6.1 Einleitung

Die kleine Ortschaft Pabellón liegt im Tal von Copiapó, im Herzen der nördlichen Region Atacama, nur 37 Kilometer von der gleichnamigen Regionalhauptstadt Copiapó entfernt und ist Teil der Gemeinde von Tierra Amarilla (zur Lage siehe Abbildung 4.1 in Kapitel 4).Footnote 1 Auf den ersten Blick deutet nichts darauf hin, dass dieses Dorf eines der giftigsten historischen Tailingdeponien Chiles beherbergt (siehe auch Ureta 2016b). In Pabellón leben laut offiziellen Zahlen der Gemeinde von Tierra Amarilla 49 Personen (33 Männer und 16 Frauen). Da allerdings jahrelang keine Volkszählung im Dorf durchgeführt wurde, aktualisierte die Junta de VecinosFootnote 2 diese Zahl selbstständig und kam auf 65 dauerhafte EinwohnerInnen. Allerdings scheint auch diese Zahl zu niedrig gegriffen. Tatsächlich leben im Ort weit mehr Menschen, jedoch sind viele von ihnen landwirtschaftliche SaisonarbeiterInnen und wohnen deshalb nur übergangsweise im Dorf. Die zuständige Sozialarbeiterin der Gemeinde von Tierra Amarilla stuft die Bevölkerung Pabellóns als arm und mit niedrigem Bildungsstand ein. Die meisten hätten die Schule nicht länger als bis zur 8. Klasse besucht. Außerdem verfüge kaum jemand dort über eine Gesundheits- oder Altersversicherung (PS06).

In der gesamten Ortschaft gibt es keine Kanalisation oder Abwassersysteme, keinen Handyempfang, kein Internet und keine Infrastruktur zur Grundversorgung der Bevölkerung. Auch die Strom- und Wasserversorgung ist nicht ausreichend gewährleistet und die meisten sehen sich in die Lage versetzt, ihren Bedarf auf inoffiziellen Wegen abzudecken. Öffentliche Einrichtungen, eine Schule und die nächste Krankenstation befinden sich in der 22 Kilometer entfernten Kleinstadt Tierra Amarilla. Die Busse dorthin fahren alle 30–90 Minuten, wobei dies von der Verfügbarkeit von FahrerInnen und dem Vorhandensein ausreichender Fahrgäste an der Abfahrtsstation abhängt. Es kommt häufig vor, dass über mehrere Stunden kein Bus nach Pabellón fährt. Die Bevölkerung ist allerdings auch für den Einkauf von Lebensmitteln und Waren für den täglichen Bedarf auf dieses Transportmittel angewiesen, da kaum jemand ein Auto besitzt. Aufgrund des geringen Wasserstandes des Flusses im Tal sowie der starken Wasser-, Boden- und Luftverschmutzung, die durch die vielen Bergbauunternehmen und den Anbau von Tafeltrauben entlang des Tals verursacht werden, ist den Lebensgrundlagen der Bevölkerung und deren Subsistenzwirtschaft weitgehend der Boden entzogen.

Wendet man den Blick von der Straße ab, bemerkt man inmitten des Dorfes eine große sterile Fläche, die im Alltag der BewohnerInnen kaum Beachtung findet. Auffällig ist allerdings die Tatsache, dass auch staatliche Institutionen diesem Ort keine Aufmerksamkeit schenken, obwohl seit über 20 Jahren bekannt ist, dass es sich dabei um eines der giftigsten Tailings Chiles handelt (Eberle 1999a, 1999b)Footnote 3. Der seitdem mehrmals nachgewiesene hohe Anteil an Chemikalien und Schwermetallen wie bspw. Quecksilber, Arsen oder Blei gelangt weiterhin ungehindert in natürliche Kreisläufe und dringt somit auch in die Körper der dort lebenden Bevölkerung ein. Trotz der starken Gesundheitsgefährdung (im Dorf sind etwa Krankheiten des Nerven- und Verdauungssystems häufig und auch die Krebsrate ist hoch) kam es bisher nicht zu Handlungen seitens der beteiligten Akteure. Woran das liegt, soll im folgenden Kapitel dargestellt werden. Anfangs wird deshalb die Entstehungsgeschichte dieser Industrieabfälle aufgearbeitet, um anschließend das kollektive Vergessen und die materielle Unsichtbarkeit der Tailings in Pabellón aufzuzeigen (6.2). Im Folgenden werden die (nicht) vorhandene Risikowahrnehmung der BewohnerInnen von Pabellón sowie deren (in)action bezüglich des slow violence Phänomens, dem sie ausgesetzt sind, beschrieben (6.3). Anschließend werden die Rolle der Wissenschaft sowie die Probleme in der Wissensgenerierung und -verbreitung über die Zusammensetzung der Tailings und dessen Auswirkungen dargestellt (6.4). Ein besonderer Fokus wird hierbei auf jene Faktoren gelegt, die eine mögliche Handlung gegenüber dieser schleichenden Umweltkatastrophe verhindern. Abschließend wird kurz die staatliche (Un-)Tätigkeit erläutert (6.5). Nach dieser umfangreichen Darstellung der erhobenen Daten und der zentralen Befunde zu dem Umgang der für diesen Fall zentralen Akteursgruppen (betroffene Bevölkerung, WissenschaftlerInnen und staatliche Behörden) erfolgt abschließend in einem zweiten Zwischenfazit der Gesamtarbeit eine Zusammenfassung und Analyse der zentralen Ergebnisse (6.6).

6.2 Kollektives Vergessen – das Verschwinden eines Problems

Wie oben bereits dargestellt hat der chilenische Bergbau eine lange Geschichte. Vom Beginn an wurde dieser von der Produktion giftiger Rückstände begleitet, welche bis heute noch meist ungeachtet und ungelöst bestehende Quellen der Umweltverschmutzung darstellen. Dennoch ist ein Großteil des Wissens über die Industrieabfälle des Bergbaus mit der Zeit gänzlich verloren gegangen. Auch in Chile kann bisher nicht genau abgeschätzt werden, wie groß die Anzahl der historischen Tailings tatsächlich ist. Sind sie – wie in Pabellón – einmal als solche identifiziert, ist es trotzdem kaum möglich, die Geschichte ihrer Entstehung und Zusammensetzung wiederherzustellen. Das Wissen über die Vergangenheit dieser menschlich erzeugten Umweltbelastung ist allerdings ausschlaggebend dafür, dass eine potenzielle Gefahr überhaupt erst als solche erkannt werden und eine wissenschaftliche Untersuchung stattfinden kann. Die Entstehungsgeschichte dieser Abfälle gibt außerdem Hinweise über die mögliche Zusammensetzung der Tailings und somit darüber, nach welchen Komponenten das übergebliebene Material untersucht werden muss. Im Fall von Pabellón ist dieses Wissen größtenteils durch kollektives Vergessen im Laufe der Zeit verloren gegangen. Anschließend soll am Fall von Pabellón dargestellt werden, wie die materielle Unsichtbarkeit und der Wissensverslust zur Unsichtbarkeit des Umweltproblems vor Ort beitragen.

6.2.1 Geschichte des Bergbaus und der Abfallproduktion in Pabellón

Die Geschichte von Pabellón

Dass die Ortschaft Pabellón einst eine wichtige Rolle in der chilenischen Gold- und Silbergewinnung spielte, ist bei heutigem Anblick kaum vorstellbar (siehe auch Ureta 2016b). Dort, wo früher einer der zentralen Orte der Weiterverarbeitung und des Abtransports der Bodenschätze des Vorkommens von Chañarcillo lag, ist heute nur noch eine sterile Fläche umrandet von einigen kleinen Häusern, Barracken und Zelten zu erkennen. Umgeben ist die Siedlung von großen Rebflächen für den Anbau von Tafeltrauben. Auch die ehemalige Infrastruktur wie bspw. die Eisenbahnlinie und der dazugehörige Güterbahnhof sind größtenteils verschwunden. Die großen Becken, in denen vor der Verhüttung, die Flotation und Trennung der Erze durchgeführt wurde, wurden zu Schwimmbecken umfunktioniert, die bis vor etwa fünfzehn Jahren zu einem Campingplatz gehörten, der den BewohnerInnen der naheliegenden Großstadt Copiapó als Ausflugsort diente. Heutzutage ist auch dieser verlassen und verwahrlost. Nichts erinnert mehr daran, dass hier einmal die großen Reichtümer des Landes entstanden sind. Auch die historischen Aufzeichnungen über Pabellón sind sehr begrenzt. Aus den wenigen historischen Niederschriften, die den Ort erwähnen, lässt sich jedoch eine grobe Vorstellung seiner früheren Bedeutung erlangen.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte die Ortschaft eine wichtige Rolle in den Anfängen des Gold- und Silberabbaus Chiles. Pabellón war einer der Orte, an dem die Erze der umliegenden Bergwerke weiterverarbeitet wurden. Besonders wegen der Nähe zum berühmten Silbervorkommen Chañarcillo, welches 1832 von Juan Godoy entdeckt wurde, war Pabellón von großer Bedeutung. Chañarcillo war damals eines der drei größten Silbervorkommen Amerikas und gilt bis heute als größtes der chilenischen Geschichte (Álvarez 1979). Schon 1834 stemmte das VorkommenFootnote 4 einen Großteil der nationalen Ökonomie und zwischen 1848 und 1859 produzierte es schon über 70 % des chilenischen Silbers (Cortéz & Zalaquett 2015:120). 1948 wurde außerdem das ebenfalls bedeutende Vorkommen Tres Puntas entdeckt, welches noch näher an Pabellón lag. 1853 wurde Pabellón somit zu einem der drei wichtigsten Weiterverarbeitungs- und Verhüttungsstätten von Silber in der ganzen Region Atacama (Álvarez 1959:72). Ein großer Anteil der Altlasten und Tailings, die heute in Pabellón und den umliegenden Gebieten zu finden sind, stammen aus dieser Zeit. Ab etwa 1858 nahm der Abbau von Silber und Gold allerdings stetig ab, während dem Kupferabbau, besonders für dessen Export, eine immer größere Bedeutung zukam (Hernández 1932: 301). In Pabellón wurde die Weiterverarbeitung von Erzen in kleinerem Maße bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts weiter praktiziert.

Wie genau sich die Produktion und das Leben in Pabellón abgespielt haben, ist allerdings weitgehend unbekannt.Footnote 5 Die Entstehung der Ortschaft wird auf Anfang der 1830er im Zuge des raschen Bevölkerungsanstiegs in der Gegend nach der Entdeckung des Silbervorkommens datiert (Álvarez 1979). Die Bevölkerung rund um Copiapó stieg laut chilenischer Volkszählung zwischen 1854 und 1865 um 32 % an, wobei auf 100 Männer im regionalen Durchschnitt nur 66 Frauen kamen. Grund dafür war, dass es sich bei den Neuankömmlingen größtenteils um junge männliche Arbeiter handelte,Footnote 6 die vorwiegend aus südlicheren Regionen kamen, um ihr Glück im Bergbau zu suchen. In Pabellón wurden im Jahr 1865 2029 Einwohner gezählt (Hernández 1932:362). Für spätere Jahre gibt es allerdings keine Aufzeichnungen zu den BewohnerInnen mehr. Der regionale Historiker Diego CastroFootnote 7 (PE01) bestätigt diese Wissenslücke. Aus seinen Recherchen geht hervor, dass die Einwohnerzahl zu späteren Zeitpunkten erheblich höher gewesen sein muss. Das könne man schon allein am großen Friedhof ablesen, der als einziges aus jener Zeit bis heute gut erhalten ist, erklärt er. Das Alltagsleben und die wirtschaftlichen Aktivitäten ließen sich allerdings nicht rekonstruieren, da es hierfür auch keine mündliche Übermittlung der Geschichte mehr gebe. Die heutigen BewohnerInnen der Ortschaft seien erst vor wenigen Jahrzehnten neu dort hingezogen. Es gebe also keine Nachfahren der damaligen BergarbeiterInnen mehr vor Ort, die die Vergangenheit Pabellóns kennen würden. Auch persönliche Notizen aus dieser Zeit gibt es nicht. Dies könnte u. a. auch daran liegen, dass von der Bevölkerung der Region rund um Copiapó im 19. Jahrhundert nur etwa ein Sechstel lesen und schreiben konnte (Hernández 1932: 237).

Allerdings ist die Geschichte des ehemaligen Güterbahnhofs vergleichsweise gut dokumentiert. Er war Teil der ersten Zugstrecke Chiles, die vom US-Amerikaner William Wheelwright 1850 zwischen der Regionalhauptstadt Copiapó und der Hafenstadt Caldera gebaut wurde, um den Transport der abgebauten Metalle für ihren Export zu ermöglichen. Pabellón war lange Zeit die letzte Bahnstation der erweiterten Zugstrecke ins Landesinnere und wurde durch seine Nähe zu Chañarcillo eine der strategisch wichtigsten Bahnstationen der Region (Álvarez 2000; Treutler 1958). Der Bahnhof von Pabellón ermöglichte nicht nur den schnellen Abtransport der Metalle und Mineralien, er senkte auch die Kosten erheblich und ermöglichte es, Steinkohle für die nahegelegenen Verhüttungsanlagen in Tierra Amarilla und Nantoco in das Tal zu befördern. Der Güterbahnhof umfasste im Jahr 1855 43.000 QuadratmeterFootnote 8 und galt damals als höchst modern (Álvarez 2000:53 ff). Das Hauptgebäude war, laut Castro (PE01), bis vor einigen Jahren noch gut erhalten. Es sei allerdings im Zuge einer illegal dort veranstalteten Party komplett abgebrannt.

Die Geschichte des Abfalls in Pabellón

Die für die Bestimmung der chemischen Zusammensetzung der Tailings relevanten Informationen zu den genauen Produktionsverfahren in Pabellón sind nicht dokumentiert. Dieses Wissen ist allerdings grundlegend, um mit Messungen und geeigneten Analyseverfahren heute nach den richtigen Elementen suchen zu können. Aus historischen Niederschriften zu anderen Produktionsstätten und Weiterverarbeitungsanlagen der damaligen Zeit in der Region kann zumindest eine Annährung an dieses verlorene Wissen hergestellt werden.

Obwohl aus dem Vorkommen von Chañarcillo von Beginn an schon industrielle Mengen an Erzen gewonnen wurden, wurde deren Weiterverarbeitung handwerklich bzw. traditionell verrichtet. Es bedurfte daher einer weitaus größeren Menge an Arbeitskräften als im heutigen Bergbau, was auch am raschen Bevölkerungsanstieg in den Glanzzeiten der Mine abzulesen ist. Die zwei damals gängigsten Methoden, um die Edelmetalle vom restlichen Material zu trennen, waren die „trapiches“ und die „maray“ (Álvarez 1959).Footnote 9 Bei beiden Verfahren wurden große Mengen an Quecksilber angewandt, um die Metalle vom übrigen Schlamm, der bei diesem Prozess entsteht, zu trennen. Diese aufwendigen Verfahren bedingten zudem die Anwendung ganz anderer chemischer Substanzen als diejenigen, die heutzutage in den großen Minen üblich sind. Der ständige Einsatz neuer Methoden durch innovative Technologien und eine oftmals experimentelle Arbeitsweise verhindern jedoch die Möglichkeit, die Befunde eines Tailings auf die Gesamtheit zu verallgemeinern. Die Tailings sind je nach Komposition der bearbeiteten Erze und angewendeten Methoden vollkommen unterschiedlich und ihre Zusammensetzungen meist im höchsten Maße heterogen, was wiederum die Wiedererlangung verlorenen Wissens erheblich erschwert. Der einzige gemeinsame Nenner bei allen historischen und größtenteils bis heute bestehenden Rückständen des Gold- und Silberabbaus ist die oben erwähnte hohe Quecksilberkonzentration.

In Pabellón und dem Nachbarort Totoralillo wird der Quecksilbergehalt von ExpertInnen der deutschen Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) im Jahr 1998 auf insgesamt mindestens 185 Tonnen Quecksilber geschätzt. Zudem wurde ein ungewöhnlich hoher Arsengehalt konstatiert, sowie eine sehr ungleichmäßige Zusammensetzung der Tailings (Eberle 1998a:7). Im Gegensatz zu den heute noch aktiven Bergwerken, bei denen es genügt, die bei der Produktion verwendeten Elemente zu dokumentieren, um die Komposition der Tailings zu kennen, gibt es bei den verlassenen Tailingdeponien wie der in Pabellón heute keine Möglichkeit, rückwirkend auf diese Informationen zurückzugreifen. Und dies, obwohl die Tailings von Pabellón vergleichsweise gut erforscht sind.

Allerdings ist nicht nur das Wissen über die BewohnerInnen, ArbeiterInnen und den Entstehungsprozess der Abfälle weitgehend verloren gegangen, sondern auch jenes über die BesitzerInnen des Grundstücks und der Tailingdeponie. Während die heutigen BewohnerInnen die Fläche als staatlich oder besitzerlos vermuten, liegt das Grundstück juristisch in Händen von Privatpersonen. Dies bestätigten sowohl MitarbeiterInnen des Umweltministeriums als auch Wissenschaftler der Universidad Atacama (PS01, PW01). Die genauen Namen und die Anzahl der BesitzerInnen kennt allerdings keiner von ihnen.

Unter den oben beschriebenen Voraussetzungen ist es kaum überraschend, dass mit der Schließung der Weiterverarbeitungsstätten gegen Mitte des 20. Jahrhunderts und der damit einhergehenden Abwanderung der Bevölkerung, ein kollektives Vergessen über die Vergangenheit dieser Orte eingetreten ist. Das umliegende Gebiet lag für mehrere Jahrzehnte brach, bis sich Ende des 20. Jahrhunderts die Landwirtschaft in der Gegend ausbreitete. Innerhalb kurzer Zeit wurde fast die gesamte Fläche des Tals von Copiapó von großen Unternehmen aufgekauft, um dort Tafeltrauben für den Export anzupflanzen. In Pabellón selbst ließ sich damals das bis heute bestehende Unternehmen „7 amigos“ nieder. Bei den heutigen BewohnerInnen handelt es sich vorwiegend um ArbeiterInnen der landwirtschaftlichen Betriebe rund um den Ort, sowie Wanderbevölkerung, die vorübergehend dort wohnt, während sie als SaisonarbeiterInnen auf den Tafeltraubenplantagen tätig sind. Durch die Verseuchung der Böden ist das Gebiet unmittelbar um die Tailings unfruchtbar, für den Traubenanbau untauglich und aus dieser Sicht ökonomisch wertlos. Während fast das gesamte Tal heute den großen Landwirtschaftsbetrieben gehört, liegen diese Flächen brach und ermöglichen es den ArbeiterInnen, sich dort niederzulassen. Den genauen Grund für das Freiliegen der Flächen kennen die meisten BewohnerInnen allerdings nicht (siehe Abschnitt 6.3.2). Pabellón ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall. Da die Tailings oftmals als verlassene Flächen wahrgenommen werden, kommt es häufig vor, dass sie besiedelt werden. Auch die nahegelegenen Tailings von Totoralillo und Nantoco sind heute bewohnte Gebiete, was zu großen gesundheitlichen Risiken für die dortige Bevölkerung führt (siehe Abschnitt 6.4).

6.2.2 Die materielle Unsichtbarkeit der Tailings

Die Unsichtbarkeit der chemischen Stoffe, die die Bergbauindustrie hinterlässt, ist wie oben angedeutet, auch ihrer Materialität zuzuschreiben. Die Substanzen sind mit bloßen Sinnen nicht sicht-, riech-, schmeck-, hör- oder spürbar und es bedarf meist einer hohen Dosis oder langen Zeiträumen bis sich ihre Existenz durch Symptome in Natur und Mensch erkennbar macht (Ureta et al. 2018). Die giftigen Substanzen –bei Tailings handelt es sich dabei meistens um Chemikalien und Schwermetalle– dringen in die Körper der Betroffenen ein und entwickeln langsam ihre Wirkung. Sie überschreiten somit auch die sozial erzeugte Trennlinie zwischen Menschen und Natur unbemerkt. Es handelt sich dabei nicht um ein einmaliges oder katastrophales adressierbares Ereignis, sondern um langsame, schleichende Prozesse, wodurch es immer die Form einer slow violence beibehält. Die Industrieabfälle, die inmitten der Ortschaft Pabellón lagern, verschmelzen farblich und stofflich mit der Umgebung (siehe Abbildung 6.1), was nicht nur ihre genaue Lokalisierung unmöglich macht, sondern die langsame räumliche Ausbreitung durch Luft und Wasser nicht erkennen lässt. Der in kleinen Hügeln aufgehäufte, feine, braune Sand der Tailings ist nicht von der steinigen und sandigen Wüstenumgebung zu unterscheiden (siehe auch Ureta 2016b).

Das oben beschriebene kollektive Vergessen geht mit einem IdentitätsverlustFootnote 10 der Materialien als Abfall einher und verhindert die Identifizierung der giftigen Substanzen, die er beinhaltet sowie deren Zusammensetzung. Im Zusammenspiel mit der materiellen Unsichtbarkeit der Abfälle ist dieser Prozess direkt mit einem Wissensverlust verbunden, was die Problemdiagnose, den Umgang und die Lösungsfindung erheblich erschweren. Wenn dies passiert, können bspw., wie in Copiapó und Tierra Amarilla, staatliche Sozialbauten auf Tailings entstehen, da diese nicht mehr als solche identifiziert werden.

Abbildung 6.1
figure 1

(Quelle: Eigenes Foto, 18. Mai 2014 in Pabellón.)

Farbliche Verschmelzung der Tailings mit der Umgebung: Die vordere Fläche und die kleinen Hügel sind Tailings, während die hinteren Hügel Teil der Gebirgskette rund um den Valle de Copiapó darstellen.

In Pabellón zeigt sich dies u. a. am bis vor einigen Jahren existierenden Campingplatz. Die ehemaligen Flotationsbecken wurden (siehe oben), mit Unterstützung der Gemeinde von Tierra Amarilla, zu Schwimmbädern für den öffentlichen Zugang umfunktioniert. Der Historiker Diego Castro beschreibt die Situation in einem Interview:

„Was später die Schwimmbäder wurden, waren früher die Becken, die unter Anwendung großer Mengen von Quecksilber zur Aufarbeitung der Silbermetalle genutzt wurden. Die Leute haben sie einfach umfunktioniert und als Schwimmbäder genutzt. Ich hätte das nie zugelassen, wenn ich damals Bürgermeister gewesen wäre. Die Becken sind stark verseucht und die Menschen aus Tierra Amarilla und Pabellón haben sich da jahrelang drin gebadet. Der Ort war sehr beliebt, und das bis vor kurzem“ (PE01).

Auch der mehrmalige Versuch seitens unterschiedlicher Unternehmen, die Tailingdeponie als landwirtschaftliche Fläche zu nutzen, zeigt, wie schwer es ist, Tailings ohne eine wissenschaftliche Untersuchung unter diesen Umständen zu identifizieren.

Hier wird die besondere Relevanz technischen Wissens bei „materiell unsichtbaren“ Substanzen deutlich. Erst durch wissenschaftliche Untersuchungen können die chemischen Substanzen nachgewiesen und ihre Toxizität für Mensch und Natur bestimmt werden. So weiß heutzutage bspw. niemand mehr, wo genau in Pabellón die Rückstände ursprünglich deponiert wurden und wie ausgedehnt die Tailings tatsächlich sind. Da deshalb für die Untersuchungen keine genauen Kriterien zur Verfügung stehen, werden die Messungen nach einem Zufallsprinzip durchgeführt, sowohl was den Messungsort als auch was die untersuchten Elemente angeht, was wiederum zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führt (siehe Abschnitt 6.4). „In solchen Situationen suchen wir wie nach einer Nadel im Heuhaufen. Die Einstufung der unterschiedlichen Tailings als gefährlich oder ungefährlich ist demnach nicht genau. Bei Pabellón und Totoralillo war allerdings von Anfang an klar, dass die Messwerte alle internationalen Richtwerte und Normen überschreiten, trotz der großen Unterschiede in den verschiedenen Studien“ erzählt Cristobal Valenzuela (PW01), ein Chemiker und Forscher der Universidad de Atacama, der seit Jahren zu den Tailings in der Region Atacama forscht. Bei anderen Tailings würden Messwerte allerdings als unproblematisch eingestuft, obwohl diese Aussage nur auf einer unzureichenden Menge an Proben beruht. „Das große Problem ist, dass die Analyse der Proben sehr teuer ist. Die meisten Studien verfügen aber nicht über ausreichend Geld, um genügend Proben zu nehmen, die für eine aussagekräftige Untersuchung nötig wären“ (PW01), fügt Valenzuela hinzu.

Die materielle Unsichtbarkeit ermöglicht auch die unbemerkte räumliche Ausdehnung (meist über Wind und Regen) dieser Industrieabfälle. Bei den Überschwemmungen Anfang 2015 wurde dies besonders deutlich. Durch die Regenmassen wurden Teile der verlassenen historischen Tailings des Tals in die Hauptstadt Copiapó und weiter bis Caldera ins Meer gespült. Dies haben Untersuchungen der NGO der relaves.orgFootnote 11 und unabhängiger WissenschaftlerInnen (Cortés et al. 2015) ergeben, bei denen der Schlamm in diesen Städten auf Schwermetalle hin untersucht wurde. Staatliche Behörden wie etwa das Bergbau- und das Umweltministerium sowie die aktiven Bergbauunternehmen kamen in ihren Studien allerdings zu anderen Ergebnissen. Durch die Unsichtbarkeit der giftigen Substanzen standen sich diese Ergebnisse anschließend Aussage gegen Aussage gegenüber, wobei staatliche Behörden für gewöhnlich eine stärkere Legitimität genießen und das Monopol der offiziellen Wissensgenerierung innehaben. Unter der Bevölkerung haben die widersprüchlichen wissenschaftlichen Belege Ungewissheit in einem Thema geschaffen, obwohl sie die körperlichen Beschwerden nach der Überschwemmung selbst gespürt haben und die Vergiftung von nationalen Umwelt-NGOsFootnote 12 nachgewiesen wurde. Die VerantwortungsträgerInnen haben hier bei einem nachgewiesenen Fall der Umweltverseuchung aktiv zur öffentlichen Verwirrung beigetragen (siehe hierfür doubt producers Nixon 2011:40). In Pabellón etwa war deutlich zu erkennen, dass Teile der Tailings von der Flutwelle mitgerissen wurden. MitarbeiterInnen des Umweltministeriums und des Sernageomin haben dies in unterschiedlichen Interviews allerdings mehrmals bestritten. In Pabellón wird damit deutlich, dass die materielle Unsichtbarkeit und die allgemeine Ungewissheit (siehe Abschnitte 6.3.2 und 6.4) über die Tailings dazu beitragen, dass es nicht zu einem allgemein geteilten Wissen über sie kommt bzw. Wissen verhandelbar wird.

6.3 Vergessene unsichtbare Betroffene: die BewohnerInnen von Pabellón

Die BewohnerInnen von Pabellón wohnen in unmittelbarer Nähe der Tailings. Dennoch empfindet eine knappe Mehrheit der Interviewten diese nicht als ein Risiko für die Umgebung und ihre eigene Gesundheit. Nach einer kurzen Charakterisierung (siehe Abschnitt 6.3.1) wird im Weiteren die Risikowahrnehmung und der Wissensstand der BewohnerInnen (siehe Abschnitt 6.3.3) bezüglich der Tailings in drei Gruppen beschrieben, um die unterschiedlichen Wahrnehmungen und das damit verbundene Wissen sowie die damit einhergehende Risikowahrnehmungen fassen zu können: diejenigen, die die Tailings als Risiko wahrnehmen, diejenigen, die kein Risiko in dem Zusammenleben mit Tailings sehen und jene Personen, die wenig oder nichts über die Tailings wissen. Im Folgenden wird die Überlappung mehrerer sozialer, ökologischer und ökonomischer Ungleichheiten als ein Kernelement der Unsichtbarkeit der Tailings herausgearbeitet (siehe Abschnitt 6.3.3). Abschließend wird das Wissen der BewohnerInnen in Beziehung zu ihren konkreten Handlungen gesetzt und die Gründe für die (in)action gegenüber dem Risiko und das Ausbleiben kollektiver Handlungen herausgearbeitet (siehe Abschnitt 6.3.4).

6.3.1 Charakterisierung der BewohnerInnen

Im vorderen Bereich der Ortschaft entlang der Landstraße (östlich des Flusses Copiapó) wohnen vorwiegend diejenigen, die schon länger in Pabellón ansässig sind. Obwohl im Ort niemand über einen Eigentumstitel für sein Land verfügt, da sich dort alle erstmals illegal niedergelassen haben, werden diese Häuser mittlerweile von der Gemeinde geduldet. Die Häuser sind einfach gebaut, aber im Vergleich zu denen am anderen Ufer relativ gut ausgestattet. Sie alle verfügen bspw. über Wassertanks, die wöchentlich von der Gemeinde befüllt werden. Außerdem besitzen alle einen – auch von der Gemeinde geduldeten – Stromanschluss. Die meisten BewohnerInnen dieses Bereichs gehören klar der niedrigsten sozialen Schicht an und können größtenteils nicht alle ihre Grundbedürfnisse stillen. Es gibt allerdings auch zwei etwas besser gestellte Haushalte: Zum einen die (Groß-)Familie von Bruno (PB13), der es schaffte, drei staatliche Sozialbauten zu bekommenFootnote 13. Diese Familie verfügt zudem über das größte Grundstück im Ort und hält darauf verschieden Tierarten. Zum anderen Paula (PB24), die wiederum die Besitzerin des einzigen Lebensmittelgeschäfts Pabellóns ist, lebt in einem vergleichsweise großen und hochwertiger ausgestatteten Haus (es ist bspw. das einzige mit einem eingebauten Bad und angeschlossener Toilette) und fährt als einzige einen Neuwagen.

Auf der anderen Seite des Flusses leben die Neuen. Sie wohnen in kleinen Barracken oder Zelten in extremer Armut (siehe Abbildungen 6.2 und 6.3). Einige der Behausungen sind kleiner als 6 m2 und beherbergen drei bis vier Personen. Es kommt immer wieder vor, dass die Polizei sie wegen illegaler Landbesetzung ermahnt.

Abbildung 6.2
figure 2

(Quelle: Eigenes Foto, 14. Mai 2014 in Pabellón)

Zelte und Behausungen der „neuen“ BewohnerInnen. Im Gelände des ehemaligen Campingplatzes haben sie provisorische Behausungen und Zelte aufgeschlagen, in denen sie wohnen.

Abbildung 6.3
figure 3

(Quelle: Eigenes Foto, 16. Mai 2014 in Pabellón)

Provisorische Behausungen der „neuen“ BewohnerInnen von Pabellón..

Den neuen BewohnerInnen wird außerdem von den alten Drogenkonsum und -handel nachgesagt, der auch von einigen der Interviewten BewohnerInnen dieses Bereichs bestätigt wurde. Die Polizei patrouilliert deshalb den Bereich regelmäßigFootnote 14 und ist somit die einzige staatliche Institution, die den Ort hin und wieder besucht. Die Neuen wohnen in unmittelbarer Nähe und teilweise sogar direkt auf der Tailingdeponie. Die wenigen, die hier über Strom verfügen, haben sich illegal an die Leitungen des ehemaligen Campings angehängt. Sie haben weder fließendes Wasser noch Wassertanks, da der Wassertransporter die baufällige Brücke nicht überqueren kann (siehe Abbildung 6.4). Während manche sich selbständig Wasser in nahegelegenen Ortschaften holen, verfügen die meisten nicht über die Transportmittel, um dies zu tun. Sie nützen das stark verschmutzteFootnote 15 Flusswasser oder zapfen sich an das Bewässerungssystem der TraubenfelderFootnote 16 an. Auch die alten BewohnerInnen müssen (siehe Abbildung 6.6) zusätzliches Wasser zum Waschen und Gießen aus dem Fluss pumpen, da das gelieferte Wasser hierfür nicht ausreicht.

Abbildung 6.4
figure 4

(Quelle: Eigenes Foto, 20. April 2017 in Pabellón)

Baufällige Brücke über den Fluss Copiapó.

Die allermeisten männlichen Bewohner arbeiten in den naheliegenden Traubenfeldern. Außer drei Festangestellten sind alle anderen Saisonarbeiter. Einige wenige arbeiten in einem der Bergwerke des Tals. Es kommt aber auch nicht selten vor, dass sie gleichzeitig oder abwechselnd in beiden Sektoren tätig sind. Die meisten Frauen widmen sich reproduktiven Tätigkeiten, wobei einige übergangsweise auch in der Landwirtschaft tätig sind oder waren. Ein weit verbreitetes, lukratives Nebeneinkommen ist das Trocknen von Trauben, um aus ihnen Rosinen zu machen, welche danach zur Weiterverarbeitung und den späteren Export an ein Unternehmen aus San Fernando verkauft werden (siehe Abbildung 6.8). Obwohl die zur Trocknung verwendeten Trauben in manchen Fällen direkt bei den Landwirtschaftsunternehmen gekauft werden, geben die meisten offen zu, diese aus den Traubenfeldern illegal zu entnehmen. Es handelt sich dabei um ein vergleichsweise lukratives Geschäft, das für viele nach der Erntezeit (ein bis zwei Mal im Jahr) die Haupteinnahmequelle darstellt. Ein sogenannter „rambero“ (örtliche Bezeichnung für diejenigen, die sich der Rosinenherstellung widmen) kann nach eigenen Angaben umgerechnet bis zu etwa 3000 Euro mit einer erfolgreichen drei bis sechswöchigen (Sonnen-) Trocknung erzielen.

Zwischen den zwei Gruppen (den Alten und den Neuen) bestehen mehrere latente und manifeste Konflikte und deshalb kaum oder gar kein Kontakt. Die Alteingesessenen sehen in den Neuankömmlingen in doppelter Hinsicht einen Unsicherheitsfaktor: Einerseits sei die Gewalt im Ort gestiegen, da die Neuen Drogen und viel Alkohol konsumieren würden und somit auch einen schlechten Einfluss auf ihre Kinder hätten; andererseits würden die Praktiken der „ramberos“ die Trauben illegal zu beschaffen, auch zu Misstrauen bei den landwirtschaftlichen Betrieben führen, weshalb sie weniger Personen aus Pabellón anstellen und ArbeiterInnen von außerhalb bevorzugen würden. Die Neuen geben an, sich wegen dieser Anschuldigungen und dem Verhalten der Alten stark diskriminiert zu fühlen. Diese Wahrnehmung sei geprägt von Vorurteilen, die nicht der Wahrheit entsprächen und hätten die Ursache, dass sie zum sozial und ökonomisch marginalisiertesten Teil der Bevölkerung gehören würden. Aus diesem Grund ist es auch zur Spaltung der „Junta de Vecinos“ (Nachbarschaftsvereinigung) gekommen. Derzeit wird auf eine Genehmigung der Gemeinde gewartet, um zwei unabhängige „Juntas de Vecinos“ mit sehr unterschiedlichen Forderungen anzuerkennen, was aufgrund der geringen Zahl der EinwohnerInnen schwierig sein könnte. Dieser Faktor ist relevant, wenn es im Abschnitt 6.4 um die Frage gehen wird, warum es zu keinem kollektiven Handeln der Betroffenen kommt.

6.3.2 Allgemeine Ungewissheit, Wissensstand und Risikowahrnehmung der BewohnerInnen

Auf die Frage nach sozial-ökologischen Problemen vor Ort wurden die Tailings zunächst selten von den Interviewten erwähnt.Footnote 17 Thematisiert wurden vorwiegend die Wasserverschmutzung und -knappheit des Flusses sowie die Pestizide der unmittelbaren Landwirtschaft (siehe Abschnitt 6.3.3). Die Tailings als solche wurde meistens erst auf die Nachfrage „was es denn mit diesen sterilen Hügeln auf sich hätte“ angesprochen. Während einige keine Antwort auf diese Frage hatten, wusste die Mehrheit, dass es sich dabei um Rückstände des Bergbaus handelt. Die Wahrnehmung und die Bedeutung, die ihnen zugeschrieben wird, fiel allerdings sehr unterschiedlich aus. Etwas mehr als die Hälfte der Interviewten stufte die Tailings als bedenkenlos oder risikofrei ein. Die andere Hälfte wiederum nahm die Tailings als mehr oder minder starken Risikofaktor für ihre Gesundheit und die Umwelt wahr. Das Thema scheint zwar, laut ihrer Aussagen, keine besondere Relevanz im Alltag der Betroffenen zu haben, viele haben allerdings durchaus eine Ahnung oder eine persönliche „Gewissheit“ einer potenziellen Gefahr ausgesetzt zu seinFootnote 18. Was sie genau über das Risiko wissen bzw. was von ihnen als Beweis für die von Tailings ausgehende Gefahr herangezogen wird, unterscheidet sich wesentlich von Person zu Person und kann insgesamt als allgemeine Ungewissheit beschrieben werden.

Zwei der Alteingesessenen Bruno (PB13) und Fernando (PB15) erinnern sich als einzige noch an die ehemaligen Flotations- und Verhüttungsanlagen und sind demnach nicht vom oben beschriebenen kollektiven Vergessen betroffen. Sie sind beide in der Gegend aufgewachsen und haben nach eigenen Aussagen die Weiterverarbeitung der Erze noch mit eigenen Augen gesehen. Sie wissen also über den genauen Ursprung der Tailings Bescheid. Gleichzeitig nehmen beide die Tailings nicht als potenzielle Gefahr wahr.

Ein unbekanntes Risiko – Risikowahrnehmungen auf Basis von Ungewissheit

Diejenigen BewohnerInnen, die die Tailings als Risikofaktor wahrnehmen, kennen zwar ihren genauen Ursprung nicht, dass es sich dabei aber um Rückstände aus dem Bergbau handelt, ist vielen von ihnen allerdings bekannt. Was ihre chemische Zusammensetzung und die Größe der Tailingdeponie angeht, gibt es jedoch sehr unterschiedliche Meinungen. Während manche BewohnerInnen wie Gaspar (PB12) und Luciano (PB28) ein sehr großes Gebiet (ganz Pabellón und Teile der anliegenden landwirtschaftlichen Flächen) als verseucht beschreiben, sehen die meisten das Problem nur bei den kleinen Hügeln mitten auf der sterilen Fläche. Sich physisch vom Industrieabfall abgrenzen zu können, sehen die meisten allerdings als unmöglich, da sich die Chemikalien und Schwermetalle über die Luft und das Wasser ausbreiten würden. Besonders durch den Wind wird der feine Staub auch in die Häuser getragen: „Wir müssen diesen Staub dann einfach schlucken, obwohl er schädlich für die Gesundheit ist“, erzählt Tomás (PB23).

Die genaue Zusammensetzung der schädlichen Stoffe der Tailings ist den meisten allerdings nicht bekannt. Sie haben keinen Zugang zu den bestehenden wissenschaftlichen Studien (siehe Abschnitt 6.4) und begründen ihre (Gefahren-)Wahrnehmung durch andere Wissensformen. Manche berufen sich auf ihre eigene Erfahrung durch die Arbeit im Bergbau und nennen Elemente wie Quecksilber, Zyanid und Blei, die alle gesundheitsschädlich seien. Der Neuankömmling Gaspar (PB12) gibt an, eine Probe genommen zu haben und diese persönlich gegen eine Zahlung von 10.000 Pesos (etwa 15 Euro) bei der Empresa Nacional de Minería (ENAMI) analysiert haben zu lassen. Dabei habe er eine Liste von Elementen und Zahlen bekommen, die die Schadstoffkonzentrationen der Probe darstellen. Ganz oben standen dabei Quecksilber und Arsen, sowie Rückstände von Gold und Kupfer. Interpretieren konnte er die Zahlen allerdings nicht, da keine Richtwerte oder bestehende Normen beigefügt gewesen seien, erzählt Gaspar (PB12).

Gleichzeitig stufen viele der Interviewten die Gefahr, die vom alltäglichen Zusammenleben mit den Tailings ausgeht, durchaus als hoch ein. „Auf diesem Gelände sind chemische Substanzen, die die Bergbauanlagen hinterlassen haben. Besonders dort, wo die Menschen ihre Zelte aufschlagen (…) diese Tailings sind vollkommen gefährlich“, erklärt Rodrigo (PB19). Belén führt das Risiko noch weiter aus: „Es betrifft uns alle, langfristig wird es uns alle betreffen. […] Mit der Zeit wird man […] davon krank werden. Alle Menschen, die hier sterben, sterben deswegen, die meisten zumindest, sie sterben an Silikose, an Staub in der Lunge, die kleinen Kinder mit Bronchitis und Bronchopneumonie und solche Geschichten. Viele Krankheiten kommen von diesem Staub, den der Bergbau aus der Erde holt“ (PB11). Für die meisten reicht es schon zu wissen, dass es sich um Tailings handelt, um darin eine Gefahr zu sehen. „Ich glaube es gibt keine einzige Tailingdeponie, die nicht kontaminiert ist, also wird diese hier nicht die Ausnahme sein“ (Santiago, PB21). Die Konsequenzen sehen diejenigen, die die Tailings als Risiko wahrnehmen, vorwiegend in Schäden für die eigene Gesundheit und für die Natur. Besonders gesundheitsschädlich sei der direkte Kontakt mit den Abfällen sowie das Einatmen des von ihnen ausgehenden Staubs, meinen sie. Die am stärksten betroffenen seien deshalb auch diejenigen, die direkt an oder auf der Tailingdeponie wohnen sowie die Kinder und Älteren. Außer den schon erwähnten Lungen- und der Atemwegskrankheiten, werden auch Krankheiten im Verdauungssystem sowie Krebs häufig erwähnt. Emilio (PB29) sieht eine direkte Kausalbeziehung zwischen den Tailings und der hohen Sterberate vor Ort. „Fast alle Menschen, die hier sterben, tun es wegen dieser Tailings, fast alle sterben an Krebs, auch die Jungen“ (PB29), meistens handle es sich dabei um Magenkrebs. Tatsächlich haben mehrere der InformantInnen in den Interviews erzählt, schon einmal an Krebs erkrankt zu sein.

Den schädlichen Effekt der Tailings auf Flora und Fauna sehen einige im langsamen Wachstum und der schlechten Gesundheit ihrer Pflanzen und Tiere. „Wir hatten zusammen mit unseren Nachbarn Pflanzen angebaut und die sterben, sterben und sterben nur (…) der Staub kommt, verbrennt und erstickt sie, er dringt in die Blätter ein und vergiftet sie. Alle Pflanzen, egal welcher Art. Sogar die Tiere sind davon betroffen, die Hühner scharren dort und essen es“, erzählt Gaspar (PB12). Luciano (PB28) wiederum zeigt uns die Bäume, die er vor 15 Jahren auf seinem Grundstück gepflanzt hat. Sie sind höchstens 1,2 Meter hoch und sehen schwach aus, die Blätter sind von einer dicken braunen Staubschicht umhüllt (siehe Abbildung 6.5). Er erzählt, dass früher versucht wurde, direkt auf den Tailings Reben und später Gemüse anzupflanzen, aber es sei absolut nichts gewachsen. Die Erde dort sei unfruchtbar und tot. Dies hat auch ökonomische Konsequenzen. Die BewohnerInnen, die in den Tailings ein Risiko sehen, erzählen, die Subsistenzwirtschaft sei dadurch nicht nur unglaublich schwierig, sondern die Produkte auch teilweise ungenießbar. Viele betonen zudem, dass die Rosinen, die sie dort produzieren, beim Trocknungsprozess dem Staub ausgeliefert seien. Pablo (PB10) meint, auch seine Rosinen seien wahrscheinlich verseucht, da sie auf einer Plastikplane direkt auf den Tailings trocknen. Die KäuferInnen würden diese vor dem Export allerdings waschen und die Hygienestandards sicherlich einhalten, weshalb er darin kein größeres Problem sieht. Gaspar hingegen sieht das anders „dadurch wird es auf einmal ein globales Problem, eins dieser Rosinchen, das aus Chile raus geht und schon ist es global“ (PB12).

Abbildung 6.5
figure 5

(Quelle: Eigenes Foto, 20. Mai 2014 in Pabellón)

Staub auf den Bäumen von Emilio.

Schließlich erzählen mehrere InformantInnen, auch der umliegende Traubenanbau selbst sei davon betroffen. Die naheliegenden Reben seien voll von diesem feinen Staub und müssten vor dem Konsum deshalb gut gewaschen werden. Trotz des fehlenden Zugangs zu wissenschaftlichem Wissen, stimmen die Diagnosen der BewohnerInnen oftmals mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen der bestehenden Untersuchungen überein (siehe Abschnitt 6.4). Die Betroffenen haben aber keine wissenschaftlichen Beweise für ihre Sorgen, weshalb sie diese als reine Vermutungen äußern.

Fehlende Gefahrenwahrnehmung trotz ähnlicher Wissenslage

Im Gegensatz zu dieser eindeutigen Gefahrenwahrnehmung stehen die Aussagen einer knappen Mehrheit der BewohnerInnen, die kein Risiko in dem Zusammenleben mit den Tailings sehen. Dennoch wissen viele von ihnen, dass es sich dabei um Industrieabfälle des Bergbaus handelt und haben verschiedene Erklärungsansätze für ihre Gefahrenlosigkeit. Interessanterweise halten eine Reihe von ihnen Tailings im Allgemeinen für eine potenzielle Gefahr für Natur und Menschen, dasjenige vor ihrer eigenen Haustür allerdings nicht. Das häufigste Argument dafür bezieht sich auf das Alter der Tailingdeponie. Einerseits sei die frühere traditionelle Form der Aufarbeitung von Erzen mit weniger Chemikalien ausgekommen: „dieses Material haben die PirquinerosFootnote 19 bearbeitet und wenn es die Pirquineros bearbeiten, nutzen sie dafür weniger Chemikalien. Früher war es irgendwie gesünder, wenn man das so sagen kann“ erklärt Alonso (PB16). Andererseits wird argumentiert, dass die giftigen Stoffe mit den Jahren verschwunden seien bzw. ihre Schädlichkeit verloren hätten. Bruno (PB13) zeigt uns bei einem Spaziergang farbige Flecken auf dem Gebiet des Campingplatzes und der früheren Flotationsbecken, die unterschiedlichen chemischen Substanzen zuzuordnen seien. Er ist allerdings der Überzeugung, sie hätten ihre Toxizität längst verloren. „Das sind keine tödlichen Säuren mehr, der Staub hat sich schon längst aufgelöst“ (PB13). Ähnliche Ansichten haben auch Ángel (PB02), Amaro (PB20) und Benjamín (PB06). Sie haben langjährige Erfahrungen im Bergbau und bestätigen, dass die meisten Tailings höchst giftig seien, die in Pabellón seien allerdings schon viel zu alt, um noch gefährlich zu sein. Tatsächlich wird dieses Argument vorwiegend von Männern, die selbst im Bergbau tätig waren, vertreten, welche ihre Expertise im Thema als Begründung für die Harmlosigkeit der Tailings darlegen. Sie verfügen somit über ein Wissen in Bezug auf Tailings, das dem wissenschaftlichen Wissen der bestehenden Untersuchungen widerspricht. Oftmals wissen sie z. B. zwar, dass in den Tailings große Mengen an Quecksilber enthalten sind, stufen dieses Element allerdings als ungefährlich für die Gesundheit ein. Die Situation der allgemeinen Ungewissheit verdeutlicht sich in der Vielzahl von Interpretationen und den Widersprüchen zwischen den unterschiedlichen Wissensformen.

Auch bei denjenigen, die die Tailings nicht als Risiko sehen, werden die Pflanzen als Indikator herangezogen. Alonso (PB16) bspw. erzählt, die Tailings könnten nicht giftig sein, da die anliegenden Reben sonst sofort sterben würden und Joaquín (PB30) verweist auf seinen Gemüsegarten, um zu zeigen, dass der Staub nicht giftig sein kann. Auch Jorge Contador (PU02), landwirtschaftlicher Unternehmer und Leiter des Unternehmens „7 amigos“ gibt an, regelmäßig Messungen bei seinen Reben durchzuführen, welche immer gut ausgefallen seien. Sein Traubenanbau sei also nicht betroffen. Er hält es aber für möglich, dass die Fläche der Tailingdeponie weiterhin verseucht sei. „Vor einigen Jahren haben wir versucht, die Fläche zu bepflanzen und die Reben sind nie gewachsen“ (PU02).

Die eigene Gesundheit wird von dieser Gruppe auch als Argument genutzt, um die Harmlosigkeit der Tailings zu zeigen. „Ich habe hier meine ganze Familie großgezogen und wir haben noch nie etwas gespürt“, sagt Bruno im Interview (PB13). Amaro (PB20) meint, der Körper könne sich an die Elemente in seiner Umgebung gewöhnen und immun gegen die Nebeneffekte des Quecksilbers werden. Fernando (PB15), der selbst Silikose hat und uns von vielen Krebsfällen in seiner Familie und seinem Bekanntenkreis erzählt, sagt gleichzeitig aus, niemand sei wegen der Tailings erkrankt, seitdem er hier wohnt. Interessant sind auch die Fälle von Paz (PB27) und Paula (PB24). Sie beide haben eine lange Krebserkrankung und die operative Entfernung großer Tumore hinter sich. Sie betonen allerdings mehrmals, es gebe dabei keine direkte Verbindung zur Anwesenheit der Tailings im Ort.

Schließlich wird auch die staatliche Untätigkeit als Argument dafür herangezogen, dass von den Tailings keine Gefahr ausgehen könne. Da die Gemeinde oder andere staatliche Behörden nie auf eine Gefahr hingewiesen hätten, gebe es auch nichts zu befürchten. Bruno (PB13) erzählt uns beispielsweise, wie die zuständige Gemeinde aus Tierra Amarilla beim Aufbau das ehemaligen Campingplatzes und der Umgestaltung der Flotationsbecken zu Swimmingpools mitgewirkt habe, um den Ort in einen Freizeitpark zu verwandeln. Eine öffentliche Einrichtung würde so etwas nicht tun, wenn damit Gesundheitsrisiken für die Bevölkerung einhergehen würden, meint er. Auch Matilda (PB09) und Alonso (PB16) vertrauen den Behörden. Sie hätten gesehen, wie die staatlichen MitarbeiterInnen immer wieder Proben des Flusswassers entnehmen. Außerdem gebe es in den landwirtschaftlichen Betrieben Messstationen des staatlichen Bergbauunternehmens ENAMI, um die Luftqualität zu überprüfen. Wenn die Werte nicht „in Ordnung“ wären, hätte der Staat schon längst etwas unternommen, so die beiden. An diesem Beispiel kann man gut sehen, wie die Untätigkeit (inaction) eines Akteurs –in diesem Fall des Staates– zu Fehlinterpretationen und zur Unsichtbarkeit eines bestehenden Problems führen können.

Nichtwissen, Ungewissheit und widersprüchliche Aussagen

Des Weiteren gibt es eine große Zahl an Personen, die wenig oder gar keine Information über die Tailings besitzen. Viele davon wissen zwar, dass es sich um Rückstände des Bergbaus handelt, können aus dieser Information allerdings keine weiteren Schlüsse ziehen. Auf die Frage, ob sie darin ein Problem oder Risiko sehen, argumentieren sie oftmals selbst mit ihrem fehlenden Wissen darüber. „Ich habe das noch nie als ein Problem wahrgenommen, also ich habe auch noch nie darüber nachgedacht, ob es uns irgendwie betreffen oder schädigen könnte (…) über das Thema wird hier in Pabellón auch nie gesprochen“ (Daniela, PB14). Trotzdem achtet Daniela darauf, dass ihre Kinder nicht auf den Tailings spielen, denn „diese Erde spaltet die Haut ihrer Hände“(PB14). Oft kommen auch widersprüchliche Aussagen, wie die von Damián (PB26) vor: „Das sind Tailings, die kommen vom Bergbau. Ich weiß nicht viel darüber, aber es enthält Säuren. Tailings enthalten alles Mögliche, (…) allerdings beeinträchtigen diese Dinge einen nicht, wenn man dort ist“. Gleichzeitig erzählt er anschließend die Tailingdeponie habe den Traubenanbau verseucht, als es vor kurzem geregnet habe.

Paz (PB27) sieht keine Gefahr in den Tailings. Obwohl ihr Mann – der im Interview vor den von den Tailings ausgehenden Gefahren warnt – das ganze Haus mit einem feinen Netzstoff umzäunt hat, um nach eigenen Angaben den giftigen Staub fernzuhalten, erklärt sie uns diese seien dafür da, das Haus sauber zu halten, ohne dabei einen Zusammenhang mit dem Risiko der Tailings herzustellen. Der Fall von Paz (PB27) zeigt erneut, wie wenig über das Thema auch innerhalb von Familien gesprochen wird. Magdalena (PB04) und Francisca (PB05) sehen nur in dem aufgewirbelten Staub ein Problem, da man „hier viel Erde einatmet“ (PB04). Sie wissen allerdings nicht, um was für Erde es sich dabei handelt und erzählen, ihre Kinder würden dort oft zum Spielen hingehen, weil diese Erde „so schön weich“ sei.

Widersprüchliche Aussagen zu den Tailings kamen auch vom landwirtschaftlichen Unternehmer Jorge Contador (PU02). Er argumentiert mit dem Alter der Tailings und behauptet, die Tailings wären deshalb sowohl für die Menschen in Pabellón, als auch für seine Anpflanzungen harmlos. Gleichzeitig sei die Erde dort aber unfruchtbar. Auf die Frage, warum das so sei, antwortet er, der Boden sei verseucht und dort könne man „alles Mögliche“ finden. Auch die Rosinen, die darauf getrocknet werden, seien verseucht und er räumt ein, dass es vielleicht sogar einige der naheliegenden Traubenreben beeinflussen könnte. Auf die Frage, ob die Trauben dadurch möglicherweise ungenießbar seien, reagiert er allerdings leicht verärgert „nein, nein, nein, das ist unmöglich. Wenn du einen Fisch isst, wirst du ja auch nicht gleich zum Fisch. (…) Also, die Pflanze nimmt doch keine Sachen auf, die sie nicht braucht. Und falls sie es doch tut, wird sie diese nicht auf ihre Früchte übertragen (…) zumindest nicht diese Art von Materialien, die ja im Grunde Schwermetalle sind“ (PU02). Der Chemiker Cristóbal Valenzuela (PW01) der Universidad de Atacama, hat allerdings persönlich in Pabellón und Totoralillo Proben der Früchte und Pflanzen genommen. Dabei hat er unter anderem auch die Trauben der umliegenden landwirtschaftlichen Flächen untersucht und die Präsenz giftiger Substanzen der Tailings in ihnen nachgewiesen. Der Konsum dieser Früchte sei ein großes Risiko für die menschliche Gesundheit, erzählt er.

Allgemeiner Wissensstand und -austausch der BewohnerInnen

Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass in fast allen Interviews widersprüchliche Aussagen über das (Nicht-)Risiko der Tailings vorhanden waren. Des Öfteren wechseln InformantInnen ihre Position mehrmals in einem Interview oder vertreten Ansichten, wie die von Paula: „Die Tailings sind vollkommen gefahrenlos“ und kurz darauf: „ich gehe nie zu diesem Gelände, warum sollte ich mich den Giften freiwillig aussetzen?“ (PB24) oder die von Bruno: „die Fläche ist voller Chemikalien wie Quecksilber und Blei, aber diese machen uns nichts“ (PB13).

Egal, ob die Betroffenen die Tailings als ein Risiko wahrnehmen oder nicht, so ist eine allgemeine Ungewissheit zu beobachten, die Auyero und Swinstun (2007, 2008a 2009) bei dieser Art von Schadstoffbelastung treffenderweise als toxische Ungewissheit bezeichnen, der sich die Betroffenen machtlos ausgeliefert fühlen. Vermutungen, gewusstes und ungewusstes Nichtwissen (siehe Wehling 2006:121) sowie widersprüchliche Aussagen sind unter den BewohnerInnen weit verbreitet. Durch Anwesenheit unterschiedlicher Wissensformen und den fehlenden Zugang zu den bestehenden wissenschaftlichen Erkenntnissen kommt es zu Widersprüchen unter diesen sowie zu einer Vielzahl von unterschiedlichen Interpretationen derselben beobachteten Phänomene ebenso wie zu Uneinigkeit, was die Konsequenzen und Folgen betrifft, die der Kontakt zu bestimmten chemischen Elementen oder Schwermetallen mit sich bringen kann. Gerade wenn es um technisches Wissen geht, fehlt es den meisten –laut eigener Aussagen– an den notwendigen Informationen, um ihre (Gefahren-)Wahrnehmung bestätigen oder widerlegen zu können. Das ist nicht verwunderlich, da die Mehrheit angibt, ihr Wissen ausschließlich von anderen BewohnerInnen erlangt oder eigene Schlüsse aus ihrer Erfahrung im Bergbau gezogen zu haben. Wenn nach den Quellen ihrer Informationen gefragt wird, erwähnen die meisten entweder Bruno, Fernando oder Gaspar, die folglich als Multiplikatoren von Vermutungen und Wissen sowie gleichzeitig von gewusstem, aber vor allem nicht-gewusstem Nichtwissen fungieren.

Zudem hat das Thema der Gefahren der Tailings generell keine besondere Relevanz unter den BewohnerInnen Pabellóns, weshalb der Austausch darüber sehr begrenzt ist. „Das Thema wurde noch nie in der Junta de Vecinos erwähnt“, sagt Belén (PB11). Da kaum Kontakt zwischen den alten und den neuen BewohnerInnen stattfindet, gibt es auch keinen Wissensaustausch über die Tailings zwischen beiden Gruppen. Deshalb wissen besonders die Neuen, die mehrheitlich unmittelbar an oder auf den Tailings wohnen, nichts oder nur sehr wenig über die möglichen Gefahren, die von ihnen ausgehen können. Besonders der fehlende Internetzugang erschwert die Aneignung von „offiziellem“ wissenschaftlichen Wissen. Die BewohnerInnen informieren sich fast ausschließlich über das Radio und regionale Fernsehsender wie „Red-Atacama“. Außer Gaspar (PB12), der erzählt dort einmal eine Reportage über Tailings gesehen zu haben, sowie den Erzählungen von Emilio und Paz, in denen sie aussagen, das Wort „Tailings“ aus diesem Sender zu kennen, geben die meisten an, noch nie in den Medien davon gehört zu haben. Dazu gesagt werden muss allerdings, dass nicht alle einen Fernseher besitzen und die Printmedien nicht im Ort zu kaufen sind. „Der Zugang zu Information ist gleich null, wenn wir über irgendwas informiert sind, dann nur über das nötigste“ (Julián, PB22). Zugang zu offiziellem oder technischem Wissen aus den bisher durchgeführten Untersuchungen über die Tailings in Pabellón (siehe Abschnitt 6.4) hatte bisher keiner der BewohnerInnen.

Interessanterweise sind die Aussagen und Argumente derer, die Tailings für ein Risiko halten und derer, die es nicht tun, oftmals sehr ähnlich. Sie beziehen sich auf die gleichen beobachteten Phänomene und ziehen diese als Beweis für ihre – teilweise entgegengesetzte – Risikoeinschätzung heran. Auffällig ist auch, dass viele der Befragten allgemeine wissenschaftliche Kenntnisse zu Tailings und ihrer Zusammensetzung aufweisen, diese allerdings nicht auf die Tailings vor Ort beziehen. Oftmals wird die potenzielle Gefahr, die von Tailings ausgeht, in diesem bestimmten Fall relativiert. Dennoch ist klar zu beobachten, dass diejenigen, die kein oder kaum Wissen über die Tailings besitzen, in ihm auch kein Risiko für ihre Gesundheit sehen. Wissen ist somit zwar in den meisten Fällen eine Voraussetzung für die Risikoeinschätzung und die Sichtbarkeit des Problems und dadurch für individuelle oder kollektive Handlungen, es hat diese allerdings nicht notwendigerweise zur Folge.

Was die Wissensübertragung zwischen den BewohnerInnen angeht, konnten ebenfalls einige interessante Punkte festgestellt werden. Die Nähe der persönlichen Beziehungen scheint nicht zur Angleichung des Wissens zu führen. Familienmitglieder oder Personen, die im selben Haushalt leben, weisen oftmals einen sehr unterschiedlichen Wissengrad sowie verschiedene Wissensformen auf und haben deshalb teils sogar konträre Ansichten bezüglich der Tailings. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass das Thema laut der Aussagen der Befragten kaum Platz im alltäglichen Leben der BewohnerInnen findet. In manchen Fällen kommt es sogar so weit, dass Personen Praktiken aufweisen, die sie bspw. vor dem giftigen Staub schützen sollen und die sie ungefragt von ihren Familienmitgliedern übernommen haben, ohne zu wissen, welchen Zweck sie haben.

6.3.3 Environmental Injustice und die Unsichtbarkeit der Betroffenen

Wie bei vielen anderen Fällen von slow violence (Nixon 2011) trägt zur Unsichtbarkeit des Problems der Tailings auch der Faktor bei, dass die Betroffenen zu benachteiligten Bevölkerungsgruppen gehören. Diese sind von unterschiedlichen, sich meist überlappenden Ungleichheiten betroffen. Bezüglich sozial-ökologischer Phänomene ist dies als environmental (in)justice bekannt (Pulido 1996; Newton 2009). Aus dieser Situation resultieren wichtige Hindernisse auf dem Weg zur Sichtbarkeit des Umweltproblems, denn die Gleichzeitigkeit mehrerer sozialer und ökologischer Risiken und Probleme, denen die marginalisierten Bevölkerungsteile ausgesetzt sind, führt dazu, dass einzelne Probleme an Relevanz, Priorität und Sichtbarkeit verlieren. Die Grundthese der environmental (in)justice bestätigt sich sogar innerhalb einer relativ homogenen Gruppe – was sozialen und ökonomischen Status belangt – wie sie die Bevölkerung von Pabellón darstellt. Während diejenigen mit einem besseren Auskommen und höherer wirtschaftlicher Sicherheit am weitesten von den Tailings entfernt wohnen, leben die Ärmsten in unmittelbarer Nähe der Verseuchungsquelle. Im Folgenden wird zudem dargestellt, wie sich aufgrund der Überschneidung unterschiedlicher Achsen der Ungleichheit, zur Unsichtbarkeit der Tailings auch noch die Unsichtbarkeit der betroffenen Bevölkerung hinzuaddiert.

Die wahrgenommene Ungerechtigkeit und Machtlosigkeit der BewohnerInnen: „Wir sind das, was niemand sehen will“

Die Menschen, die in Pabellón leben, sind sich sehr bewusst über ihre sozialen und ökologischen Nachteile. Sie fühlen sich vom Staat, den Behörden und der Gemeinde im Stich gelassen und empfinden ihre Lebenssituation als höchst ungerecht. Der Interviewte Julián (PB22) verdeutlicht dies mit folgendem Satz: „Was im Fernsehen gezeigt wird, ist nicht die Realität. Wir sind das, was niemand sehen will“. Dort werde vor allem die städtische Bevölkerung gezeigt, also „diejenigen, die Rechte besitzen“, meint Julián. Es gebe allerdings viele Menschen, wie die BewohnerInnen aus Pabellón, die keinen Anspruch auf diese Rechte hätten. Grundbedürfnisse wie Wasser und Strom könne man wegen fehlender Infrastruktur nur durch „abzwacken“ stillen und müsste sich somit außerhalb der Legalität bewegen. „Man wird zum Klauen verdammt, um seine Grundbedürfnisse zu stillen (…) wir leben außerhalb des Gesetzes, außerhalb dieses Landes“, erzählt Julián weiter (PB22). Die wahrgenommene eigene Benachteiligung wurde aber nicht nur im Vergleich zur Stadtbevölkerung thematisiert, sondern auch zu nahegelegenen Ortschaften, die durch die dortige Anwesenheit eines Bergbauunternehmens über (nicht staatliche) soziale Vorteile und bessere Infrastruktur verfügten.

Die allermeisten Interviewten erklären, dass ihre schlechten Lebensbedingungen dazu führten, dass eine „saubere Umwelt“ ganz unten auf ihrer „Sorgenliste“ stehe. „All das beschäftigt uns nicht so sehr. Wir wollen vor allem unsere Grundbedürfnisse erstmal stillen. Trotzdem wäre es natürlich schön, wenn sie unsere Umwelt nicht verschmutzen würden“ (Julián, PB22). Tomás (PB23), der in seinem Zelt direkt auf den Bergbaurückständen wohnt, fasst diese allgemeine Wahrnehmung in folgendem Satz zusammen: „Meine Situation ist so prekär, dass die Tailings meine allerletzte Sorge sind“.

Die „Unsichtbarkeit“ der Betroffenen ist somit nicht nur eine theoretische sozialwissenschaftliche Einordnung, sondern wird auch von ihnen selbst so wahrgenommen und schlägt sich darüber hinaus in der Abwesenheit staatlicher Grundversorgung wieder. Obwohl bspw. die Präsidentin der Junta de Vecinos mehrmals in der zuständigen Gemeinde von Tierra Amarilla auf die Missstände von fehlendem Strom, Wasser und Transport bis zur einsturzgefährdeten Brücke hinwies und auch verschiedene staatliche, regionale Behörden und die Gemeinde von Tierra Amarilla in den geführten Interviews teils von diesen Problemen berichtet haben, sind sich alle Interviewten BewohnerInnen einig, dass noch nie ein/e staatliche/r MitarbeiterIn vor Ort war. „Niemand kommt hier her, es gibt diesen Ort nicht“, erklärt Tomás (PB23). Dies wird von den meisten als sehr ungerecht wahrgenommen: „Wir wollen ja nichts geschenkt bekommen, wir wollen nur unsere Grundbedürfnisse stillen dürfen“ (Gaspar, PB12).

Alle Interviewten sind sich auch darin einig, dass noch nie externe Information über die Industrieabfälle nach Pabellón übermittelt wurden. Die MitarbeiterInnen unserer ForschungsteamsFootnote 20 seien außerdem die ersten, die jemals hier in Pabellón geforscht hätten. Diese wiederholte Aussage ist deshalb besonders interessant, da – wie schon erwähnt – seit 1998 mehrmals (natur-)wissenschaftliche Studien der Tailings durchgeführt wurden, diese aber anscheinend ohne jeglichen Kontakt zu den Betroffenen stattfanden. Auch die Ergebnisse der Untersuchungen wurden den BewohnerInnen von Pabellón nie mitgeteilt. Besonders schwerwiegend ist dies bei einer letzten Studie im Jahr 2017, da hierbei von mehreren Personen Blut-, Nagel- und Haarproben genommen wurden. Die Beteiligten dachten allerdings – laut eigener Aussage – es hätte sich dabei um eine landesweite Routineuntersuchung des Gesundheitsministeriums gehandelt. Aus Gesprächen mit der Mitarbeiterin des Regionalbüros des Umweltministeriums, Isabel Contreras (PS01), geht hervor, dass dabei allerdings die Werte von Schwermetallen im Blut der Betroffenen untersucht wurden, welche im Rahmen der dritten Phase des Forschungsprojekts „Guía metodológica de suelos contaminados“ (siehe Abschnitt 6.4) erfasst wurden. Dieselbe Quelle hat auch bestätigt, dass die Werte der Proben dabei teilweise weit über der Norm lagen. Die Ergebnisse der Untersuchung und die einzelnen Werte wurden seitdem allerdings weder veröffentlicht noch den Betroffenen mitgeteilt. Durch die staatliche Untätigkeit in Bezug auf die Tailings fühlen sich einige der BewohnerInnen vollständig übergangen. Es sei wie „neben dem Feind“ (Gaspar, PB12) wohnen zu müssen. „Es ist ja nicht so, dass wir uns ohne Grund beschweren, diese Tailingdeponie muss unbedingt abgedeckt werden“, meint Gaspar (PB12). Die Regierung müsse das Problem lösen, da die Tailings der umliegenden Bevölkerung schade und der Staat lang genug zugeschaut habe. Isabel Contreras (PS01), die Mitarbeiterin des Regionalbüros des Umweltministeriums, wiederum bezeichnete in unserem letzten Interview 2019, die Umstände, in denen die Bevölkerung von Pabellón lebt -besonders bezüglich des Risikos der Tailings- zwar als bedauerlich, meinte allerdings gleichzeitig es seien doch „nur so wenige“ BewohnerInnen (PS01).

Die Ohnmacht der BewohnerInnen wird meistens von Gefühlen der Verzweiflung, Resignation und Hilfs- und Machtlosigkeit begleitet. Bei den BewohnerInnen, die die Tailings als Risiko wahrnehmen, führt diese staatliche Vernachlässigung, ihre empfundene Machtlosigkeit und die ausbleibenden Handlungsmöglichkeiten, um ihre Lebenssituation und die damit einhergehende Schadstoffbelastung zu verändern, zu einer toxischen Frustration (siehe auch Singer 2011). Dies wird bei der Aussage von Julián besonders deutlich: „das Letzte, was sie tun werden, ist diese Tailings von hier zu entfernen, sie stellen uns nicht einmal Strom und Wasser zur Verfügung, warum sollten sie jetzt auf einmal dieses Problem lösen?“ (PB22). Diese von vielen geteilte Erkenntnis führt auch zur erzwungenen Normalisierung des Themas. Tomás (PB23) erklärt: „wir sind es schon gewohnt hier so zu leben (…) wir fordern nicht mehr viel. Was kann man schon dagegen tun? Man nimmt die Sachen so hin, wie sie sind. Der Staub der Tailings ist schädlich, aber was solls“. Die empfundene Machtlosigkeit wird auch in diesem Interviewausschnitt sehr deutlich: „Ich habe es satt, zum Herrn Bürgermeister zu gehen (…) Niemand hört einem zu, der Bürgermeister hat keine Zeit, hört nicht zu, das ist, als ob…sehen Sie, damit Sie mich richtig verstehen, deutlicher, es ist, als ob es uns nicht gäbe“ (Belén, PB11). Nochmal deutlicher wird es bei Rodrigo (PB19): „Niemand hat sich je um die Leute hier im Dorf gekümmert (…) es ist ein vergessenes Dorf, sie fahren einfach vorbei (…) hier hilft einem keiner“. Sie fühlen sich von den staatlichen Institutionen im Stich gelassen:

„Ich empfinde Machtlosigkeit und auch irgendwie Zorn, wenn man sieht, dass andere Ortschaften vorankommen und die notwendige Hilfe bekommen, die ihre Leute brauchen. Hier passiert das nicht. Statt uns zu helfen, und das gilt nicht nur für staatliche Behörden, sondern auch für alle möglichen anderen Personen oder Unternehmensleiter, sehen sie auf dieses Dorf herab als wäre es Müll. Weil wir wohnen, wie wir wohnen müssen, denken sie, wir seien alle bloß Diebe. So behandeln sie die Menschen, die hier ankommen. Wenn irgendwas verloren geht, dann waren es sicher die Personen aus dieser Ortschaft“ (Rodrigo, PB19).

Auch was die Bergbauunternehmen und die bestehende Umweltregulierung angeht, äußern einige eine wahrgenommene Ungerechtigkeit und vertreten sehr klare Meinungen: „Wir leben arm und in verseuchten Umgebungen, weil den Bergbauunternehmen immer wieder alles gegeben wird, damit diese weiterhin z. B. das Wasser verschmutzen können, was auf diese Weise den Armen weggenommen wird“ (Gaspar, PB12). Julián führt dies noch einmal aus:

„Sie (die Unternehmen) haben das Recht, die Umwelt zu zerstören, Krankheiten zu verursachen, den Menschen zu schaden (…) alles, was die Bergbauunternehmen behaupten, stimmt nicht, sie sind nicht an den Menschen interessiert und die Umweltregulierung ist schlecht, funktioniert nicht, sie ist einfach mangelhaft. Im Bergbausektor wurde alles aufgekauft, da ist viel Geld im Spiel und auch die Leute werden damit eingekauft. Unser Land hat viele Reichtümer, aber sie gehören uns nicht, sie gehören Leuten von außerhalb und die heutige Regulierung trägt dazu bei.“ (Julián, PB22).

BewohnerInnen wie Emilio machen sogar eine direkte Anspielung auf die internationale Arbeitsteilung und die dadurch entstehende ungleiche Verteilung von Umweltbelastungen auf globaler Ebene: „Es ist einfach widerlich, wir leben im reinsten Dreck. Das ist das, was die großen Länder damit auch einkaufen: die Verschmutzung, die die Unternehmen hier hinterlassen“ (Emilio, PB29).

Wahrgenommene sozialökologische Probleme und weitere Schadstoffquellen in Pabellón

Wassermangel und -verschmutzung als dringlichstes (Umwelt-)Problem

Die Belastung durch chemische Substanzen und Schwermetalle, die von Tailings ausgeht, überschneidet sich nicht nur mit sozialen und ökonomischen Ungleichheiten, sondern auch mit anderen ökologischen Problemen, wie im Folgenden dargestellt wird. Am häufigsten wird die Verseuchung des Flusswassers thematisiert. Das Wasser des Río Copiapó, der durch Pabellón fließt, ist nicht nur von der langsamen Ausbreitung der Tailings betroffen, sondern enthält zudem die Rückstände des Bergbaus flussaufwärts sowie der Düngungsmittel und Pestizide der Landwirtschaft. Die fehlende Kanalisation in Pabellón und anderen Ortschaften entlang des Flusses hat zur Folge, dass auch die Filtrierung von Abwasser in den Fluss nicht ausgeschlossen werden kann. Die BewohnerInnen, die größtenteils von dieser Wasserquelle (zumindest zum Putzen, Waschen, Duschen, Gießen, usw.) abhängig sind, berichten, das Wasser würde bei ihren Kindern starken Durchfall hervorrufen, wenn sie dieses zu sich nehmen. Sie stellen oftmals einen direkten Kausalzusammenhang zwischen den Krankheiten und Leiden vor Ort und der schlechten Wasserqualität her.

Ähnlich wie bei den Tailings verfügen sie dabei allerdings nicht über offizielle, nach wissenschaftlichen Standards erhobene Daten dazu. Das fehlende wissenschaftliche Wissen führt hier allerdings weder zu einer Situation toxischer Ungewissheit noch zu toxischer Frustration, wie es bei Tailings der Fall ist. Die BewohnerInnen sprechen von einer „unbestreitbaren Giftigkeit“ des Flusses. Diese Gewissheit hat dazu geführt, dass das Thema mehrmals in der Junta de Vecinos besprochen wurde und die Präsidentin der Junta das Regionalbüro der Gesundheitsministeriums kontaktiert hat. Diese hätten anschließend Proben des Flusses genommen und sich dann allerdings nie wieder gemeldet (Magdalena, PB04). Die Kinder leiden deshalb weiterhin regelmäßig unter Durchfall, erzählt Magdalena. Da das Wasser verunreinigt sei „verbrauche ich hier literweise Chlor, alles wasche ich mit Chlor ab“, versichert Paula (PB24), weil das Wasser, das die Gemeinde ihnen bringt (maximal 1000 Liter pro Woche und nur für die wenigen Häuser, die direkt an der Landstraße liegen), nicht ausreicht und teilweise auch verunreinigt sei. Manche behaupten mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie die großen staatlichen Wassertanklaster mit Flusswasser beladen wurden. Sie gehen davon aus, bei den Wasserlieferungen würde es sich nicht immer um Trinkwasser handeln. Die neuen BewohnerInnen auf der anderen Seite des Flusses bekommen kein Wasser von der Gemeinde und können sich die teuren Trinkwasserkanister (in Wüstenregionen ist Trinkwasser in Chile extrem teuer) meist nicht leisten, weshalb sie auch für den eigenen Konsum auf das Flusswasser zurückgreifen müssen.

Das Thema Wasser hat in den vergangenen Jahren landesweit zu großen Protesten und Bewegungen wie „agua es vida“Footnote 21 geführt (siehe Kapitel 5) und dadurch –für Umweltprobleme– verhältnismäßig große mediale Aufmerksamkeit bekommen. Die allmähliche Sichtbarkeit sowie die stetig spürbarere Knappheit tragen sicherlich auch zur Thematisierung des Wasserproblems in Pabellón bei. Auch in Pabellón sind zunehmende Dürreperioden zu beobachten, dadurch ist es auch ein viel angesprochenes Thema unter den BewohnerInnen. Magdalena (PB04) zeigt uns Fotos aus der Zeit, in der sie nach Pabellón gezogen ist (etwa vor 18 Jahren). Darauf sind große Grünflächen rund um den damals noch funktionierenden Campingplatz zu erkennen. Auf anderen Bildern sieht man Menschen im damals noch hüfthohen Fluss Copiapó oder den ehemaligen Aufarbeitungsbecken der Erze baden. Heute gleicht der Fluss einem kleinen Bach und die Becken sind verlassen und leer.

Die BewohnerInnen von Pabellón verfügen zudem nicht über WasserrechteFootnote 22, die es ihnen ermöglichen würden, auf legale Weise Wasser des Flusses zu nutzen. Die Wasserrechte befinden sich allesamt in Händen der großen umliegenden Landwirtschafts- und Bergbauunternehmen.Footnote 23 Dennoch verfügen die meisten über illegal angelegte Pumpen (siehe Abbildung 6.6), um das Wasser des Flusses in ihre Grundstücke zu befördern. Sie sind Teil der „guerra por el agua“ (Wasserkrieg) bezüglich des Zugangs zu Wasser und der Verteilung dieser lebenswichtigen Ressource. Die Generaldirektion für die Verwaltung von Wasserrechten (DGA) und die lokalen Juntas de VigilanciaFootnote 24 greifen auf starke Sanktionen und hohe Geldstrafen zurück, wenn ein Wasserraub auftritt. Doch nicht nur die möglichen Strafen, sondern auch eine dem Menschenrecht auf Wasser trotzende Rechtslage, erschweren die Kämpfe der lokalen Bevölkerung. Sie verfügen nicht über rechtliche Absicherung oder Werkzeuge, auf die sie ihre Forderungen auf einen Zugang zu (sauberem) Trinkwasser stützen könnten.

Abbildung 6.6
figure 6

(Quelle: Eigenes Foto, 12. Mai 2014 in Pabellón)

Wasserpumpe zur Wasserversorgung aus dem Fluss im Garten von Carlos (CB18).

Pestizide und andere Ursachen für Boden- und Luftverschmutzung

Auch die Landwirtschaft stellt laut den BewohnerInnen ein Problem für ihre Gesundheit und die Umgebung dar. Da viele von ihnen selbst in den landwirtschaftlichen Betrieben arbeiten, sind sie gut über den Einsatz von Düngungsmitteln und Pestiziden informiert. Während die Düngemittel direkt dem Bewässerungssystem eingespeist werden und somit in das Grundwasser gelangen können, werden die Pestizide in unterschiedlichen Perioden des Pflanzenwachstums eingesetzt und breiten sich über die Luft in der gesamten Umgebung aus. In diesen Perioden gibt es manchmal ganze Wochen, in denen die BewohnerInnen vermeiden, ihr Haus zu verlassen, da „ein starker Geruch die verpestete Luft begleitet, kann man die Tage schnell identifizieren“ (Daniela, PB14).

Sogar Jorge Contador (PU02), der Unternehmer von „7 amigos“, übt bei diesem Thema Selbstkritik und gibt zu, dass die Unternehmen nur die staatlichen Normen einhalten, welche vor allem auf die Sicherheit der ArbeiterInnen abzielen. Die BewohnerInnen sind den Pestiziden allerdings den ganzen Tag lang ausgesetzt und er befürchtet, dies könnte ernsthafte gesundheitliche Schäden hervorrufen. Außerdem wird in der Landwirtschaft bis heute ein alter Brauch eingesetzt, um die Pflanzen vor Frost zu schützen: In kalten Nächten werden in den Anbaugebieten Feuer gezündet (wegen fehlendem Brennholz wird dafür in Wüstenregionen auf Plastik, Autoreifen oder Benzin zurückgegriffen). Dadurch entstehen dicke schwarze Rauchwolken, die manchmal tagelang über dem Tal hängen. „An diesen Tagen fällt das Atmen besonders schwer“ (Daniela, PB14). Als Ursache für „schlechte Luft“ werden auch die großen Bergwerke in Tierra Amarilla genannt, die bei ihren Sprengungen und dem Transport der Erze enorme Massen an Staub in die Luft freisetzen (siehe Abbildung 6.7 und 7.1). Die große, staatliche Gießerei von ENAMI in Paipote hat nachgewiesenermaßen einen extrem hohen CO2-Ausstroß und führt mehrmals im Monat zu Umweltwarnungen (siehe Kapitel 7 zu Tierra Amarilla). In den lokalen Nachrichten wird die Bevölkerung an diesen Tagen gewarnt, da sich die giftigen Gase mit dem Wind über das ganze Tal bis Pabellón und weiter ausbreiten.

Viele BewohnerInnen beklagen sich auch über die schlechte Qualität der Böden. In vielen Bereichen der Ortschaft sei es unmöglich, etwas anzupflanzen, ohne dafür fruchtbare Erde von außerhalb zu holen. Hinzu kommen die großen Müllmengen, die sich überall in und um die Ortschaft verteilen. Die Omnipräsenz von Plastik-, Metall- oder anderen Überresten ist im ganzen Ort unübersehbar und sorgt für Empörung unter den BewohnerInnen.

Abbildung 6.7
figure 7

(Quelle: Eigenes Foto, 20. Mai 2014 in Pabellón)

Alles in Pabellón ist mit einer dicken Schicht Staub bedeckt.

All die oben genannten Umweltprobleme werden von ihnen –im Gegensatz zu den Tailings– als dringliche und greifbare Probleme wahrgenommen, die direkten Einfluss auf ihren Alltag haben. Die Überlappung gleich mehrerer Umweltbelastungen mit ihrer gesamtgesellschaftlichen sozialen und ökonomischen Benachteiligung, ihre wahrgenommene Machtlosigkeit und der lokal abwesende Staat, haben direkten Einfluss auf die (in)actions der BewohnerInnen von Pabellón.

6.3.4 Ein ausbleibender Konflikt und fehlende kollektive Handlungen

Bei den meisten BewohnerInnen von Pabellón findet die Tailingdeponie keine besondere Beachtung in ihrem Alltagsleben. Eine kollektive Problemwahrnehmung sowie kollektive Handlungen oder die Möglichkeit der Entstehung eines sozial-ökologischen Konflikts konnten nicht beobachtet werden. Dennoch konnten in manchen Fällen individuelle actions, die mit einer individuelle Gefahrenwahrnehmung einhergehen, beobachtet werden. Ganz allgemein ist allerdings eine generalisierte Tatenlosigkeit gegenüber der Tailings auch unabhängig von der jeweiligen Risikowahrnehmung der Interviewten zu beobachten. Die meisten der BewohnerInnen leben ihren Alltag so, als würden die Tailings nicht existieren. Es handelt sich bei den BewohnerInnen von Pabellón folglich um eine kollektive environmental inaction (Auyero & Swistun 2009). Im Folgenden werde ich kurz auf die wichtigsten Formen und Gründe für diese kollektive Tatenlosigkeit in Pabellón eingehen, die aus den Daten entnommen werden konnten.

Inaction durch Normalisierung und Verdrängung im Alltag

Dass die meisten BewohnerInnen die potenzielle Gefahr der Tailings schlichtweg ignorieren, wird im täglichen Umgang mit ihm deutlich. Viele trocknen die Rosinen direkt auf dem Gelände der Tailings (siehe Abbildung 6.8), obwohl auch andere, entfernter gelegene Flächen dafür zur Verfügung stehen würden. Zudem verlaufen mehrere, frequentierte Wege direkt über die Tailings „um den Weg abzukürzen“, wobei es keinen großen Umweg bereiten würde, die betroffene Fläche zu umrunden. In allen unseren Besuchen konnten wir Kinder auf der Fläche spielen sehen. Immer wieder hatten sich Personen direkt auf der Tailingdeponie mit ihren Zelten niedergelassen. Tomás (PB23) war einer von ihnen und meinte „mein Körper hat sich schon daran gewöhnt, es ist also kein Problem“. Einige weitere BewohnerInnen erzählten uns, dass sie die Tailingdeponie im Alltag für verschiedene Freizeitaktivitäten (Spazierengehen, Lesen, usw.) nutzen. Sie erwähnen, dass außerdem auch häufig Menschen von außerhalb zum Grillen und Baden kommen würden. Dies sei auch nach der Schließung des Campingplatzes noch soFootnote 25. Das feine Material der Tailings sei wegen seiner weichen Konsistenz, als „Strand“ besonders beliebt unter BesucherInnen, erzählt Amaro (PB20). Immer wieder kämen auch Jugendliche mit Motorrädern, um auf den „Dünen“ Tricks und Sprünge zu üben. Von Zeit zu Zeit werden auf der Tailingdeponie Fußballturniere organisiert. Manchmal sind diese spontaner und informeller Art. In anderen Fällen wurden auch offizielle Turniere zwischen den ArbeiterInnen und BewohnerInnen der Gegend organisiert, erzählt uns Jorge Contador (PU02). Wenn das Unternehmen „7 amigos“ Gastgeber sei, würden sie immer diesen Bereich als Fußballfeld zur Verfügung stellen. An diesen Tagen kämen sehr viele Leute von außerhalb zum Zuschauen.

Während die gelegentlichen BesucherInnen nur einmalig den giftigen Stoffen ausgesetzt sind, pflegen die BewohnerInnen eine sehr enge Beziehung zu diesen Materialien. Besonders die Neuen, die direkt auf oder an der Tailingdeponie leben, nutzen diesen als Garten und Hinterhof. Auch die Kinder, die größtenteils im Vorschulalter sind, verbringen viel Zeit im direkten Kontakt mit den Tailings (siehe Abbildung 6.9).

Abbildung 6.8
figure 8

(Quelle: Eigenes Foto, 20. Mai 2014 in Pabellón)

Die Rosinen von Amaro (PB20) werden direkt auf dem Gelände der Tailings getrocknet.

Abbildung 6.9
figure 9

(Quelle: Eigenes Foto, 17. Mai 2014 in Pabellón)

Die Söhne von Magdalena (PB04) und Francisca (CB05) spielen wie gewohnt auf der Tailingdeponie.

Während eines Interviews mit Francisca (PB05) und Magdalena (PB04) schauen wir ihren beiden Söhnen beim Spielen zu. Sie laufen dabei zwischen dem Fluss und der Tailingdeponie hin und her und versuchen, mit Hilfe der Feuchtigkeit möglichst viel „Sand“ an ihre Beine zu kleben. „Manchmal sehe ich, wie er Erde isst (…) manchmal nimmt er den Wasserschlauch und macht sich nass, danach geht er rüber und wälzt sich in der Erde oder macht „angelitos“ (Engelchen). Du müsstest mal sehen, wie er danach aussieht! Er hat die Erde dann sogar in der Nase! Mein Kleiner geht raus und was soll man dagegen tun? Er ist ein Kind! Er muss doch die Natur genießen. Er soll spielen (…) ich lasse ihn einfach machen“ (Francisca, PB05).

„Sie wissen davon, haben es aber nicht in ihrem Bewusstsein“ so definieren Auyero und Swinstun (2007, 2009) die Normalisierung und Verdrängung der Risiken und die daraus folgende inaction im Alltag, die auch bei vielen der BewohnerInnen aus Pabellón zu beobachten ist. Sogar diejenigen wie Gaspar (PB12), die angeben gegen diesen Missstand vorgehen zu wollen, geben zu, im Alltag nichts dagegen zu tun. Dies erklärt, warum der Diskurs der Betroffenen oftmals nicht mit ihren Handlungen übereinstimmt. Die Normalisierung führt dazu, dass die Anwesenheit der Tailings im alltäglichen Leben verdrängt wird. Die oben beschriebene Risikowahrnehmung mancher Interviewter wird also nur auf die Frage hin aktiviert, ist sonst allerdings meist nicht präsent. Da die Tailings schon existierten, bevor die BewohnerInnen dort angekommen sind, kam es auch nicht zur aktiven Auseinandersetzung mit der möglichen Gefahr, die von ihnen ausgehen könnte. Die BewohnerInnen haben erst im Laufe der Zeit davon erfahren, als sich ihre Routinen vor Ort schon eingespielt hatten. Die Normalisierung und Verharmlosung durch andere bspw. staatliche Akteure oder etwa durch den Campingplatz kann gleichzeitig auch zur „Beruhigung“ der Bevölkerung beigetragen haben.

Vermeidung und individuelle (Abwehr-)Praktiken

Doch nicht alle verdrängen die Anwesenheit der Tailings in ihrem Alltag. Einige derer, die die Tailingdeponie als Risiko für ihre Gesundheit eingestuft haben, versuchen, dieses Risiko durch Alltagspraktiken zu minimieren. Die meisten davon geben an, den direkten Kontakt mit den Tailings zu vermeiden. Das tun sie, indem sie die von ihnen als verseucht identifizierte Fläche nicht betreten und ihren Kindern verbieten, dort zu spielen. Einige geben auch an, nichts zu essen, was in der Gegend angepflanzt wurde. Dennoch ist der aufgewirbelte Staub allgegenwärtig, weshalb viele der Häuser außenherum mit feinmaschigen Plastiknetzen versehen sind, um diesen fernzuhalten (siehe Abbildung 6.10). Manche BewohnerInnen, wie etwa Luciano (PB28), haben die Netze sogar um ihr ganzes Grundstück gespannt, um auch die Pflanzen und Tiere vor dem Staub zu schützen. Er hat zudem eine Reihe Bäume um sein Haus gepflanzt, damit diese später die Funktion der Netze übernehmen. Luciano erzählt auch, dass er seine Pflanzen regelmäßig vom Staub befreit und mit Wasser abwäscht.

Abbildung 6.10
figure 10

(Quelle: Eigenes Foto, 20. Mai 2014 in Pabellón)

Um das Haus von Amaro (PB20), Luciano (PB28) und Paz (PB27) sind von allen Seiten feine Netze aufgespannt, um sie vor dem feinen Staub der Tailings zu schützen.

Bei den Frauen, vor allem denjenigen, die im Haushalt tätig sind, wird besonders das Putzen als Abwehrstrategie thematisiert. „Ich putze jeden Morgen alle Möbel und das Esszimmer. Und wie lange bleibt es sauber?! Ich bin fertig damit, putze das Schlafzimmer, mache das Bett und wenn ich zurückkomme, ist schon wieder alles voller Staub und Erde“ (Belén, PB11). Belén verstaut das ganze Geschirr immer direkt nach dem Waschen in abschließbaren Möbeln, außerdem müsse man hier „mit geschlossenen Fenstern leben und ständig putzen (…) allein heute habe ich schon viermal alle Oberflächen abgeputzt“. Sie beschreibt einen regelrechten Kampf gegen den Staub, den sie jeden Tag bewältigen muss. Auch sie hat Netze um ihr Haus gespannt und aufgehört, ihr eigenes Gemüse anzupflanzen. Andere BewohnerInnen erzählen uns von ähnlichen Praktiken und auch manche der Männer, wie Emilio (PB29), betonen, man müsse „ständig putzen und waschen“, um dem Staub etwas zu entkommen. Einige BewohnerInnen verweisen dabei auf die Eigenverantwortung jedes einzelnen, die schädlichen Substanzen fernzuhalten. „Sie (die anderen BewohnerInnen) passen nicht auf sich auf. Man kann es ja vermeiden, von dem her ist es die Verantwortung jedes einzelnen. Es hat vorwiegend mit Selbstsorge zu tun“ (Daniela, PB14).

Neben den oben beschriebenen individuellen Alltagspraktiken sind keine konkreten Handlungen des Widerstands oder Versuche zur Lösung des Problems zu beobachten, auch nicht bei denjenigen BewohnerInnen, die vergleichsweise viel über die Zusammensetzung der Tailings und die daraus resultierende Gefahr für ihre Gesundheit wissen. Singer (2011) erklärt dies durch die toxische Frustration, die zwar ebenso wie die toxische Ungewissheit zur kollektiven inaction führe, allerdings oft durch den individuellen Widerstand gegen die Verseuchung in Form von Alltagspraktiken als „last resort“ begleitet würde. Diese Praktiken blieben deshalb auf der individuellen Ebene, da die Betroffenen keine Alternative oder Möglichkeit der kollektiven Handlung sehen. Sie seien aber trotzdem als eine Form des Widerstandes zu verstehen. Sie würden die Verseuchung und die aus der environmental injustice resultierende Machtlosigkeit nicht einfach hinnehmen und versuchen auf individueller Ebene, diesen „Feind“ im alltäglichen Leben zu bekämpfen.

Weitere Gründe für die inaction

Es gibt auch einen Bewohner, Gaspar, der wie oben erwähnt einmal eine Probe der Tailings analysieren ließ. Sein Ziel sei es, laut eigener Aussage, seine NachbarInnen zu informieren und das Thema stärker vor Ort zu thematisieren. Das sei auch der Grund für seinen Beitritt in die Junta de Vecinos gewesen (er ist der Präsident der neugegründeten Junta, die aus der Abspaltung der Junta der „alten“ entstanden ist). Er möchte die Leute mobilisieren und hat sogar schon die Idee, die Landstraße zu blockieren. Das würde Aufmerksamkeit schaffen, da es direkte ökonomische Auswirkungen hätte, weil die Bergwerke flussaufwärts alle diese Straße nutzen müssten. Außerdem gehöre es zu den wenigen Widerstandsmöglichkeiten einer so kleinen Ortschaft. Mit solchen kollektiven Widerstandsplänen ist Gaspar allerdings allein. Bei späteren Feldforschungen in den Jahren 2017 und 2019, wohnte er nicht mehr dortFootnote 26. Ein von den BewohnerInnen oft genannter Grund für die kollektive inaction ist die fehlende Kohäsion und Organisation der Bevölkerungsgruppe vor Ort. Die oben genannten zwischenmenschlichen Konflikte zwischen den Alten und den Neuen sowie die Spaltung der Junta de Vecinos stellen ein grundlegendes Problem für die Erarbeitung und Durchsetzung gemeinsamer Ziele dar. Die zwei Gruppen vertreten teilweise gegensätzliche Interessen und boykottieren, was geteilte Forderungen angeht, das Mitspracherecht der anderen.

Außerdem sind die meisten BewohnerInnen nicht BesitzerInnen der Grundstücke, auf denen sie wohnen. Besonders diejenigen, die nur zeitweise in Pabellón wohnen, sind nicht bereit, viel Zeit, Energie und evtl. Geld in einen Kampf zu investieren, bei dem es um die Säuberung einer Fläche geht, die ihnen nicht gehört. Auf der anderen Seite sorgen sich besonders die alten BewohnerInnen vor einer Umsiedlung und den Konsequenzen einer „offiziellen“ Risikodiagnose. Der Chemiker Cristóbal Valenzuela (PW01), der seit Jahren mit Betroffenen und ArbeiterInnen des Bergbausektors zusammenarbeitet, erzählt die Verdrängung sei ein sehr häufiges Phänomen bei Menschen, die Angst haben, im Falle eines erhöhten Risikos ihren Job nicht mehr machen zu können oder ihr zuhause verlassen zu müssen. Diese Angst wurde auch in den geführten Interviews immer wieder deutlich. Da der Staat im Normalfall nicht die Rückstände des Bergbaus beseitigt oder das Problem anderweitig löst, sondern der Kosten wegen generell lieber die Bevölkerung umsiedelt, haben viele BewohnerInnen große Sorgen davor, ihr Haus zu verlieren, falls die Verseuchung öffentlich würde. Es sind vor allem diejenigen mit den besten Häusern und den größten Grundstücken, die zwar sehr viel über die Tailings und seine Komponenten wissen, auf die Frage nach dem Risiko aber auf seiner Harmlosigkeit beharren. Bei Betroffenen, die eine starke Ortsgebundenheit aufweisen und deshalb eine räumliche Nähe zu dem Ort wahren (Altman & Low 1992; Hidalgo & Hernández 2011), wird die tatsächliche Risikowahrnehmung aufgrund der kognitiven Dissonanz oftmals nach unten angepasst bzw. relativiert, um den Alltag zu ermöglichen (Festinger 1975; Slovic 2000). Dies konnte besonders bei alten BewohnerInnen beobachtet werden, die sich durch einen hohen Grad an Wissen und gleichzeitig geringer Risikowahrnehmung sowie häufigen widersprüchlichen Aussagen auszeichnen (siehe oben). Etwas Ähnliches konnte auch bei den Unternehmern des umliegenden Traubenanbaus beobachtet werden.

Ein weiterer Punkt, der von den BewohnerInnen zur Erklärung der inaction genannt wird, ist das langsame Eintreten der Folgen für die Gesundheit. Da sich die Konsequenzen der giftigen Substanzen meist erst Jahre später und teilweise auch nur durch jahrelange Exposition bemerkbar machen, sind diese nur schwer wahrnehmbar. Dies wird von den meisten Befragten auch selbst erwähnt. Das Ausbleiben unmittelbarer Wirkungen zwingt nicht zu sofortigen Maßnahmen. Die materielle Unsichtbarkeit und die lange zeitliche Distanz zwischen Ursache und Wirkung lässt auch die direkte Kausalität zwischen den Tailings und der erkrankten Personen verschwimmen. So wird die hohe Krebsrate vor Ort von den meisten Befragten nicht mit den Altlasten in Verbindung gebracht. Auch die behandelnden Ärzte stellen diese Verbindung nicht her, wenn sie nicht wissen, dass die Erkrankten neben Tailings wohnen. Sie nennen den Betroffenen dann andere mögliche Gründe für ihre Leiden (Cristobal Valenzuela, PW01). Auch viele der SaisonarbeiterInnen begründen damit, warum die Tailings für sie ungefährlich seien: sie seien den Chemikalien und Schwermetallen nur über kurze Zeiträume ausgesetzt.

6.4 Die Rolle der Wissenschaft – partiell wiedergewonnenes Wissen über die Tailings in Pabellón

Für die Diagnose eines slow violence Phänomens, das durch die langsame und schleichende Ausbreitung von Chemikalien, Schwermetallen, Gasen, Strahlungen oder anderen „unsichtbaren“ Elementen ausgelöst wird, spielt die Wissenschaft – wie schon angedeutet – eine zentrale Rolle. Da diese Substanzen nicht wahrnehmbar sind, bedarf es wissenschaftlichen Messungen, Richtlinien und Normen, um sie als für Mensch und Natur problematisch oder ungefährlich einzustufen und das Risiko, das von ihnen ausgeht, einschätzen zu können. Für eine gesellschaftliche oder öffentliche Problemwahrnehmung ist dann wiederum das Wissensmanagement und die „Übersetzung“ der Daten in allgemein zugängliche und verständliche Sprache und Richtwerte ausschlaggebend. Umfassende Wissensgenerierung und -verbreitung sind in diesen Fällen der Umweltverseuchung zentral für die Problemdiagnose und die Möglichkeit einer Lösungsfindung. Gleichzeitig führt Wissen aber keinesfalls notwendigerweise zu Handeln oder Lösungen.

Während viele Tailings und Altlasten des chilenischen Bergbaus bisher unerforscht sind – sei es aus mangelnden finanziellen Mitteln der Forschung, wegen politischer und ökonomischer Interessen oder schlichtweg, weil das Wissen über ihre Existenz verloren gegangen ist (siehe Abschnitt 6.2) – wurden zu den industriellen Abfällen in Pabellón schon eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen durchgeführt. In einem explorativen ForschungsprojektFootnote 27 der deutschen Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) zusammen mit dem chilenischen Servicio Nacional de Geología y Minería (Sernageomin), das zum Ziel hatte, „wichtige Informationen zu den möglichen und realen Auswirkungen des Bergbaus in diesem Gebiet (Atacama) zu sammeln und einen Erhebungsvorschlag für spätere Studien zu erstellen“ (Eberle 1998a:5), wurde der Fall Pabellón zusammen mit Totoralillo und Nantoco schon 1998 als hohes Risiko für die Natur sowie für die naheliegende Bevölkerung eingestuft. Darin zeigt sich, dass schon seit Ende der 1990er Jahre wissenschaftliches Wissen über die potenziellen Risiken der Tailings in Pabellón vorhanden ist. Im Folgenden wird die Geschichte der Wissensgenerierung über diese Tailings dargelegt, wobei die Beteiligung unterschiedlicher Akteure an diesem Prozess zu verschiedenen Arten des anerkannten wissenschaftlich Wissens und ihrer potenziellen und realen gesellschaftlichen Wirkung geführt hat.

Wiedergewonnenes Wissen

Im Jahre 1998 wurde in zwei Berichten der BGR in Zusammenarbeit mit dem staatlichen Sernageomin erstmals auf die Dringlichkeit einer baldigen Intervention bezüglich der besonders gefährlichen Tailings hingewiesen. Dabei hatten die Tailings von Pabellón und Totoralillo Priorität. Als besonders kritische Zonen identifizierten die ForscherInnen des BRG und Sernageomin damals die Hauptstadt Copiapó, die Kleinstadt Tierra Amarilla sowie die Orte Totoralillo und Pabellón. Letztere seien wegen ihrer hohen Belastung durch Quecksilber sowie ihrer Nähe zu landwirtschaftlichen Flächen und dem Fluss besonders gefährlich (Eberle 1998a: 17). Nach Schätzungen der Forschungsgruppe wurden in Pabellón und Totoralillo mindesten 185 Tonnen Quecksilber deponiert. „Die Flächen, auf denen sich die Tailings von Pabellón und Totoralillo befinden, sollten so bald wie möglich eingezäunt und ihre Nutzung unterbunden werden“ (Eberle 1998:17). Damals war der Campingplatz noch aktiv und die Fläche wurde massiv zu freizeitlichen und produktiven Aktivitäten genutzt. „In Pabellón muss unbedingt verhindert werden, dass die Tailings weiterhin in den Fluss eindringen, wie es im Juni 1997 passiert ist“. Außerdem werden vertiefende Untersuchungen empfohlen, um das Risiko genauer einschätzen und beheben zu können. Dabei sollten vor allem auch umliegende Böden, Pflanzen und Früchte, sowie Luft und Wasser und somit die Ausbreitung der Verseuchung mitanalysiert werden.

Der damalige Forschungsleiter Walther Eberle betonte „die Ergebnisse des chilenisch-deutschen Projekts zeigen eindeutig, dass die Rückstände des früheren Gold- und Silberabbaus sowie der Aufbereitung dieser Metalle, welche giftige Substanzen enthalten, unsere spezielle Aufmerksamkeit bei der Nutzung der Böden sowie der territorialen Planung benötigen“ (Eberle 1998a:9). Es könne auch davon ausgegangen werden, dass Wasserquellen und landwirtschaftliche Fläche von diesen giftigen Substanzen betroffen seien, heißt es weiter: „Der Bergbau verändert seine natürliche Umgebung durch den Tagebau, die Tailings und die Rückstände der verlassenen Werkanlagen grundlegend. Der Abbau von Metallen bedarf großer Mengen Wasser in seinen verschiedenen Prozessen und trägt gleichzeitig zur Verschmutzung der OberflächengewässerFootnote 28 durch chemische Elemente bei, weshalb später auf Grundwasserspeicher zurückgegriffen werden muss (…) im Transport und dem Mahlprozess werden große Mengen an Staub aufgewirbelt. Während der Verhüttung der Kupferkonzentrate wird Diarsentrioxid und Schwefeldioxid in die Luft freigelassen. (…) Seit 150 Jahren spielt das Quecksilber eine wichtige Rolle im Silber und Goldabbau. Dieses hat sich deshalb in großen Mengen an unterschiedlichen Orten des Tals konzentriert“ (Eberle 1998a: 15). Viele der Kontaminationsquellen des Bergbaus waren den staatlichen Institutionen Chiles somit schon spätestens seit 1998 bekannt.

Zu den wichtigsten Ergebnissen der Untersuchung gehört, dass „die Rückstände und Altlasten des Bergbaus teilweise eine unvorhergesehene und schwerwiegende Bedrohung für die Umwelt darstellen“ (Eberle 1998a:16). Eberle verweist – wegen der fehlenden historischen Archive – auf die dringende Notwendigkeit, die regionalen Dokumente und Literatur zu untersuchen und somit die kritischen Flächen zu identifizieren, zu lokalisieren und zu dokumentieren. Es sei außerdem unumgänglich, ein umfassendes Wissen über die damals angewandten Technologien herzustellen, um sowohl das Volumen als auch die möglichen Gefahren und verwendeten Elemente identifizieren zu können. Eberle spricht damit in diesem Bericht selbst direkt das Problem des kollektiven Vergessens an.

Bei heutigen Anfragen bei Sernageomin sind diese beiden Studien noch immer einigen der MitarbeiterInnen bekannt. Die Verbreitung der Ergebnisse an andere staatliche Behörden ist allerdings schwach ausgefallen. Weder das Umweltministerium, das derzeit ein Kataster der bestehenden Tailingdeponien erstellt, noch das Bergbauministerium nahmen die Ergebnisse in ihrer Arbeit und den veröffentlichten Berichten zur Kenntnis, obwohl die genannten Untersuchungen der Anstoß für zwei Gesetzesentwürfe waren, die 2005 im Kongress eingereicht wurden: Eines zur Behandlung und Sanierung zurückgelassener bzw. besitzerloser Tailings und ein zweites zur Gewährleistung einer regulierten und sicheren Schließung noch aktiver Tailings.Footnote 29 Die Wissensgenerierung führte in diesem Fall also tatsächlich zu einer konkreten Handlung. Allerdings schloss dies keine Handlungen vor Ort ein und zudem war die Wissensverbreitung sehr begrenzt, weshalb die Studien auch damals schon außerhalb des Sernageomin kaum wahrgenommen wurden.

Zurückgehaltenes Wissen

Die Journalistin Francisca Skoknic, die für eine Reportage der unabhängigen Plattform CIPER zur aktuellen Lage der Tailings in Chile recherchiert hat, schreibt in einem Text zur Kooperation des BGR und Sernageomin: „Es gibt Hinweise, dass dasselbe Forschungsteam eine weitere Untersuchung mit dem Namen „Investigación sobre la permanencia del mercurio en el proceso de amalgamación de oro en la pequeña minería de Copiapó“ durchgeführt hat“ (Skoknic 2011). Die Ergebnisse der Studie seien danach allerdings „einfach verschwunden“ und auf Anfrage beim Sernageomin nicht mehr auffindbar. Auch alle von uns interviewten MitarbeiterInnen von Sernageomin bestreiten die Existenz dieser Untersuchung. Eine wiederholte Besichtigungsanfrage der Studie beim Ministerium im Rahmen der vorliegenden Forschung wurde ebenfalls zurückgewiesen. Schließlich ist es Jens Müller (PW02), ein Mitarbeiter des BGR, der zwischen 2001 und 2009 in Chile arbeitete, der im Interview bestätigtFootnote 30, dass die Ergebnisse dieser Studie als geheim eingestuft wurden. „Die damaligen Studien, nach der von 1997, wurden mit der Hoffnung durchgeführt, die Wiederaufbereitung dieser Tailings könne ökonomisch rentabel sein und somit eine Möglichkeit zu ihrer Beseitigung darstellen“, erzählt Müller (PW02). „Der Bericht zu diesen Untersuchungen wurde allerdings nie veröffentlicht (…) das war unmöglich, das Thema war damals viel „zu heiß“ (…) dieser ist nicht der einzige Fall. Es gibt noch andere Ortschaften, andere Daten und weitere Themen, die nie veröffentlicht wurden. Es gibt Themen über die besser nicht gesprochen wird“ (PW02). Die genauen Gründe dafür nennt Müller nicht, er erklärt aber manche Tailings seien viel zu stark verseucht (wie bspw. das in Totoralillo) und andere in ihrer Lösung viel zu komplex, wie etwa die Tailingdeponie OjancosFootnote 31, die mitten in der Großstadt Copiapó liegt.

Wirkliche Lösungen für das Problem der vielen Tailings seien viel zu teuer und deshalb nicht durchführbar, so Müller. „Außerdem gibt es ja auch keine Regulierung, die besagt, wie eine Sanierung aussehen müsste (…) Ehrlich gesagt habe ich das Gefühl, dass Sernageomin sich bei der Veröffentlichung und Verbreitung der Informationen generell schwertut. Dies hat auch des Öfteren zu Problemen mit dem Umweltministerium geführt“, fügt Müller hinzu (PW02). Sogar bei Rückständen nicht mehr aktiver Anlagen haben ökonomische Interessen großen Einfluss auf die Verbreitung oder Geheimhaltung von Informationen. „Das Problem der Wissensverheimlichung kommt immer wieder auf, wenn Interessen dahinterstehen und ehrlich gesagt, ist das fast immer so. Es gibt noch viel dramatischere Fälle als der von Totoralillo oder von Pabellón. Diese werden allerdings streng geheim gehalten (…) dafür wird oft auch auf politischer Ebene Einfluss ausgeübt“ (PW02).

Akademisches Wissen „für die Schublade“

Bis 2010 wurden seitens staatlicher Behörden seit 1998 keine weiteren veröffentlichten Untersuchungen zu den verlassenen Tailings durchgeführt.Footnote 32 Bis dahin sind allerdings Daten von anderen AkteurInnen zu den Tailings in Pabellón erhoben worden. Besonders im Instituto de Desarrollo e Inovación Tecnológica (IDITEC) der Universidad de Atacama haben mehrere DoktorandInnen ihre Forschung der chemischen Zusammensetzung der Böden und Gewässer des Tals gewidmet. Unter der Leitung des Professors Cristobal Valenzuela (PW01) hat etwa Cristián Cortéz im Jahr 2000 den Quecksilbergehalt des Flusses Copiapó untersucht und die Tailings von Pabellón und Totoralillo als zentrale Ursache für den hohen Quecksilbergehalt des Flusses identifiziert. Bei den Proben die Cortéz den beiden Tailings entnommen hat, wurde ein viel höherer Quecksilbergehalt festgestellt als bei den staatlichen Untersuchungen. In Pabellón wurden 544 g/t gemessen und in Totoralillo sogar 887 g/t. Diese Werte seien höchst alarmierend, da die Ausbreitung auf bepflanze Böden und somit auf Pflanzen, die später von Menschen konsumiert werden, nicht auszuschließen sei und zu schweren Gesundheitsproblemen führen könne, schreibt Cortéz abschließend in seiner Doktorarbeit (Cortéz & Silva 2000).

Ein Jahr später untersuchte der Doktorand Ronald Muñoz erneut diese beiden Tailings und kam stellenweise auf Werte über 5000 g/t, mit einem Durchschnittswert von 1200 g/t Quecksilber. Wegen der überdurchschnittlich hohen Werte wurde in beiden Fällen Sernageomin informiert und deren MitarbeiterInnen die Daten zur Verfügung gestellt. Den Ergebnissen wurde damals allerdings keine Aufmerksamkeit geschenkt. Trotz der Einhaltung derselben Standards und der Nutzung derselben Messgeräte, wie sie beim Sernageomin üblich sind, galt die Information nicht als hundert Prozent gültig. Hier ist deutlich zu sehen, dass bei der Wissensgenerierung nicht nur wichtig ist, wie die Information erhoben wird, sondern besonders durch wen. Die Deutungshoheit bezüglich der Schadstoffbelastung durch Chemikalien und Schwermetalle liegt demnach nicht nur bei der Wissenschaft, sondern allen voran bei staatlich generiertem wissenschaftlichem Wissen. Die in diesem Abschnitt aufgeführten Studien könnten deshalb bspw. von den Betroffenen nicht als gültige Quelle herangezogen werden. Eine Ausnahme hierbei sind die Bergbauunternehmen selbst, deren Ergebnisse ohne staatlichen Abgleich als offiziell anerkannt werden. Außerdem haben die Unternehmen oftmals auch direkten Einfluss auf die staatlichen Erhebungen (ausführliche Darstellung im Kapitel 7 zu Tierra Amarilla).

Stille Wissensgenerierung aus Profitinteresse

Gleichzeitig wurden in der Zeit auch verschiedene private Studien zu den Tailings in Pabellón durchgeführt. Ihr Ziel war es, ähnlich wie bei der nicht veröffentlichten Untersuchung des BGR, den Anteil von Edelmetallen (besonders Silber, Gold und Kupfer) in den Tailings nachzuweisen, um die Rentabilität seiner Wiederaufarbeitung zu prüfen. Laut dem damaligen BGR-Mitarbeiter Müller (PW02) handelte es sich im Falle von Pabellón um den möglichen Abbau von mindestens 20 Tonnen Silber. Auftraggeber der Untersuchungen waren bei den darauffolgenden Studien nicht die BesitzerInnen der Tailings, sondern mögliche KäuferInnen. Einer davon war das Unternehmen Sociedad CCM Pabellón, welches die Wiederaufarbeitung von 200.000 Tonnen der Rückstände in der Anlage Farah geplant hatte. Die Proben dieser und weiterer Untersuchungen wurden ebenfalls bei der Universidad Atacama zur Analyse eingereicht. Die Existenz von giftigen Substanzen wurde dabei weder gemessen noch erwähnt und die Ergebnisse der Studien wurden geheim gehalten. Ziel der Untersuchungen war es, herauszufinden wie viel Metall heute noch in den Tailings vorzufinden ist. Der Chemiker Cristobal Valenzuela (PW01), der damals die Messungen durchgeführt hat, erzählt in einem Interview, dass die Tailings in Pabellón zwar noch einen sehr hohen Anteil an Metallen besäßen, es bei heutigem technologischem Stand allerdings unmöglich sei, die Metalle von den großen Mengen an giftigen chemischen Substanzen und Schwermetallen zu trennen, die für die damalige Aufarbeitung verwendet wurden.

Aufgrund der chilenischen Verfassung hat der Staat in solchen Fällen auch nicht die Möglichkeit, die BesitzerInnen (etwa zur Restaurierung oder zum Schutz der umliegenden Bevölkerung) zu enteignen und die Rückstände zu verstaatlichen. Die Risikoursache ist somit zwar ein privates Gut, die Privatperson bzw. das Privatunternehmen kann nach heutiger Regulierung allerdings rechtlich nicht für das Risiko zur Verantwortung gezogen werden, wenn es sich nicht um ein aktives Bergbauunternehmen handelt (siehe Kapitel 5). Das in der Verfassung verankerte „Recht in einer nicht verschmutzten Umwelt zu leben“ (Artikel 19, Kapitel 8), das dem Staat die Aufgabe zuspricht für die Einhaltung dieses Rechts zu sorgen, muss sich dem Recht auf Privateigentum unterordnen. So kommt es auch, das staatliche und internationale Organisationen mehrmals Daten erhoben haben, die nie veröffentlicht werden konnten (siehe oben in diesem Abschnitt), weil etwa die landwirtschaftlichen Unternehmen oder nationale und internationale Bergbauunternehmen – durch die chilenische Rechtslage geschützt – Druck ausüben konnten, um die Verbreitung dieser Daten zu unterbinden, wie Müller (PW02) erklärt und die Mitarbeiterin des Umweltministeriums Isabel Contreras (PS01) bestätigt. Ein weiterer Grund für die vielen unveröffentlichten Studien ist laut Contreras (PS01) das oben genannte Ausbleiben rentabler technischer Lösungen. „Wir wollen die Leute nicht allarmieren, wenn wir ihnen dann keine Lösung anbieten können. Und heutzutage haben wir nun mal keine“ (PS01). Derselbe Grund wird später mehrmals in Interviews mit VertreterInnen des Umwelt- und Gesundheitsministeriums genannt, wenn die wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht an die Betroffenen übermittelt wurden (siehe oben in diesem Abschnitt).

„Offizielles“ Wissen ohne Auswirkungen

Im Jahr 2010 wurde – wie in Kapitel 5 bereits erwähnt– von Seiten des Umweltministeriums die „Guía Metodológica para la Gestión de Suelos con Potencial Presencia de Contaminantes“ durchgeführt. Es handelte sich dabei um ein mehrjähriges Projekt, bei welchem nach einem Wahrscheinlichkeitsprinzip in drei Phasen (1) die potenziell gefährlichsten Tailings ermittelt werden sollten, um dann (2) durch Messungen eine Priorisierung der Fälle (nach chemischer Zusammensetzung, Verseuchungsgrad, Nähe zu Bevölkerung, usw.) vornehmen zu können und anschließend (3) die dringlichsten Fälle zu sanieren. Die technischen Studien wurden hierfür vom Centro Nacional de Medio Ambiente (CENMA) durchgeführt. Von den 20 in der ersten Phase identifizierten und in der zweiten Phase untersuchten Fällen standen die Tailings von Pabellón und Totoralillo erneut auf den ersten zwei Plätzen der verseuchtesten Bergbaurückstände der Region. Mit Quecksilberwerten zwischen 4000 g/t und 8000 g/t „übertreffen sie weitgehend sowohl den von uns festgelegten Basiswert als auch jegliche existierenden internationalen und nationalen Normen“ (CENMA 2011:119).

Die genannten Werte haben Pabellón (zusammen mit Totoralillo) zur absoluten Priorität für die dritte Phase der Studie gemacht, weshalb an diesen beiden Orten als erstes alle drei Phasen des Projekts durchgeführt werden sollten. Dennoch ist bis heute, außer der Erhebung der Daten, nichts davon in die Praxis umgesetzt worden. Nicht einmal die Publikation oder Verbreitung der Ergebnisse seitens des Umweltministeriums ist erfolgt (für die genauen Gründe siehe Abschnitt 6.5 zur staatlichen Tatenlosigkeit). Die Ergebnisse der „Guía metodológica para suelos contaminados“ wurden auch nicht auf Gemeindeebene bekannt gegeben. Die Umweltbeauftragte der Gemeinde Tierra Amarilla, Alejandra Castillo (TB08), erzählt, sie stände zwar im Kontakt mit den regionalen Beauftragten des Umweltministeriums, hätte von diesen allerdings – bis zum Zeitpunkt des Interviews im März 2019 – keine Daten zu den bestehenden, verlassenen oder inaktiven Tailings erhalten.

Es gibt allerdings auch wissenschaftsinterne Gründe für die Schwierigkeiten beim Generieren von Wissen über die Tailings im Rahmen dieser Untersuchung. So beklagen ForscherInnen in einem internen Bericht, den CENMA für das Umweltministerium erstellt hat, besonders das Fehlen einer nationalen Norm und standardisierter Richtwerte, um bestimmen zu können, ob die Konzentration eines Elements ein Risiko für Umwelt und Gesundheit darstellt oder nicht. „Wir müssen Daten generieren, die die gleiche Sprache sprechen“, meint die Forscherin Paula Velóz (PW05), „sonst sind die Ergebnisse der unterschiedlichen Untersuchungen nicht vergleichbar“. Die fehlende Norm würde außerdem „das Verständnis und somit die Arbeit der unterschiedlichen Akteure, die im Umweltmanagement beteiligt sind, erheblich beeinträchtigen“ (CENMA 2011:170). In einem Interview Anfang 2019 bestätigte die Mitarbeiterin des Umweltministeriums, Isabel Contreras (PS01), dass es auch bis heute keine Norm gibt, die die Qualität der Böden festlegen würde. Das Risiko wird auf diese Weise relativiert und kann von jedem Akteur unterschiedlich definiert und interpretiert werden, da kein allgemeingültiger Grenzwert festgelegt ist.

Generelle Probleme der Wissensgenerierung

Fehlende Kommunikation und mangelnde Wissensverbreitung

Bei der Untersuchung des Wissensgenerierungsprozesses zu den Tailings von Pabellón ist immer wieder die fehlende Kommunikation und Kooperation zwischen den unterschiedlichen AkteurInnen zu beobachten. Während zwar alle AkteurInnen über die hohen Kosten der notwendigen Untersuchungen und die aus mangelnder Finanzierung entstehenden negativen Auswirkungen auf die Generierung aussagekräftiger Ergebnisse hinweisen, werden gleichzeitig kaum Informationen zwischen den AkteurInnen bzw. Behörden ausgetauscht, um aufeinander aufbauendes Wissens zu generieren, sondern immer wieder genau dieselben Daten an denselben Orten erhoben. So hat der Chemiker und Forscher Cristobal Valenzuela bspw. erst in unserem Interview von den vorherigen Studien des Sernageomin erfahren, obwohl er seit fast 20 Jahren mit dieser Behörde zusammenarbeitet. Da die verschiedenen staatlichen Behörden (Sernageomin, Umwelt-, Gesundheits- und Bergbauministerium, Gemeinde, usw.) für unterschiedliche Aufgabenbereiche im Umgang mit Tailings verantwortlich sind, wäre eine gute Kooperation ausschlaggebend für die staatlichen Handlungsmöglichkeiten. Den meisten Behörden fehlt allerdings allein schon das Wissen über die Aufgabenbereiche der anderen Behörden. In den Interviews erzählen bspw. MitarbeiterInnen des Umweltministeriums sie seien nicht befähigt, die bestehenden Tailingdeponien zu überwachen und auf ihre Sicherheit hin zu kontrollieren, dies sei Aufgabe des Bergbauministeriums. Dort verweist man allerdings auf Sernageomin als verantwortliche Instanz. MitarbeiterInnen des Sernageomin wiederum verweisen auf die fehlende Regulierung und erklären, sie seien nur zur Kontrolle der physischen Stabilität von aktiven Tailings befähigt, nicht allerdings der verlassenen und inaktiven oder der Überprüfung ihrer chemischen Stabilität. Aus den Schilderungen der Interviewten geht hervor, dass auf diese Weise auch die entsprechenden Berichte häufig an die falschen AkteurInnen weitergeleitet werden und die zuständige Behörde nicht erreichen. Außerdem arbeitet jede staatliche Behörde mit anderen Standards und Erhebungsmethoden, was den Vergleich der Daten sowie konkrete (politische) Handlungsanweisungen und geregelte Handlungsabläufe erschwert.

Ein weiteres Problem ist der häufige Personalwechsel in staatlichen Institutionen, der zu einer Art internem kollektivem Vergessen führt. Alle untersuchten Behörden geben als größte Herausforderung in dieser Hinsicht die Regierungswechsel, die sich in den letzten zwölf Jahren alle vier Jahre ergeben haben, an. Dabei seien jedes Mal eine Großzahl der MitarbeiterInnen und alle Führungspositionen ausgetauscht worden. Es gibt außerdem kein System, um die Kontinuität des generierten Wissens zu gewährleisten, weshalb viele Informationen einfach verloren gehen und sich diese jedes Mal von den neuen MitarbeiterInnen frisch angeeignet werden muss.

Die heterogene Zusammensetzung, die materielle Unsichtbarkeit der Rückstände und das verlorene Wissen über sie, tragen zudem im Wesentlichen dazu bei, dass bei den verschiedenen Untersuchungen sehr unterschiedliche Werte gemessen werden. Dies wird etwa beim Vergleich der Quecksilberwerte zwischen 4000 g/t und 8000 g/t, die CENMA im Auftrag des Umweltministeriums erhoben hat, mit den 1998 gemessenen 300 g/t (die schon als sehr hoch galten) deutlich. Die Wissensgenerierung ist demnach weit davon entfernt, rein objektive Daten hervorzubringen. Es handelt sich dabei vielmehr um einen sozialen Prozess, bei dem sowohl wissenschaftsinhärente Faktoren als auch der Kontext, in dem das Wissen generiert wird, einen erheblichen Einfluss auf die Ergebnisse haben.

Auch die Verbreitung des generierten Wissens über die Tailings beschränkt sich auf die Veröffentlichung der Ergebnisse der Studien. Und obwohl einige der Berichte öffentlich zugänglich sind, werden die Ergebnisse dennoch nicht „übersetzt“ und somit für jeden verständlich dargestellt. Es bedarf an Fachwissen, um diese interpretieren zu können. Dieses Problem besteht sogar zwischen unterschiedlichen Fachbereichen innerhalb der Wissenschaft und auch bei Berichten, die für politische AkteurInnen und VerantwortungsträgerInnen erstellt werden. Bleibt diese Übersetzung aus, können die Daten nicht von Betroffenen oder politischen EntscheidungsträgerInnen genutzt werden. Trotz der vielen wissenschaftlichen Untersuchungen sind die Tailings von Pabellón deshalb heute – 25 Jahre nach Beginn der ersten Studie – immer noch ein unsichtbares slow violence Phänomen, sowohl für politische VerantwortungsträgerInnen als auch für die Betroffenen selbst, wie es in Abschnitt 6.3.2 im Detail dargestellt wurde. Dieses institutionelle Missmanagement, das anschließend an Auyero/Swistun (2008) Konzept der toxischen Ungewissheit unter dem Begriff der toxischen Institutionalität gefasst werden kann, ist folglich dafür verantwortlich, dass selbst äußerst relevantes, existierendes wissenschaftliches Wissen nicht zu Wissen über die Risiken der Tailings unter den Betroffenen oder zu kollektivem Handeln führt.

Untersuchungsleerstellen einer ungewissen Wissenschaft

Alle oben genannten Studien zu Pabellón haben gemeinsam, dass sie ausschließlich die Höhe und die Konzentration unterschiedlicher potenziell toxischer Elemente der Tailings an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt messen. Viel ausschlaggebendere Faktoren für die menschliche Gesundheit, wie bspw. die Dauer, die die Betroffenen den chemischen Substanzen ausgesetzt sind, die Auswirkungen möglicher Kreuzwirkungen durch die gleichzeitige Exposition verschiedener Elemente, Kausalitätsstudien usw. wurden dabei nicht untersucht. Die Herstellung von Kausalitäten zwischen den Krankheiten (in Pabellón etwa eine sehr hohe Krebsrate sowie Erkrankungen des Verdauungstrakts und der Atemwege) und den Chemikalien und Schwermetallen, denen die Körper über lange Zeiträume ausgesetzt sind, ist außerhalb experimenteller Bedingungen (und der Einschränkung anderer Risikofaktoren) – also im realen Leben – wissenschaftlich kaum möglich. Auch wenn nachgewiesenermaßen bspw. eine chronische Arsenvergiftung zu Hauttumoren und Lähmungserscheinungen führt, ist der Zusammenhang zwischen diesen Symptomen und einer nahegelegenen Tailingdeponie zwar höchst wahrscheinlich, kann allerdings nicht mit Genauigkeit nachgewiesen werden, erklärt der Toxikologe Mario Cuevas (CE02). Letzteres wird in den Interviews mit Virginia Pérez (FS02) und Flavia Sanhueza (FS04), zwei Mitarbeiterinnen des Gesundheitsministeriums, mehrmals als Argument zur möglichen Harmlosigkeit der Tailings von Pabellón genutzt: von den Tailings erzeugte Krankheiten in der Bevölkerung können zwar nicht ausgeschlossen, allerdings auch nicht zweifelsfrei bewiesen werden. Es sei unmöglich herauszufinden, ob eine Krankheit von Tailings verursacht worden sei, oder dadurch, dass der/die Betroffene längere Zeit in einem Bergwerk gearbeitet habe oder eine ungesunde Lebensführung aufweise. Wie schwer es für WissenschaftlerInnen ist, diese Kausalitäten und Langezeitfolgen nachzuweisen, wird im späteren Kapitel zum Fall Chañaral detailliert dargestellt.

6.5 Toxische Institutionalität, staatliche (Un)Tätigkeit und abwesender Staat

Die Untätigkeit und Abwesenheit der staatlichen Behörden wurden nun schon mehrmals in diesem Kapitel angedeutet. Das Umweltministerium hat zwar die Erhebung der Daten über die Zusammensetzung der Tailings in Pabellón im Rahmen der „Guía Metodológica para la Gestión de Suelos con Potencial Presencia de Contaminantes“ veranlasst. Nachdem in diesem Fall daraufhin besonders hohe Schadstoffkonzentrationen nachgewiesen werden konnten, wurden diese „kritischen Tailings“ allerdings weder abgedeckt, eingezäunt, saniert, restauriert oder beseitigt, noch wurden die betroffenen AnwohnerInnen oder weitere beteiligte AkteurInnen darüber informiert. Auch die lokalen staatlichen Behörden der Gemeinde Tierra Amarilla sind in Pabellón weder physisch präsent noch ein geeigneter Ansprechpartner zur Lösung ihrer Probleme. In beiden Fällen werden von den Behörden selbst die fehlenden finanziellen und personellen Mittel als Grund für die fehlende Unterstützung der Bevölkerung in Pabellón genannt (PS01, PS06, TB08). Die Finanzierung des Umweltministeriums und der lokalen Regierungen hängt oftmals mit den bestehenden Machtstrukturen und den Einfluss- und Durchsetzungsmöglichkeiten der Interessen großer Unternehmen zusammen, wie anhand der folgenden beiden Fälle von Tierra Amarilla und Chañaral (siehe Kapitel 7 und 8) gezeigt werden wird. Der zentralisierte chilenische Staat ist allerdings auf lokaler Ebene generell abwesend und hat durch die Privatisierung der zentralen Ressourcen und Dienstleistungen und der aktuellen Rechtslage auch nur begrenzte Handlungsmöglichkeiten gegenüber dieser Art von Umweltproblemen.

Obwohl das Wissen über die Schadstoffe sowie deren mögliche Konsequenzen sowohl für die Umwelt als auch für die Gesundheit der anliegenden Bevölkerung in diesem Fall existiert und größtenteils von den staatlichen Behörden erhoben wurde, wird dieses in der Regel nicht an andere AkteurInnen weitergegeben. Die staatliche Tatenlosigkeit wird auch teils von dieser fehlenden Koordination, Kommunikation und Kooperation der unterschiedlichen staatlichen Institutionen und Arbeitsbereiche bedingt, wie sich in diesem Fall zeigt. Die durch diese toxische Institutionalität mangelnde Verbreitung des technischen, offiziellen Wissens, führt auch innerhalb der staatlichen Behörden bei stofflich unsichtbaren Umweltproblemen oftmals zur generellen Unsichtbarkeit des Problems.

Da der Staat nicht über technisch und ökonomisch umsetzbare Lösungsansätze verfügt und die rechtliche Lage den Verursachern keine Verantwortung zuschreibt, ist es allerdings durchaus auch im Interesse der oftmals mittellosen staatlichen Behörden, dieses Problem durch intendierte inaction bedeckt zu halten. Wie oben schon erwähnt, gibt die Mitarbeiterin des Umweltministeriums, Isabel Contreras, (PS01) an, die BewohnerInnen nicht unnötig beunruhigen zu wollen, wenn der Staat ihr Problem dann sowieso nicht lösen könne. Das Wissen wird in diesem Fall absichtlich zurückgehalten, um die möglichen Handlungen anderer AkteurInnen, in diesem Fall der Betroffenen, zu verhindern. Sogar die neue Umweltbeauftragte der Gemeinde Tierra Amarilla, Alejandra Castillo (TB08), die nach dem Regierungswechsel Anfang 2018 das Amt übernommen hat, war weder über die Ergebnisse der Studie noch über das Projekt der „Guía Metodológica“ selbst informiert. Sie wäre allerdings die einzige, direkte Ansprechpartnerin für die Bevölkerung von Pabellón, was das Thema der Tailings anbelangt. Auch im Regionalbüro des Sernageomin wurde nach dem Regierungswechsel ein neuer Direktor angestellt, der auf meine Anfrage hin angab, weder den Fall Pabellón noch die dazugehörigen Untersuchungen zu kennen. Nur die für Tailings verantwortliche Mitarbeiterin, Silvia Marín (PS05), hatte schonmal von der Untersuchung gehört, fügt aber hinzu, dass historische Tailings nicht zu ihrem Zuständigkeitsbereich gehören würden. Staatliche Handlungen bleiben – wie am Fall Pabellón deutlich wird – dort wo es keine kollektive (Risiko-)Wahrnehmung vor Ort noch kollektives Handeln der BewohnerInnen gibt und es nicht zur gesellschaftlichen Sichtbarkeit kommt, vollständig aus. Die oben beschriebene gesellschaftliche Unsichtbarkeit der Tailings und der von ihnen betroffenen Bevölkerungsgruppen bedingt in diesem Fall die staatliche inaction direkt.

6.6 Zweites Zwischenfazit

Sozial-ökologische Probleme werden auf gesellschaftlicher bzw. auch auf politischer, zivilgesellschaftlicher und medialer Ebene meist nur dann wahrgenommen, wenn sie in Form eines katastrophalen Ereignisses –im Fall von Tailings bspw. eines Dammbruchs– oder eines manifesten Konflikts sichtbar werden. Oftmals handelt es sich dabei allerdings nur um die Spitze des Eisbergs eines slow violence Phänomens, welches sich schon lang vor und nach der Sichtbarwerdung unbemerkt auf Körper und Natur auswirkt. Auch in den Sozialwissenschaften werden größtenteils nur Umweltprobleme, von denen ein manifester Konflikte ausgeht, als solche wahrgenommen und untersucht (siehe hierfür Kapitel 9). Der beschriebene Fall von Pabellón ist allerdings deshalb so bedeutend, weil eine Großzahl der bestehenden Umweltkatastrophen ähnlich unsichtbar bleibt und die geschilderte, langsame und schleichende Form der Zerstörung ökologischer Kreisläufe und menschlichen Lebens annehmen (Nixon 2011). Im Gegensatz zu den darauffolgenden Kapiteln ist Pabellón repräsentativ für die große Mehrzahl der Tailingdeponien in Chile.

Allgemeine toxische Ungewissheit und Frustration unter den Betroffenen und ihre generelle inaction

Aus den dargestellten Forschungsergebnissen zum Wissensstand und zur Risikowahrnehmung der Betroffenen können Parallelen zu den Ergebnissen von Auyero und Swistun (2008b, 2009) hergestellt werden. Sie haben eine langjährige Studie in einer Ortschaft Argentiniens durchgeführt, die direkt an eine Ölraffinerie angrenzt. Statt eines manifesten Konflikts gegenüber der größtenteils (selbst)wahrgenommenen Umweltverschmutzung, haben sie unter den Betroffenen ein Phänomen vorgefunden, das sie toxische Ungewissheit genannt haben. Genau wie in Pabellón waren viele der BewohnerInnen in ihrem Fall zwar der Ansicht, langsam vergiftet zu werden, verfügten allerdings nicht über offizielle Daten oder die Mittel, um dies zu bestätigen. Sie fühlen sich somit einer wahrgenommenen Ungerechtigkeit hilflos ausgesetzt. Auch in Pabellón konnte keine kollektive Problemwahrnehmung und somit auch keine lokale Sichtbarkeit des Problems konstatiert werden. Vielmehr wurde eine allgemeine Ungewissheit vorgefunden, die sich zwar in vereinzelten Fällen in Form einer individuellen Risikowahrnehmung äußert, allerdings dennoch von einer generellen environmental inaction (Auyero & Swinstun 2009) begleitet wird. Diese Erkenntnisse sind von entscheidender Bedeutung zur Beantwortung meiner zentralen Forschungsfrage. Wie mit Blick auf die Bevölkerung Pabellóns detailliert dargestellt wurde, ist es nicht möglich, einen direkten Zusammenhang zwischen dem Wissen über die Existenz der Tailings oder die darin vorkommenden Schadstoffe auf der einen Seite und der Wahrnehmung der Tailings als Risiko oder sozialökologisches Problem auf der anderen Seite herzustellen. Das Wissen über die Existenz der Tailings und über deren Ursprung als Abfallprodukt der Bergbauindustrie, über das einige von ihnen verfügen, ist zwar die Voraussetzung für eine Gefahrenwahrnehmung, führt aber weder zwingend zu einer (kollektiven) Risikowahrnehmung noch zu individuellen oder kollektiven actions. Die große Mehrheit der Bevölkerung von Pabellón weist in der Folge keinerlei Praktiken oder Handlungen bezüglich der Tailings auf, kollektive Handlungsformen bleiben zudem gänzlich aus. Die allgemeine Ungewissheit und der fehlende Zugang zu wissenschaftlich generiertem WissenFootnote 33 begünstigen die beobachtete generelle inaction der Betroffenen, mit ihnen allein lässt sich allerdings die kollektive inaction und die allgemeine Unsichtbarkeit der Tailings nicht erklären. Um die Tatenlosigkeit, das Ausbleiben eines manifesten Konflikts und die Unsichtbarkeit der Tailings zu verstehen, sind insbesondere die Lebensbedingungen der BewohnerInnen ausschlaggebend.

Die Überlappung der vielen verschiedenen – für die Betroffenen deutlich wahrnehmbaren – sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme wirkt sich negativ auf die Sichtbarkeit der slow violence aus, die von den Tailings in Pabellón ausgeht und erschwert die Identifikation von Ursachen und Konsequenzen für die Gesundheitsprobleme und der offensichtlichen Schäden in der Natur. Es handelt sich in diesem Fall um eine besonders ausgeprägte Form der environmental injustice (Pulido 1996; Newton 2001), bei der die Bevölkerung die Mehrheit ihrer Grundbedürfnisse nicht, oder nicht ausreichend gestillt sieht. Für diese Forschung ist es außerdem wichtig zu unterstreichen, dass viele der anderen von den BewohnerInnen genannten Umweltprobleme Pabellóns für sie wichtiger, gefährlicher, bedrohlicher und ihre Lösung dringender erscheinen als die Tailings. Die Tailingdeponie steht somit keinesfalls im Zentrum der Antworten auf die Frage zu möglichen Umweltproblemen in der Gegend, sondern wird von vielen eher als Randbemerkung erwähntFootnote 34.

Die Überlappung mehrerer Umweltprobleme und die soziale und ökonomische Ungleichheit, der die Betroffenen ausgesetzt sind, erschwert das Handeln und vor allem die Entstehung kollektiver Handlungsformen gegenüber den Tailings zudem, da sie dadurch weder über offizielle Informationen über die Schadstoffbelastung, der sie ausgesetzt sind, noch über finanzielle Mittel, um diese eigenständig in Auftrag zu geben, verfügen. Der lokal vollständig abwesende Staat und die fehlenden sozialen und ökonomischen Werkzeuge der Bevölkerung von Pabellón, erlauben es ihnen nicht auf diese Probleme aufmerksam zu machen. Es sind Bevölkerungsgruppen, die in der Politik, den Medien und auch in der Wissenschaft kaum einen Platz finden (Nixon 2011). Dies schränkt sowohl ihre Handlungsmöglichkeiten als auch ihre agency (Kräger et al. 2017:100) gegenüber der Schadstoffbelastung, der sie ausgesetzt sind, erheblich ein. Wenn die Betroffenen derart sozial unsichtbar sind, gilt dies meist auch für die sozial-ökologischen Probleme, die sie betreffen.Footnote 35

Aus der oben beschriebenen Ungewissheit über das Risiko, der Gewissheit der eigenen Machtlosigkeit und der daraus entstehenden Ohnmacht resultiert für die große Mehrheit der Bevölkerung die schon erwähnte toxische Ungewissheit (Auyero und Swinstun 2007, 2008a). Singer (2011) hat das Konzept von Auyero und Swistun ausgebaut und den Aspekt der Machtlosigkeit dabei hervorgehoben. Laut seiner Forschung ist dies auch bei Bevölkerungsgruppen zu beobachten, die einen hohen Grad an Gewissheit über die Verseuchung aufweisen, aus ihrer sozialen und ökonomischen Lage heraus allerdings nicht selbst kollektiv gegen sie vorgehen können. Er beschreibt dieses Phänomen, das hier vor allem bei denjenigen, die die Tailings als großes Risiko für ihre Gesundheit und die Natur wahrnehmen, beobachtet werden kann, als toxische Frustration (Singer 2011), durch welche die Betroffenen in vollem Bewusstsein über ihre Benachteiligung der wahrgenommenen Ungerechtigkeit ausgesetzt sind. Die toxische Ungewissheit und die toxische Frustration der marginalisierten und unsichtbaren Betroffenen stellen sich dabei als großes Hindernis für deren kollektive Handlung und somit die Entstehung eines Konflikts dar.

Die ausschlaggebendsten Gründe der Tatenlosigkeit der BewohnerInnen liegen also erstens in der unter Punkt 6.3.2 beschriebenen allgemeinen Ungewissheit (Roberts & Langston 2008) gegenüber den möglichen Risiken, die von Tailings ausgehen, wodurch keine klare Problemdiagnose bzw. keine Lösungsansätze möglich sind. Das fehlende technische Wissen führt zudem zur Unmöglichkeit, die eigene Risikowahrnehmung „offiziell“ nachzuweisen, in diesem Fall aber vor allem zur Verharmlosung der Tailings und trägt somit zur Unsichtbarkeit des Problems als solchem bei. Hinzu kommt zweitens die wahrgenommene Machtlosigkeit und Unsichtbarkeit (siehe 6.3.3) der potenziell Betroffenen gegenüber den VerantwortungsträgerInnen (in Pabellón besonders den staatlichen Behörden), was jegliche Verbesserung der Situation für die BewohnerInnen als aussichtslos erscheinen lässt. Letztlich trägt drittens die Überlappung unterschiedlicher sozialer und ökologischer Ungerechtigkeitsfaktoren (siehe 6.3.3) besonders zur Unsichtbarkeit der Tailings bei, da die BewohnerInnen im alltäglichen Leben für sie dringlichere und wichtigere Probleme überwältigen müssen.

Die beschriebenen Bedingungen wirken sich lähmend auf kollektive Handlungen aus. Gleichzeitig werden die (sozial-ökologischen) Probleme marginalisierter und benachteiligter Bevölkerungsgruppen größtenteils erst durch das Auftreten eines manifesten Konflikts öffentlich sichtbar. VertreterInnen der Zivilgesellschaft, die Medien, politische EntscheidungsträgerInnen und auch (Sozial)WissenschaftlerInnen nehmen slow violence Phänomene größtenteils erst wahr, wenn die Betroffenen dieses eigenständig –durch einen manifesten Konflikt– sichtbar machen (siehe Kapitel 9). Die environmental injustice ist demnach gleichzeitig Bedingung und Konsequenz der Unsichtbarkeit des slow violence Phänomens und führt im Zusammenspiel mit der materiellen Unsichtbarkeit der Tailings zu einem Kreislauf der Unsichtbarkeit, der für die Betroffenen nur sehr schwer zu durchbrechen ist. Da slow violence Phänomene vorwiegend benachteiligte Bevölkerungsgruppen betreffen (Nixon 2011) und die in Pabellón vorgefundene Passivität besonders auf ihre Macht- und Mittellosigkeit zurückzuführen ist, kann daraus geschlossen werden, dass es noch viele weitere unsichtbare und unterkannte Pabellóns gibt.

Wissenschaftliches Nichtwissen und die politischen Konsequenzen

Das in diesem Kapitel beschriebene Problem des Wissensverlustes über die Komponenten und die Zusammensetzung der Industrieabfälle betrifft die große Mehrzahl der besitzerlosen, verlassenen oder inaktiven Altlasten und Tailings des chilenischen Bergbaus (Sernageomin 2020, CENMA 2012). Die beiden Faktoren des durch die Zeit verlorenen Wissens und der materiellen Unsichtbarkeit wirken bei relict industrial waste oftmals zusammen (Frickel 2008) und führen dazu, dass viele der historischen Tailings Chiles nicht mehr auffindbar sind, obwohl sie weiterhin ein großes Risiko darstellen.Footnote 36 Das hat vor allem damit zu tun, dass wissenschaftliche Messungen meist nur dort erfolgen, wo Schadstoffe auch vermutet werden, sie also stofflich sichtbar oder historisch bekannt sind. Um bei technischen Messungen nach den richtigen Elementen zu suchen, die richtigen Werkzeuge anzuwenden und an den richtigen Orten zu messen, bedarf es also des Wissens über die Geschichte der Industrie, die diese Rückstände generiert hat. Der Verlust dieses Wissens ist besonders schwerwiegend, da er die Möglichkeit des sozialen Handelns in jeglicher Hinsicht einschränkt (Frickel 2008, Wehling 2006). Denn erst durch eine Untersuchung können Chemikalien und Schwermetalle nachgewiesen und zum Thema für Staat, Betroffene, Medien, Unternehmen, Wissenschaft, usw. (Vogel 2008) werden.

Das wissenschaftliche Wissen macht im Fall von Tailings gleichzeitig allerdings keineswegs ein „objektives“ Risiko sichtbar. Bei den unterschiedlichen wissenschaftlichen Studien zu den Tailings von Pabellón (siehe Abschnitt 6.4) werden die Schwierigkeiten bei der Wissensgenerierung rund um diese Rückstände deutlich. Sowohl die Ergebnisse als auch die Interpretationen fallen in jeder Untersuchung sehr unterschiedlich aus. Dies liegt einerseits daran, dass Wissensgenerierung und -verbreitung soziale (Aushandlungs-)Prozesse darstellen und darüber hinaus in Chile beispielsweise keine allgemein gültigen Normen und Grenzwerte existieren (siehe Kapitel 5), andererseits aber auch an der geschilderten materiellen Unsichtbarkeit, den bestehenden Wissenslücken durch das kollektive Vergessen und dem wissenschaftsinhärenten Nichtwissen bezüglich der in Tailings enthaltenen Chemikalien und Schwermetalle (Vogel 2008; Wehling 2006:11,19; Wynne 1992:115). Wenn es um chemische Stoffe und deren Wirkung auf den Menschen geht, besteht innerhalb der Naturwissenschaften noch ein hoher Grad an Ungewissheit und Nichtwissen (Roberts & Langston 2008; Wehling 2011). Sowohl ihre Langzeiteffekte als auch die Wechselwirkungen bei der Kombination verschiedener Chemikalien sowie die verschiedenen Ausbreitungsmechanismen auf Umwelt und Körper, sind weitgehend noch unklar (Vogel 2008). Die wissenschaftliche Praxis ist auf diese Weise auch in Pabellón direkt an der Produktion von Unbestimmtheit bezüglich der Tailings beteiligt. Identität, Umgang und Regulierung von Chemikalien entstehen allerdings aus dem Wissen, das über sie besteht (Fischer 2014). Wenn gleichzeitig in einem Land wie Chile keine Richt- und Höchstwerte für die Konzentration dieser Chemikalien und Schwermetalle in Böden, Luft, Wasser oder Körpern existieren, kann auch keine eindeutige Gefahr erkannt und kein Risiko berechnet werden. Das erhobene Wissen kann so unterschiedlich gedeutet und die Ergebnisse je nach Eigeninteresse ausgelegt werden. Ohne wissenschaftliche Belege oder die Möglichkeit diese zu interpretieren sind materiell unsichtbare und vergessene Umweltprobleme, wie die Tailings von Pabellón, also nicht adressierbar oder werden zumindest nicht als solche anerkannt. Paradoxerweise wirken sich die Faktoren des kollektiven Vergessens, der materiellen Unsichtbarkeit und der unsichtbaren Betroffenen wiederum negativ auf die Wissensgenerierung selbst aus: etwas Vergessenes und Unsichtbares wird selten zum ForschungsgegenstandFootnote 37. Sie begünstigen das der Wissenschaft inhärente ungewusste Nichtwissen über Tailings (Wehling 2006:11; Wynne 1992:115) sowie die wissenschaftliche Produktion von Unbestimmtheit und tragen auf diese Weise wesentlich zur gesellschaftlichen Unsichtbarkeit der slow violence, die von ihnen ausgeht, bei.

Außerdem wird an diesem Fall deutlich, dass Wissenschaft niemals gänzlich interessenneutral ist und durch ihren anerkannten Wahrheitsanspruch auch zur Manipulation und der Durchsetzung der eigenen Interessen genutzt werden kann (dies wird später ausführlich an den folgenden zwei Fällen in Kapitel 7 und 8 dargestellt). Die materielle Unsichtbarkeit und die allgemeine Ungewissheit ermöglichen es, bestimmten AkteurInnen wichtige Informationen unbemerkt zurückzuhalten und dadurch einen möglichen Widerstand der Betroffenen zu verhindern. Die bei slow violence Phänomenen übliche, räumliche und zeitliche Verschiebung zwischen Ursachen und Konsequenzen (siehe auch Nixon 2011:41) –bspw. eine erst Jahre später eintretende Krankheit–erschwert die Herstellung von Kausalitäten und ermöglicht es den doubt producers (Nixon 2011:40), die wissenschaftlichen Erkenntnisse nach eigenem Bedarf auszulegen. Auch die Nutznießer und Verursacher der Produktion dieser Rückstände fallen im Fall von Pabellón sowohl räumlich (Metalle für den Export) wie zeitlich (bis vor über einem halben Jahrhundert) auseinander. Die Herstellung von Kausalitäten zwischen Verursachern und Betroffenen ist – ebenso wie zwischen Ursache und Wirkung – heute in Pabellón nicht mehr gänzlich möglich. Die Folgen des Bergbaus bleiben allerdings – wie in diesem Fall – meistens über viele Generationen bestehen, was wiederum auch die Wahrscheinlichkeit des Eintretens des oben beschriebenen Wissensverlusts erhöht.

All diese Faktoren tragen dazu bei, dass die politischen Aushandlungsprozesse und Entscheidungen über die Nutzung dieser Flächen sowie der Umgang und die Regulierung dieser Tailings im Allgemeinen in hohem Maße auf Basis von allgemeiner Ungewissheit geführt werden (Nash 2008; Wehling 2011; Roberts und Langston 2008) und teils kaum eine wissenschaftliche Grundlage besitzenFootnote 38, wodurch eine Governance des Nichtwissens (Wehling 2011) entsteht. Sowohl staatliche als auch private AkteurInnen der Wissensgenerierung haben in diesem Fall außerdem weder für eine gute Verbreitung ihrer Ergebnisse gesorgt noch die Betroffenen über die potenzielle Gefahr informiert. Es wurden auch keine konkreten Handlungen zur Eindämmung oder Beseitigung des von den Tailings in Pabellón ausgehenden Risikos unternommen. Aus unterschiedlichen Gründen wurde das generierte Wissen teilweise sogar zurückgehalten. Die Entstehung von Wissenslücken durch das Zurückhalten von technischem Wissen über unsichtbare Schadstoffe wird in der Literatur (siehe u. a. Allen 2008) als sehr üblich beschriebenFootnote 39. Diese toxische Institutionalität der staatlichen Behörden, die sowohl in ihrem Wissensmanagement als auch im Umgang mit den Tailings beobachtet wurde, geht teilweise auch mit einer intendierten inaction einher, wodurch auf keine der bisher durchgeführten Untersuchungen je eine konkrete staatliche action gefolgt ist. Gleichzeitig sind in Pabellón die staatlichen Behörden die einzigen Akteure, die über die notwendigen Mittel verfügen, um einerseits technisches Wissen zu generieren, das später als offizielle anerkanntes Wissen gültig ist oder um andererseits das durch die Tailings verursachte Umweltproblem zu lösen. Besonders die inaction der staatlichen und wissenschaftlichen Akteure hat deshalb zur Konsequenz, dass die Tailings in Pabellón – trotz all des bestehenden Wissens über ihre Zusammensetzung – bis heute auch für viele Betroffene weiterhin unsichtbar und ungelöst ist. Außer unverbindlicher internationaler Normen gibt es derzeit nichts, was staatliche Akteure im Fall von historischen Tailings zum Handeln veranlassen würde, weder Gesetze noch Regulierungen. Dies hat besonders schwerwiegende Konsequenzen, wenn das kollektive Vergessen und die materielle Unsichtbarkeit es den BewohnerInnen erschweren, die Tailings und ihre möglichen Konsequenzen eigenständig zu bemerken und der Entstehung eines sozialökologischen Konflikts, als (einzige) Möglichkeit der öffentlichen Sichtbarkeit des Problems, im Wege steht.

Das Zusammenspiel des kollektiven Vergessens und der materiellen Unsichtbarkeit der Tailings spielt somit sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene eine zentrale Rolle, was ihre gegenwärtige gesellschaftliche Unsichtbarkeit als zu lösendes Umweltproblem anbelangt. Es beschränkt die heutige Wissenslage, trägt zur allgemeinen Ungewissheit bei und stellt sich als großes Hindernis dar, was die Risikoeinschätzung sowohl der Betroffenen als auch der wissenschaftlichen und staatlichen Institutionen angeht. Dies führt zu erheblichen Wissenslücken, Fehleinschätzungen und teils sogar kontraproduktiven Lösungsversuchen aller beteiligten AkteurInnen. Aus dem oben Beschriebenen wird gleichzeitig deutlich, dass die reine Wissensgenerierung ohne ein angemessenes Wissensmanagement und eine Wissensverbreitung kaum Auswirkungen auf die (Risiko-)Wahrnehmung und die Sichtbarkeit des sozial-ökologischen Problems hat. Der beschränkte Zugang zu bereits generiertem Wissen und die fehlende „Übersetzung“ der Daten erschwert zudem die Risikodiagnose und somit auch die Handlung der beteiligten AkteurInnen. Die materielle Unsichtbarkeit der Tailings ermöglicht und bedingt also im Fall von Pabellón sowohl die allgemeine Ungewissheit der Betroffenen (siehe Abschnitt 6.3.2), das Nichtwissen und die Wissenslücken im technischen Wissen, das über sie besteht (siehe Abschnitt 6.4), als auch die inaction der staatlichen Institutionen (siehe Abschnitt 6.5) wesentlich.