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Verschwörungstheorien und Echokammern: die Wiederkehr des Idealismus

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Zusammenfassung

Theorien prägen unseren Blick auf die Welt. Sie sind die Voraussetzung dafür, dass wir Muster in den Daten erkennen, die unsere Sinne uns liefern. Und dies ist wiederum die Grundlage jeder zielgerichteten Interaktion, das heißt, die Grundlage unseres Handelns. In dieser Hinsicht unterscheiden sich wissenschaftliche Theorien nicht von solchen des Alltags – oder eben von Verschwörungstheorien. Der Unterschied liegt in der „Qualität“. Einige Theorien lassen uns erfolgreicher mit unserer Umgebung in Beziehung treten als andere – weil ihre Aussagen wahr sind.

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Notes

  1. 1.

    „Theorie“ meint hier (in einem weiten Sinn) solche Erklärungen, mit denen wir unseren Beobachtungen, und den Vorgängen in unserer Umgebung eine Struktur geben, indem wir Aussagen in systematischer und logischer Weise aufeinander beziehen. Der Einstieg in die (uferlose) wissenschaftstheoretische Diskussion um die Engführung des Begriffs ist für das Folgende nicht erforderlich.

  2. 2.

    Verschwörungstheorien erklären (wichtige) Ereignisse als Folge geheimer Absprachen und Aktionen einer (in der Regel überschaubaren) Gruppe von Personen, die versucht, die Ereignisse zu ihrem eigenen Vorteil (und damit zugleich zum Nachteil der Allgemeinheit) zu beeinflussen. Ausführlicher dazu: Hepfer 2021, Abschn. 1.2; vgl. Pigden 1995, S. 20; Basham 2001, S. 61; Basham 2003, S. 93; Keeley 1999, S. 116 und Coady 2003. – In der letzten Zeit ist zunehmend auch die Rede von „Verschwörungsmythen“ oder „Verschwörungserzählungen“. Die Absicht hinter dieser terminologischen Verschiebung ist nicht zuletzt, dem Eindruck entgegenzutreten, dass eine ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Behauptungen derartiger „Theorien“ lohne. Gegen die Umetikettierung sprechen allerdings wenigstens drei gute Gründe: Erstens kennt die historische Forschung eine Vielzahl von gut belegten Verschwörungen, sodass die Behauptungen der „Verschwörungstheoretiker“, die auf sie aufmerksam machten, allein deshalb schon lohnt. Zweitens ist eine Präjudizierung des Untersuchungsgegenstandes unvereinbar mit einem seriösen wissenschaftlichen Vorgehen. Und, drittens, erschwert die Einordnung als „Mythos“ (dt.: Erzählung) die Auseinandersetzung in der Sache, weil sie den Untersuchungsgegenstand begrifflich in die Literaturwissenschaft verschiebt und damit ohne Not die Möglichkeit einer wissenschaftstheoretischen Analyse verschenkt.

  3. 3.

    Ursprünglich ein Begriff aus der analogen Tontechnik, wo es darum ging, durch (kontrollierte) Nachhalleffekte ein größeres Tonvolumen zu erzeugen, bezeichnet die Echokammer heute oft Gemeinschaften im digitalen Raum, in denen Menschen vor allem mit Gleichgesinnten kommunizieren und in denen abweichende Meinungen nicht erwünscht sind. – Wesentliche Effekte der digitalen Echokammer sind neben der Verfestigung individueller Meinungen durch ihre ständige Wiederholung und Rückspiegelung und deren Verstärkung durch die gegenseitige Bestätigung, ein überproportionales „Tonvolumen“ kleiner Gruppen im allgemeinen Diskurs.

  4. 4.

    Aristoteles (in der Übersetzung von H. Seidl, 1995, bes. S. 428a f.).

  5. 5.

    Siehe Newton ([1687] 1999) (heutige Ausgaben folgen der vierten Auflage von 1730) und Newton ([1704] 1952).

  6. 6.

    Hobbes entwickelt diesen Gedanken in seiner bis heute einflussreichen Schrift Leviathan or the Matter, Forme, and Power of a Commonwealth Ecclasiasticall and Civil (Hobbes [1651] 1996).

  7. 7.

    Siehe Hume ([1739/1740] 2000); hierzu ausführlicher Hepfer (2011).

  8. 8.

    Kant (1781/7); siehe dazu Hepfer (2006, Abschn. 2.3) und die dort angegebene Literatur.

  9. 9.

    Erschwerend kommt an dieser Stelle hinzu, dass die Daten, auf die wir für unsere Interpretation der Welt zurückgreifen, niemals vollständig sind und dies auch nicht sein können, denn es ist prinzipiell unmöglich, sämtliche Eigenschaften eines Gegenstandes zu erfassen. – Tatsächlich konzentrieren wir uns bei der Bildung von Theorien stets auf einige wenige „relevante“ Merkmale, vernachlässigen andere und gewichten, verbinden und sortieren diese nach Maßgaben unserer kognitiven Voraussetzungen und der spezifischen Beschaffenheit unseres Wahrnehmungsapparates.

  10. 10.

    Der Rückgriff auf eine axiomatische Disziplin vermeidet die (ausufernde) Diskussion darüber, was überhaupt als „Datum“ zählen darf.

  11. 11.

    Für diese in der Diskussion um Verschwörungstheorien geläufige Unterscheidung zwischen „offizieller“ und „alternativer“ Version siehe z. B. Coady (2003).

  12. 12.

    Ein Beispiel für den ersten Fall ist das geozentrische (ptolemäische) Weltbild, dessen Formeln für die Berechnung der Planetenbahnen komplizierter sind als die Formeln eines heliozentrischen Weltbildes. Ein Beispiel für den zweiten Fall sind die Formeln der Newtonschen Mechanik, deren Vereinfachungen in alltäglichen Zusammenhängen gut funktionieren, in relativistischen Zusammenhängen aber zu erheblichen Fehlern führen. – Bei Theorien, die nicht von vornherein unterstellen, dass ein Phänomenbestand nur unter Rückgriff auf die Annahme einer Verschwörung oder Ähnlichem zu erklären ist, kommt zudem erschwerend hinzu, dass hier nicht nur wissenschaftstheoretische Überlegungen, sondern oft auch wissenschaftssoziologische Faktoren für die allgemeine Akzeptanz einer Theorie relevant sind (siehe Kuhn, [1962] 2003).

  13. 13.

    Psychologisch naheliegend ist es, bei gleicher Erklärungsleistung, der „eleganteren“ Theorie den Vorzug zu geben – auch wenn dieses „Kriterium“ selbst sich einer exakten Bestimmung entzieht. „Elegance can make the difference between a psychologically manageable conceptual scheme and one that is too unwieldy for our poor minds to cope with effectively. Where this happens, elegance is simply a means to the end of a pragmatically acceptable conceptual scheme“ (Quine, [1948] 1980, S. 79).

  14. 14.

    Heute wird der Grundgedanke des Idealismus meistens etwas schwächer formuliert, nämlich als „esse est percipile esse“ („Sein bedeutet wahrnehmbar zu sein“).

  15. 15.

    Der erste Versuch, dieser Einsicht systematisch Rechnung zu tragen und sie erkenntnistheoretisch fruchtbar zu machen, findet sich im Transzendentalen Idealismus der ersten Kritik (siehe Kant, [1781/7] 1998).

  16. 16.

    So die Zahl für Deutschland. Die jüngeren Jahrgänge tragen etwas mehr zum Durchschnitt bei als die älteren. In der Gruppe der 16–18-jährigen tritt die digitale Welt mit insgesamt über 70 h Online-Zeit wöchentlich (davon Handy: Mädchen 49.7 h, Jungen 38.1) an die Stelle analoger Beschäftigungen und direkter Weltwahrnehmung; wobei in jüngster Zeit die Corona-Pandemie noch einmal zu einer deutlichen Steigerung der auch 2019 schon nicht unerheblichen 58 Online-Stunden pro Woche geführt hat (Postbank Jugend-Digitalstudie 2021).

  17. 17.

    Im Dezember 2009 kündigte Google (heute Alphabet) erstmalig öffentlich an, seine Angebote zu „personalisieren“, das heißt, gezielt auf jeden einzelnen Nutzer zuschneiden zu wollen. Die Konkurrenz – unter ihnen viele Informations- und Meinungsportale – zog schnell nach (siehe dazu Pariser, 2011).

  18. 18.

    Für eine Zusammenstellung von (empirisch unterschiedlich gut gesicherten) kohärenzfördernden Strategien, denen unser Gehirn aufgrund seiner evolutionären Geschichte kaum ausweichen kann, siehe Kahnemann (2011) und Dobelli (2011).

  19. 19.

    Orwell (1949, S. 312 f.; 320).

  20. 20.

    Dabei ist die kollektive Bereitschaft, den direkten Bezug auf die Erfahrung in der Echokammer weitgehend zu verabschieden (und die entsprechende Zunahme von Verschwörungstheorien), ein Gradmesser für das Wohlergehen des Gemeinwesens, dem Kanarienvogel der Bergleute gleich, der unter Tage frühzeitig vor Gefahren warnt (McArthur 1995, S. 46; vgl. auch S. 38; Hofstadter 1965). Und zwar deshalb, weil die Weigerung, sich ernsthaft und konstruktiv mit einer widerständigen Erfahrungswelt und fremden Meinungen auseinanderzusetzen, totalitären Tendenzen Vorschub leistet (siehe Levitzky und Ziblatt, 2019).

  21. 21.

    Quine ([1948] 1980).

  22. 22.

    Wie valide es ist, Phänomenen durch Beobachtung und Experiment auf den Grund zu gehen und die so gewonnenen Einsichten systematisch und unter Berücksichtigung der zweiwertigen Logik aufeinander zu beziehen, ist eine Frage, die den vorliegenden Rahmen klar übersteigt. Hier deshalb nur so viel: Dieses Vorgehen stellen auch Verschwörungstheorien (und andere Theorien aus der Echokammer) in aller Regel nicht zur Disposition –, auch wenn der von ihnen diagnostizierte Phänomenbestand aufgrund eines idealistischen Kohärentismus und eines selektiven Erfahrungsbezugs („Beobachtungen“ zählen nur dann, wenn sie die eigene Vormeinung stützen) sich eben oft anders darstellt als bei einer unvoreingenommenen Betrachtung.

  23. 23.

    Für die ausführliche Darstellung siehe Hepfer (2021).

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Hepfer, K. (2024). Verschwörungstheorien und Echokammern: die Wiederkehr des Idealismus. In: Anton, A., Schetsche, M., Walter, M.K. (eds) Konspiration. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-43429-8_8

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