Schlüsselwörter

1 Der Zusammenhang von Bildungsmaterialien und Inklusion in der Lehrkräfteausbildung: Einleitender Überblick

Lehrkräfte sehen sich mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert, welche im Rahmen der Lehrkräfteausbildung adressiert werden müssen. Das betrifft neben dem Anspruch, zeitgemäße und an den Kontext der Digitalität angepasste Bildungssettings zu schaffen, auch den Umgang mit schulischer Inklusion und Partizipation in den Klassenräumen. Beide Zielvorstellungen sind voraussetzungsvoll und hängen mit verschiedenen Feldern der Unterrichts- und Schulentwicklung zusammen (vgl. u. a. Moser 2017):

  • Ein zentrales Hilfsmittel bei der Realisierung didaktisch-methodischer Ansätze im Unterricht sind Bildungsmaterialien und -medien. Da Fragestellung, Lernwege und Gestaltung oftmals festgelegt und folglich nicht responsiv für jedwede Lernausgangslage gestaltet sind, entscheiden Bildungsmaterialien darüber mit, welche Schülerinnen und Schüler erfolgreich lernen – und welche nicht. Werden Bildungsmaterialien an verschiedene Lernausgangslagen angepasst, sind sie wiederum ein pragmatisches Mittel, um niederschwellig und weitgehend unabhängig von schulstrukturellen Voraussetzungen inklusionssensibles Lernen zu ermöglichen (vgl. Vogt et al. 2020; Bierschwale et al. 2020).

  • Im Kontext der Digitalität kommen digitalen Bildungsmaterialien und insbesondere Open Educational Resources (OER) besondere Bedeutung zu. Als OER werden im bildungspolitischen Kontext „Lehr-, Lern- und Forschungsressourcen in Form jeden Mediums, digital oder anderweitig, die gemeinfrei sind oder unter einer offenen Lizenz veröffentlicht wurden […]“ (UNESCO, Pariser Erklärung zu OER 2012) bezeichnet. OER zeichnen sich also dadurch aus, ‚offen‘ zugänglich, frei nutzbar und oftmals adaptierbar zu sein. Durch die freie Verfügbarkeit, rechtssichere Nutz- und Teilbarkeit sowie flexible Veränderbarkeit wird ihnen gar ein inhärentes Potenzial zur Schaffung inklusiver Bildungssettings zugesprochen (Ljubljana OER Action Plan 2017; Schlagwein 2017). Derartige Bezugnahmen auf OER vonseiten bildungspolitischer Akteure blieben allerdings „unwidersprochen und theoretisch unausgeleuchtet“ (Deimann 2018, S. 9).

Nimmt man diese beiden Perspektiven zusammen, so gilt es in der Lehrkräfteausbildung, zukünftige Lehrkräfte für diesen spannungsreichen Zusammenhang von Bildungsmaterialien und Inklusion im Kontext der Digitalität zu sensibilisieren.

2 Living Learning Materials als Ansatz zum reflexiven Umgang mit Bildungsmaterialien und digitalen Communities of Practice

2.1 Die kritische Evaluation von Bildungsmaterialien

Die Idee der Living Learning Materials (LLM) ist implizit verbunden mit der notwendigen Reflexion der Gestaltung von Bildungsmaterialien und orientiert sich damit an dem Ziel der Schaffung adaptiver Lehr- und Bildungsmaterialien für inklusionssensible digitale Lehrsettings. In der Lehrkräfteausbildung fokussieren LLM auf die angeleitete Suche nach OER und die darauffolgende kritische Überprüfung ebendieser auf ihre Inklusionssensibilität. Die Evaluation durch die werdenden Lehrer*innen erfolgt anhand einer erweiterten Version des Kriterienkatalogs für inklusionssensible Bildungsmaterialien, welcher im Rahmen des internationalen Projekts „Inklusionssensible Unterrichtsmaterialien im europäischen Vergleich“ (ITM 2018–2021, Cooperation Partnership der Universitäten Bielefeld, Luxemburg, Örebro und Bozen im Rahmen der Erasmus + Förderlinie) entwickelt wurde (s. www.itm-europe.org). Zudem dient die Evaluation als Basis eines gruppenweisen Austauschs über Verbesserungs- und Anpassungsmöglichkeiten der analysierten Materialien entlang verschiedener Lehr- und Lernszenarien.

Durch dieses Vorgehen lernen Studierende den benannten Zusammenhang von Bildungsmaterialien und Inklusion kennen und werden für ihre spätere Unterrichtspraxis darauf vorbereitet, Möglichkeiten der Adaptivität digitaler Materialien im Sinne der Inklusionssensibilität zu bewerten und zugleich selbst auszuschöpfen. Dies bedingt bereits eine Form der Hochschullehre, die über die reine Anwendungsorientierung digitaler Medien hinausgeht und „weitergehende didaktische Potenziale“ (Autorengruppe Bildungsbericht 2020, S. 264) ebendieser ausschöpft.

2.2 Das Zusammenspiel mit digitalen Communities of Practice

Werdende Lehrkräfte bedürfen neben der Bewertung der Inklusionssensibilität von OER ebenso erweiterte Einblicke in den dazu bestehenden internationalen Diskurs. Insofern gilt es, die Arbeit mit und an Bildungsmaterialien in einem zweiten Schritt auf eine reflexive Auseinandersetzung mit den designierten digitalen Anlaufstellen, Portalen und Plattformen für OER auszuweiten. Studierende lernen hierdurch, die vielfältigen OER-Plattformen nicht vornehmlich als neutrales Werkzeug zur Verbreitung und Verteilung von Bildungsressourcen zu betrachten, sondern identifizieren sie – besonders, wenn Möglichkeiten zur Partizipation an Gestaltung, Aufbau und Inhalt der Plattform bestehen – als digitale Communities of Practice.

Communities of Practice (CoP) wurden von Lave und Wenger verschlagwortet (1991) und definieren sich als “groups of people who share a concern or a passion for something they do and learn how to do it better as they interact regularly” (Wenger-Trayner 2015, S. 2). Sie weisen drei zentrale Eigenschaften auf: einen 1) gemeinsamen Bereich von Interessen als Grundlage zur Teilnahme an der CoP, 2) Gemeinschaftlichkeit sowie 3) die Praxis als spezifischen Fokus, um den sich die Gemeinschaft (fort)entwickelt. Nach Stalder (2016) ist die Gemeinschaftlichkeit (neben der Referenzialität und Algorithmizität) eine zentrale Eigenschaft der ‚Kultur der Digitalität‘, sodass er Communities of Practice als die zentrale soziale Beziehungsform in ebendieser „neuen Kultur“ (2016, S. 12) identifiziert.

Entstehen OER im Rahmen von Communities of Practice, beispielsweise in Form von Vereinen und/oder Mitmach-Plattformen, existiert ein digitaler Raum, welcher im Zuge des Nachdenkens über inklusionssensible digitale Bildungsmaterialien adressiert werden kann. Diesen Raum konstruktiv zu nutzen, ist Teil der Idee von Living Learning Materials, bspw. wenn Studierende insbesondere des Lehramts Kontakt zu Autor*innen von Materialien suchen und Verbesserungsvorschläge mitteilen oder mit den Betreibenden einer Plattform über die Gestaltung inklusionssensibler Bildungsmaterialien in den Austausch treten. Auf diese Weise wird Studierenden ersichtlich, dass es bei Bildung unter Bedingungen der Digitalität nicht um „die medientechnische Verfügbarkeit von Inhalten – auf das, was produzierbar und distribuierbar, planbar und verwaltbar“ (Allert und Asmussen 2017, S. 29) geht, die sich auf ein instrumentelles Digitalisierungsverständnis und damit die reine Anwendung digitaler Tools oder Ressourcen reduzieren lässt.

Im Sinne einer „Bildung in einer Kultur der Digitalität“ (Allert und Asmussen 2017, S. 31) ermöglicht die Idee der LLM Studierenden vielmehr die kritische Auseinandersetzung mit den gegebenen digitalen Strukturen sowie ihre (Mit-)Gestaltung, da ihre Kontaktaufnahme mit digitalen Communities of Practice ihr Nachdenken über inklusionssensible Open Educational Resources nochmals neuartig herausfordert. LLM führen damit zu einer offenen und digital ausgerichteten Lehr- und Lernkultur, welche im universitären Kontext auf dem Zusammenwirken von Lehre und Forschung mit digitalen CoPs basiert und einen reflexiv-kritischen Raum gegenüber der Digitalität öffnet: anstatt einen Fokus auf die möglichst effiziente Digitalisierung der Hochschullehre zu legen, wird die kritische Auseinandersetzung mit einem digitalen Gegenstand – hier OER – gesucht und in die entsprechenden digitalen Räume zurückgespielt.

Lehramtsstudierende werden damit als Lernende sowie Agierende und Gestaltende von Bildung im Zusammenhang mit Digitalität anerkannt und in die entsprechenden Diskurse als aktiv Mitwirkende eingeführt. Hier liegt auch die Übertragbarkeit der Idee in andere Disziplinen begründet: LLM inspiriert dazu, die Grenzen des Seminarraums zu verlassen und existente digitale Räume inklusive der dort agierenden CoPs zur kritischen Auseinandersetzung mit ebendiesem Gegenstand nutzbar zu machen – was simultan auf eine Mitgestaltung der ‚Kultur der Digitalität‘ hinauslaufen kann.

3 Ausblick: DigiLLM-Projekt zur Verstetigung der Auseinandersetzung mit Communities of Practice

Die Potenziale von Living Learning Materials für die Lehre werden seit 2022 für drei Jahre im Rahmen des internationalen DigiLLM-Projekts („Digitalization in European Education: Realizing Equity and Inclusion with Living Learning Materials“, 2021–2025) der Universitäten Bielefeld, Luxemburg, Örebro (Schweden) und Ostrava (Tschechische Republik) eruiertFootnote 1. DigiLLM weitet das o.g. Vorläuferprojekt ITM aus, indem es die Kriterien für inklusionssensible Bildungsmaterialien in den Kontext der Digitalität überführt und den internationalen Diskurs über Inklusionssensibilität von OER verstetigen will – u. a. durch die Konzeptionierung eines öffentlich zugänglichen Bewertungsportals für OER, die Gründung einer Zeitschrift für entsprechende Reviews und die forschungsbasierte Erstellung eines fundierten Überblicks über das europäische Feld im Bereich OER. Zentral hierbei ist durchgehend die breite Vernetzung mit digitalen CoPs, wie ebenso mit (zukünftigen) Lehrenden, Schüler*innen, Eltern und weiteren relevanten Akteur*innen – denen allesamt eine partizipative Mitbeteiligung am DigiLLM-Projekt und damit an der Weiterentwicklung inklusionssensibler Bildungsmaterialien ermöglicht wird.

Über diesen offenen Diskursraum wird es Lehrpersonen, Lernenden sowie Lehramtsstudierenden aus den Projektländern ermöglicht, Teil einer digitalen transnationalen Community of Practice zu werden, wenn im Rahmen des Projekts ein plattformbasierter, internationaler Austausch über die Qualitätskriterien von inklusionssensiblen digitalen Bildungsmaterialien entsteht.