Unbeeinflusst von allen Schwankungen der Bildungspolitik ist die Entwicklung der Bildungssysteme nach 1945 in den beiden deutschen Staaten, wenn auch unterschiedlich akzentuiert, durch den Prozess der Bildungsexpansion gekennzeichnet. Dem Satz „Schick Dein Kind länger auf bessere Schulen“, in den sechziger Jahren in der Bundesrepublik plakatiert, folgten Eltern im Osten wie im Westen Deutschlands lange schon, bevor er formuliert war.

Der Versuch, diesen hier angesprochenen Expansionsprozess darzustellen und in seinem Ertrag und in seiner Bedeutung für die Individuen zu würdigen, soll anschließend in folgenden Schritten erfolgen:

  • Zunächst wird dieser Prozess in seinem Verlauf dargestellt (Abschn. 3.1),

  • sodann soll die Skizzierung der expansiven Entwicklung des Bildungssystems zum einen durch einen Blick auf ihre Ergebnisse (Abschn. 3.2)

  • und zum anderen durch die Frage nach der Chancenverteilung innerhalb des sich grundsätzlich expansiv entwickelnden Bildungssystems analysiert werden (Abschn. 3.3);

  • abschließend soll die Bedeutung der Teilhabe an Bildung für den weiteren Lebensweg exemplarisch vorgestellt werden (Abschn. 3.4).

Die Lektüre des folgenden Kapitels soll Ihnen helfen, unter Berücksichtigung empirischer Daten zu beurteilen, welchen Nutzen das Schulsystem den Einzelnen und der Gesellschaft insgesamt bietet und wem es – unter der Perspektive von Chancengleichheit – mehr und wem es weniger nutzt.

3.1 Bildungsexpansion: Mehr und mehr Jugendliche haben länger an Bildung und Ausbildung teil

Die Bildungsexpansion vollzog und vollzieht sich in Deutschland in zwei Bahnen:

  • zum einen, dies wird in der Regel unterschätzt, in den Bildungswegen des ‚niederen‘ und auch ‚mittleren‘ Schulwesens und

  • zum anderen, daran wird in der Regel beim Begriff „Bildungsexpansion“ gedacht, in den höheren Bildungswegen.

Im Bereich des ‚niederen‘ Schulwesens hat sich die Expansion in erster Linie in der Verlängerung der Pflichtschulzeit niedergeschlagen: In Westdeutschland geschah dies im Verlauf der sechziger Jahre in allen Bundesländern

  • durch die Einführung des verpflichtenden neunten Schuljahres der Hauptschulen (nach der Trennung der Volksschulen in Grund- und Hauptschulen) und

  • durch die Angebote freiwilliger zehnter Hauptschuljahre in den meisten Bundesländern sowie die Einführung des zehnten Pflichtschuljahres in einer Reihe von Ländern.

Diese Ausdehnung der Schulzeit fand ihre Fortsetzung in der beruflichen Bildung, und zwar insbesondere in der dualen Berufsausbildung:

  • durch die zeitliche Ausdehnung der Ausbildungszeit auf bis zu dreieinhalb Jahre sowie dadurch, dass Berufsausbildung immer mehr zum Normalfall wurde.

Dieser letzte Aspekt lässt sich sehr gut durch die vergleichende Betrachtung unterschiedlicher Altersjahrgänge verdeutlichen.

Im Gebiet der alten Bundesländer erhielten aus den Geburtsjahrgängen 1906 bis 1910, die ihre Berufsausbildung in der Weimarer Republik absolvierten, 51 % keine formal abgeschlossene Berufsausbildung. Von den Jahrgängen 1936 bis 1940, die während der fünfziger Jahre beruflich ausgebildet wurden, blieben 25 % ohne abgeschlossene Ausbildung. Von den Jahrgängen 1974 bis 1978 schließlich, die in den neunziger Jahren ausgebildet wurden, sind ‚nur‘ noch 15 % ohne Berufsausbildung geblieben (Bellenberg und Klemm 2000, S. 71). Seither stagniert der Anteil der jungen Erwachsenen, die über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen: Er lag 2021 in der Gruppe der 20- bis unter 30-jährigen, die in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts ausgebildet wurden, bei 18 % (Klemm 2023, Tab. A26).

In Ostdeutschland bestand seit der Verabschiedung des „Gesetzes über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der DDR“ (1959) die zehnjährige Vollzeitschulpflicht. Lediglich ein kleiner Anteil (weniger als 10 %) aller Jugendlichen eines Altersjahrgangs verließ die Polytechnische Oberschule vor dem zehnten Schuljahr (Anweiler et al. 1990, S. 172). Auch in der DDR setzte sich die Ausdehnung der allgemeinbildenden Schulzeit in eine Expansion der Teilhabe an Berufsausbildung fort.

Im Bereich der ‚mittleren‘ Bildung ist die Entwicklung im Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik dadurch gekennzeichnet, dass parallel zum Ausbau der Volksschuloberstufe zur Hauptschule

  • eine Verlagerung der ‚Schülerströme‘ zu mittleren Bildungsgängen, zur Realschule also,

erfolgt ist: Während 1952 erst 6 % der Schülerinnen und Schüler aller siebten Klassen Realschulen besuchten, taten dies 1990 bereits 27 % (Imhäuser und Rolff 1992, S. 61). Gut 30 Jahre später, 2021 lag diese Quote – jetzt bezogen auf dir Achtklässler im vereinten Deutschland – nur noch bei 17 % (Kultusministerkonferenz 2023a, S. XVI). Dieses Absinken erklärt sich dadurch, dass zwischenzeitlich mit den Gesamtschulen und den Schulen mit mehreren Bildungsgängen Bildungswege, die gleichfalls auch zu einem mittleren Schulabschluss führen, hinzugekommen sind. Für Ostdeutschland lässt sich feststellen, dass mit der Einführung der zehnjährigen Polytechnischen Oberschule die Unterscheidung zwischen ‚niederer‘ und ‚mittlerer‘ Bildung (bzw. in den Begriffen Westdeutschlands zwischen Volks- und Realschule) entfallen ist.

Gestützt auf diese Expansionsentwicklungen im niederen und mittleren Schulwesen vollzog sich (breit wahrgenommen und kontrovers diskutiert) die Expansion ‚höherer‘ Bildung – allerdings nur im Westen Deutschlands. Während in der DDR die Zahl der Überwechselnden in die zur Studienberechtigung führenden Bildungswege (Erweiterte Oberschule und Abiturklassen in der Berufsausbildung) bei zwischen 12 % und 14 % eines Altersjahrgangs verharrte (Anweiler 1990, S. 215, S. 352), erlebte die Bundesrepublik seit den fünfziger Jahren eine rasante

  • Ausweitung der Übergangsquoten zu Gymnasien

(Imhäuser und Rolff 1992, S. 61): Anfang der fünfziger Jahre besuchten etwa 13 % der Schülerinnen und Schüler der siebenten Klassen Gymnasien, 1990 taten dies 31 %, 2021 lag diese Quote (jetzt bezogen auf die Achtklässler im vereinten Deutschland) dann sogar bei 37 % (Kultusministerkonferenz 2023a, S. XVI).

Dieser Andrang zum Bildungsweg der ‚Höheren Schule‘ führte, zeitlich versetzt, zu einem ebenso deutlichen Anstieg der Abiturientenquoten: Während 1960 erst 6 % eines Altersjahrgangs die Allgemeine Hochschulreife erwarben, erlangten im früheren Bundesgebiet 1990 mit 24 % nahezu ein Viertel eines Altersjahrgangs die allgemeine Studienberechtigung. Dazu kamen noch weitere 9 % eines Jahrgangs, die die Fachhochschulreife erhielten, sodass in diesem Jahr mit 33 % ein Drittel eines Jahrgangs zur Hochschulreife geführt wurde (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2005, S. 89). An diese Expansionsentwicklung haben die neuen Bundesländer sehr schnell Anschluss gefunden, sodass Deutschland insgesamt im Jahre 2021 bei der Allgemeinen Hochschulreife eine Quote von 39,8 % und bei der Fachhochschulreife von 9,5 % – insgesamt also eine Hochschulberechtigten-Quote von 49,3 % – erreichte (Kultusministerkonferenz 2023a, S. 364 f.).

Neben dem Anstieg der Übergänge zu Gymnasien hat die Entwicklung von nicht gymnasialen Bildungsangeboten, die gleichfalls zum Erwerb einer Hochschulreife führten, zu den im historischen Vergleich sehr hohen Abiturquoten geführt: Der Ausbau

  • der Gesamtschulen,

  • der Schulen mit mehreren Bildungsgängen,

  • des Zweiten Bildungsweges sowie

  • der zum Abitur führenden Bildungsgänge der beruflichen Schulen

hat zu einer weiteren Erhöhung der Abiturquote beigetragen: 2021/22 galt für Deutschland insgesamt, dass von allen Absolventinnen und Absolventen mit einer allgemeinen Hochschulreife 84 % aus allgemeinbildenden und 16 % aus beruflichen Schulen stammten. Unter denen, die aus allgemeinbildenden Schulen kamen, hatten nur 85 % ihr Abitur in Gymnasien erworben. Von der Gesamtheit der Abiturientinnen und Abiturienten dieses Jahres waren nur 71 % ‚klassische‘ Gymnasiasten (Kultusministerkonferenz 2022b; Statistisches Bundesamt 2022d, Tab. 21.111–16). Die Entmonopolisierung des Gymnasiums (das Gymnasium hat nicht mehr das Monopol für die Vergabe der Hochschulzugangsberechtigung) hat damit einem knappen Drittel aller Abiturientinnen und Abiturienten den Weg zu höherer Bildung geöffnet.

Ein Überblick über den Prozess der Bildungsexpansion im Gebiet der früheren Bundesrepublik und danach im vereinten Deutschland vom Beginn der fünfziger Jahre bis heute zeigt, dass der Zugriff von Eltern und Kindern auf höhere Bildung weder durch Veränderungen der ökonomischen Bedingungen noch durch politische Einflussversuche tangiert wurde. Eltern sind auf dem Expansionspfad während der Mangelsituation der Nachkriegsjahre ebenso wie in der scheinbar nicht endenden Prosperität der sechziger Jahre gewandelt; auch die Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise seit Beginn der siebziger Jahre hat die Expansionstendenz nicht durchbrochen, sondern lediglich mit anderen Motiven, wie z. B. der Angst vor Ausbildungs- und Arbeitslosigkeit, unterfüttert. In diesen Prozess haben sich die neuen Bundesländer während der neunziger Jahre sehr zügig ‚eingefädelt‘.

3.2 Ergebnisse der Bildungsexpansion: Es gibt ‚Verlierer‘ und ‚Gewinner‘

An dem so skizzierten Prozess der Bildungsexpansion konnten nicht alle Angehörigen der jeweiligen Jahrgangskohorten gleichermaßen teilnehmen:

  • Auf der einen Seite finden sich die ‚Verlierer‘ dieses Expansionsprozesses, also die Gruppe derer, die ohne eine abgeschlossene Berufsausbildung das Bildungs- und Beschäftigungssystem verlässt.

  • Auf der anderen Seite gibt es die Gruppe derer, die am Prozess der Bildungsexpansion besonders erfolgreich teilhaben konnten, indem sie einen Hochschulabschluss erlangten.

Trotz der zeitlichen Ausdehnung des niederen Schulwesens und trotz der qualitativen Verbesserungen in diesem Segment des Schulwesens ist es bis heute nicht gelungen, allen Absolventinnen und Absolventen des Bildungs- und Ausbildungssystems eine abgeschlossene Berufsausbildung zu vermitteln.

In der Altersgruppe der 20- bis unter 30-Jährigen lag 2021 ausweislich einer Mikrozensusauswertung des Statistischen Bundesamtes der Anteil derer, die keine abgeschlossene Ausbildung verweisen konnten und die auch nicht dabei waren, noch eine Ausbildung zu erwerben, bei 17,9 % (Klemm 2023, S. 38) – weil keine Ausbildung aufgenommen wurde, weil eine Ausbildung abgebrochen wurde oder weil die Abschlussprüfung nicht bestanden wurde. Aufgrund des anhaltenden Ausbildungsplatzmangels für junge Menschen ohne einen Hauptschulabschluss oder mit einem eher schwachen Hauptschulabschluss kann erwartet werden, dass die hier referierten Quoten der dauerhaft ausbildungslos bleibenden jungen Erwachsenen in den folgenden Jahren kaum sinken werden.

Während die Quote der Ausbildungslosen auf hohem Niveau verbleibt, ist unter den 25- bis 34jährigen der Anteil derer, die ein Studium abgeschlossen haben, von 2009 noch 26 % auf 33 % (2019) angestiegen (OECD 2020, S. 62).

3.3 Verteilungseffekte des Bildungssystems: Chancenungleichheit besteht weiter fort

Die Frage, ob alle Kinder und Jugendliche bei ihrem Durchgang durch das Bildungssystem gleiche Chancen haben, wird in den darauf bezogenen Diskursen alternativ unter den Überschriften Chancengleichheit bzw. Chancengerechtigkeit verhandelt. Bei der Entscheidung dazu, welchen dieser beiden Begriffe man nutzen möchte, muss ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen gesehen werden: Die Frage, ob Chancen gleich oder ungleich verteilt sind, ist auf der Basis empirisch zu gewinnender Daten zu beantworten. Die Frage dagegen, ob die Verteilung von Chancen gerecht ist, basiert auf einer Vorstellung von Gerechtigkeit, die nicht durch messbare Größen geklärt werden kann (Klemm und Rolff 2015).

Gleichheit ist ein empirischer, Gerechtigkeit dagegen ein normativer Begriff.

Mit Blick auf die empirische Überprüfbarkeit wird im Folgenden der Begriff Chancengleichheit genutzt.

Die Wahrscheinlichkeit, zu den ‚Verlieren‘ oder zu den ‚Gewinnern‘ oder zu einer dazwischen rangierenden Gruppe zu gehören, ist nun keineswegs für alle Teilgruppen der Gesellschaft gleich.

Auch nach den Jahren der Bildungsexpansion wirkt das deutsche Bildungs- und Ausbildungssystem in einem hohen Maße daran mit, dass die Kinder unterschiedlicher Gruppen mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit zu unterschiedlichen Qualifikationen gelangen.

Das damit angesprochene Ausmaß von Gleichheit und Ungleichheit, so wie es sich im deutschen Bildungssystem immer noch darstellt, lässt sich unter Bezug auf eine Kunstfigur, die in den bildungspolitischen Debatten der sechziger Jahre eine große Rolle spielte, beschreiben. Damals galt das ‚katholische Arbeitermädchen vom Lande‘ gleichsam als Inkarnation aller denkbaren Ungleichheiten im Bildungssystem (vgl. auch Abschn. 1.8). Diese Kunstfigur sollte auf vier Ungleichheiten aufmerksam machen, die das westdeutsche Schulsystem dieser Jahre charakterisierten, nämlich auf

  • konfessionelle,

  • schichtspezifische,

  • geschlechtsspezifische und

  • regionale Unterschiede.

Die Entwicklungen in diesen vier Feldern von Ungleichheit sind seither sehr unterschiedlich verlaufen (vgl. dazu auch Klemm 2002). Zugleich gibt es Wechselbeziehungen und Überlagerungen dieser Differenzmerkmale; dies wird mit dem Begriff der Intersektionalität (engl. intersection = Kreuzung) bezeichnet (Walgenbach 2011).

Im Vorgriff auf die folgende differenziertere Darstellung dieser Verläufe lässt sich feststellen, dass konfessionsspezifische Ungleichheit völlig an Bedeutung verloren hat, während die Ungleichheit zwischen deutschen Kindern und Kindern anderer Ethnien infolge der Arbeitsmigration – insbesondere vermittelt über die soziale Herkunft – seit den sechziger Jahren, aber auch durch Fluchtbewegungen, zu einem neuen und bedeutenden Element gesellschaftlicher Ungleichheit geworden ist.

3.3.1 Dimension ‚Geschlecht‘: Mädchen und junge Frauen auf der ‚Überholspur‘

Noch in den sechziger Jahren, während der Startphase der Bildungsreform, waren Mädchen im deutschen Schulsystem eindeutig benachteiligt, wenn Benachteiligung am Erreichen von Schulabschlüssen gemessen wird. Ein wichtiger Ertrag der Expansions- und Reformjahre ist es, dass Mädchen im allgemeinbildenden Schulsystem mit den Jungen gleichgezogen und dass sie diese z.T. auch deutlich überholt haben: Mädchen und junge Frauen sind 2021 in Deutschland unter den Absolventen ohne Schulabschluss (38 %) sowie unter denen mit Hauptschulabschluss (40 %) deutlich unterrepräsentiert. Bei den Absolventen mit einem mittleren Schulabschluss (49 %) sind die jungen Frauen ganz leicht unterrepräsentiert, bei denen mit Allgemeiner Hochschulreife (55 %) dagegen stark überrepräsentiert (eigene Berechnungen nach Statistisches Bundesamt 2022d, Tab. 21111–12).

Der für Mädchen und junge Frauen insgesamt zu beobachtende Prozess des Gleichziehens und Überholens wurde für die Gruppe der Fünfzehnjährigen durch die Ergebnisse der PISA Studie noch einmal bestätigt: Beim Leseverständnis erreichten die Mädchen in Deutschland im Durchschnitt 20 Testpunkte mehr als die Jungen, während sie in Mathematik nur 11 Testpunkte hinter den Jungen rangierten. In den Naturwissenschaften findet sich zwischen Jungen und Mädchen kein Leistungsunterschied (Lewalter et al. 2023). Über die Gesamtheit der gemessenen Kompetenzen betrachtet erwiesen sich damit die Mädchen im PISA-Test im Vergleich zu den Jungen in Deutschland als leistungsstärker. Dies geht auch mit einem höheren Fähigkeitsselbstkonzept und einer stärker ausgeprägten Motivation der Jungen in Mathematik einher; bei den Mädchen trifft dies auf den Bereich Lesen zu (zusammenfassend Muntoni und Retelsdorf 2020).

Diesen Erfolg, den Mädchen und junge Frauen im allgemeinbildenden Schulsystem erlangten, können sie inzwischen auch beim Wechsel in die berufliche Ausbildung umsetzen: 2021 stellten sie 52 % der Studienanfängerinnen und Studienanfänger (Statistisches Bundesamt 2022 f.). Auch bei den erfolgreichen Hochschulabsolvierenden lagen die Frauen 2021 vorne: Ihr Anteil an der Gesamtheit der Gruppe lag bei 53 %. (Statistisches Bundesamt 2022c). Allerdings lag der Frauenanteil am hauptamtlichen wissenschaftlichen und künstlerischen Personal der Hochschulen nur bei 41 % (Statistisches Bundesamt 2022b).

Auch im Bereich der Berufsausbildung außerhalb der Hochschulen sind junge Frauen erfolgreicher als junge Männer: Nur 40 % der jungen Erwachsenen im Übergangssystem, das keinen Ausbildungsabschluss vermittelt, sind Frauen. In der beruflichen Ausbildung sind sie im dualen System mit 37 % unterrepräsentiert (Statistisches Bundesamt 2023b, m – Tab. 21100–03).

Trotz all der Erfolge, die Mädchen und junge Frauen im Bildungs- und Ausbildungssystem erzielen konnten, bleiben Frauen in den Führungspositionen in der Wirtschaft, der öffentlichen Verwaltung, der Wissenschaft und – wenn auch weniger ausgeprägt – der Politik nach wie vor unterrepräsentiert.

Muntoni und Retelsdorf fassen den Stand der Forschung zusammen, wonach bereits biologisch angelegte Geschlechterdifferenzen (vor allem hormonell und in der Gehirnstruktur) durch in Familie und Bildung erlebte Rollenzuschreibungen und Stereotype erhöht werden können (Muntoni und Retelsdorf 2020). Diese könnten, so die Annahme, wiederum auf physiologische Aspekte zurückwirken (etwa im Rahmen der Entwicklung des kindlichen Gehirns).

Im Rahmen von stereotypisierenden Prozessen werden Personen Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben, wie sie zum Beispiel typisch für ein Geschlecht als soziale Kategorie wahrgenommen werden; Unterschiede werden dabei vor allem binär gedacht (männlich vs. weiblich).

Entsprechende sozialpsychologische Erklärungsansätze (auch auf Basis empirischer Befunde, vgl. Muntoni und Retelsdorf 2020) finden sich etwa

  • im Ansatz von Banduras Lernen am Modell (z. B. das Beobachten elterlicher Verhaltensweisen; Bandura 1986),

  • beim Lernen durch direkte Verstärkung (geschlechtsuntypisches Verhalten bleibt unbelohnt oder wird sogar bestraft) und

  • hinsichtlich geschlechterdifferenzierender Erwartungshaltungen von Eltern und Lehrkräften (ausgedrückt z. B. durch ungleiche Verteilung von Aufmerksamkeit, Anerkennung bzw. Abwertung durch Sprache, konkretes Handeln, Mimik und Gestik etc. und z. B. auch durch den Einsatz unterschiedlich schwieriger Aufgaben im Unterricht je nach stereotypbasierter Erwartungshaltung).

Die Arten und Weisen, wie beispielsweise in Schule und Unterricht Geschlecht hergestellt und sozial konstruiert wird, werden als Doing Gender bezeichnet (umgekehrt die Dekonstruktion von Geschlechterstereotypisierungen als Undoing Gender).

Im Rahmen der reflexiven Koedukation werden Geschlechterstereotype reflektiert und individuelle Potenziale in den Fokus gerückt (nicht nur unabhängig von Geschlecht, sondern auch unabhängig von weiteren Differenzmerkmalen, wie soziale Herkunft, Ethnie, Behinderung etc.), um Lehr- und Lernsituationen für alle Kinder und Jugendlichen interessen- und motivationsfördernd zu gestalten (z. B. bei der Auswahl von Themen und der Gestaltung von Lernmaterialien).

3.3.2 Dimension ‚Region‘: Abgeschwächte regionale Ungleichheit

Neben geschlechts- und schichtspezifischen Ungleichheiten waren es die regionalen Disparitäten, die vor dem Hintergrund des Einforderns von Chancengleichheit Schulreformer anspornten: Durch einen flächendeckenden Ausbau des Schulnetzes sollte regionale Ungleichheit gemindert werden.

Trotz aller Anstrengungen und trotz aller Erfolge bestehen jedoch nach wie vor unverkennbare regionale Disparitäten – zwischen den Bundesländern ebenso wie innerhalb der Länder.

Diese Disparitäten sind nicht zuletzt auch dadurch verursacht, dass sich einzelne Länder sowie deren Regionen in der soziostrukturellen Zusammensetzung ihrer Bevölkerung deutlich unterscheiden, sodass sich sozialräumliche Segregation herausgebildet hat. Vergleicht man z. B. die Quoten der Schulabsolventinnen und -absolventen mit Hochschul- und Fachhochschulreife (Anteil der Absolventinnen und Absolventen am Altersjahrgang) der Länder untereinander, so findet sich (Kultusministerkonferenz 2023a, S. 364) für 2021 eine Spannweite von 37 % (Sachsen-Anhalt) bis hin zu 63 % im Stadtstaat Hamburg und 61 % im Flächenstaat Saarland.

Auch verweist eine Analyse der regionalen Verteilung der Quoten derer, die die Schulen ohne zumindest einen Hauptschulabschluss verlassen, auf beachtliche Ausdifferenzierungen: 2021 finden wir bei den Flächenstaaten eine Spannweite von 5,2 % in Bayern bis hin zu 9,6 % in Sachsen-Anhalt (Kultusministerkonferenz 2023a, S. 338).

Diese regionale Ausdifferenzierung weisen auch die Ergebnisse der Überprüfungen der Bildungsstandards aus: Bei der 2022 erfolgten Untersuchung des Kompetenzbereichs Deutsch erzielten die Neuntklässler aus Sachsen einen Durchschnittswert von 503 Testpunkten, während die aus Nordrhein-Westfalen einen Durchschnittswert von 458 erreichten (Stanat et al. 2023, S. 151).

Dass die regionalen Unterschiede bei der Bildungsbeteiligung nicht ausschließlich Ausdruck landesspezifischer Entwicklungen sind, belegen genauere regionalisierte Analysen der Anteile der Schülerinnen und Schüler, die innerhalb eines Bundeslandes die Schulen ohne einen Hauptschulabschluss verlassen. Im Regierungsbezirk Düsseldorf in Nordrhein-Westfalen liegt dieser Anteil 2020 in Krefeld bei 9,5 % und in Düsseldorf bei 4,3 % (Klemm 2023, Tab. A18).

Auch wenn es richtig ist, dass ein Teil der hier aufgezeigten regionalen Disparitäten nur auf den ersten Blick in den Regionen ihre Ursachen haben und dass ein genaueres Analysieren zu der Einsicht führt, dass sich insbesondere Erklärungsansätze, die auf die soziale und ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung konkreter Regionen abheben, mit regional ansetzenden Erklärungen überlappen, so bleibt doch die Feststellung: Durch den regionalen Kontext, in dem Heranwachsende leben, wird ihre Entwicklung im Bildungs- und Ausbildungssystem nach wie vor mit geprägt.

3.3.3 Dimension ‚soziale Herkunft‘: Andauernde Ungleichheit zwischen den sozialen Schichten

Ein zentraler Ausgangspunkt der Schulreformbemühungen der sechziger Jahre und der Zeit danach war die immer wieder festgestellte ungleiche Chancenverteilung zwischen den Kindern aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Dem Anspruch des demokratischen Sozialstaates, jedem seiner Mitglieder unabhängig von seiner Herkunft gleiche Lebenschancen zu bieten, stand die gesicherte Feststellung einer schichtspezifischen Zuteilung von Bildungs- und damit Lebenschancen entgegen. Diese Ungleichheit ist bis in die Gegenwart, also fünfzig Jahre nach Beginn der Reformdebatte, erheblich.

Der Bildungsbericht 2018 zeigt zudem auf, dass viele Kinder und Jugendliche hierzulande in einer Risikolage aufwachsen, was insbesondere auch das Thema der Einkommensarmut in Familien betrifft. Dabei korreliert der Kompetenzerwerb der Schülerinnen und Schüler mit einer solchen „Risikolage“ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, S. 39).

Bei der Durchsicht der Untersuchungen, die diese Feststellung belegen, stößt der Leser auf sehr unterschiedliche Ansätze der Messung der sozialen Herkunft. In älteren Studien überwiegt zumeist der Bezug auf die Kategorien des Sozialversicherungssystems, also auf die Herkunft aus Arbeiter-, Angestellten-, Beamten- und Selbstständigen-Familien. Diese sehr grobe Kategorisierung bot sich wegen der breiten Verfügbarkeit entsprechender Daten an, erweist sich aber für differenzierendere Analysen als zu grob. Daher finden sich in den jüngeren Leistungsstudien (z. B. in den PISA- und IGLU-Untersuchungen sowie in den Studien des Instituts zur Qualitätssicherung im Bildungswesen) wechselweise drei andere Indikatoren, mit denen der soziale Status gemessen wird:

  • EGP-Klassen: sind nach Erikson, Goldthorpe und Portocarero eine Einteilung, die auf einer Klassifikation von Berufen durch das Internationale Arbeitsamt beruht und die die Stellung im Beruf und die Weisungsbefugnis einbezieht (sieben Stufen umfassend von der „oberen Dienstklasse“ bis zu „ungelernten Arbeitern/Landarbeitern“).

  • ISEI: Der International Socio-Economic Index of Occupational Status basiert auf internationalen Daten zu Einkommen und Bildungsniveau der Angehörigen verschiedener Berufe.

  • ESCS: Der Index for Economic, Social and Cultural Status basiert auf der Zusammenführung von Merkmalen zum Bildungsabschluss, zum sozioökonomischen Status sowie zu einer Reihe von Merkmalen bezüglich der kulturellen Besitztümer in Haushalten.

Mit einzelnen dieser Indikatoren wird in der Mehrzahl der neueren Studien gearbeitet, mit der Folge, dass die Befunde wegen der je unterschiedlichen Indikatoren nicht ohne weiteres aufeinander zu beziehen sind. Im Folgenden wird damit so umgegangen, dass die Indikatoren, die bei den unterschiedlichen Ansätzen für die sozial ‚stärkeren‘ bzw. ‚schwächeren‘ Gruppen stehen, als Hinweise auf ‚Bildungsnähe‘ bzw. ‚Bildungsbenachteiligung‘ verstanden und ohne Nennung des jeweils eingesetzten Indikators wiedergegeben werden.

3.3.3.1 Zum Elementar- und Primarbereich: Wenig schichtspezifische Ungleichheit bei der Bildungsbeteiligung

Angesichts der Tatsache, dass im Jahr 2022 insgesamt 91,7 % der Drei- bis unter Sechsjährigen eine Kindertageseinrichtung besuchten (vgl. Abschn. 2.1), kann davon ausgegangen werden, dass es beim Besuch von Kindertagesstätten allenfalls gering ausgeprägte schichtspezifische Unterschiede gibt.

Auch im Primarbereich lässt sich kaum eine schichtspezifische Bildungsbeteiligung beobachten: Da es in diesem Bereich (sieht man von den Förderschulen, in denen gut 4 % aller Kinder des entsprechenden Alters lernen, ab) mit der Grundschule nur eine Schule für alle Kinder gibt, und da nahezu alle Kinder ihre Schulpflicht in dieser Schule wahrnehmen, kann es – sieht man von unterschiedlichen sozialen Ausgangsbedingungen in den Einzugsgebieten der einzelnen Grundschulen ab – keine schichtspezifischen Ausprägungen des Schulbesuchs geben. Anders verhält es sich im Anschluss an die Grundschulzeit beim Besuch der weiterführenden Schulen.

3.3.3.2 Zum Sekundarbereich: Ungleichheit verstärkt sich beim Übergang

Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildung hat in Ländern mit unterschiedlich anspruchsvollen Sekundarschultypen wie in Deutschland eine doppelte Ausprägung: Er drückt sich aus

  • in herkunftsspezifischen Chancen des Kompetenzerwerbs und

  • in herkunftsspezifischen Chancen, anspruchsvolle Schultypen zu besuchen,

Beide Zusammenhänge sind bedeutsam: Es ist wichtig zu wissen, wie stark die Chancen, z. B. gute Mathematikleistungen zu erbringen, vom sozialen Hintergrund eines Heranwachsenden geprägt sind. In einem Land, das wie Deutschland vom Berechtigungssystem geprägt wird, ist es aber gleichfalls hoch bedeutsam, wie stark die Chance, z. B. ein Gymnasium zu besuchen, von der sozialen Herkunft abhängig ist.

Betrachtet man den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und erreichter Kompetenz, so bietet die PISA 2023-Studie für Deutschland ein sehr eindeutiges Bild: Die durchschnittliche Lesekompetenz von Fünfzehnjährigen aus der stärksten sozialen Gruppe übersteigt die von Jugendlichen aus der schwächsten sozialen Gruppe um 67 Testpunkte (Lewalter et al. 2023, S. 181). Zur Einschätzung dieses Leistungsabstandes kann darauf verwiesen werden, dass beim Leseverständnis der Abstand zwischen dem europäischen Spitzenreiter Irland und dem europäischen Schlusslicht Island bei dieser Untersuchung mit 80 Testpunkten nur geringfügig größer war (Lewalter et al. 2023, S. 146). Das in den Daten aus Deutschland zum Ausdruck kommende Ausmaß sozial bedingter Ungleichheit wird nur von wenigen anderen der an den PISA-Studien teilnehmenden OECD-Länder übertroffen (Lewalter et al. 2019, S. 175).

Der Befund sozial bedingter Ungleichheit wiederholt sich, wenn nach dem Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft eines Jugendlichen und der von diesem Jugendlichen besuchten Schulart gefragt wird. Die darauf bezogenen Befunde der PISA-Studien zeigen (zuletzt in der PISA 2015-Studie), dass der im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte immer wieder belegte enge Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und der besuchten Schulart fortbesteht: So besuchen ausweislich der PISA 2015-Studie 55 % der Fünfzehnjährigen aus der sozial stärksten, aber nur 20 % dieser Altersgruppe aus der sozial schwächsten Gruppe Gymnasien (Reiss et al. 2016, S. 307).

Die wesentlichen Weichenstellungen hinsichtlich der so ausgestalteten Verteilung von Bildungschancen erfolgen beim Wechsel von der Grundschule zu den unterschiedlichen weiterführenden Schulen, sie werden also in der Grundschule zumindest vorbereitet. Dieser Verteilungsprozess beim Übergang aus der Grundschule in die unterschiedlich anspruchsvollen weiterführenden Schulen wurde schon Ende der sechziger Jahre in einer frühen empirischen Studie von Otmar Preuß (1970) eindrucksvoll analysiert (vgl. Tab. 3.1).

Tab. 3.1 Grundschulabsolventen nach Testergebnissen, Lehrerurteil und Anmeldung zum Gymnasium (in %)

Er untersuchte den Wechsel von Schülerinnen und Schülern aus unterschiedlichen sozialen Schichten aus der Grundschule in das Gymnasium und konnte zeigen, dass das durchschnittliche Leistungsniveau am Ende der Grundschulzeit schichtspezifisch variierte, dass die Lehrkräfteempfehlungen hinsichtlich der angeratenen Schulform die Wirkungen der Leistungsunterschiede verschärfte und dass schließlich die Elternentscheidungen dies ein weiteres Mal taten:

Kinder der obersten Sozialschicht erwiesen sich zu 40 % aufgrund der Tests als geeignet für das Gymnasium, gleichwohl erhielten 59 % der Kinder aus dieser Sozialschicht eine Empfehlung für ein Gymnasium. Schließlich wurden 71 % der Kinder dieser Schicht von ihren Eltern am Gymnasium angemeldet.

Bei den Kindern aus der untersten sozialen Schicht verlief diese Kette in umgekehrter Richtung: 15 % waren laut Test geeignet, 8 % erhielten eine Empfehlung, 5 % wurden letztlich an Gymnasien angemeldet.

Viele Jahrzehnte nach dieser Untersuchung bieten die aktuell vorliegenden empirischen Untersuchungen ein – was das Muster, nicht was die Größenordnungen angeht – vergleichbares Bild:

  • Die Grundschulstudie „IGLU 2021 – Lesekompetenz von Grundschulkindern im internationalen Vergleich und im Trend über 20 Jahre“ (McElvany et al. 2023) zeigt uns, dass in Deutschland Kinder aus sozial ‚starken‘ Familien am Ende der vierten Klasse im Durchschnitt leistungsstärker als Kinder aus sozial ‚schwachen‘ Familien sind. Zwischen den Kindern aus der ‚oberen Dienstkasse‘ und denen aus Familien ‚un- und angelernter Arbeiter‘ klafft mit 567 bzw. 507 in der Lesekompetenz in der vierten Klasse eine Kompetenzlücke von 60 Testpunkten, in den Naturwissenschaften ist diese Lücke mit 61 Testpunkten (McElvany et al. 2023, S. 165).

  • Die gleiche Grundschulstudie belegt auch, dass Kinder aus der ‚oberen Dienstklasse‘ im Vergleich zu Kindern aus Familien ‚un- und angelernter Arbeiter‘ bereits bei einem Testwert im Lesen von mindestens 510 Punkten mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % seitens ihrer Lehrkräfte eine Empfehlung zum Übergang zum Gymnasium erhalten, während die Kinder aus den Familien von ‚un- und angelernten Arbeitern‘ für diese Empfehlung mindestens 575 Testpunkte erreichen müssen (McElvany et al. 2023, S. 244).

  • Diese Diskrepanz tritt bei den Erziehungsberechtigten sogar noch etwas verstärkt auf (McElvany et al. 2023, S. 244): Während die Schullaufbahnerwartungen der Eltern aus der ‚oberen Dienstklasse‘ sich von denen der Lehrkräfte nicht unterscheiden, formulieren Eltern aus Familien mit ‚un- und angelernten‘ Berufstätigkeiten erst mit 590 Testpunkten eine Gymnasialpräferenz für ihre Kinder (bei den Lehrkräften liegt dieser Wert mit 575 niedriger).

Aus dem Zusammenspiel von

  1. 1.

    unterschiedlicher familialer Sozialisation, die sich in den schichtspezifisch unterschiedlichen Leistungen am Ende der Grundschulzeit niederschlägt,

  2. 2.

    schichtspezifischen Grundschulempfehlungen und schließlich von

  3. 3.

    bei den Erziehungsberechtigten schichtspezifisch ausgeprägten Präferenzen bezüglich der geeigneten Bildungsgangentscheidung

erwächst das eingangs skizzierte Ausmaß schichtspezifischer Chancenungleichheit in den Schulen der Sekundarstufe I.

Die bis in die Gegenwart immer wieder anzutreffende schichtspezifische Ungleichheit bei der Verteilung von Bildungschancen kann durch eine Verbindung bildungssoziologischer Theorieansätze verständlich gemacht werden: Die Sozialisationstheorie verweist darauf, dass die „unterschiedlichen Bedingungen des Aufwachsens zu Dispositionen führen, die besser oder schlechter den schulischen Ansprüchen genügen“ (Böttcher 2020, S.44). Bildungssoziologische Analysen der Wirkung des gegliederten Schulwesens und des aus dieser Struktur erwachsenden Ausleseauftrages (insbesondere im Anschluss an die Grundschule) zeigen, dass dieses strukturelle Merkmal die Auswirkungen unterschiedlicher Sozialisationsverläufe aufgreift und verstärkt – nicht nur, wie dargestellt wurde, durch schichtspezifisch ausgeprägte Empfehlungen der Lehrkräfte, sondern auch dadurch, dass Wahlentscheidungen in den Familien der Kinder und Jugendlichen herkunftsspezifisch geprägt sind (Böttcher 2020; Böttcher und Klemm 2000).

3.3.3.3 Zum Hochschulbereich: Schichtspezifische Ungleichheit nimmt zu

Die schichtspezifische Bildungsbeteiligung, die sich beim Übergang zu den weiterführenden Schulen des Sekundarbereichs herausbildet, setzt sich beim Zugang zu den Hochschulen (Fachhochschulen und Universitäten zusammen) fort. Die Daten der 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes belegen für 2016, dass 52 % der Studierenden aus Familien kommen, in denen mindestens ein Elternteil über einen Hochschulabschluss einer Universität oder einer Fachhochschule verfügen, 25 % aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil eine Lehre oder einen Facharbeiterausbildung abgeschlossen hat. Lediglich bei 3 % der Studierenden verfügt kein Elternteil über eine Berufsausbildung. Von den Kindern aus Akademikerinnen- und Akademikerfamilien nahmen 77 % ein Hochschulstudium auf, bei Kindern aus Familien, in denen beide Eltern keinen akademischen Abschluss haben, galt dies nur bei 23 % (Middendorff et al. 2017, S. 29).

Dieses hohe Ausmaß schichtspezifischer Ungleichheit ist zu einem erheblichen Teil die Folge der im Schulsystem vollzogenen sozialen Selektivität.

3.3.3.4 Zum Bereich der Weiterbildung: Ungleichheit schwächt sich ab

Ein weiteres und, was die Stufen des Bildungssystems angeht, letztes Mal finden wir das nun schon vertraute Muster schichtspezifischer Bildungsbeteiligung im Bereich der Weiterbildung. Eine Analyse dieses Bereichs – hier für Deutschland insgesamt – zeigt, dass 2020 von den 18- bis 64-jährigen mit einem hohen Schulabschluss 71 % mindestens an einer Weiterbildungsaktivität teilgenommen haben, von denen, die über einen niedrigen Schulabschluss verfügten, galt dies nur für 44 % (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2022, S. 35).

3.3.3.5 Zu beruflichen Karriereaussichten: Von den Grenzen der Gleichheitspolitik im Bildungsbereich

Aber auch die, denen es – gleichsam ihrer sozialen Herkunft zum Trotz – gelungen ist, am Ende des Parcours durch Bildung und Ausbildung in der ‚Spitzengruppe‘ der erfolgreichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu landen, verspüren weiterhin den langen Arm des kulturellen Kapitals.

Kulturelles, soziales und ökonomisches Kapital

Die Begriffspaare kulturelles Kapital und soziales Kapital wurden von Pierre Bourdieu (1930–2002), einem der bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts, für alle kulturellen und sozialen Ressourcen genutzt, die die Handlungsmöglichkeiten von Personen erweitern und folglich auch ihre sozioökonomische Stellung positiv beeinflussen können:

  • Kulturelles Kapital meint nach Bourdieu insbesondere alle Kulturgüter und kulturelle Ressourcen, die dazu beitragen, dass in einem sozialen System diejenigen Qualifikationen, Einstellungen und Wertorientierungen vermittelt werden, die das System zu seiner Bestandserhaltung braucht. Dies können Sachgüter (Kunstwerke, Literatur), aber auch Bildungszertifikate und Titel sein sowie Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, die eine Person verinnerlicht hat.

  • Soziales Kapital besitzen heißt, sich in einem Netzwerk sozialer Beziehungen zu befinden, das die Übernahme sozial anerkannter Ziele, Werte und Einstellungen fördert und unterstützt. Soziales Kapital wird in Familien, in Verwandtschafts- und Nachbarschaftsgruppen, in religiösen oder ethnischen Gruppen, in Vereinen, Betrieben und politischen Parteien, aber eben auch in der Schule gebildet.

  • Ökonomisches Kapital zeigt sich in den Wohnverhältnissen, im Besitz von hochwertigen Gebrauchsgütern sowie in der Verfügbarkeit finanzieller Mittel.

Wie hartnäckig dieses den Kindern gleichsam in die Wiege gelegte Kapital selbst erfolgreiche Ausgleichsbemühungen in Schule und Hochschule überdauert, macht eine 2001 vorgelegte Studie deutlich (Hartmann und Koop 2001). In einer Untersuchung über soziale Herkunft, Ausbildungswege und berufliche Karrieren wurde – bezogen auf die Promotionsjahrgänge 1955, 1965, 1975 und 1985 – der weitere Berufsweg von 6500 promovierten Ingenieuren, Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern verfolgt. Für diese Untersuchung wurden zur Bestimmung der sozialen Herkunft der Promovierten – gestützt auf den väterlichen Beruf – drei Untergruppen gebildet:

Unterteilt wurde in „Arbeiterklasse/Mittelschicht“, „gehobenes Bürgertum“ und „Großbürgertum“ (Hartmann und Koop 2001, S. 440 ff.). Das Untersuchungsergebnis ist ernüchternd: In Führungspositionen von Unternehmen gelangten aus den untersuchten Promotionsjahrgängen aus der Gruppe derer mit der sozialen Herkunft „Arbeiterklasse/Mittelschicht“ 9 %, aus der Gruppe „gehobenes Bürgertum“ 13 % und aus der Gruppe „Großbürgertum“ 19 %. Betrachtet man nur die Führungspositionen in Spitzenunternehmen, so fällt die herkunftsspezifische Verteilung noch deutlicher aus: den 2 % aus der Gruppe „Arbeiterklasse/Mittelschichten“ standen 4 % aus dem „gehobenen Bürgertum“ und 6 % aus dem „Großbürgertum“ gegenüber.

Insgesamt zeigt die hier vorgelegte Durchmusterung der verfügbaren empirischen Befunde, dass auch im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts der Zusammenhang von sozialer Herkunft sowie Bildungs-, Ausbildungs- und Karriereweg nahezu ungebrochen ist.

3.3.4 Dimension ‚Ethnie‘: Die Kinder von Arbeitsmigranten als ‚neue‘ Benachteiligte

In Deutschland lebten ausweislich der Mikrozensuserhebung 2021 insgesamt 22,3 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund (27,3 % der Bevölkerung). In der deutschen Bevölkerungsstatistik wird diese Gruppe unterteilt in die Migrantinnen und Migranten der ersten Generation (die selbst zugewandert sind) und in die der zweiten Generationen (das ist die Gruppe derer, die bereits in Deutschland geboren sind, von denen aber mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt erworben hat) (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2022, S. 15).

Als vergleichbare Zahlen Anfang dieses Jahrhunderts im Kontext der ersten PISA-Studie in das öffentliche Bewusstsein gerieten, machten sie erstmals darauf aufmerksam, dass die bis dahin übliche Bezugnahme auf ‚Ausländer‘, also auf die Bevölkerung in Deutschland, die nicht über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügt, die Herausforderungen, denen sich die Gesellschaft in Folge der Zuwanderung der vergangenen Jahrzehnte stellen muss, erheblich unterschätzt.

Die Lage der Kinder und Jugendlichen mit einem sogenannten Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem zu beschreiben, fällt schwer, weil ältere Daten sich ausschließlich auf Ausländer beziehen und weil bis heute in der Bildungsstatistik zum Teil das Ausländer-, zum Teil und im wachsenden Maße das Migrationskonzept zugrunde gelegt wird.

Mit Blick auf die Größenordnung, um die es geht, wird im Folgenden so verfahren, dass überall da, wo die Datenlage es erlaubt, auf das Migrationskonzept Bezug genommen wird; nur da, wo dabei wichtige Befunde völlig ausgeblendet würden, wird hilfsweise auf das Ausländerkonzept zurückgegriffen. Die infolge der unterschiedlichen Bezugsgruppen verwirrende Datenlage erzwingt zugleich einen Verzicht auf die Analyse von Entwicklungen im Verlauf der vergangenen Jahre.

Für viele Heranwachsende mit einem Migrationshintergrund stellt sich der Parcours des deutschen Bildungssystems mit all seinen Hürden – von den Kindergärten bis zum Erwerb einer Studienberechtigung – besonders hindernisreich dar. Dies beginnt bereits im vorschulischen Bereich: Alle 91 % der Drei- bis unter Sechsjährigen Kinder ohne Migrationshintergrund besuchten 2020 eine Kindertageseinrichtung, bei den Kindern mit Migrationshintergrund galt dies in dieser Altersgruppe nur für 80 % (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2022, S. 105). Gerade in einer Zeit, in der den Kindergärten ein verstärkter Bildungsauftrag zukommt, führt die unterschiedliche Bildungsbeteiligung in dieser Altersgruppe zu einer deutlichen Benachteiligung schon beim Schulstart. Im Verlauf der Schulkarrieren wächst die Ungleichheit weiter an.

Im IQB-Bildungstrend 2021, in dem die Kompetenzen von Kindern der vierten Jahrgangsstufe in den Fächern Deutsch und Mathematik untersucht wurden, lag der durchschnittliche Kompetenzwert von Kindern mit einem Migrationshintergrund beim Lesen um 59 Punkte unter dem der Kinder ohne Migrationshintergrund (Stanat et al. 2022, S. 190). Vergleichbare Ergebnisse brachte der IQB-Bildungstrend 2022: Bei den Kompetenzen im Fach Deutsch lagen Jugendliche der zweiten Generation in der neunten Jahrgangsstufe in ihren Leistungen im Mittel 54 Testpunkte hinter Jugendlichen ohne Migrationshintergrund (Stanat et al. 2023, S. 308).

Die Kluft, die zwischen den schulisch gemessenen Leistungen von Kindern sowie Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund besteht, wird auch in den Daten zu den jeweils erreichten Bildungsabschlüssen gespiegelt. Verfügbare Daten, die sich auf das Ausländerkonzept beziehen (auf das Migrationskonzept gestützte Informationen liegen hierzu nicht repräsentativ vor), belegen für 2021: Unter den Absolvierenden erreichen 2021 5,3 % aller deutschen Absolvierenden keinen Hauptschulabschluss, unter denen mit einer nicht deutschen Staatsangehörigkeit liegt dieser Anteil bei 14,8 % (eigene Berechnungen nach Statistisches Bundesamt 2022d). Da hier Daten zum Migrationshintergrund fehlen, muss auf die Staatsangehörigkeit zurückgegriffen werden.

Auch die Zugänge und Erfolge im Bereich der beruflichen Ausbildung sind entsprechend unterschiedlich ausgeprägt: Beim Wechsel in das Berufsbildungssystem landeten 2021 23,6 % der ausländischen gegenüber 11,6 % der Gruppe deutscher Jugendlicher in dem sogenannten ‚Übergangssystem‘ (vgl. Abschn. 2.3.1.3), in jenem Teilsystem der beruflichen Bildung, das explizit nicht darauf angelegt ist, einen zukunftsfähigen Ausbildungsabschluss zu vermitteln (eigene Berechnungen nach Statistisches Bundesamt 2023b).

Die sehr differenzierten Analysen, die auf der Basis der neueren Leistungsstudien möglich wurden, verweisen auf ein ganzes Bündel erklärender Faktoren – Schichtzugehörigkeit, Beherrschung der Unterrichtssprache und Schulstruktureffekte müssen an erster Stelle genannt werden (vgl. dazu Bos et al. 2012; McElvany et al. 2023; Schwippert et al. 2020 und Stanat et al. 2022); es sind nicht die internationalen Wurzeln an sich:

  • Der mittlere sozioökonomische Status liegt bei den Familien mit Migrationserfahrung deutlich unterhalb des Wertes der Familien ohne Migrationsgeschichte. Nicht erst seit den großen Leistungsstudien der letzten Jahre wissen wir, dass die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht die Schulkarrieren maßgeblich prägt – insbesondere in Deutschland.

  • Von der Unterrichtssprache Deutsch geben nur 14,5 % der Viertklässler, deren beide Elternteile nicht in Deutschland geboren wurden, an, dass die deutsche Sprache zu Hause immer gesprochen werde (Schwippert et al. 2020, S. 301). Diese Feststellung verweist auf die hohe Bedeutung, die der Sprachbildung, insbesondere auch der im frühkindlichen Bereich, für den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen zukommt.

  • Grundschulkinder ohne haben gegenüber den Kindern mit Migrationsgeschichte bei vergleichbaren kognitiven Fähigkeiten eine deutlich höhere Chance, eine Empfehlung für den Besuch des Gymnasiums zu erhalten (Bos et al. 2012, S. 222 – aktuelle Daten liegen dazu nicht vor).

Das Zusammenwirken von schicht- und sprachbedingten Unterschieden und die dadurch verursachten Leistungsunterschiede führen zu der hier dokumentierten Benachteiligung, denen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit einem Migrationshintergrund in Deutschlands Bildungssystem vielfach ausgesetzt sind, der sie aber nicht ausgesetzt sein müssten. Dazu gehört auch, Mehrsprachigkeit als Chance und nicht als Problem zu sehen (zum monolingualen Habitus der multilingualen Schule vgl. Gogolin 2008).

3.4 Der Ertrag von Bildung: Sie lohnt sich

Eine bilanzierende Durchmusterung der hier vorgestellten zentralen Daten zur Öffnung der Bildungswege und zu den damit einhergehenden Expansionsprozessen sowie zur Chancenverteilung im Bildungssystem ergibt für das beginnende 21. Jahrhundert ein vergleichsweise eindeutiges Bild:

Der Zulauf zu den allgemeinbildenden Schulen, die dort erreichten Schulabschlüsse und die Beteiligung an beruflicher Ausbildung haben in den Jahren seit 1945 ein beachtliches Niveau erreicht. Mit der Öffnungspolitik hat es die Bundesrepublik Deutschland ermöglicht, dass eine abgeschlossene Schulbildung mit einer anschließenden Berufsausbildung in Betrieben, Schulen und Hochschulen zur Normalbiographie der Heranwachsenden werden konnte. Ein Abweichen von dieser Norm, wie es sich seit den neunziger Jahren in Folge des Mangels an Ausbildungsplätzen im Rahmen der dualen Berufsausbildung wieder verstärkt ergeben hat, wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts als Versagen auch der Gesellschaft wahrgenommen.

Innerhalb dieser so beachtlichen Expansion der Bildungsbeteiligung – auch dies gehört zu einer Bilanz – ist es aber nur teilweise gelungen, dem im Grundgesetz verankerten Chancengleichheitsgebot nachzukommen. Immer noch stellen die regionale und insbesondere die soziale Herkunft sowie vielfach die Migrationsgeschichte (vermittelt über soziale Herkunft und die Beherrschung der Bildungssprache Deutsch) entscheidende Einflussfaktoren dar, wenn es um die Bildungschancen der Heranwachsenden geht. Die so offensichtlich ungleiche Verteilung von Bildungschancen trägt – dies belegt eine Durchsicht der einschlägigen Untersuchungen beeindruckend – in einem erheblichen Umfang zu einer ungleichen Verteilung von Lebenschancen bei und bestimmt somit den weiteren Lebensweg (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2022, S. 329 ff.; Block und Klemm 1997). Dies soll – exemplarisch – für die Bereiche der beschäftigungsbezogenen Erträge und der außerberuflichen Erträge abschließend gezeigt werden.

3.4.1 Beschäftigungsspezifische Wirkungen: Beachtliche Erträge von Bildung

Die Auswirkungen der Höhe des Schulabschlusses für die Teilhabe am Erwerbsleben sind unverkennbar: Sie zeigen sich

  • beim Eintritt in eine Berufsausbildung,

  • bei der Teilhabe an Erwerbsarbeit und

  • beim erzielbaren Einkommen.

Gerade in Phasen des Ausbildungsplatzmangels wird deutlich, wie stark die Chancen, einen Ausbildungsplatz zu erhalten, mit dem erworbenen Schulabschluss zusammenhängen. So wechselten 2018 von den deutschen jungen Erwachsenen ohne Hauptschulabschluss 64 % aus der allgemeinbildenden Schule in das Übergangssystem, bei den jungen Ausländern waren dies sogar 76 % (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020, S. 161). Die darin zum Ausdruck kommende Verbindung zwischen Schulbildung und Ausbildungschancen setzt sich in dem ebenso beachtlichen Zusammenhang zwischen Ausbildungsabschluss und Arbeitslosigkeit fort.

Eine qualifikationsspezifische Analyse der Statistiken zur Erwerbslosigkeit belegt, dass Ausbildungslosigkeit ein deutlich erhöhtes Arbeitslosigkeitsrisiko nach sich zieht – und zwar lebenslang. Die entsprechenden Daten zum Zusammenhang zwischen Ausbildungsniveau und Arbeitslosenquoten zeigen: Im Jahr 2020 lag die Arbeitslosenquote in Deutschland insgesamt bei 5,2 %. In der Gruppe derer, die keine abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen konnten, lag sie bei 17 %, bei denen, die über eine Hochschulausbildung verfügten, dagegen nur bei 2,0 %. (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 2020, S. 3.) Auch die unter den dauerhaft ohne Ausbildung bleibenden Erwachsenen, die in Erwerbsarbeit einmünden, ‚spüren‘ ihre niedrigen Bildungs- und Ausbildungsabschlüsse.

Schließlich zeigt eine Auswertung des Zusammenhangs zwischen Abschlüssen und dem erzielbaren Einkommen für Deutschland: Wenn das Erwerbseinkommen eines Erwachsenen (im Alter zwischen 35 und 44 Jahren) mit einer abgeschlossenen Ausbildung im Bereich der Sekundarstufe II als Bezugspunkt (100 %) gewählt wird, so lag das Einkommen bei einem Erwachsenen ohne abgeschlossene Ausbildung 2018 bei 71 % und das eines Erwachsenen mit einem universitären Masterabschluss bei 184 % (OECD 2020, S. 121).

3.4.2 Außerberufliche Wirkungen: Mehr Autonomie, mehr gesellschaftliche Teilhabe, bessere Gesundheit

Der individuelle Nutzen von Bildung und damit die Folgen ungleicher Bildungsbeteiligung bleiben aber keineswegs auf den im engeren Sinne ökonomischen Bereich beschränkt. Die Teilhabe an Bildung stellt den Einzelnen kognitive Kompetenzen zur Verfügung, die – neben ihrer Bedeutung für den Zugang zum Erwerbsleben – auch im außerberuflichen Bereich von hoher Bedeutung sind. Dies soll mit ausgewählten Beispielen belegt werden:

Im Verlauf der Bildungsexpansion konnte die Bildungsbeteiligung der Mädchen und jungen Frauen drastisch gesteigert werden. Inzwischen haben sie – wie gezeigt wurde – in allen Bereichen der Schulen die Jungen und jungen Männer überholt: Bei den Erstsemestern der Universitäten stellen sie inzwischen die Mehrheit. Dies hat zu einer Stärkung ihrer individuellen Orientierungsmöglichkeiten beigetragen. Die Belege dafür sind unübersehbar: Die Erwerbsbeteiligung der Frauen ist während der Jahre der Bildungsexpansion und auch in der Phase der sich aufbauenden Massenarbeitslosigkeit seit den 1970er Jahren stark angestiegen – und zwar in Abhängigkeit vom erreichten Ausbildungsabschluss. 2019 betrug die Erwerbsquote der Frauen in der Altersgruppe 25 bis 34 in der Gruppe ohne Ausbildungsabschluss 45 %, in der Gruppe mit Hochschulabschluss aber 80 % (OECD 2020, S. 98). Diese Entwicklung hat Frauen mit gelungenen Bildungsbiografien neue Autonomiespielräume eröffnet.

Ähnlich deutlich wirkt sich die gesteigerte Bildungsbeteiligung im Gesundheitsbereich aus: Teilhabe an Bildung eröffnet, wie gezeigt wurde, einen sehr differenzierten Zugang zur Arbeitswelt. Diese ihrerseits bewirkt über ausgeprägte berufsspezifische Arbeitsbedingungen je nach Arbeitsplatz sehr unterschiedliche gesundheitliche Belastungen. Zugleich aber wirkt sich das im Bildungssystem erworbene kulturelle Kapital unmittelbar, ohne den Umweg über den Arbeitsplatz, als Wissen über Gesundheitsrisiken und als Kompetenz, gesundheitsbewusst zu leben, direkt aus. Höhere Bildung ermöglicht so insgesamt eine gesundheitsgerechtere Lebensführung.

Was das bedeutet, hat Becker in einer empirischen Längsschnittanalyse zu „Bildung und Lebenserwartung in Deutschland“ gezeigt:

„Je höher das Bildungsniveau einer Person ist, umso länger dauert ihr Leben an. Für Männer reduziert sich mit jedem zusätzlichen Schuljahr das relative Mortalitätsrisiko um 8,4 % und für Frauen um 16 % […]. Offensichtlich wirken sich Investitionen in das Gesundheits- und kulturelle Kapital begünstigend auf die Lebenserwartung aus“ (Becker 1998, S. 145).

Im 2012 veröffentlichten Bildungsbericht wird der Zusammenhang von Bildung und Gesundheit mit Verweis auf eine 2011 veröffentlichte Studie des Robert-Koch-Instituts ebenfalls thematisiert, die zeigt,

„dass Personen mit niedriger Bildung häufiger von den Auswirkungen einer ungesunden Lebensweise betroffen sind als Personen mit mittlerer und höherer Bildung. Beispielsweise treten Übergewicht und Adipositas bei Personen mit niedriger Bildung mehr als dreimal so häufig auf wie bei Personen mit höherer Bildung. Sie sind auch stärker von den sogenannten Volkskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfall oder auch Diabetes mellitus Typ II betroffen als Personen mit mittlerer und höherer Bildung“ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012, S. 208).

Auch im Bereich der politischen Partizipation verweisen deutliche empirische Befunde auf einen unübersehbaren Zusammenhang zwischen zum Beispiel politischem Interesse und individuell erreichten Bildungsabschlüssen. Personen, die keine abgeschlossene Berufsausbildung haben, äußerten 2018 nur zu 17,7 % politisches Interesse. Personen mit einem Universitätsabschluss taten dies dagegen zu 62,1 % (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020, S. 314, Tab. 13–2web).

3.5 Anregungen zur Wiederholung und Reflexion

  1. 1.

    Überlegen Sie sich eine knappe Beschreibung des Prozesses der Bildungsexpansion.

  2. 2.

    Beschreiben Sie knapp die Gruppen der ‚Gewinner‘ sowie der ‚Verlierer‘ des Prozesses der Bildungsexpansion.

  3. 3.

    Vergegenwärtigen Sie sich die Chancenverteilung durch das Bildungssystem auf theoretischer und empirischer Basis und beachten Sie dabei insbesondere die Differenzmerkmale a) Geschlecht, b) Region, c) soziale Herkunft und d) Ethnie – auch in ihrem Zusammenwirken.

  4. 4.

    Wie verhält sich das Leistungsprinzip mit der Chancenverteilung in den und durch die Schulen?

  5. 5.

    Wie verhalten sich schulische Leistungen, Lehrkräftebeurteilung und Elternentscheidungen bei Schullaufbahnentscheidungen zueinander?

  6. 6.

    Wie stellt sich die soziale Chancengleichheit auf den unterschiedlichen Stufen des Bildungssystems dar?

  7. 7.

    Machen Sie sich die Bedeutung von Bildungsteilhabe und Bildungsabschlüssen für die individuellen Lebenschancen klar.