rolle, wenn auch weniger mit sozialpolitiktheoretischem Hintergrund. Aus einer soziologischen Perspektive kritisch-theoretischer und marxistischer Prägung ordnet er die Bürgergeldreform in den Kontext eines erwerbszentrierten Sozialsystems ein. Die Erwerbszentrierung des sozialpolitischen Systems in Deutschland mit der starken Fokussierung auf Sozialversicherungen führt nach seiner Analyse zu einer ganzen Reihe von Folgeproblemen: es verstärkt den herrschaftsförmigen Charakter eines kapitalistisch organisierten Arbeitsmarkts; es reproduziert Ungleichheiten aufgrund der Äquivalenz von Beiträgen und sozialpolitischen Leistungen; und es macht Formen von Arbeit außerhalb des Erwerbsarbeitssystems unsichtbar. Die Bürgergeldreform löst die Probleme der Erwerbszentriertheit nicht auf. Vor diesem Hintergrund plädiert er für grundsätzliche Veränderungen in der Art und Weise, wie wir Arbeit und Sozialpolitik denken.

Der Beitrag von Beetz/von Harbou untersucht die sozialrechtliche Entwicklung zum Bürgergeld entlang der Entwicklung von SGB II-Sanktionen zu Leistungsminderungen. Dazu werden die Sanktionsnormen aus dem alten „Hartz IV“-System dargestellt, die bis Ende 2022 galten, um so die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 zur teilweisen Verfassungswidrigkeit der damaligen Regelungen zu erläutern. Anschließend skizzieren die Autor:innen die Datenlage zu Sanktionierungen unter Berücksichtigung des Zwecks solcher Leistungsminderungen, um schließlich die Neuregelungen durch das Bürgergeldgesetz vorzustellen und verfassungsrechtlich zu bewerten.

Im zweiten Themenblock des Bandes geht es um den individuellen Weg zum Bürgergeld am Beispiel des Problems der Nichtinanspruchnahme. Die Beiträge von Sielaff/Wilke und Eckhardt zeichnen aus einer subjektzentrierten Perspektive nach, wie weit der Weg zu Grundsicherungsleistungen ist. Die Beiträge bündeln qualitative Studien zur Nichtinanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen, die bislang in der deutschen Forschungslandschaft weitestgehend fehlen. Auf den ersten Blick ähneln sich die Ergebnisse der Analysen trotz abweichender Samplestrategien deutlich. Für die Relevanz und Validität der Ergebnisse ist das ein gutes Zeichen. Dennoch lohnt ein sorgsames Textstudium beider Beiträge, weil im Detail dann doch deutliche Unterschiede zu Tage treten. Aus dem Beitrag von Sielaff/Wilke lässt sich lernen, dass die Metapher des Wegs zuallererst einer sozialpolitischen Lesart ‚von oben‘ entspricht. Aus subjektzentrierter Perspektive ‚von unten‘ sehen sich die Befragten oft gar nicht auf dem Weg zur Grundsicherung. Im Gegenteil steht die Grundsicherung nicht selten für ein Hindernis oder gar das Scheitern auf ihrem eigenen Weg. Eckhardt und Sielaff/Wilke betonen beide die Autonomiebestrebungen Nichtinanspruchnehmender. Ob solche Autonomiebestrebungen wie bei Eckhardt als Form des Widerstands gegen den Sozialstaat gedeutet werden können, oder ob aus Nichtinanspruchnahme Kritik am Sozialstaat erwachsen kann, darüber lässt sich jedoch streiten. Nimmt man die empirischen Befunde zur sozialen Verortung, Vernetzung und Verankerung der Personen in Nichtinanspruchnahme bei Sielaff/Wilke ernst, so lässt sich kaum ein Organisationspotential der ‚Gruppe‘ der Anspruchsberechtigten erkennen. Da die Feldphase beider Projekte (kurz) vor der Einführung des Bürgergeldes stattfand, schließen die Beiträge mit Überlegungen, wie sich Logiken des Verzichts unter dem Bürgergeld verändern könnten. Ob die Überlegungen empirisch zutreffen, wird der kommende 7. Armuts- und Reichtumsbericht zeigen, der sich dezidiert mit qualitativen Untersuchungsstrategien auf das Thema Nichtinanspruchnahme konzentriert.

Der Beitrag von Frericks/Höppner analysiert Nichtinanspruchnahme aus einer ganz anderen Perspektive, als Differenz zwischen de jure und de facto Zahlungen an Familien in mehreren europäischen Ländern. Sie analysieren die Zahlungsströme an Familien mit dem Mikrosimulationsmodell der Europäischen Union (EUROMOD). Sie berechnen für armutsgefährdete Familien in acht europäischen Ländern, in welchem Umfang ihnen sozialpolitische Leistungen zustehen würden und wie viel sie tatsächlich bekommen. Durch diese Perspektive nehmen sie neben der Nichtinanspruchnahme auch dessen Gegenseite in den Blick – nämlich Konstellationen, in denen Haushalte aufgrund von Missbrauch oder falscher Berechnungsgrundlage mehr Leistungen bekommen als ihnen sozialrechtlich zustehen (siehe hierzu allgemein: Roosma et al. 2016). Im Mittel, so zeigen die empirischen Analysen, haben die Familien in den untersuchten Ländern deutlich weniger Finanzmittel zur Verfügung, als ihnen laut Simulation rechtlich zustehen würden. Insofern zeigen die Ergebnisse das aus der Nichtinanspruchnahmeforschung bekannte Bild eines erstaunlich verbreiteten Verzichts auf Sozialleistungen. Auf der Gegenseite werden diese ‚Unterzahlungen‘ in geringem Umfang durch zu wenig gezahlte Abgaben ausgeglichen. In Deutschland, so die beiden Autorinnen, ist das Verhältnis zwischen sozialpolitischen Ansprüchen und faktischen Zahlungen besonders ungünstig.

Da neben Deutschland nur Österreich ein ähnlich ungünstiges Verhältnis ausweist, lassen sich im Anschluss an die Untersuchung begründete Spekulationen über die Rolle von Wohlfahrtsregimen anstellen. Das konservative Wohlfahrtsregime mit der Kombination aus Sozialversicherungsstaat für die Mittelschichten und bedarfsgeprüften Leistungen für untere Einkommensschichten produziert Zugangsprobleme, vor allem am unteren Ende des Einkommensspektrums. Der durch das Grundsicherungssystem vorgegebene Rechtsrahmen spielt dabei eine wesentliche Rolle. Familien mit Kindern sind überdurchschnittlich stark von Grundsicherungsleistungen abhängig. Das gilt gerade dann, wenn Familien vom klassischen Modell einer bürgerlichen Kleinfamilie abweichen (​Bäcker et al. 2020, S. 873–879). Dass sich das Verhältnis zwischen je jure und de facto Leistungen mit dem Bürgergeld substanziell verändert, ist zwar wenig wahrscheinlich, allerdings zielt gerade die im Koalitionsvertrag vereinbarte Kindergrundsicherung explizit auf die Lösung von Zugangsproblemen zu Sozialleistungen ab. Insofern könnten die für Familien kennzeichnenden Zugangsprobleme des konservativen Regimes in Deutschland sinken und Inanspruchnahmequoten steigen.

Drei Beiträge bringen im dritten thematischen Block die bereits angesprochene Praxisperspektive in den Band ein. Zum einen erinnert der Beitrag von Eva M. Welskop-Deffaa, der Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes, daran, dass das Bürgergeld darauf abzielt, die Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu verbessern. Sie stellt die Frage, ob die damit verbundenen Sozialleistungen dafür genügen. Menschen in belasteten Lebenslagen, die es schwer haben, ihre Existenz durch eigene Erwerbsarbeit zu sichern, sind, so die Beobachtungen der sozialarbeiterischen Praxis, oft in ihrer Zeitsouveränität eingeschränkt oder brauchen mehr Zeit für Alltagsobliegenheiten, weil sie beispielsweise in einem Stadtteil wohnen, der eine schlechte ÖPNV-Anbindung hat. Ein teilhabestärkendes Bürgergeldregime muss diese Lebenswirklichkeiten beachten, wie Welskop-Deffaa mit Erfahrungsberichten aus der Praxis ihres Verbandes anschaulich macht.

Zwei Praxisbeiträge fokussieren auf die Rolle der Digitalisierung bei der Einführung und Zugänglichkeit des Bürgergeldes. Der Beitrag von Gwendolyn Stilling vom Paritätischen Bundesverband sieht die Potenziale der Digitalisierung für die Beschleunigung von Verwaltungsverfahren und Bürokratieabbau. In der Praxis ergeben sich jedoch zwei große Hürden: Zum einen fehlt es nach wie vor vielen Leistungsberechtigten an den technischen Voraussetzungen, die durch das in der Höhe zu niedrige Bürgergeld nicht kompensiert werden können. Zum anderen fehlt es vielfach an konkretem Anwendungswissen und digitaler Praxis. Der Beitrag von Funke/Christ blickt aus der Praxisforschung auf das Verhältnis von Bürgergeld und Digitalisierung. Die Jobcenter haben deutlich vor anderen deutschen Behörden ihr Leistungsangebot gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern digitalisiert. Dies gilt sowohl für die gemeinsamen Einrichtungen als auch für die kommunalen Jobcenter. Im Zuge ihrer Digitalisierungsbemühungen wurde die Jobcenterwelt mit den Prinzipien, Methoden und Haltungen des nutzerzentrierten Service Designs konfrontiert. Funke/Christ argumentieren, dass der bei der Entwicklung von Online-Services unvermeidliche Fokus auf die Bedürfnisse der Nutzer:innen in der öffentlichen Verwaltung eine Bürger:innenorientierung logischerweise nach sich zieht. Die vom Bürgergeld-Gesetz angestrebte stärkere Bürger:innenorientierung wurde insoweit durch die Digitalisierung in den Jobcentern teilweise vorweggenommen. Ob die gesetzgeberische Intention des Bürgergeldes erreicht wird, nämlich einen einfachen und nicht stigmatisierenden Zugang zu Grundsicherungsleistungen zu schaffen, hängt Funke/Christ zufolge auch in Zukunft maßgeblich von einem gelungenen Onlineangebot ab. Hierzu sind noch weitere Schritte in den Jobcentern vor Ort zu gehen, insbesondere auf organisationskultureller und ablauforganisatorischer Ebene.

Die Beiträge dieses Bandes zeigen, dass der weite Weg zum Bürgergeld mit seiner Einführung nicht an ein Ziel angelangt ist, das aus Sicht von Armuts- wie Sozialpolitikforschung dauerhafte Ruhe verspricht. Dagegen sprechen die hier analysierten Spannungsverhältnisse zu anderen Sozialleistungen und die nicht nur in Bezug auf die Digitalisierung unbefriedigende Partizipation der Bürgergeldempfänger:innen. Dagegen spricht auch die starke Politisierung des Bürgergeldes im Parteienstreit, in dem Parteien, die der Einführung des Bürgergeldes zugestimmt haben, bereits Anfang 2024 für dessen Abschaffung durch eine „Neue Grundsicherung“ plädieren. Die gesellschaftspolitische Debatte, die nach der Einführung des Bürgergeldes an Fahrt gewonnen hat, macht deutlich, dass es sich um ein „moving target“ handelt, das auch in Zukunft Anlass für weitere Forschung sein wird.

Abschließend soll noch ein Hinweis auf die Entstehung des vorliegenden Bandes gegeben werden. Ausgangspunkt war eine sozialpolitische Fachtagung unter dem gleichnamigen Titel „Der weite Weg zum Bürgergeld“ am 7. Juni 2023 an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena.Footnote 4 Um die im Sammelband präsentierten Ergebnisse einer möglichst breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und so auch den weiteren Diskurs um das Bürgergeld zu befruchten, haben wir uns um eine Veröffentlichung im Open-Access Format bemüht. Dies ist mit der finanziellen Unterstützung des E-Teach Netzwerks Thüringen, der Open-Access-Förderung der Ernst-Abbe-Hochschule Jena und dem Freiburg Institute for Basic Income Studies (FRIBIS) gelungen. Neben den Fördergebern danken wir Prof. Dr. Thilo Fehmel für seine Unterstützung bei der Begutachtung der Beiträge dieses Bandes sowie Katrin Emmerich vom Verlag Springer VS für die gewohnt souveräne Begleitung seiner Entstehung.