Das deutsche Bildungssystem, so wie es sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts dem Betrachter darstellt, ist das Ergebnis einer Entwicklung, die sich im deutschsprachigen Raum insbesondere während der letzten dreihundert Jahre – vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein – vollzogen hat. Seine Darstellung bedarf daher, soll es richtig verstanden werden, einer historischen Rückerinnerung. Mit der historischen Perspektive wird eine Folie geboten, ohne die Besonderheiten dieses Bildungssystems über weite Strecken unverstanden bleiben müssen (Fend 2006a, S. 253).

Das Einlassen auf eine derartige Rückerinnerung birgt allerdings eine große Gefahr in sich: die Gefahr des sich Verlierens im historischen Geflecht der spannenden Vorgeschichte. Um diese Ausuferung zu meiden, wird in dieser Darstellung der Weg der Reduktion eingeschlagen, einer Reduktion auf den Bereich des Schulwesens, um den es im Folgenden ja auch überwiegend gehen wird, auf – bis 1918 – die preußische und dann auf die deutsche Schulgeschichte sowie innerhalb der zunächst preußischen und dann deutschen Geschichte auf die Aspekte, die für die Behandlung des deutschen Schulsystems von herausragender Bedeutung sind.

Es wird in der folgenden Präsentation daher vorrangig gehen

  • um die Herausbildung und Durchsetzung der Unterrichts- bzw. der Schulpflicht,

  • um die Verankerung des Berechtigungswesens durch die Abiturreglements,

  • um die großen Etappen der Verfestigung des gegliederten Schulwesens,

  • um die Ablösung des Stände- durch das meritokratische bzw. Leistungsprinzip zu Beginn der Weimarer Republik,

  • um die strukturelle Kontinuität und die inhaltlichen Brüche während der Jahre des Nationalsozialismus sowie

  • um Restauration und Reformversuche in der Bundesrepublik.

Dabei werden schulstrukturelle Entwicklungen im Mittelpunkt stehen, nur an ausgewählten Stellen wird auf die pädagogische Ideengeschichte eingegangen.

Dieses Kapitel bietet Ihnen eine strukturierte Vorstellung von der Entstehung und Entwicklung des deutschen Schulsystems vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Dies kann ihnen helfen, ein tieferes Verständnis der gegenwärtigen Gestalt des deutschen Schulsystems aus seiner Geschichte zu gewinnen.

1.1 Unterrichtspflicht: Der Weg von der Proklamation zur Durchsetzung war weit

In der Einleitung zu ihrer Darstellung der Institutionalisierung des deutschen Schulsystems schreiben Herrlitz et al. (1984, S. 56):

„In der historischen Entwicklung der letzten 200 Jahre hat sich die Schule als öffentliche Einrichtung für Massenlernprozesse weltweit durchgesetzt. Diese Entwicklung legt den Schluss nahe, dass sie eine erfolgreiche gesellschaftliche Problemlösung für fundamentale Funktionsbedürfnisse moderner Gesellschaften darstellt. Die Entwicklung scheint unumkehrbar, da komplexe Gesellschaften die Lernprozesse der heranwachsenden Generation funktional verselbstständigt und durch die Ausdifferenzierung eines in seinen Grenzen und Funktionen identifizierbaren Bildungssystems auf Dauer gestellt haben.“

Am Anfang dieser Entwicklung standen die Proklamation und schließlich die Durchsetzung der Unterrichtspflicht (Leschinsky und Roeder 1976, S. 43 ff.). Von Unterrichtspflicht muss für diese Zeit – abweichend von dem Begriff der Schulpflicht– gesprochen werden, da mit der Unterrichtspflicht nur die Teilhabe an Unterricht, sei es an schulischem Unterricht oder am Unterricht, den Privatlehrer erteilten, vorgeschrieben wird. Erst wenn, wie es heute in allen deutschen Bundesländern rechtlich verankert ist, der vorgeschriebene Unterricht in dafür eingerichteten privat oder öffentlich getragenen Institutionen erteilt werden muss, spricht man von Schulpflicht.

Den ersten Versuch, in Preußen die Unterrichtspflicht rechtlich zu verankern, unternahm Friedrich Wilhelm I. mit dem von ihm erlassenen General Edict (1717). Die im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer wieder erneuerten Bekräftigungen der Unterrichtspflicht belegen, dass es bei ihrer Durchsetzung haperte. Auch als 1794 im „Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten“ die Unterrichtspflicht erneut verkündet wurde (Titel XII § 43): „Jeder Einwohner, welcher den nötigen Unterricht für seine Kinder in seinem Hause nicht besorgen kann, oder will, ist schuldig, dieselben nach zurückgelegtem Fünften Jahr zur Schule zu schicken.“ (Michael und Schepp 1993, S. 72), war Preußen weit entfernt von der Durchsetzung der Unterrichtspflicht.

Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde erreicht, dass tatsächlich überall in Preußen die Kinder und Jugendlichen Unterricht erhielten. Leschinsky und Roeder (1976) berichten, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts (1816) etwa 60 % der Kinder Schulen besuchten und dass erst gegen Ende des Jahrhunderts, zu Beginn der achtziger Jahre, die Unterrichtspflicht tatsächlich für alle Kinder und Jugendliche durchgesetzt war (Leschinsky und Roeder 1976, 143 f.).

Der institutionelle Rahmen, in dem dies geschah, war durch das erwähnte Allgemeine Landrecht vorgezeichnet (Michael und Schepp 1993, S. 70 ff.). Es unterschied ‚niedere‘ und ‚höhere‘ Schulen:

  • ‚Niedere‘ Schulen, auch „gemeine Schulen“ genannt, sind „dem ersten Unterricht der Jugend gewidmet“ (Titel XII § 12).

  • ‚Höhere‘ Schulen, auch als „Gymnasia“ bezeichnet, bereiten die Jugend zu „höhern Wissenschaften, oder auch zu Künsten und bürgerlichen Gewerben“ vor (Titel XII, § 54).

Die hier nur knapp skizzierte Durchsetzung der Unterrichtspflicht und die Etablierung eines staatlich organisierten, finanzierten und kontrollierten Schulsystems im Verlauf des 19. Jahrhunderts verdankt sich in Preußen und in ähnlicher Weise im gesamten deutschsprachigen Raum drei Faktoren (vgl. zu den im Folgenden benutzten Funktionsbegriffen Kap. 6):

  • Eine wesentliche Triebkraft dieser Entwicklung lag im etatistischen Interesse: Der Staat Preußen nutzte in seinem nicht gewachsenen Herrschaftsgebiet Schulen als Mittel zur Herausbildung eines gemeinsamen Staats- und Nationalbewusstseins (Legitimations- und Integrationsfunktion der Schule).

  • Daneben stand das wachsende ökonomische Interesse, die Entwicklung der Wirtschaft und vor allem die der staatlichen Verwaltung durch die Heranbildung qualifizierten Personals zu befördern (Qualifikationsfunktion der Schule).

  • Schließlich trieb das emanzipatorische Interesse der Einzelnen, insbesondere das Interesse der Mitglieder des entstehenden Bürgertums, durch im Bildungssystem erbrachte Leistung die eigenen Lebensmöglichkeiten in Konkurrenz mit dem Adel zu erweitern (Selektions- und Allokationsfunktion der Schule).

1.2 ‚Höheres‘ Schulwesen: Das Berechtigungssystem verband sich mit dem Konzept allgemeiner Bildung

Die staatlich voran getriebene Entwicklung des preußischen Bildungssystems konzentrierte sich um 1800 zunächst vorrangig auf die höheren Schulen, die in Form von Gelehrtenschulen, Stadtschulen, Ritterakademien und Lateinschulen bestanden. Diese zumeist von Städten oder Stiften unterhaltenen Schulen boten, was Niveau und Schülerschaft anging, ein sehr heterogenes Bild. In vielen von ihnen, insbesondere in den Lateinschulen, standen Latein und Religion im Mittelpunkt des Lehrplans (vgl. dazu exemplarisch die Stundentafel der Lateinschule in Emden, Tab. 1.1).

Tab. 1.1 Stundentafel der Reformierten Lateinschule in Emden (1788)

Bei der Neuordnung dieses höheren Schulwesens war das 1787 in Berlin begründete Oberschulkollegium die treibende Kraft. Es machte sich zunächst daran, dieses bis dahin unübersichtliche und qualitativ ungenügende höhere Schulwesen zu ordnen. Das zentrale Instrument dazu schuf es sich durch Regelungen zur Abschlussprüfung.

Schon 1788 wurde das 1. Abiturreglement erlassen, mit dem das Abitur zum Nachweis der Studierfähigkeit als Prüfung am Ende der höheren Schulen eingeführt wird. Zu der Zeit stellte es allerdings noch keine verbindliche Voraussetzung zum Studium dar, war jedoch Voraussetzung für die Erlangung eines Stipendiums. Die Einleitungssätze des preußischen Reglements für die Prüfung an den Gelehrten Schulen (1. Abiturreglement) verdeutlichen die Absichten, die die preußische Regierung mit diesem Reglement verfolgte:

„Es ist bisher vielfältig bemerkt worden, dass so viele zum Studieren bestimmte Jünglinge ohne gründliche Vorbereitung unreif und unwissend zur Universität eilen, wodurch selbige nicht nur sich selbst schaden, und sich selbst die gehörige Benutzung des academischen Unterrichts schwer, ja oft unmöglich machen, und daher nur zu oft eben dadurch zum Müßiggang und zu mancherley Unordnungen während ihres academischen Lebens verleitet werden […]. Es ist daher beschlossen worden, dass künftig alle von öffentlichen Schulen zur Universität abgehende Jünglinge schon vorher auf der von ihnen besuchten Schule in der weiter unten zu bestimmenden Form öffentlich geprüft werden, und nachher ein detailliertes Zeugniß über ihre bey der Prüfung befundene Reife oder Unreife zur Universität erhalten sollen, welches Zeugniß sie demnächst bey ihrer Inscription auf der Universität zu produciren haben, damit es dort ad Acta gelegt und künftig bey ihrem Abgang von der Universität in ihrem academischen Zeugniß resumiert werden könne. Es ist jedoch hierbey Unsere Absicht nicht die bürgerliche Freyheit in so fern zu beschränken, dass es nicht ferner jedem Vater und Vormund frey stehen sollte, auch einen unreifen und unwissenden Jüngling zur Universität zu schicken: dies soll vielmehr nach wie vor dem Ermessen eines jeden überlassen bleiben […]“ (Schwartz 1910, S. 122 f.).

Die damit eingeführte Abschlussprüfung am Ende der gymnasialen Schulzeit, das Abitur, wurde im Verlauf der folgenden Jahre ausdifferenziert und in zwei Schritten verbindlich gemacht:

  • Zunächst regelten das 2. Abiturreglement von 1812 und nachfolgende Erlasse, dass eine an den Gymnasien absolvierte Abiturprüfung zwar noch nicht für den Eintritt in die Universitäten zur Voraussetzung wurde, dass die Abiturprüfung aber von all denen gefordert wurde, die sich einem Staatsexamen (für das höhere Lehramt oder auch für den Justizdienst) stellen wollten. Auch werden 1812 erstmalig die inhaltlichen Anforderungen, die bei der Abiturprüfung zugrunde liegen sollten, detaillierter festgelegt.

  • Vollendet wurde die Entwicklung 1834 durch das 3. Abiturreglement, das Abiturprüfungen zur Voraussetzung für alle universitären Studiengänge machte.

Die hier mit Bezug auf Preußen beschriebene Entwicklung findet sich in vergleichbarer Weise in anderen Ländern des späteren deutschen Reichs: So führte Bayern 1809 als Voraussetzung zur Zulassung zu einem Universitätsstudium eine an den Gymnasien bestandene ‚Absolutorialprüfung‘ ein. Ähnlich verfuhren 1811 Württemberg und 1829 Sachsen (vgl. ausführlicher dazu Klemm 2022).

Da nach und nach all die Länder, die sich 1871 zum Deutschen Reich zusammengeschlossen haben, entsprechende Abiturreglungen einführten, ergab sich die Notwendigkeit, die bei ihnen vergebene Zugangsberechtigung zum Studium wechselseitig anzuerkennen. Dies geschah bereits 1874 durch die ‚Gegenseitige Anerkennung der Maturitätszeugnisse der Gymnasien in den Staaten des Deutschen Reiches‘ (Nummer 144 des Jahrgangs 1874 im Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 1859–1934). Die sich aus dieser Anerkennungszusage ergebende Frage nach der Vergleichbarkeit der in den einzelnen Ländern erbrachten Leistungen hat seither die Bildungspolitik im föderal organisierten Deutschland beschäftigt – bis hin zur heute aktuellen Debatte um Bildungsstandards und um zentrale Abschlussprüfungen.

Parallel zu der institutionellen Etablierung des Gymnasiums entwickelte sich ein gymnasialer Lehrplan: Beeinflusst durch den Neuhumanismus und seinen wohl prominentesten Vertreter Wilhelm von Humboldt, der von 1809 bis 1810 die Section für Kultus und Unterricht im preußischen Innenministerium leitete (Menze 1975), entstand ein Lehrplan, der praktisch verwertbare Gegenstände aus der allgemeinen Schulbildung verbannte. So heißt es in Humboldts „Unmaßgeblichen Gedanken über den Plan zur Einrichtung des Litauischen Stadtschulwesens“ (1809):

„Alle Schulen aber, deren sich nicht ein einzelner Stand, sondern die ganze Nation, oder der Staat für diese annimmt, müssen nur allgemeine Menschenbildung bezwecken. Was den Bereich des Lebens oder eines einzelnen seiner Gewerbe erheischt, muss abgesondert, und nach vollendetem allgemeinen Unterricht erworben werden. […] Denn beide Bildungen – die allgemeine und die specielle – werden durch verschiedene Grundsätze geleitet“ (Michael und Schepp 1993, S. 104 ff.).

Maßgeblich für die allgemeine Menschenbildung in diesen Schulen war das Bildungskonzept der Neuhumanisten, die durch Schulbildung die Individualität jedes Einzelnen ohne Rücksicht auf gesellschaftliche und aktuelle Bedürfnisse entwickelt wissen wollten. Die Sprache, über deren formale Ausbildung der Mensch zu sich selbst gelange, stand im Mittelpunkt der neuhumanistischen Idee von allgemeiner Bildung. Insbesondere das Erlernen der alten Sprachen, vor allem des Griechischen, diente im Verständnis der Neuhumanisten diesem Zweck vorzüglich, weil sie die Strukturen von Sprache am reinsten repräsentierten und weil über die alten Sprachen ein Zugang zu der als ideal gedeuteten Kultur der Antike eröffnet würde.

Dieses neuhumanistische Konzept setzte sich deutlich von der am Nützlichkeitsdenken orientierten Aufklärungspädagogik ab (Blankertz 1985). Wie stark dieses Konzept philologisch geprägt war, macht die Stundentafel, die ab 1837 für preußische Gymnasien galt, deutlich: 46 % aller Unterrichtsstunden eines Gymnasiasten wurden den Fächern Latein und Griechisch gewidmet; lediglich 18 % der Stunden bezogen sich auf Rechnen/Mathematik, Naturbeschreibung und Physik (vgl. Tab. 1.2).

Tab. 1.2 Stundentafel für das preußische Gymnasium (1837)

Am Ende des Prozesses der Etablierung höherer Schulbildung hat sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein – ausschließlich den Jungen vorbehaltenes – höheres Schulwesen herausgebildet, das durch drei Aspekte charakterisiert ist:

  • Zum einen durch das Berechtigungssystem. Dieses System garantierte dem Absolventen einer unter staatlicher Kontrolle durchgeführten Abschlussprüfung den Zugang zu einer Ausbildung in der nachfolgenden Institution, in diesem Fall in der Universität.

  • Des Weiteren durch den Leistungsgedanken. Der Zugang zu Hochschulen war gekoppelt an das Erbringen von Schulleistungen, die in einer Prüfung nachgewiesen werden mussten.

  • Schließlich ist die in einer Prüfung belegte und zu einer Berechtigung führende Schulbildung mit einem Bildungskonzept verbunden, das der Allgemeinbildung verpflichtet war und das sich durch eine strikte Abgrenzung von jeder berufsbezogenen ‚Spezialbildung‘ auszeichnete.

Erreicht wurde auf diesem Wege dreierlei:

  1. 1.

    Die Loyalität der durch Bildung aufgestiegenen Beamtenschaft wurde erzeugt und gesichert.

  2. 2.

    Die Qualifikation der ‚führenden‘ Schichten wurde in staatlichen Institutionen geleistet und durch den Staat kontrolliert.

  3. 3.

    Die erfolgreiche Teilhabe an höherer Bildung ermöglichte auch den Söhnen (!) des Bürgertums, in Konkurrenz zu denen des bis dahin privilegierten Adels zu treten und sich dadurch aus den bis dahin engen Standesgrenzen zu befreien.

Für die weitere Entwicklung der Schulen in Deutschland wurden die hier berichteten Weichenstellungen der Gründerzeit des Gymnasiums in vielfacher Weise prägend. So setzt sich die Abwendung von nützlichen, unmittelbar auf das Berufsleben vorbereitenden Bildungsinhalten bis heute fort: in der Unterscheidung von allgemeinbildenden und von berufsbildenden Schulen ebenso wie in der Tatsache, dass einzelne Bundesländer (so z.B. Nordrhein Westfalen 2020) erst im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts angefangen haben, Unterrichtsfächer wie Wirtschaft oder auch Informatik in den Stundentafeln der allgemeinbildenden weiterführenden Schulen nicht nur als Wahl, sondern auch als Pflichtfächer zu verankern.

1.3 ‚Niederes‘ Schulwesen: Bildungsbegrenzung wurde zum Prinzip

Da die breite Volksbildung ökonomisch zunächst weniger wichtig war als die qualifizierte Beamtenbildung, wurde dem ‚niederen‘ Schulwesen zunächst deutlich weniger Beachtung als dem ‚höheren‘ Schulwesen gewidmet. In ihm ging es vorrangig um das „landesherrliche Interesse“ an einer „herrschaftskonformen Glaubenserziehung christlicher Untertanen‘ (Herrlitz et al. 1984, S. 63). Aus diesen unterschiedlichen Zielsetzungen – Beamtenbildung im ‚höheren‘ Schulwesen auf der einen und Untertanenerziehung im ‚niederen‘ Schulwesen auf der anderen Seite – lässt sich erklären, dass die ‚niedere‘ eine von der ‚höheren‘ Schule deutlich getrennte Institution darstellte.

In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts formulierte von Beckedorff, der damalige Leiter des preußischen Volksschulwesens, die Begründung für diese institutionelle Trennung, die im Verlauf der weiteren Entwicklung zu einem Kennzeichen der deutschen Schulen wurde (Michael und Schepp 1993, S. 117 f.):

„Um aller dieser Gründe willen aber bedürfen wir in der menschlichen Gesellschaft nicht gleichartiger Stufen-, […] sondern nach bisheriger alter Weise, guter Bauern-, Bürger- und Gelehrtenschulen, worin diejenigen, welche diesen zwar verschiedenen, aber gleich ehrenwerten Ständen angehören, von Kindesbeinen an zu ihrer künftigen Bestimmung vorbereitet werden; nicht endlich einer künstlichen Gleichheit der Volkserziehung, sondern vielmehr einer naturgemäßen Ungleichheit der Standeserziehung; zwar allerdings einer übereinstimmenden Bildung zur Religion und Sittlichkeit, aber keineswegs einer gleichartigen Abrichtung in Kenntnissen und Fertigkeiten.“

An dieser Vorstellung orientiert, war die preußische Volksschule in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Prinzip der gewollten Bildungsbegrenzung bestimmt:

  • Sie war in der Regel einklassig,

  • umfasste zumeist eine höchstens dreijährige Schulbesuchszeit,

  • beschäftigte Lehrer, die über keine akademische Ausbildung verfügten,

  • und war inhaltlich auf Rechnen, Lesen, Schreiben und Religion begrenzt.

Gegen diese Bildungsbegrenzung wehrten sich fortschrittliche Bürgerinnen und Bürger wie der westfälische Industrielle F. Harkort und vor allem Lehrer wie der Leiter des Berliner Lehrerseminars F.A.W. Diesterweg. Zeitgleich mit dem Versuch einer bürgerlichen Revolution in Deutschland (Paulskirche 1848) wurden Ansätze einer Schulprogrammatik formuliert, die auch Schülerinnen und Schülern des ‚niederen‘ Schulwesens Bildungschancen hätte eröffnen können. Zentrale Elemente dieser schulpolitischen Forderungen waren die öffentliche Trägerschaft und Kontrolle der Schulen, die Durchsetzung der Schulpflicht, eine wissenschaftliche Ausbildung, eine feste Anstellung und eine hinreichende Bezahlung der Lehrer sowie ein breit angelegter Fachunterricht.

Nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution sah die preußische Krone in den Reformtendenzen unter den Volksschullehrerinnen und -lehrern eine wesentliche Ursache der Unruhen. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV äußerte sich 1849 in seiner „Ansprache an die Seminarlehrer“, also an die Ausbilder der künftigen Volksschullehrer, folgendermaßen (Michael und Schepp 1993, S. 167 f.):

„All’ das Elend, das im verflossenen Jahre über Preußen hereingebrochen, ist ihre, einzig Ihre Schuld, die Schuld der Afterbildung, der irreligiösen Menschenweisheit, die Sie als echte Weisheit verbreiten, mit der Sie den Glauben und die Treue in dem Gemüthe meiner Unterthanen ausgerottet und deren Herzen von Mir abgewandt haben. Diese pfauenhaft aufgestutzte Scheinbildung habe Ich schon als Kronprinz aus innerster Seele gehaßt und als Regent Alles aufgeboten, um sie zu unterdrücken. Ich werde auf dem betretenen Wege fortgehen, ohne Mich irren zu lassen; keine Macht der Erde soll Mich davon abwendig machen. Zunächst müssen die Seminarien sämmtlich aus den großen Städten nach kleinen Orten verlegt werden, um den unheilvollen Einflüssen eines verpesteten Zeitgeistes entzogen zu werden. Sodann muß das ganze Treiben in diesen Anstalten unter die strengste Aufsicht kommen. Nicht den Pöbel fürchte Ich, aber die unheiligen Lehren einer modernen frivolen Weltweisheit vergiften und untergraben Mir meine Bureaukratie, auf die bisher Ich stolz zu sein glauben konnte. Doch so lange Ich noch das Heft in Händen führe, werde Ich solchem Unwesen zu steuern wissen.“

Der Charakter der preußischen Volksschule als eine Schule der Bildungsbegrenzung wurde – der königlichen Kritik folgend – nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution von 1848 noch einmal geschärft (vgl. Tab. 1.3): In den drei Stiehlschen Regulativen von 1854 wurde der Volksschulunterricht auf die elementaren Kulturtechniken und auf Religion zurückgeführt (Nyssen 1974).

Tab. 1.3 Normallehrplan der einklassigen Elementarschule (1854)

Der im preußischen Ministerium zuständige Referent Ferdinand Stiehl, der die Regulative verfasste, richtete auch die Volksschullehrerbildung darauf aus. Von den Volksschullehrerbildungsstätten, den Seminarien, erwartete er, dass sie „ihren wahren Beruf immer bestimmter und erfolgreicher erfüllen werden. Unpraktische Reflexion, subjektives, für die Zwecke einfacher und gesunder Volksbildung erfolgloses Experimentieren wird ihnen fernbleiben. Unter Festhaltung christlichen Grundes in Leben und Disziplin werden sie immer vollständiger zu dem sich ausbilden, was sie sein müssen, Pflanzstätten für fromme, treue, verständige, dem Leben des Volkes nahe stehende Lehrer, die sich in Selbstverleugnung und um Gottes Willen der heranwachsenden Jugend in Liebe anzunehmen Lust, Beruf und Befähigung haben“ (Herrmann 1977, S. 145 f.). Auch wenn neuerdings mit Blick auf die Stiehlschen Regulative hervorgehoben wird, dass diese – erstmalig in Preußen – für das niedere Schulwesen eine Standardisierung der Lehrerbildung eingeleitet haben (Schütze 2014), bleibt doch deren bildungsbegrenzende Intention unübersehbar.

Mitte des 19. Jahrhunderts war damit in Preußen ein ‚niederes‘ Schulwesen entstanden, das mit seinem Konzept volkstümlicher Bildung einen Gegenentwurf zum Konzept humanistischer Bildung im Gymnasium darstellte.

1.4 ‚Mittleres‘ Schulwesen: Die Ausrichtung auf Nützlichkeit hatte Vorrang

Zwischen beiden Konzepten angesiedelt waren die Versuche, ein stärker auf Anwendbarkeit hin orientiertes ‚mittleres‘ Bildungsangebot zu schaffen. Die frühen Lehrplanentwürfe, an denen sich das im 19. Jahrhundert entstehende Mittelschulwesen orientierte, stammten weitgehend aus dem Aufklärungsdenken des 18. Jahrhunderts, insbesondere aus dem an Nützlichkeit ausgerichteten Bildungsverständnis dieser Zeit. Anders als Gymnasien einerseits und Volksschulen andererseits spielten Mathematik, Mechanik, Ökonomie und moderne Fremdsprachen in ihren Lehrplänen eine herausgehobene Rolle. Einige Leseproben aus Schulplänen des späten 17. sowie des 18. Jahrhunderts verdeutlichen dies (Leschinsky und Roeder 1976):

Auszug aus: E. Weigel: Kunst- und Tugendlehr von Trivial- und Kinderschulen (1681): „Die Tätigkeit des Geistes sag ich / die besteht im Rechnen: Rechnen aber heist / nicht nur mit Ziffern spielen oder nur mit Symbolen grüblen: sondern Rechnen heist aus vorgegebenen gewissen Posten und Wahrheiten, es seyn Innhalts- oder Zielungs Posten und Wahrheiten, ein verlangtes Facit mit Nachdencken forschen […]. Denn Gott will haben, dass die Menschen keine Abergläuber, sondern Rechner seyn, und rechenschaftlich alles thun, auch endlich Rechenschaft von allen geben sollen. Derowegen müssen alle Schulen Rechen-Schulen seyn hauptsächlich, und das Sprechen nur als einen Werkzeug treiben“ (Leschinsky und Roeder 1976, S. 176).

Auszug aus: J. J. Hecker: Sammlung der Nachrichten von den Schulanstalten by der Dreyfaltigkeitskirche auf der Friedrichstadt in Berlin wie auch von gegenwärtiger Verfassung derselben (1749): „Unter den nützlichen Sachen, welche wir der Jugend wollen beibringen lassen, nennen wir zuerst die Mechanik. In dieser Klasse empfängt die Jugend einen Unterricht von Werkstätten, Instrumenten und Handwerksgeräten, von Kupfer-, Messing- und Eisenhämmern, von allerhand Arten der Uhren, von Getreide-, Papier-, Wasser-, Roß-, Wind-, Walk- und Handmühlen, vom Pfluge und von anderen zum Ackerbau erforderlichen Instrumenten etc. […]. Wir werden zu diesem Zweck auch manchmal die künstlichen Handwerker und Professionen hier- selbst besuchen, um zu sehen, was bei jeder Kunst und bei jedem Handwerk Ausnehmendes und Denkwürdiges zu beobachten ist […]. Von den Sachen, die wir nicht wirklich sehen und betrachten können, werden wir uns allerhand Risse, Zeichnungen, Kupferstiche und Modelle zulegen. Eben zu diesem Zweck wird man der Jugend das bei so vielen Handwerkern höchst nötige Zeichnen und Reißen beizubringen suchen […]“ (Leschinsky und Roeder 1976, S. 176 f.).

Auszug aus: J. G. Groß: Entwurf eines mit leichten Kosten zu errichtenden Seminarii oeconomico politici (1739): Damit „hat unsere Schule eigentlich nichts zu tun […]. Denn unser Zweck ist nur, unsere Jugend aus dem Status der Rohheit (status bestialitatis) in den Status der Menschlichkeit (status humanitatis) zu bringen […] und sie so zu brauchbaren Menschen zu machen“ (Leschinsky und Roeder 1976, S. 179).

Auszug aus: J. J. Hecker: Sammlung der Nachrichten von den Schulanstalten by der Dreyfaltigkeitskirche auf der Friedrichstadt in Berlin wie auch von gegenwärtiger Verfassung derselben (1749): „An Schulanstalten finden wir in Deutschland bis jetzt zwei Hauptarten, nämlich die eine in größeren Städten, wo man die Jugend, welche sich mit der Zeit auf Universitäten einer von den vier bekannten Fakultäten widmen will, in den dazu nötigen Vorbereitungswissenschaften unterrichtet, und die andere in kleineren Städten und auf dem Lande, wo man sich wegen der Umstände bloß begnügen muß, der Jugend die Gründe des Christentums beizubringen und sie zum Lesen und etwa auch zum notdürftigen Schreiben und Rechnen, wenn’s hoch kommt, anzuweisen […]“ (Leschinsky und Roeder 1976, S. 181).

Vermittelt wurde ‚mittlere‘ Bildung in Preußen vielfach an den Schulen, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht das Recht, ein Abitur zu vergeben, erworben hatten. Diese Schulen bildeten die institutionelle Basis der Realschulentwicklung im 19. Jahrhundert. Ihr praxisbezogenes Programm ermöglichte es ihnen, ihre Schüler einerseits nicht bewusst dumm zu halten, andererseits aber nicht auf akademische Karrieren hin zu orientieren. Sie bedienten damit vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der sich in Deutschland der Industrialisierungsprozess stark beschleunigte, eine wachsende Nachfrage im Beschäftigungssystem.

1.5 Modernisierungstendenzen: Das Schulsystem folgte dem Prozess der Industrialisierung

Das allgemeinbildende Schulwesen Preußens mit den auf Bildungsbegrenzung zielenden Volksschulen, den auf bürgerliche, aber nicht akademische Berufe vorbereitenden Mittelschulen und den auf akademische Beamtenkarrieren ausgerichteten neuhumanistischen Jungengymnasien erwies sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mehr und mehr als den aktuellen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen nicht mehr angemessen. Der allenthalben konstatierte Modernitätsrückstand dieses Schulsystems löste Modernisierungsbemühungen aus. Diese Bemühungen richteten sich

  • auf die curriculare Ausrichtung der Gymnasien mit ihrer dominierenden neuhumanistischen Ausprägung,

  • auf den Ausschluss der Mädchen aus ‚höherer‘ Schulbildung,

  • auf die Bildungsbegrenzung in den Volksschulen sowie

  • auf den Bereich der Berufsbildung.

1.5.1 Curriculare Modernisierung des ‚höheren‘ Jungenschulwesens

Im ‚höheren‘ Jungenschulwesen kann als Ergebnis dieser Modernisierungspolitik der Allerhöchste Erlass von 1900 eingeordnet werden. Nach langen kontroversen Debatten stellte dieser Erlass neben das neuhumanistische Gymnasium mit seiner Sprachenfolge Latein, Griechisch, Französisch, wie es sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte, in einem allmählichen Aufstiegsprozess zwei weitere gymnasiale „Vollanstalten“: das Realgymnasium und die Oberrealschule (vgl. Klemm 2022).

Beide, das Realgymnasium ebenso wie die Oberrealschule, erhielten das Recht der Vergabe der vollen Studienberechtigung: das Realgymnasium mit einer neusprachlichen Ausrichtung und der Sprachenfolge Latein, Französisch, Englisch sowie die lateinlose Oberrealschule mit einer mathematisch-naturwissenschaftlichen Ausrichtung und der Sprachenfolge Französisch und Englisch (vgl. Tab. 1.4).

Tab. 1.4 Stundentafeln der Höheren Knabenschulen in Preußen (1901)

1.5.2 Anschluss der höheren Mädchenbildung an das Berechtigungswesen

Ergänzt wurde die Modernisierung des höheren Jungenschulwesens nahezu zeitgleich dadurch, dass Mädchen ein Zugang zu abiturführenden Schulen eröffnet wurde. Während es im niederen Schulwesen keine durchgängigen Unterschiede der Erziehung von Mädchen und Jungen gab (koedukative Schulen standen neben reinen Mädchen- bzw. Jungenschulen), wurde während des gesamten 19. Jahrhunderts im höheren Schulwesen sehr deutlich unterschieden:

Die Gymnasien waren reine Jungenschulen, für die Mädchen, denen der Zugang zur Universität verwehrt blieb, gab es höhere „Töchterschulen“, an denen keine Berechtigung vergeben wurde. Die Funktion dieser Schulen bestand in der Bildung bürgerlicher Hausfrauen und Mütter. Tornieporth (1979, S. 46 f.) beschreibt dies so:

„Die Kleinfamilie wurde verstanden als ‚intimer Binnenraum‘, als eine ‚Gruppe‘, die nicht mehr – wie ehedem das ‚Haus‘ – auf gemeinsamen ökonomischen Interessen basierte, sondern auf der Liebesgemeinschaft der Gatten. Der ehelichen Gemeinschaft lagen nunmehr die Momente der Freiwilligkeit, der Neigung und der Bildung zugrunde. Der alte Zweckverband, dem sich jeder einzelne unterzuordnen hatte, war einer Gemeinschaft von Individuen gewichen, denen das Recht auf individuelle Entfaltung zugestanden wurde. Bildung wurde nicht nur das Kriterium für eine bürgerliche Lebensform, sondern auch die Basis der veränderten familialen Binnenbeziehungen. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, auch der bürgerlichen Frau Zugang zu Bildungseinrichtungen zu verschaffen. Denn ‚für einen Mann von Bildung ist es nicht passend, eine Frau ohne Bildung zu nehmen‘, heißt es bei Rousseau (1963, S. 818).“

In die gleiche Richtung weist eine Erklärung, die 1872 von Lehrerinnen und Lehrern an höheren Mädchenschulen auf ihrer ersten Hauptversammlung in Weimar verfasst wurde:

Es gilt, „dem Weibe eine der Geistesbildung des Mannes in der Allgemeinheit der Art und der Interessen ebenbürtige Bildung zu ermöglichen, damit der deutsche Mann nicht durch die geistige Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit seiner Frau an dem häuslichen Herde gelangweilt und in seiner Hingabe an höhere Interessen gelähmt werde, dass ihm vielmehr das Weib mit Verständnis dieser Interessen und der Wärme des Gefühls für dieselben zur Seite stehe“ (Kraul 1991, S. 281).

Gegen diese Rollenfestlegung richten sich von der Mitte des 19. Jahrhunderts an Forderungen, Frauen verbesserte Bildungsmöglichkeiten zu bieten, nicht zuletzt auch deshalb, weil Veränderungen in Familie und Gesellschaft dazu führten, dass die Zukunft der bürgerlichen Frau als Hausfrau und Mutter ungesicherter wurde und weil Frauen daher auch auf die Ausübung eines bürgerlichen Berufs vorbereitet sein mussten.

In den darum kreisenden Diskussionen und Debatten engagierten sich die bürgerliche und die proletarische Frauenbewegung. Margret Kraul (1991) fasst die unterschiedlichen Positionen dieser beiden Richtungen treffend zusammen:

„Während fortschrittlichere Frauenvereine sich für eine dem Vorbild der höheren Knabenschulen folgende Mädchenbildung stark machten und dabei auch nicht vor der Forderung nach Koedukation zurückschrecken, bleiben die gemäßigten bürgerlichen Frauen an weiblichem Geschlechtscharakter und geistiger Mütterlichkeit orientiert. Auf dieser Grundlage bevorzugen sie vorerst eine eigenständige Mädchenbildung, die den Frauen zwar die Universitäten öffnen, in Schulaufbau und Curriculum jedoch der weiblichen Natur Rechnung tragen soll“ (Kraul 1991, S. 283).

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts näherte sich dann in Preußen nicht zuletzt auf Druck der bürgerlichen Frauenbewegung der Lehrplan eines Teils der höheren Mädchenschulen dem der Gymnasien an. Helene Lange spielte dabei mit ihrer 1887 erschienenen Schrift „Die höhere Mädchenschule und ihre Bestimmung“ eine zentrale Rolle. Allerdings erhielten erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einzelnen Reichsländern ein Teil der höheren Töchterschulen das Recht zur Vergabe einer Hochschulzugangsberechtigung: so z. B. 1900 in Baden, 1903 in Bayern, 1904 in Württemberg 1906 in Sachsen und dann 1908 in Preußen (Kraul 1991, S. 286 f.).

In Preußen wurden dazu, aufbauend auf einem zehnjährigen Lyzeum für die Sechs- bis Fünfzehnjährigen, Oberlyzeen für die allgemeine Frauen- und Lehrerinnenbildung sowie Studienanstalten, die die Universitätsreife vermittelten, angeboten. Seither können in Preußen Frauen eine Abiturprüfung ablegen und damit die Berechtigung zum Universitätsbesuch erlangen. Da die Errichtung der letztgenannten ‚Studienanstalten‘ aber nur genehmigt wurde, wenn die geschlechtsspezifische Mädchenbildung vor Ort mit Oberlyzeen gesichert war, kam es erst während der Weimarer Republik bei jungen Frauen zu einer auch quantitativ bedeutsamen Ausweitung des Erwerbs der allgemeinen Hochschulreife (vgl. ausführlicher den Abschn. 3.3.1).

1.5.3 Abschwächung der Bildungsbegrenzung im ‚niederen‘ Schulwesen

Der Prozess der Anpassung der Schulen und Lehrpläne an die gesellschaftliche und insbesondere an die wirtschaftliche Entwicklung betraf auch das niedere Schulwesen. Die Industrialisierung, die die Entwicklung in den deutschen Staaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr prägte, erforderte im wachsenden Maße Arbeiterinnen und Arbeiter, deren schulische Bildung über das hinaus ging, was die Schulen im Gefolge der Stiehlschen Regulative zu bieten vermochten.

Die Politik der rigiden Bildungsbegrenzung wurde in diesem Kontext 1872 durch die in den Allgemeinen Bestimmungen verordnete Aufhebung dieser Regulative deutlich gelockert: Mehrklassige Volksschulen, kleinere Lerngruppen sowie ein fachlich im Vergleich zur Volksschule der Stiehlschen Regulative ausdifferenzierter Lehrplan (vgl. Tab. 1.5) passten auch das niedere Schulwesen an die Erfordernisse der entstehenden Industriegesellschaft an (Wenzel 1974).

Tab. 1.5 Stundentafel der mehrklassigen Volksschule (1872)

1.5.4 Entstehung eines eigenständigen Berufsschulwesens

Parallel dazu gelangte der Prozess der Herausbildung eines eigenständigen Berufsbildungssystems zu einem ersten Abschluss. Für seine Entwicklung waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts drei voneinander unabhängige Voraussetzungen bedeutsam (Georg und Kunze 1981):

  • Die Ausgrenzung ‚nützlicher‘ Inhalte aus den Lehrplänen der allgemeinbildenden Schulen, die der Neuhumanismus – der Unterteilung Humboldts in „allgemeine und specielle Bildung“ folgend – schulpolitisch durchgesetzt hatte, eröffnete den Raum für eine eigenständige Schulentwicklung im Rahmen der Berufsausbildung.

  • Des Weiteren löste die Befreiungspolitik der preußischen Reformer mit der Bauernbefreiung und der Gewerbefreiheit (Aufhebung des Zunftzwangs, Niederlassungsfreiheit) die berufliche Bildung aus dem Kontrollbereich der Zünfte.

  • Schließlich führten neue technologische Entwicklungen dazu, dass die imitatio majorum (die Nachahmung des Gesellen oder Meisters) als Prinzip der tradierten Berufsbildung den Anforderungen nicht mehr genügte.

Begünstigt durch diese Rahmenbedingungen, darunter insbesondere durch die Gewerbe- und die damit verbundene Niederlassungsfreiheit, konnten ab 1811 in Preußen Lehrlinge nicht nur bei Mitgliedern einer Zunft, sondern auch bei sonstigen Gewerbetreibenden ausgebildet werden. Der damit zunächst entstehende relativ ungeregelte Zustand wurde 1845 in der preußischen Gewerbeordnung neu geordnet: Von da an erfolgte eine Ausbildung der Lehrlinge

  • auf der Basis einer vertraglichen Regelung,

  • im Rahmen einer in der Regel dreijährigen Lehrzeit und

  • mit dem Ziel einer Abschlussprüfung.

Die inhaltlichen Anforderungen bei diesen Abschlussprüfungen wurden nach 1845 durch die Beschreibung von Gesellenstücken nach und nach festgelegt.

Im Rahmen einer Novellierung der Gewerbeordnung tauchte dann 1849 zum ersten Mal ein schulischer Teil der Berufsausbildung auf: Die dreijährige Lehrlingszeit konnte auf ein Jahr verkürzt werden, wenn der Lehrling eine gewerbliche Lehranstalt besucht hatte. 1869, wieder im Rahmen der Neufassung der preußischen Gewerbeordnung, wurde die Möglichkeit geschaffen, regional begrenzt den Besuch einer Berufsschule verbindlich vorzuschreiben. In einer Novellierung der preußischen Gewerbeordnung wurde dann 1897 festgesetzt, dass die Abschlussprüfungen für Lehrlinge grundsätzlich bei den Handwerkskammern abgelegt wurden. Damit hatte sich am Ende des 19. Jahrhunderts folgendes Gesamtbild ergeben:

  • Die Ausbildung erfolgte im Handwerk, im Handel oder in Fabriken.

  • Die Schule, die als Lernort neben der betrieblichen Ausbildung noch nicht 

    verbindlich vorgeschrieben war, erhielt eine wachsende Bedeutung im Ausbildungsprozess.

  • Die Ausbildung erstreckte sich in der Regel über drei Jahre.

  • Der Ausbildungsabschluss bestand in einer Prüfung vor einer Handwerkskammer. Dies bedeutete, dass eine vom Handwerk kontrollierte Ausbildung auch die Basis der Facharbeiterberufe darstellte.

Das duale System, das sich auf diese Weise im Verlauf des 19. Jahrhunderts etabliert hatte, galt aber einstweilen nur für den insgesamt kleinen Teil der Jugendlichen, die einen Beruf erlernten. Der erheblich größere Teil aller Jugendlichen wechselte nach Beendigung der Volksschulzeit direkt in Erwerbsarbeit oder in häusliche Arbeit über. Damit waren diese Jugendlichen vom 14. Lebensjahr an der staatlichen Beeinflussung entzogen. Diese setzte bei den Jungen (nur diese wurden einmal wahlberechtigt) erst wieder mit dem Beginn der Wehrpflicht ein.

Aus dem Kontext der sich entwickelnden Konfrontation zwischen Arbeiterschaft und Regierung ist es erklärbar, dass der Staat nach Möglichkeiten der Beeinflussung der Heranwachsenden suchte und dabei der Schule eine wichtige Rolle zuschrieb. Kaiser Wilhelm II hat diese Aufgabenübertragung in seiner „Kabinettsordre zur Bekämpfung sozialistischer und kommunistischer Ideen durch die Schule“ (1889) sehr direkt vollzogen (Michael und Schepp 1993, S. 184 ff.):

„Schon längere Zeit hat mich der Gedanke beschäftigt, die Schule in ihren einzelnen Abstufungen nutzbar zu machen, um der Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen entgegenzuwirken. In erster Linie wird die Schule durch Pflege der Gottesfurcht und der Liebe zum Vaterlande die Grundlage für eine gesunde Auffassung auch der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu legen haben. Aber Ich kann Mich der Erkenntnis nicht verschließen, dass in einer Zeit, in welcher die sozialdemokratischen Irrthümer und Entstellungen mit vermehrtem Eifer verbreitet werden, die Schule zur Förderung der Erkenntnis dessen, was wahr, was wirklich und was in der Welt möglich ist, erhöhte Anstrengungen zu machen hat. Sie muß bestrebt sein, schon der Jugend die Überzeugung zu verschaffen, dass die Lehren der Sozialdemokratie nicht nur den göttlichen Geboten und der schriftlichen Sittenlehre widersprechen, sondern in Wirklichkeit unausführbar und in ihren Konsequenzen dem Einzelnen und dem Ganzen gleich verderblich sind. Sie muß die neue und die neueste Zeitgeschichte mehr als bisher in den Kreis der Unterrichtsgegenstände ziehen und nachweisen, dass die Staatsgewalt allein dem Einzelnen seine Familie, seine Freiheit, seine Rechte schützen kann, und der Jugend zum Bewusstsein bringen, wie Preußens Könige bemüht gewesen sind, in fortschreitender Entwicklung die Lebensbedingungen der Arbeiter zu heben, von den gesetzlichen Reformen Friedrichs des Großen und von Aufhebung der Leibeigenschaft an bis heute. Sie muß ferner durch statistische Tatsachen nachweisen, wie wesentlich und wie konstant in diesem Jahrhundert die Lohn- und Lebensverhältnisse der arbeitenden Klassen unter diesem monarchischen Schutze sich verbessert haben.“

Vor diesem Hintergrund versteht sich die Preisfrage, die die Königliche Akademie zu Erfurt stellte: „Wie ist unsere männliche Jugend von der Entlassung aus der Volksschule bis zum Eintritt in den Heeresdienst am zweckmäßigsten für die staatsbürgerliche Gesellschaft zu erziehen?“. Georg Kerschensteiner, dessen Ausarbeitung 1901 den Preis erhielt, schlug vor, für die jungen Männer, die keine Berufsausbildung erhielten, eine Pflichtberufsschule einzuführen, um sie durch die gemeinsame Erziehungsleistung von Arbeitsstätte und Schule für „die staatsbürgerliche Gesellschaft zu erziehen“. Die folgenden Auszüge aus seiner Preisschrift können helfen, die zentralen Überlegungen Kerschensteiners nachzuvollziehen:

„Das erste Ziel der Erziehung für die aus der Volksschule tretende Jugend ist die Ausbildung der beruflichen Tüchtigkeit und Arbeitsfreudigkeit und damit jener elementaren Tugenden, welche die Arbeitstüchtigkeit und Arbeitsfreudigkeit unmittelbar zum Gefolge hat: der Gewissenhaftigkeit, des Fleißes, der Beharrlichkeit, der Verantwortlichkeit, der Selbstüberwindung und der Hingabe an ein tätiges Lebens“ (Wilhelm 1979, S. 108). Und, so fährt Kerschensteiner fort: „Hier lernt der einzelne sich unterordnen unter andere, hier lernt er schwächere und weniger begabte Mitschüler unterstützen, hier lernt er zum ersten Male verstehen, dass die eigenen wohlverstandenen Interessen in den Interessen der Gesamtheit aufgehen können und sollen.“

Kerschensteiner fügte an, als ob zwischen Schule und Staat überhaupt kein Unterschied wäre:

„Aus dieser gemeinsamen Arbeit (in der Arbeitsgemeinschaft) mit ihrem wohlüberlegten Plane und ihrer wohlgefügten Ordnung wachsen die staatsbürgerlichen Tugenden der Hingabe und Selbstbeherrschung, und in ihr wandeln sich im Dienste einer Gemeinsamkeit die bürgerlichen Tugenden der Sorgfalt, der Gewissenhaftigkeit, des Fleißes und der Ausdauer zu Tugenden der Hingabesittlichkeit“ (Wilhelm 1979, S. 109). Arbeit hat, so erfahren wir weiter, vor allem deshalb einen so hohen erzieherischen Wert, weil sie „jene Willensbegabungen übt, welche die Grundlagen der wichtigsten bürgerlichen Tugenden sind: Fleiß, Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit, Beharrlichkeit, Aufmerksamkeit, Ehrlichkeit, Geduld, Selbstbeherrschung“ (Wilhelm 1979, S. 111).

Mit dieser Konzeption bahnte Georg Kerschensteiner den Weg für die allgemeine Berufsschulpflicht, die aber erst nach 1918 durchgesetzt wurde: 1919 in Artikel 145 der Weimarer Verfassung hieß es:

„Es besteht allgemeine Schulpflicht. Ihrer Erfüllung dienen grundsätzlich die Volksschule mit mindestens acht Schuljahren und die anschließende Fortbildungsschule bis zum vollendeten 18. Lebensjahr. Der Unterricht und die Lernmittel in den Volksschulen und Fortbildungsschulen sind unentgeltlich.“

Diese Fortbildungsschulen wurden jedoch bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts „eher als Institutionen zur Ergänzung, Erweiterung und Vertiefung der häufig von den Ausbildungsbetrieben und ihren Verbänden als ungenügend angesehenen Leistungen der Volksschule denn als Teil der gesamten Berufsausbildung betrachtet“ (Pätzold 1989, S. 262). Endgültig wurde die Berufsschulpflicht für alle Zweige der Arbeiterausbildung im Reichsschulpflichtgesetz des Jahres 1938 verankert.

1.6 Schule im demokratischen Staat: Reformpädagogische Erneuerung und strukturelle Reformen wurden eingeleitet

In der Folge der Modernisierung des Schulsystems verfügten Preußen und in ähnlicher Weise die übrigen deutschen Reichsländer am Ende des Kaiserreichs über ein für die damalige Zeit auch im internationalen Vergleich durchaus modernes Schulsystem:

  • Die Unterrichtspflicht war durchgesetzt,

  • sie wurde in Jungengymnasien bzw. in Lyzeen für Mädchen, in Mittelschulen oder in Volksschulen wahrgenommen,

  • die Lehrpläne dieser Schulen waren auf die Anforderungen der entstandenen Industriegesellschaft ausgerichtet und

  • auf die in dieser Gesellschaft geforderten beruflichen Qualifikationen bereitete das duale Berufsausbildungssystem vor.

Die so zu charakterisierende Modernität ging jedoch einher mit einer autoritär ausgerichteten Pädagogik sowie mit einer unverkennbar ständischen Struktur der allgemeinbildenden Schulen. Der Schriftsteller Stefan Zweig hat im Rückblick auf seine Schulzeit im Österreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts in seinem erinnernden Rückblick („Welt von gestern“) geschrieben (Zweig 1972, S. 34 f.):

„Nicht dass unsere österreichischen Schulen an sich schlecht gewesen wären. Im Gegenteil, der sogenannte ‚Lehrplan‘ war nach hundertjähriger Erfahrung sorgsam ausgearbeitet und hätte, wenn anregend übermittelt, eine fruchtbare und ziemlich universale Bildung fundieren können. Aber eben durch die akkurate Planhaftigkeit und ihre trockene Schematisierung wurden unsere Schulstunden grauenhaft dürr und unlebendig, ein kalter Lernapparat, der sich nie an dem Individuum regulierte und nur wie ein Automat mit Ziffern ‚gut, genügend, ungenügend‘ aufzeigte, wie weit man den ‚Anforderungen‘ des Lehrplans entsprochen hatte. Gerade aber diese menschliche Lieblosigkeit, diese nüchterne Unpersönlichkeit und das kasernenhafte des Umgangs war es, was uns unbewusst erbitterte.“ Und weiter: „Noch nach Jahren, wenn ich an diesem trüben, trostlosen Hause vorüberging, spürte ich ein Gefühl der Entlastung, dass ich diesen Kerker unserer Jugend nicht mehr betreten musste.“

Es war diese Wahrnehmung der Schule des ausgehenden 19. Jahrhunderts, gegen die sich überall in Europa Reformpädagoginnen und -pädagogen auflehnten: Maria Montessori in Italien, Berthold Otto in Deutschland, Ellen Key in Schweden oder Siegfried Bernfeld in Österreich (Oelkers 2005, 2010). Sie alle wendeten sich gegen die Formalisierung des Unterrichts, gegen seine intellektuelle Einseitigkeit, gegen die Passivität, in die Schülerinnen und Schüler durch den Unterricht gedrängt wurden.

Die Arbeiten der Reformpädagoginnen und -pädagogen, die Europa den Weg in – wie die Schwedin Ellen Key 1900 titelte (Key 1908) – das „Jahrhundert des Kindes“ weisen wollten, haben ihr Ziel zwar nicht erreichen können, sie haben aber gleichwohl im Deutschland der Weimarer Republik dazu beigetragen, dass die Schulen begannen, sich zu wandeln. Unter ihrem Einfluss wurden curriculare Veränderungen durchgesetzt, wurde die Demokratisierung des Schulalltags– zumindest ansatzweise – eingeleitet, veränderte die Humanisierung des pädagogischen Umgangs zumindest ansatzweise die Schule von innen her.

Gleichermaßen wurde die aus dem Kaiserreich übernommene ständische Struktur in der neu gegründeten Republik infrage gestellt: Bis zum Beginn der Weimarer Republik trat der weitaus größere Teil der Kinder mit Beginn der Schulpflicht in Volksschulen mit ihrer bis zu achtjährigen Bildungszeit ein. Die übrigen Kinder begannen ihre Schulzeit in Mittelschulen mit ihrer neunjährigen Schulzeit (drei Jahre in Vorschulen, die ihnen zugeordnet waren, und weitere sechs Jahre in den eigentlichen Mittelschulen) oder in Gymnasien bzw. in die entsprechenden Mädchenschulen mit ihrer zwölfjährigen Schulzeit (drei Jahre in Vorschulen, die ihnen zugeordnet waren, und weitere neun Jahre in den eigentlichen Gymnasien). Diese Vorschulen, die zumeist gebührenpflichtig auf den Besuch von Gymnasien und zum Teil auch Mittelschulen im Verlauf von drei Schuljahren vorbereiteten, sonderten Kinder, deren Familien in der Lage waren, die Schulgebühren für die Vorschulen zu entrichten, von den übrigen Kindern ab. Diesen Weg zu höherer Schulbildung über Vorschulen wählten (insbesondere nördlich der Mainlinie; Nave 1961, S. 27) bis 1920 noch etwa die Hälfte aller ‚Sextaner‘ der höheren Schulen, die andere Hälfte kam damals schon aus Volksschulen (Zymek 1989, S. 165).

Dieses dem Ständeprinzip verhaftete System (vgl. Abb. 1.1) erschien den Verfassungsgebern der Weimarer Republik nicht mehr zeitgemäß. Vor diesem Hintergrund leitete die frühe Weimarer Republik den, was das Schulsystem und seine Struktur angeht, Übergang vom Stände- zum Leistungsprinzip ein (van Ackeren und Klemm 2019). Da es jedoch für einen völligen Umbau der aus dem Kaiserreich überlieferten Schulstruktur in der neu gewählten Nationalversammlung keine Mehrheit gab, kam es zum Weimarer Schulkompromiss (1919/20).

Abb. 1.1
figure 1

Schulstruktur vor 1919 ©

Die wesentlichen Regelungen dieses Kompromisses bezogen sich auf die „Bekenntnisschule“ (also auf die Konfessionsfrage) und auf die „Einheitsschule“ (also auf die Strukturfrage):

  • Hinsichtlich der konfessionellen Erziehung einigte man sich auf die Simultanschule als Regelfall (also auf Schulen mit Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Konfession), in der nur der Religionsunterricht nach Konfessionen getrennt erteilt werden sollte. Daneben konnten auch Bekenntnisschulen (in denen der gesamte Unterricht vom Geist eines Bekenntnisses geprägt war) und bekenntnisfreie Schulen (in denen Religion nicht unterrichtet wurde) betrieben werden.

  • Hinsichtlich der strukturellen Gliederung des Schulsystems verständigte man sich darauf, die Schülerinnen und Schüler während der ersten vier Jahre (mit Ausnahme der „Hilfsschüler“, wie damals die Gruppe der heutigen Sonder- bzw. Förderschülerinnen und -schülern bezeichnet wurde) gemeinsam zu unterrichten, sodass eine Trennung in ‚niedere‘, ‚mittlere‘ und ‚höhere‘ Schulen erst nach der 4. Klasse auf Grund der bis dahin in der gemeinsamen Grundschule erbrachten schulischen Leistungen erfolgte. Alle Kinder verblieben von da an die ersten vier Jahre in der Unterstufe der Volksschule (der Grundschule), ein kleinerer Teil von ihnen verließ diese dann und wechselte in die Mittelschulen (Realschulen) bzw. in die Jungengymnasien und Mädchenlyzeen.

Da die Grundschule auf vier Jahre angelegt war und damit ein Jahr länger dauerte als die früheren Vorschulen der Mittelschulen und der höheren Schulen, diese aber ihr sechs- bzw. neunjähriges Programm nicht aufgeben wollten, dehnte sich die Schulzeit bis zum mittleren Abschluss von neun auf zehn und bis zum Abitur von zwölf auf dreizehn Jahre aus (vgl. Abb. 1.2).

Abb. 1.2
figure 2

Schulstruktur ab 1919 ©

Die Tatsache, dass sich die Parteien der Weimarer Republik nicht darauf einigen konnten, alle Jugendlichen bis zum Ende ihrer Schulpflichtzeit in einer Schule gemeinsam zu unterrichten, hat dazu geführt, dass das Thema der gemeinsamen Bildung und Erziehung in einer Schule die deutsche Schulpolitik in den folgenden Jahrzehnten bis in die Gegenwart hinein immer wieder beschäftigt hat.

1.7 Schule im Nationalsozialismus: Ideologisierung dominierte

Mit dem Umbau des Schulsystems entlang der vom Weimarer Schulkompromiss vorgezeichneten Linie hatten die Weimarer Parteien ihre gestalterische Kraft in der Schulstrukturpolitik erschöpft. Nach der Machtergreifung konnte sich die nationalsozialistische Regierung daher auf eine nach wie vor am Prinzip der Auslese nach Klasse vier der Volksschule orientierte Schulstruktur beziehen. Ergänzt wurde die aus der Weimarer Republik übernommene Struktur lediglich durch zwei Schultypen, die in besonderem Maße der nationalsozialistischen Ideologie verpflichtet waren und die nationalsozialistisch geprägten ‚Führungsnachwuchs‘ hervorbringen sollten: durch die insgesamt kleine Zahl der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten und der Adolf-Hitler-Schulen.

Vorrangig konzentrierte sich die nationalsozialistische Schulpolitik daher auf eine Veränderung der inhaltlichen Füllung der übernommenen Strukturen. Die demokratischen Lehrpläne und Lehrbücher aus der Weimarer Republik wurden bis 1939 durchgängig im nationalsozialistischen Sinn überarbeitet (Quellensammlung Fricke-Finkelnburg 1989). Ein besonders drastisches Beispiel für die Indienstnahme der Schule zur Propagierung nationalsozialistischen Gedankengutes liefert die folgende Aufgabe aus einem Mathematikbuch (Dithmar 1989, S. 205):

„Aufgabe 97: Ein Geisteskranker kostet täglich etwa 4 RM, ein Krüppel 5,50 RM, ein Verbrecher 3,50 RM. In vielen Fällen hat ein Beamter täglich nur etwa 4 RM, ein Angestellter kaum 3,50 RM, ein ungelernter Arbeiter noch keine 2 RM auf den Kopf der Familie. (a) Stelle diese Zahlen bildlich dar. – Nach vorsichtigen Schätzungen sind in Deutschland 300 000 Geisteskranke, Epileptiker usw. in Anstaltspflege. (b) Wieviel Ehestandsdarlehen zu je 1 000 RM könnten – unter Verzicht auf spätere Rückzahlung – von diesem Geld jährlich ausgegeben werden?“

Neben der curricularen Prägung des Schulunterrichts nutzte das nationalsozialistische Regime insbesondere das im deutschen Schulsystem verankerte Ausleseprinzip zur Durchsetzung der eigenen Ideologie, indem ihm eine zusätzliche rassistische Dimension angefügt wurde – vor allem durch die Vertreibung jüdischer Schülerinnen und Schüler aus den Schulen.

Das mit schulischer Auslese eng verbundene Prinzip der Bildungsbegrenzung, das in der Weimarer Republik zwar aufgebrochen, aber nicht aufgehoben worden war, richtete sich nicht nur gegen die Bildungsbeteiligung der jüdischen Bevölkerung, sondern – vor allem in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft – auch gegen Mädchen und Frauen (z. B. 1934 durch die Begrenzung der Studienanfängerinnenzahlen auf maximal 10 % aller Erstsemester). Die Ausschlusspolitik wurde bereits 1933 mit dem „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ eingeleitet. Darin heißt es (Herrlitz et al. 2005, 147 f.):

  1. 1)

    „§ 1 Bei allen Schulen außer den Pflichtschulen und bei den Hochschulen ist die Zahl der Schüler und Studenten so weit zu beschränken, dass die gründliche Ausbildung gesichert und dem Bedarf der Berufe genügt ist.

  2. 2)

    § 2 Die Landesregierungen setzen zu Beginn eines jeden Schuljahres fest, wie viele Schüler jede Schule und wie viele Studenten jede Fakultät neu aufnehmen darf.

  3. 3)

    § 3 In denjenigen Schularten und Fakultäten, deren Besucherzahl in einem besonders starken Missverhältnis zum Bedarf der Berufe steht, ist im Laufe des Schuljahres 1933 die Zahl der bereits aufgenommenen Schüler und Studenten so weit herabzusetzen, wie es ohne übermäßige Härte zur Herstellung eines angemessenen Verhältnisses geschehen kann.

  4. 4)

    § 4 Bei den Neuaufnahmen ist darauf zu achten, dass die Zahl der Reichsdeutschen, die im Sinne des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 (RGBI. I, S. 175) nichtarischer Abstammung sind, unter der Gesamtheit der Besucher jeder Schule und jeder Fakultät den Anteil der Nichtarier an der reichsdeutschen Bevölkerung nicht übersteigt. Die Anteilszahl wird einheitlich für das ganze Reichsgebiet festgesetzt.“

Die nationalsozialistische Schul- und Hochschulpolitik wurde – z. T. unter Inkaufnahme von Widersprüchen zur direkt nach 1933 verkündeten Programmatik – ab 1937 im Verlauf der beginnenden Kriegsvorbereitung modifiziert:

  • Die bildungsbegrenzenden Maßnahmen wurden gelockert (z. B.: Frauen wurde der Zugang zum Medizinstudium erleichtert),

  • die Betonung der Legitimations- gegenüber der Qualifikationsfunktion (vgl. zu den hier angesprochenen Funktionen Kap. 7) der Schule wurde abgeschwächt (z. B.: der direkte HJ-Einfluss wurde in den Schulen zurückgedrängt),

  • die strukturellen Übernahmen aus der Weimarer Republik wurden modifiziert (z. B.: die Schulzeit in den Gymnasien wurde auf 8 Jahre verkürzt, um so einen zusätzlichen Jahrgang von Offiziersanwärtern zu gewinnen).

1.8 Schule nach 1945: Den frühen Jahren der Restauration folgte eine Reformphase

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs diktierten die Siegermächte ihren vier Besatzungszonen eine Demokratisierung auch des Bildungswesens. Im Potsdamer Abkommen formulierten sie unter Punkt 7 der Politischen Grundsätze: „Das Erziehungswesen in Deutschland soll so überwacht werden, dass die nazistischen und militaristischen Lehren völlig entfernt werden und eine erfolgreiche Entwicklung demokratischer Ideen möglich gemacht wird“ (Michael und Schepp 1993, S. 331). Die amerikanische Zook-Kommission charakterisierte das deutsche Bildungswesen, das sie begutachten sollte, im gleichen Jahr so: „Dieses System hat bei einer kleinen Gruppe eine überlegene Haltung und bei der Mehrzahl der Deutschen ein Minderwertigkeitsgefühl entwickelt, das jene Unterwürfigkeit und jenen Mangel an Selbstbestimmung möglich machte, auf denen das autoritäre Führerprinzip gedieh“ (Herrlitz et al. 2005, S. 161). Auch bei ihr stießen die weiteren Absonderungen und Abtrennungen innerhalb der höheren Schule auf Kritik:

„Nirgends besteht die Möglichkeit eines gemeinsamen Schullebens noch eine andere Stelle für eine breite Grundlage einer gemeinsamen kulturellen und sozialen Erfahrung wenigstens für diejenigen, die zu akademischer Spezialisierung und zu höheren Berufen übergehen. Es ist augenscheinlich, dass das Erziehungssystem eines Landes die Grundlagen des ‚Klassengeistes‘ verstärken oder auch eine kulturelle Gemeinschaft aller Bürger aufbauen kann. Für eine demokratische Gesellschaft kommt nur die zweite Möglichkeit infrage“ (Herrlitz et al. 2005, S. 161).

Geprägt von dieser Einschätzung erließ der Alliierte Kontrollrat 1947 seine „Grundsätze für die Demokratisierung des deutschen Bildungswesens“ (Michael und Schepp 1993, S. 337 f.). Drei Aspekte rückte der Kontrollrat dabei in den Mittelpunkt:

  • Ökonomisch ging es darum, den Zugang zu allen Schulen durch Schulgeld und Lernmittelfreiheit sowie durch Unterstützungszahlungen jedermann zu eröffnen.

  • Im schulstrukturellen Bereich wurde der vertikalen Gliederung des Schulsystems eine Absage erteilt: „Alle Schulen für den Zeitraum der Pflichtschulzeit sollten ein zusammenhängendes Bildungssystem (comprehensive educational system) darstellen. Die Abschnitte der Elementarbildung und der weiterführenden Bildung sollten zwei aufeinander folgende Stufen der Unterweisung bilden, nicht zwei Wege oder Abschlüsse der Ausbildung (nebeneinander), die teilweise übereinstimmen“ (Michael und Schepp 1993, S. 338).

  • Inhaltlich wurde angestrebt, die Neuordnung der deutschen Schule mit einer Revision der Curricula zu verknüpfen: „Alle Schulen sollten Nachdruck legen auf die Erziehung zu staatsbürgerlicher Verantwortung und demokratischem Lebensstil (democratic way of life) vermittelst des Lehrplans, der Lehrbücher und Lehrmittel und der Organisation der Schule selbst“ (Michael und Schepp 1993, S. 338).

Die Umsetzung dieser Grundrichtung erfolgte in der Ostzone und späteren DDR völlig anders als in den Westzonen und in den Ländern der späteren BRD. In der DDR wurden die unterschiedlichen Schultypen in drei größeren Gesetzen von 1946, 1959 und 1965 zu Polytechnischen Oberschulen, in denen die Kinder von Klasse eins bis zehn gemeinsam unterrichtet wurden, und zu Erweiterten Oberschulen mit den auf ein Hochschulstudium vorbereitenden Klassen elf und zwölf zusammengeführt (vgl. Abb. 1.3). Der Unterricht in der so gebildeten Einheitsschule orientierte sich eng an der die DDR bestimmenden sozialistischen Ideologie. Nach 1989 wurde dann das Schulsystem der DDR in seinen wesentlichen Zügen strukturell und inhaltlich dem der Länder der BRD angepasst.

Abb. 1.3
figure 3

Entwicklung der Schulstruktur in der DDR ©

In der westdeutschen Bundesrepublik setzten sich nicht die Reformansprüche der Besatzungsmächte, sondern die Politik der Restaurierung des gegliederten Schulwesens durch. Dies war auch deshalb möglich, weil sich die Politik der westlichen Besatzungsmächte unter dem Eindruck des entstehenden Kalten Krieges stärker auf die Einbindung der Bundesrepublik in das westliche Bündnis als auf innenpolitische Entwicklungen in der Bundesrepublik konzentrierte.

In diesem Kontext schrieb die Konferenz der Kultusminister der Länder Deutschlands (KMK – vgl. dazu Abschn. 4.1.4) 1955 im Düsseldorfer Abkommen die aus der Weimarer Republik überlieferte Schulstruktur mit der herausragenden Stellung des typisierten Gymnasiums fest. Zugleich wurde in den fünfziger Jahren die Trennung in höhere (wissenschaftspropädeutische) und in niedere (volkstümliche) Bildung beibehalten und – wie schon in der Vergangenheit – begabungstheoretisch wie ökonomisch begründet.

Der Deutsche Ausschuss, ein Gremium der Bildungsberatung, schrieb 1959 in seinem Rahmenplan, einem Vorschlag zur Reform des deutschen Schulsystems:

„Die unterschiedlichen Bildungsanforderungen, die unsere arbeitsteilig entfaltete Gesellschaft an ihren Nachwuchs stellt, und die Unterschiede in der Bildungsfähigkeit dieses Nachwuchses zwingen dazu, an drei Bildungszielen unseres Schulsystems festzuhalten, die nach verschieden langer Schulzeit erreicht werden: an einem verhältnismäßig früh an Arbeit und Beruf anschließenden, einem mittleren und einem höheren“ (Michael und Schepp 1993, S. 414 f.).

Noch etwas krasser liest sich die Begründung, die der in den fünfziger Jahren viel gelesene Psychologe Weinstock dem gegliederten Schulsystem 1955 in seinem Buch „Realer Humanismus“ gab (Weinstock 1955, S. 121 f.):

„Dreierlei Menschen braucht die Maschine. Den, der sie bedient und in Gang hält, den, der sie repariert und verbessert, schließlich den, der sie erfindet und konstruiert. Hieraus ergibt sich: Die richtige Ordnung der modernen Arbeitswelt gliedert sich, im Großen und Ganzen und in typisierter Vereinfachung, die natürlich zahlreiche Übergänge und mancherlei Zwischenglieder einschließt, in drei Hauptschichten: die große Masse der Ausführenden, die kleine Gruppe der Entwerfenden und dazwischen die Schicht, die unter den beiden anderen vermittelt […] Offenbar verlangt die Maschine eine dreigegliederte Schule: eine Bildungsstätte für die Ausführenden, also zuverlässig antwortenden Arbeiter, ein Schulgebilde für die verantwortlichen Vermittler und endlich ein solches für die Frager, die so genannten theoretischen Begabungen.“

Erst in den sechziger Jahren kam es in der Bundesrepublik aus ökonomischen Gründen wie auch aus demokratischen Ansprüchen zu einer erneuerten Diskussion um eine grundlegende Reform des Bildungswesens und insbesondere auch seiner strukturellen Verfasstheit (vgl. Abb. 1.4). Mit Blick auf den Erhalt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der Bundesrepublik wurde in einem ökonomisch ausgelegten Argumentationsstrang (Picht 1964) eine Steigerung der ‚Bildungsproduktion‘ angemahnt. Picht schrieb:

„Es steht uns ein Bildungsnotstand bevor, den sich nur wenige vorstellen können […]. Der bisherige wirtschaftliche Aufschwung wird ein rasches Ende nehmen, wenn uns die qualifizierten Nachwuchskräfte fehlen, ohne die im technischen Zeitalter kein Produktionssystem etwas leisten kann“ (Picht 1964, S. 16 f.)

Abb. 1.4
figure 4

Schulstruktur in der Bundesrepublik Deutschland ab 1969 ©

Parallel dazu wurde bürgerrechtlich argumentierend gefordert (Dahrendorf 1965), die Ungleichheit der Bildungschancen, die in der Kunstfigur des „katholischen Arbeitermädchens vom Lande“ als konfessions-, schicht-, geschlechts- und regionalspezifische Ungleichheiten beschrieben wurde, abzubauen. Dahrendorf formulierte: „Rechtliche Chancengleichheit bleibt ja eine Fiktion, wenn Menschen […] nicht in der Lage sind, von ihren Rechten Gebrauch zu machen“ (Dahrendorf 1965, S. 23). Es sei erforderlich, dass bislang unterrepräsentierte Gruppen in weiterführenden Schulen beschult würden. Diese Gruppen sah Dahrendorf in Kindern vom Land, Arbeiterkindern, Mädchen und – mit Einschränkungen – katholischen Kindern.

Die Kombination der ökonomischen mit der bürgerrechtlichen Argumentation gab der Entwicklung des Bildungssystems der Bundesrepublik in den späten sechziger und in den frühen siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine bis dahin kaum gekannte Dynamik. In ihrem Verlauf wurde – gestützt durch die 1969 vom Deutschen Bildungsrat vorgelegte Empfehlung zur „Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen“ – die Ersetzung des gegliederten Sekundarschulwesens durch ein integriertes Gesamtschulsystem gefordert. Damit wurde angeknüpft an die Debatten der frühen Weimarer Republik, in denen die gemeinsame Erziehung aller Kinder und Jugendlicher bis zum Ende der Pflichtschulzeit nicht durchgesetzt werden konnte, sondern die zu dem beschriebenen Weimarer Schulkompromiss mit der gemeinsamen Erziehung für die ersten vier Schuljahre der Grundschule geführt hatten.

Doch auch dieses Mal, in der geänderten Lage der prosperierenden Bundesrepublik, konnten sich die Anhänger einer grundlegenden Strukturreform des Schulwesens nicht durchsetzen. Zwar wurden – hierin den Vorschlägen des Deutschen Bildungsrates folgend – in allen Ländern der damaligen Bundesrepublik Gesamtschulen als Versuchsschulen eingerichtet, doch konnte sich kein Bundesland dazu entschließen, alle bestehenden Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien in Gesamtschulen zu überführen.

Auch die Länder, in denen Parteien regierten, die sich vom Grundsatz her für eine gemeinsame Schule für alle Jugendlichen aussprachen, ersetzten durch die bei ihnen eingeführten Gesamtschulen nicht das gegliederte Schulsystem. Stattdessen ergänzten sie das bestehende gegliederte System durch ein weiteres Glied: Überall da, wo Eltern dies in genügend großer Zahl für ihre Kinder wünschten, ließen sie die Einrichtung von Gesamtschulen zu (vgl. zur Gesamtschulentwicklung Köller 2008).

In der Folge davon kam es dazu, dass in einzelnen Flächenstaaten der Bundesrepublik – wie im Saarland oder in Schleswig-Holstein- 57 bzw. 59 % der Schülerinnen und Schüler der 8. Jahrgangsstufe der Sekundarstufe I in Gesamtschulen lernen (2021). Bundesweit besuchen derzeit 20 % der Schülerinnen und Schüler dieser Jahrgangsstufe der Sekundarstufe I Gesamtschulen, und 37 % Gymnasien (Kultusministerkonferenz 2023a, S. 41; vgl. auch Abschn. 3.1).

Die nicht erreichte Akzeptanz einer grundlegenden Strukturreform des Schulwesens führte zu verstärkten curricularen und strukturellen Reformanstrengungen innerhalb des strukturellen Rahmens, der durch das fortbestehende gegliederte Schulsystem gegeben war. Zwei für die Entwicklung der Schulstruktur bedeutsame Maßnahmen heben sich von anderen kleineren Veränderungen ab:

  • Schon 1964 hatte sich die Kultusministerkonferenz im „Hamburger Abkommen“ auf die Schaffung der Hauptschule verständigt, die fortan an die Stelle der Volksschuloberstufe treten sollte und die – gelöst von der Grundschule – als selbstständige weiterführende Schule der Sekundarstufe I neben Realschulen und Gymnasien treten sollte. Die dann Ende der sechziger Jahre (1969) vollzogene Umsetzung dieses Vorhabens war verbunden mit einer Ausdehnung der ehemals vierjährigen Volksschuloberstufe auf fünf, in einzelnen Bundesländern später auch auf sechs Hauptschuljahre, mit der Einführung des wissenschaftsorientierten Fachunterrichts durch Fachlehrerinnen und -lehrern und mit der Hinzufügung der Unterrichtsfächer Englisch und Arbeitslehre.

  • Die zweite der hier hervorgehobenen nachhaltigen strukturellen Veränderungen betrifft die Gymnasien: Nicht zuletzt auf Drängen der Universitäten, die die Studierfähigkeit der damaligen Abiturientinnen und Abiturienten nicht hinreichend gegeben sahen, veränderte die Kultusministerkonferenz 1972 mit ihrer „Vereinbarung zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe“ die gymnasiale Oberstufe:

    An die Stelle unterschiedlicher gymnasialer Schultypen (wie sie z.B. die humanistischen, die neusprachlichen oder die naturwissenschaftlichen Gymnasien darstellten) traten ‚enttypisierte‘ Gymnasien (die bestehenden Gymnasialtypen wurden aufgehoben), die in ihren Oberstufen im Rahmen eines Kurssystems von Grund- und Leistungskursen den Schülerinnen und Schülern Raum für individuelle Profilbildungen bieten. Auf diese Weise sollten sich die Schülerinnen und Schüler verstärkt auf ihre fachlichen Interessen konzentrieren und sich dabei zugleich besser auf die Arbeitsformen des Universitätsstudiums vorbereiten können.

    Die ursprüngliche Intention dieses Reformansatzes, weiten Gestaltungsspielraum für die individuelle Gestaltung des Bildungsweges zu bieten, wurde allerdings in den Jahren nach 1972 zusehends abgeschwächt. Insgesamt hat sich die gymnasiale Oberstufe nach 1972 von der zunächst gestärkten Ermöglichung individueller Schwerpunktsetzungen wieder verstärkt hin zu einer für alle gleichermaßen geltenden Verbindlichkeit entwickelt.

Mit den hier skizzierten Reformen war die Kraft zu einschneidenden schulstrukturellen Veränderungen, die die Bundesländer in den Reformjahren der sechziger und siebziger Jahre aufbringen wollten oder konnten, erschöpft. Eine weitergehende Reform scheiterte an den unterschiedlichen Zielsetzungen der großen Parteien, die ihre je eigene Konzeptionen innerhalb der von ihnen regierten Länder durchzusetzen suchten, ebenso wie an den seit Mitte der siebziger Jahre heraufziehenden und sich verfestigenden wirtschaftlichen Krisen mit der erstmals seit den fünfziger Jahren entstehenden hohen Arbeitslosigkeit.

In das bis zum Ende der achtziger Jahre entstandene westdeutsche Schulsystem fügten sich nach 1989 im Vereinigungsprozess der beiden deutschen Staaten die auf dem Gebiet der früheren DDR entstandenen neuen Bundesländer ein. Dabei meisterten die ostdeutschen Länder große Herausforderungen:

  • Sie gaben das Einheitsschulsystem der DDR zu Gunsten einer vertikal untergliederten Sekundarschulstruktur auf.

  • Sie holten in wenigen Jahren den Prozess der Bildungsexpansion, der die Schulentwicklung in Westdeutschland gekennzeichnet hat, nach (vgl. dazu Abschn. 3.1).

  • Sie tauschten ihre zentral gelenkten und ideologisch geprägten Lehrpläne und Schulbücher gegen die einer westlich geprägten demokratischen Gesellschaft aus.

  • Sie gaben Unterrichtsfächer wie Russisch auf und setzten Englisch an dessen Stelle.

  • Sie tauschten die einphasige Lehrerbildung, in der Theorie- und Praxisphasen wechselten, gegen die durch Hochschulstudium und anschließendes Referendariat strukturierte Lehrerbildung aus.

Das seither deutschlandweit bestehende und sich weiter entwickelnde Schulsystem ist mit seinen Strukturmerkmalen und -problemen Gegenstand des folgenden 3. Kapitels der hier vorgelegten Darstellung.

Tab 1.6 stellt zum besseren Verständnis der historischen Einordnung relevante Daten der Schulgeschichte zentralen Daten der allgemeinen Geschichte in Preußen gegenüber.

Tab. 1.6 Übersicht zu Ereignissen der allgemeinen Geschichte und der Schulgeschichte ©

1.9 Anregungen zur Wiederholung und Reflexion

  1. 1.

    a) Vergegenwärtigen Sie sich die Schritte zur rechtlichen und zur tatsächlichen Durchsetzung der Unterrichtspflicht im 18. und 19. Jahrhundert.

    b) Recherchieren Sie, inwieweit andere Länder heutzutage eine Unterrichts- oder Schulpflicht vorsehen, warum sie ggf. darauf verzichten und wie eine bestehende Schulpflicht durchgesetzt wird.

  2. 2.

    a) Überlegen Sie sich die Gründe dafür, dass Preußen (wie andere deutsche Länder auch) im ausgehenden 18. Jahrhundert sein Schulwesen zu ordnen begann.

    b) Welches Interesse haben entwickelte Staaten heutzutage an institutionalisierter Bildung? (vgl. auch Kap. 6)

  3. 3.

    Vergegenwärtigen Sie sich die Entwicklung des Gymnasiums vom ausgehenden 18. bis zum beginnenden 21. Jahrhundert. Konzentrieren Sie sich dabei auf:

    1. a)

      die Etablierungsphase am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts,

    2. b)

      die Modernisierungsphase im ausgehenden 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts (berücksichtigen Sie dabei auch die Entwicklung des höheren Mädchenschulwesens) sowie

    3. c)

      die Vereinbarung zur Reform der gymnasialen Oberstufe.

  4. 4.

    a) Erarbeiten Sie sich die unterschiedlichen Bildungskonzeptionen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts für die Gymnasien diskutiert wurden, und stellen Sie einen Zusammenhang zu den gymnasialen Bildungskonzeptionen um 1900 her.

    b) Inwieweit prägen diese Bildungskonzeptionen das deutsche Schulsystem heute noch?

    c) Begründen Sie vor dem Hintergrund ihrer schulhistorischen Kenntnisse, warum es vor allem im Curriculum der Gymnasien bislang wenig wirtschaftliche Themen gibt. Welches Bildungskonzept mit welchen Merkmalen ist hier bis heute prägend?

  5. 5.

    Überlegen Sie sich, welche Bedeutung die zwischen den Reichs- und späteren Bundesländern vereinbarte wechselseitige Anerkennung des Abiturs für die weitere Entwicklung der Reifeprüfung hat.

  6. 6.

    Machen Sie sich die Schritte der Entwicklung des ‚niederen‘ Schulwesens klar. Gehen Sie dabei insbesondere ein:

    1. a)

      auf die Stiehlschen Regulative (Bildungsbegrenzung),

    2. b)

      auf die Allgemeinen Bestimmungen (Modernisierung),

    3. c)

      auf den Weimarer Schulkompromiss (Demokratisierung) und

    4. d)

      auf die Einrichtung der Hauptschule (Wissenschaftsorientierung).

  7. 7.

    Das deutsche Bildungssystem hatte einen beachtlichen Anteil am Übergang von der Stände- zur Leistungsgesellschaft. Überlegen Sie sich vor dem Hintergrund dieser Feststellung insbesondere die Bedeutung der Abiturreglements und des Weimarer Schulkompromisses für diesen Übergang.

  8. 8.

    Überlegen Sie sich die Antriebskräfte und Schritte, die im Verlauf des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts die Entstehung des dualen Berufsbildungssystems kennzeichneten.

  9. 9.

    Überlegen Sie sich die einzelnen Phasen der Schulentwicklung in Deutschland nach 1945. Achten Sie dabei auf die Phasen

    1. a)

      der frühen Nachkriegsentwicklung (alliierte Schulpolitik),

    2. b)

      der Restauration sowie

    3. c)

      der Bildungsreform in der westdeutschen Bundesrepublik und

    4. d)

      auf die Entwicklung in der DDR.

  10. 10.

    Resümieren Sie die Relevanz einer schulhistorischen Betrachtung des deutschen Schulsystems.

  11. 11.

    Die Gestaltung des Schulsystems in Deutschland war vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart immer wieder ein Ergebnis politischer Kompromisse. Reflektieren Sie diese Aussage unter Bezugnahme auf entsprechende Beispiele.

  12. 12.

    Welche Bedeutung hat eine systematische Auseinandersetzung mit der deutschen Schulgeschichte für Ihr Verständnis des derzeitigen Schulsystems und für Ihre eigene Professionalisierung als (angehende) Lehrkraft?