In diesem Kapitel wird das methodische Vorgehen meiner empirischen Forschung detailliert beschrieben, um sowohl die Erhebung als auch die Analyse der Daten sowie deren Aussagekraft und Reichweite für den/die LeserIn nachvollziehbar zu machen. Nach einer kurzen einleitenden Vorstellung der Forschung wird im Abschnitt 4.1 die qualitative Methode der Grounded Theory kurz dargestellt und die eigene Positionierung innerhalb der Methodologie beschrieben. Anschließend erfolgt im Abschnitt 4.2 die Darlegung der Datenerhebung, des Feldzugangs, der Fallauswahl sowie der Kriterien und Dimensionen der Fallauswahl. Abschnitt 4.3 widmet sich der Beschreibung der gewählten Erhebungsmethoden, um dann in Abschnitt 4.4 näher auf die Auswertung, Kodierung und Datenanalyse einzugehen. Abschließend folgen in Abschnitt 4.5 einige politisch-ethische Überlegungen zur Rolle der Forscherin im Feld.

Bei der vorliegenden Forschung handelt es sich um eine qualitative Forschung, die sich an der Grounded Theory-Methodologie orientiert. Die Entscheidung zu einer rein qualitativen Forschung ist einerseits der Forschungsfrage geschuldet, andererseits aber auch dem Untersuchungsgegenstand an sich. Die Forschung ist primär explorativ, gleichzeitig geht das Forschungsinteresse über eine rein deskriptive Gegenstandsbeschreibung hinaus. Prozesse und Mechanismen, Macht- und Herrschaftsverhältnisse, teils unsichtbare Ereignisse und Phänomene sowie die Erforschung vom „Nicht-Vorhandenem“ wie etwa dem Nichtwissen, unsichtbaren Materialien und Verhältnissen, latenten Konflikten oder der inaction, lassen sich nicht durch einen standardisierten Fragebogen erheben. Es bedarf der genauen Beobachtung des Feldes und langen Gesprächen, Erklärungen und Erzählungen seitens der Interviewten, um diese „entdecken“ zu können. Die zu untersuchenden Phänomene müssen oftmals aus den erhobenen Daten extrahiert werden und entwickeln sich meist erst im Laufe längerer Gespräche mit den Interviewten. So wurde eine qualitative Untersuchung durchgeführt, in der die Entdeckung neuer Zusammenhänge und die Weiterentwicklung der bestehenden Theorien bis zum Schluss möglich bleibt (Legewie 1995). Das Vorwissen über den Forschungsgegenstand spielte allerdings eine besonders wichtige Rolle. Deshalb wurde die bestehende Literatur und die in vorhergehenden Forschungen selbst erhobenen und analysierten Daten verwendet, um die vorgestellte Heuristik zu entwickeln (siehe Kapitel 3) und die sensibilisierten Konzepte, auf die die Aufmerksamkeit dieser Forschung gelenkt wird, zu erstellen.

Es wurde anfangs kein festgelegter Untersuchungsplan erstellt, da dieser der besonderen Stärke qualitativer Studien nicht gerecht werden kann, nämlich der Offenheit für neue und unvorhergesehene Phänomene und Zusammenhänge (Legewie & Schervier-Legewie 1995). Deshalb nähere ich mich dem Untersuchungsgegenstand in einem „dialogischen Prozess“, der die Basis der Grounded Theory darstellt. Diese Forschungsstrategie ermöglicht es auf der Grundlage von empirischen Daten, eine Theorie zu „entdecken“ oder die bestehende zu erweitern. Der Ausgangspunkt war die Entwicklung der drei sensibilisierten Konzepte – (Nicht-)Wissen, (Un-)Sichtbarkeit und (in)action – anhand der Indikatoren der bereits erhobenen Daten,Footnote 1 die anschließend wieder am Forschungsgegenstand überprüft und erweitert werden. Der Forschungsprozess wurde nach dem Sättigungsprinzip so lange fortgeführt bis schließlich keine neuen Erkenntnisgewinne mehr auftauchten. Die hier angeführten Forschungsschritte und -entscheidungen sind größtenteils erst im Laufe der Forschung entstanden und waren nicht a priori festgelegt.

Untersucht wurden dabei drei von Industrieabfällen des Bergbaus stark betroffene Ortschaften (Pabellón, Tierra Amarilla und Chañaral) im Norden Chiles. Die Auswahl der drei Fallstudien zielte darauf, eine möglichst breite Varianz des zu untersuchenden slow violence-Phänomens zu erfassen, um einen guten Überblick zu erlangen und die größtmögliche Anzahl der unterschiedlichen Mechanismen, die zur Unsichtbarkeit dieser sozial-ökologischen Probleme führen, beobachten zu können. Die genauen Kriterien hierfür können im Abschnitt 4.2 und Kapitel 5 nachgelesen werden. In allen drei Fällen wurden qualitative leitfadengestützte Interviews sowohl mit der betroffenen Bevölkerung als auch mit MitarbeiterInnen zuständiger staatlicher Behörden, der Zivilgesellschaft und der Unternehmen sowie mit WissenschaftlerInnen und ExpertInnen geführt. Dies geschah sowohl auf lokaler, regionaler als auch nationaler Ebene. Außerdem wurde in allen drei Fällen jeweils mindestens eine mehrwöchige Feldforschung mit teilnehmender Beobachtung durchgeführt und durch Feldnotizen und fotografische Aufzeichnung festgehalten. Die erhobenen Daten wurden anschließend immer wieder durch Dokumenten-/Sekundärdatenanalysen ergänzt und vervollständigt. Aus letzteren wurde auch jeweils eine kurze geschichtliche Kontextualisierung der einzelnen Fälle am Anfang der Kapitel 6, 7 und 8 erstellt.

Forschungsheuristik

Die im letzten Kapitel dargestellte Heuristik ist aus den theoretischen Vorkenntnissen, den bestehenden Forschungslücken, aber vor allem aus den gewonnenen Erkenntnissen einer vorhergehenden Untersuchung des Untersuchungsfalles Pabellón (siehe oben) entstanden. Die drei Kategorienpaare Wissen/Nichtwissen, action/inaction und Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit stellen den Kern der Forschung dar und nutzen der Erstellung der jeweiligen Interviewleitfäden, der Ordnung der Feldnotizen und der späteren Datenauswertung. Diese Heuristik (siehe Kapitel 3) fungiert als Gerüst, entlang dem die Forschung aufgebaut ist. Sie legt allerdings weder das Forschungsinteresse noch die folgenden Schritte insofern fest, dass Abweichungen im Laufe der Untersuchung unmöglich wären. Nach den ersten Feldkontakten entwickelte sich die weitere Forschung ganz im Sinne der Grounded Theory (siehe Abschnitt 4.1) in einem ständigen dialogischen Prozess zur Empirie, wodurch auch neue Kernkategorien entstehen können (etwa durch Abduktion, siehe Reichertz und Wilz 2016: 61) und wichtige Daten zur Einbettung dieser Kategorien gesammelt werden. Die drei sensibilisierten Konzepte und ihre Antonyme bilden drei Konzeptpaare, innerhalb derer sich die Auswertungskategorien befinden. So gibt es nicht etwa nur solche Daten, die auf das Vorhandensein des Wissens bzw. die vollständige Abwesenheit von Wissen über ein Phänomen hindeuten, sondern eine große Palette an Wissensformen, -inhalten und -graden, die sich in einem Kontinuum zwischen den zwei Extremen befinden und auf diese Weise ordnen und einzeln analysieren lassen.

4.1 Die Grounded Theory und ihre Grundannahmen

Eine auf den erhobenen Daten gründende (grounded) Theorie (Legewie & Schevier-Legewie 2011: 72) benötigt ein wissenschaftliches Vorgehen, das das „emergieren“ aus den Daten ermöglicht. „Grounded Theory ist demnach keine Theorie als solche, sondern eine Methodologie, um in den Daten schlummernde Theorien zu entdecken“ erklärt einer seiner Mitgründer Anselm Strauss im Interview (Legewie & Schervier-Legewie 1995: 70 f.). Die Grounded Theory (GT) ist eine Methodologie der qualitativen Sozialforschung, die durch ihre strukturelle „Offenheit“ einen breiten Anwendungsbereich aufweist (Reichertz & Wilz 2016:48). Durch die Verwendung der Grounded Theory ist weniger eine bestimmte Form des Arbeitens vorgegeben als vielmehr eine Reihe allgemeiner Prinzipien, die als Leitlinien der Forschung dienen. Die programmatisch elementare Offenheit der GT zielt dabei darauf ab, Forschung als kreativen Prozess anzuerkennen (Equit & Hohage 2016: 9). In dieser Hinsicht ist es auch nicht verwunderlich, dass sich mit der Zeit verschiedene Strömungen bzw. Auslegungsformen der GT herausgebildet haben. Einen Konsens gibt es allerdings über folgende Aspekte, die als minimaler Rahmen einer als Grounded Theory geltenden Forschung gesehen werden können: a) Die Art des Kodierens ist theoretisch, sie geht also über die reine Klassifikation oder Beschreibung der Phänomene hinaus und bildet direkt theoretische Konzepte, die einen Erklärungswert besitzen; b) Es liegt die Anwendung des theoretischen Samplings vor, wobei die Auswertung schon nach dem ersten Interview beginnt und ein ständiger Wechselprozess zwischen Datenerhebung und Auswertung stattfindet. Während des ganzen Forschungsprozesses wird diese fortgeführt, es werden Memos geschrieben und Hypothesen formuliert. Diese bestimmen dann wiederum die Auswahl der nächsten InterviewpartnerInnen und den weiteren Verlauf der Forschung; c) Es werden Vergleiche zwischen den Phänomenen und den Kontexten hergestellt, wodurch dann die theoretischen Konzepte entstehen. Wenn diese Elemente zusammenkommen, handelt es sich laut Strauss um die GT-Methodologie (Legewie & Schevier-Legewie 2011: 75 ff.). Przyborski und Wohlrab-Sahr (2014: 199) fügen als weitere Grundprinzipien der GT neben der theorieorientierten Kodierung und der Orientierung am permanenten Vergleich noch das Schreiben theoretischer Memos entlang des gesamten Forschungsprozesses sowie die Relationierung von Erhebung, Kodieren und Memoschreiben als Struktur des Forschungsprozesses und Basis der Theorieentwicklung hinzu.

Ziel ist es auf diese Weise einerseits die Veränderbarkeit der Phänomene, die untersucht werden, zu betonten und dieser durch eine prozessuale Methode, die solche Veränderungen fassen kann, gerecht zu werden. Andererseits beruht die GT auf einem handlungstheoretischen Prinzip, das sich sowohl gegen deterministische als auch strikt nichtdeterministische Vorstellungen wendet, weshalb auch die Bedingungen, unter denen die Akteure handeln, ihre Handlungsoptionen sowie die Entscheidungen der Akteure und deren Konsequenzen erfasst werden müssen (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014:198 f.).

Bei den oben genannten Grundprinzipien handelt es sich um die unverzichtbaren Kernelemente, die eine Forschung zu einer Grounded Theory werden lassen. Alle weiter unten genannten und in dieser Forschung angewendeten Methoden wurden demnach nicht nur auf ihre Effektivität bezüglich des hier zu beantwortenden Forschungsinteresses geprüft, sondern auch auf ihre Kompatibilität mit der GT. Die Grounded Theory stellt somit sowohl den Forschungsrahmen sowie einen bestimmten Werkzeugkasten zur Verfügung, aus dem heraus die unten dargestellte Arbeitsweise erstellt wurde. Berücksichtigt wurden entlang des gesamten Forschungsprozess zudem jene Gütekriterien, die für die Sozialwissenschaften im Allgemeinen, aber besonders für die Grounded Theory gelten (für die gesamte Liste der Kernkriterien siehe Breuer 2010: 109 f. und Flick et al. 2010:319).

Eigene Positionierung innerhalb der Grounded Theory

Die GT kann in etwa fünf nicht trennscharf zu unterscheidende Varianten oder Generationen unterteilt werden. Reichertz und Witz (2016:50 ff.) differenzieren zwischen einer induktiv orientierten, der klassischen, der codeorientierten, einer konstruktivistischen und einer postmodernen Variante. Die vorliegende Forschung orientiert sich an der klassischen Grounded Theory von Anselm Strauss, die aus der theoretischen Abspaltung der zwei Gründerväter der GT Barney Glaser und Anselm Strauss resultierte. Strauss problematisiert die ursprüngliche Annahme, die neuen Konzepte und Theorien würden ohne das Zutun der ForscherInnen aus den Daten emergieren. Er distanzierte sich im Laufe der Zeit von dieser sehr positivistischen Annahme und räumte den Einfluss des theoretischen Vorwissens und dessen Relevanz bei der Interpretation der Daten ein (Reichertz und Wilz 2016: 49 f.). Bei dieser Variante der GT entstehen die Konzepte und Theorien in einer „zirkulären, durch ständigen Vergleich angestoßenen hin und her Bewegung zwischen Theorieaneignung, Datensammlung und Datenauswertung (Reichertz und Wilz 2016:50). Teilweise wird dieser Ansatz von dem konstruktivistischen von Kathy Charmaz ergänzt, die neben einer Kritik an früheren induktionistischen Vorgehen und der Leistungsfähigkeit der Kodierroutinen, vor allem die Forschungsarbeit als sozialen und deshalb immer perspektivgebundenen und kommunikativen Prozess versteht (Reichertz und Wilz 2016: 51). Die von Charmanz geprägte Variante wird hier ergänzend zur klassischen Variante angewandt, da sie direkt an eines der Konzeptpaare der Heuristik dieser Forschung – Wissen/Nichtwissen – anschließt und den Bezug zur Wissens- und Wissenschaftssoziologie herstellt (Reichertz und Wilz 2016:51).

Die „klassische“ GT (Reichertz & Wilz 2016:56) oder die pragmatische Ausrichtung der GT (Equit & Hoage 2016:14 f.) von Anselm Strauss ist dadurch gekennzeichnet, dass sie vorwiegend der Entdeckung einer Theorie und nicht ihrer Überprüfung dient, sie ist vielmehr eine Methodologie, als eine Methode. Das Entdecken und das Überprüfen von Theorien stellt für Strauss ein und denselben Prozess dar, da davon ausgegangen wird, dass eine gute Theorie nur mit und durch gute Daten zu entdecken ist. Die Wahrheit lässt sich demzufolge nicht aus abstrakten Begrifflichkeiten gewinnen. Begriffe und Theorien müssen immer auf ihre praktische Relevanz überprüft werden (Equit & Hohage 2016:15). Die (grounded) Theorie muss folglich möglichst nah an der Praxis bleiben, die sie zu greifen und zu beschreiben versucht. Gleichzeitig ist die GT von Strauss auch keine Methodologie im strengen Sinne, die eine genaue und strenge Abfolge bestimmter Methoden der Datensammlung, -fixierung und -analyse vorgibt. Sie ist eine Ansammlung verschiedener Praktiken und Techniken, die für eine angemessene Sammlung und Auswertung von Daten geeignet ist (Reichertz und Wilz 2016: 56). Alles in allem ist die GT also vor allem eine Forschungsstrategie mit einem Werkzeugkasten, aus dem man sich bedienen kann.

Für Anselm Strauss ist jede Form von Beobachtung und jede Entwicklung von Theorie notwendigerweise theoriegeleitet, weshalb das Kennen vieler Theorien im Gegenstandsbereich und darüber hinaus von Vorteil für die Forschung ist. Die theoretische Sensibilität wird zwar in allen Varianten der GT erwünscht, sie wird allerdings unterschiedlich verstanden und eingesetzt. Im Gegensatz zu Glaser, der einen positivistischen Ansatz vertritt, verwirft Strauss die Annahme, dass es möglich wäre, die Realität nur durch die Anwendung der richtigen Methoden objektiv aus dem erhobenen Material abzuleiten. Die pragmatische Perspektive von Strauss überwindet damit den „naiven“ Empirismus (Equit und Hohage 2016:17) und räumt die Unmöglichkeit eines neutralen Beobachtungsstandpunktes, von dem aus die (soziale) Wirklichkeit und die zugehörigen Strukturen unvoreingenommen erfasst werden könnten. Deshalb ist besonders die handelnde Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und die Reflexivität der Forschenden im Forschungsprozess ausschlaggebend und wünschenswert (Equit & Hohage 2016: 17). Strauss hebt außerdem die Relevanz des Kontextwissens hervor. Wenn Erfahrungen und persönliche Daten einen Beitrag zu Erkenntnis leisten, sollten sie nicht ausgeblendet werden. Auf diese Weise können später konzeptuell dichte und sorgfältig aufgebaute Theorien formuliert werden (Reichertz & Wilz 2016: 59).Footnote 2 Anselm Strauss‘ Variante der GT resultiert aus der Erkenntnis, dass ein rein induktives Verfahren der GT nicht möglich ist. In dieser Hinsicht wird in der GT von Anselm Strauss ausdrücklich auch das theoretische und kontextuelle Vorwissen der Forschenden miteinbezogen. Allerdings ist auch die Abduktion durchaus explizit erwünscht. Auf diese Weise sind zwei geistige Operationen vorhanden: die Identifizierung von Ähnlichkeiten (Verwendung bereits bekannter Kodes beim Kodieren) und das Auffinden des Neuen (wodurch neue Kodes geschaffen werden). Das heißt, dass die GT von Anselm Strauss sowohl die qualitative Induktion (Ordnung der Kodes/Konzepte der Daten zu bereits vorhandenen) sowie die Abduktion (bereits Bekanntes reicht nicht zur Erklärung; etwas Neues muss erfunden werden) beinhaltet.

4.2 Feldforschungsarbeit und Datenerhebung

Bei allen Feldforschungen, die zwischen 2014 und 2019 geführt wurden, sowie in allen drei Untersuchungsfällen, wurde ein ähnliches Forschungsverfahren angewandt. Die zentralen Erhebungsmethoden stellten dabei die (teilnehmende) Beobachtung und Interviews dar (siehe Abschnitt 4.3). Waren die ersten Kontakte hergestellt und konnte ein guter Feldzugang gewährleistet werden, wurden alle weiteren Entscheidungen erst vor Ort und abhängig von den erstmals erhobenen Daten getroffen. Die Daten wurden in Forschungsprotokollen festgehalten und anschließend in theoretische Memos ausgebaut. Diese Memos galten dabei als erster Analyseschritt und Grundlage für die weiteren Forschungsschritte vor Ort (Flick et al. 2010: 477). Das Vorgehen gestaltete sich wie folgt: Nach einer begrenzten Periode im Feld wurden erste Notizen erstellt, die dann zu Forschungsprotokollen ausformuliert wurden. Mit einem inhaltsanalytischen Verfahren wurden später in Bezug auf Fragestellung/Forschungsinteresse daraus bestimmte Kategorien und Kodes abgeleitet. Dabei ergaben sich die Kategorien sowohl aus den Daten als auch aus den mit der Fragestellung in Beziehung stehenden theoretischen Überlegungen und Konzepten. Aus den Kategorien und den Beobachtungen ergaben sich Hypothesen, die in der weiteren Forschung überprüft wurden (Reichertz & Wilz 2016: 54). Dieses Memoing (Erstellen von Memos) begleitete den Forschungsprozess kontinuierlich. Es handelt sich dabei um die konzeptionellen Reflexionen über „Handlungen, Vorfälle, Ereignisse und Geschehnisse“ (Strauss/Corbin 1996:175). Das methodische Ziel dabei ist die Entwicklung eines inneren Dialogs im Forschungsprozess. Auf diese Weise soll der/die Forschende kumulativ von einfachen zu komplexen Zusammenhängen vordringen (Equit & Hohage 2016:14). Durch dieses Verfahren wurden die Beobachtungen strukturiert, um dann in einer zweiten Beobachtungswelle weitere Protokolle zu erstellen. Aus deren Auswertung resultierten dann Memos „höherer Klasse“, die das Beobachtete verdichten und immer theoretischer wurden. Der gleiche Prozess wurde mehrmals wiederholt, bis eine „Theorie entsteht“.Footnote 3 Um diesen Prozess möglichst vollständig durchlaufen zu können, waren teils wiederholte mehrwöchige Aufenthalte in jeder der untersuchten Ortschaften nötig.

Ein weiteres Hilfsmittel, das wesentlich zur Entwicklung der Memos beitrug, waren die langen Unterhaltungen mit meinen KollegInnenFootnote 4 während der Feldforschungen. Da es aus verschiedenen Gründen in diesem Gebiet (siehe Abschnitt 4.5) teilweise notwendig war, die Forschung in Begleitung durchzuführen, konnte in vielen Momenten ein reger wissenschaftlicher Austausch und die gemeinsame Analyse der täglich erhobenen Daten stattfinden. Dies ermöglichte mir eine viel tiefere Analyse vor Ort und brachte wichtige Anregungen zur weiteren Forschung, als es ohne diesen Austausch möglich gewesen wäre. Neben dem wissenschaftlichen Austausch im Rahmen der Forschungswerkstatt von Prof. Dr. Stephan Lessenich, war der Austausch vor Ort und während des Forschungsprozesses (Breuer 2010: 134) besonders aufschlussreich.

Feldzugang und Vorkenntnisse

Seit dem Jahr 2014 wurden insgesamt fünf (zwei im Jahr 2014, eine 2017 und zwei im Jahr 2019)Footnote 5 mehrmonatige Forschungsreisen in der Atacama Region im Norden Chiles durchgeführt, bei denen jeweils einer oder mehrere der Fälle gleichzeitig untersucht wurden. Im Sinne der Grounded Theory wurde jeweils mindestens eine mehrwöchige Feldforschung an einem der drei untersuchten Ortschaften durchgeführt. An die Erhebungsphasen schlossen sich stets Zeiträume an, in denen die Memos und Hypothesen erstellt wurden, um daraufhin wieder erneut ins Feld zu gehen. Durch die wiederholten mehrwöchigen Forschungsaufenthalte wurde das mehrmalige „Eindringen“ in das Feld gewährleistet. Zudem wurden alle drei Fälle in zeitlich unterschiedlichen Momenten untersucht und teilweise durch Kontakt zu Interviewten bzw. telefonische Nachfragen wichtige Informationen bzw. Veränderungen vermerkt. Dies ist von besonderer Relevanz, da die Prozesse der (Un-)Sichtbarwerdung nicht statisch bzw. durch eine Momentaufnahme erfasst werden können.

Meine Vorkenntnisse stammen aus einer langen Auseinandersetzung mit dem Thema seit dem Jahr 2013. Dabei habe ich im Rahmen eines Forschungspraktikums und meiner Abschlussarbeit an der Universidad Alberto Hurtado vor allem zu einer betroffenen Bevölkerungsgruppe und den Wissensgenerierungs- und Verbreitungsprozessen zu Tailings in Chile geforscht. Außerdem setzte ich mich mit dem Umgang der staatlichen Institutionen mit Tailings und der Beziehung zwischen Bergbauindustrie und dem chilenischen Staat auseinander. Zu diesen Bereichen lag demnach schon empirisches Material und systematisierte Sekundärliteratur/Dokumente vor, die als Basis für diese Forschung genutzt wurden.

Erst diese Vorkenntnisse und Vorarbeiten ermöglichten ein derart umfangreiches Vorhaben wie das vorliegende überhaupt, da sich die Ausarbeitung der Rahmenbedingungen und die Auseinandersetzung mit der bestehenden Literatur dadurch schon in einem fortgeschrittenen Stadium befand. Was die Forschung zudem erleichterte, war die Tatsache, dass die Akteure auf nationaler und regionaler Ebene aufgrund der strategischen Fallauswahl oftmals die gleichen sind, bspw. dadurch, dass dasselbe Ministerium oder dieselbe Behörde in allen drei Fällen verantwortlich ist. Nur die betroffene Bevölkerung, die lokalen AktivistInnen und lokale und regionale staatlichen Behörden (und andere Akteure vor Ort) sowie die jeweiligen Bergbauunternehmen und die entsprechenden Tailings sind von Fall zu Fall unterschiedlich.

Auf diese Weise konnte auch der hohe Anspruch erfüllt werden, über eine rein komparative Studie hinaus drei sich ergänzende Fälle zu untersuchen (diese wurden nach diesem Hauptkriterium ausgewählt). Dies hat es ermöglicht, die höchstmögliche Varianz in den Fällen zu repräsentieren, alle bisher identifizierten beteiligten Akteure rund um den Untersuchungsgegenstand zu beforschen und gleichzeitig die Mikro-, Meso- und Makroebene des Phänomens zu untersuchen. Hauptziel dabei war es, ein möglichst ganzheitliches Bild über die verschiedenen Gegebenheiten, Mechanismen, actions und Strukturen, die zur gesellschaftlichen Unsichtbarkeit der Tailings als zu lösendes Umweltproblem beitragen sowie das Zusammenwirken der unterschiedlichen Mechanismen und Akteure zu untersuchen. Für ein solches Vorhaben ist eine große Anzahl an Interviews notwendig (siehe unten). Dementsprechend musste auch mehr Zeit bei der Transkription, Übersetzung und Analyse der Daten eingerechnet werden. Umso wichtiger war es, dass in einigen Bereichen schon Vorkenntnisse und Vorarbeiten vorhanden waren.

Durch meine vorangegangene Arbeit in Pabellón und Copiapó sowie durch die Mitwirkung an anderen kleineren Projekten im Bereich sozial-ökologischer Probleme und Konflikte in Chile, verfügte ich zudem bereits im Vorfeld über viele Kontakte zu beteiligten Akteuren aus dem Bergbau- und Umweltministerium, der Zivilgesellschaft und NGO, naturwissenschaftlichen Forschungsgruppen wie CENMA oder Observatorio Atacama, regionalen Ministerien/Seremis in unterschiedlichen Bereichen, ForscherInnen und SozialwissenschaftlerInnen sowie betroffenen Bevölkerungsgruppen. Außerdem wurde eine neue Fondecyt-Forschungsgruppe von Dr. Sebastián Ureta initiiert die sich weiterhin mit Tailings beschäftigt und mit der ich während der Forschung in Austausch stand.

Da ich in Chile aufgewachsen bin, verfüge ich außerdem über die notwendigen Orts- und Sprachkenntnisse und bin mit den kulturellen Eigenheiten sowie mit den Institutionen und dem politischen und ökonomischen System des Landes vertraut. Da das gesamte Datenmaterial vom Spanischen in die deutsche Sprache übersetzt werden musste, hat sich dieser Aspekt im Nachhinein als besonders relevant herausgestellt, da bei Übersetzungen bzw. Analysen dieser Übersetzungen, die nicht von derselben Person durchgeführt werden, nicht nur wichtige Informationen verloren gehen, sondern auch problematische inhaltliche Fehler entstehen können.

Sampling und Fallauswahl: Theoretical Sampling

Bei dem gesamten Forschungsprozess war das Theoretical Sampling ein wesentliches Werkzeug der Datensammlung und der Auswertung (Breuer 2010:57 f.). Gleiches gilt für die Plausibilisierungsstrategie. Es handelt sich beim Theoretical Sampling um das permanente Vergleichen und Kontrastieren sowie das kontinuierliche Sammeln von Daten (Equit & Hohage 2016: 12). Daraus entsteht ein „zyklisch iterativer Forschungsprozess, in dem Fallauswahl und Fallanalyse miteinander verschmelzen“ (Equit & Hohage 2016: 12) oder anders gesagt: Die ersten Ergebnisse bestimmen die folgende Fallauswahl und die Auswertung dieser Daten wird wiederum mit den ersten Ergebnissen verglichen und synthetisiert, wodurch wiederum die weitere Fallauswahl erfolgt. Dieses Vorgehen ermöglicht es, auf neue Ergebnisse, unerwartete Gegebenheiten oder unerkannte Forschungslücken zu reagieren. Das Sampling wird erst nach und nach mit den theoretischen Gesichtspunkten zusammengestellt, die sich im Verlauf der empirischen Analyse herauskristallisieren (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014:181). Dabei wird auf einer analytischen Basis entschieden, welche Daten als nächstes erhoben werden müssen und wo dies geschehen soll. Der Prozess der Datenerhebung wird durch die sich entwickelnde Theorie kontrolliert und folgt lediglich einigen grundlegenden Fragen dahingehend, in welche Gruppen oder Untergruppen von Populationen, Ereignissen oder Handlungen als nächstes Daten erhoben werden und welche theoretischen Absichten dahinterstecken (Strauss 1991 in Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014:181). So wird durch eine prozessorientierte Steuerung der Datenerhebung situativ auf den jeweiligen Stand der fortlaufenden Kodierung reagiert (Equit & Hohage 2016:12). Die Entscheidung, welche Fragen bei jeweiligem Kenntnisstand zu verfolgen sind, wird dabei weniger nach ihrer Repräsentativität getroffen. Es handelt sich ausdrücklich um theoretische Fragen, die aus dem analytischen Prozess entstehen (ebd.). Das Sampling wird fortgeführt bis die sogenannte theoretische Sättigung eintritt. Diese liegt vor, wenn bei den neu erhobenen Daten bzw. Fällen keine neuen Erkenntnisse oder Eigenschaften gewonnen werden konnten (Equit &Hohage 2016:12).

Da es sich in dieser Forschung also um ein Theoretical Sampling handelt, war das Sample zu Beginn der Untersuchung noch nicht festgelegt und bis zum Ende noch offen für Veränderungen (Breuer 2010: 58). Die Eingrenzung der Fallauswahl ist dementsprechend größtenteils erst im Laufe der Forschung getroffen worden und kann erst im Nachhinein gänzlich dargelegt werden. Die ersten Fälle wurden demnach nicht auf Basis einer sozialwissenschaftlichen Theorie gewählt, sondern auf der Grundlage einer vorläufigen Problemdefinition, den Vorkenntnissen aus der selbst durchgeführten vorhergehenden Untersuchung im Feld – aus der das vorliegende Forschungsinteresse entstanden ist – und unter Berücksichtigung der Forschungsheuristik, die aus letzterem entstanden ist. Die Heuristik wurde aus den theoretischen Kategorien konstruiert, die im Vorfeld im Feld gewonnen wurden. Sie sollte zudem den Grundbaustein für die Auswahl der ersten Untersuchungseinheiten legen. Die darauffolgende Auswahl folgte dem Prinzip der Minimierung und Maximierung von Unterschieden in Bezug auf alle drei Hauptkategorien, aber im Besonderen auf die (Un-)Sichtbarkeit der Tailings. In jedem der ausgewählten Fälle wurden die Beobachtungen und Interviews so lange durchgeführt, bis die Tauglichkeit der entwickelten Hypothesen und Theorien geprüft werden konnte und das Sättigungsprinzip einsetzte (minimale Kontrastierung). Daraufhin wurden weitere, möglichst unterschiedliche Fälle untersucht (maximale Kontrastierung), um die Varianz im Untersuchungsfeld zu untersuchen bis keine neuen relevanten Ergebnisse bezüglich des Forschungsinteresses mehr aufkommen (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 181).

Die drei zu untersuchenden Fälle wurden anhand einer Reihe von Kriterien ausgewählt, die es erlauben sollten, eine möglichst große Zahl an unterschiedlichen Gegebenheiten, Mechanismen, Akteuren und Strukturen, die zur Unsichtbarkeit der Tailings führen, offenzulegen und zu untersuchen. Auch diese Kriterien wurden größtenteils aus den Vorkenntnissen, der vorhergehenden Forschung, der Sekundärliteratur und bestehenden Theorien gewonnen. Das ist der Grund dafür, warum es sich hierbei nicht um vergleichende, sondern um sich ergänzende Fallstudien handelt, anhand derer auch die verschiedenen Ebenen des Phänomens beschrieben werden können. Die Auswahl der Fälle beruht auf dem Forschungsinteresse und den wichtigsten Merkmalen der slow violence (Nixon 2011). Die wichtigsten Kriterien hierfür werden im folgenden Abschnitt genauer ausgeführt.

Durch die bestehende Literatur konnten außerdem folgende Akteure/Akteursgruppen schon im Vorhinein identifiziert werden, die eine Rolle bei der Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit in den untersuchten Fällen spielen: MitarbeiterInnen staatlicher Institutionen und Behörden, WissenschaftlerInnen, Zivilgesellschaft, Unternehmen, Medien und betroffene Bevölkerung. Das Sampling beinhaltet die genannten Akteure – soweit vorhanden – in allen drei Fällen sowie auf der lokalen, regionalen und nationalen Ebene. Gleichzeitig orientiert sich das Sampling nicht an der Auswahl dieser Personengruppen, sondern bezieht sich streng auf die Theoriegenerierung (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 200). Das Sampling ist an der Entwicklung von Konzepten und Kategorien orientiert, was wiederum bedeutet, dass lediglich der erste Zugang ins Feld von einem bestimmten Erkenntnisinteresse geleitet ist und sich an den üblichen sozialwissenschaftlichen Untersuchungseinheiten wie Personen, Organisationen oder Gruppen orientiert. Später verläuft der Fortgang des Sampling im Sinne der Weiterentwicklung, Prüfung und Ergänzung der Konzepte: „Streng genommen werden dann also nicht mehr Personen „gesampelt“, sondern es wird nach Situationen, Ereignissen bzw. Schilderungen gesucht, die zur Fortentwicklung und „Sättigung“ der Theorie beitragen“ (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 200).

Kriterien und Dimensionen der Fallauswahl

In der vorliegenden Forschung ist die Varianz und nicht die Ähnlichkeit der Fälle besonders wichtig, weil sich die Ergebnisse zu einem Gesamtbild ergänzen sollen, statt miteinander verglichen zu werden. Deshalb wurde bei allen im Folgenden genannten Dimensionen Wert daraufgelegt, dass sich die Fälle bei allen Kriterien möglichst unterscheiden und die größtmögliche Varianz abdecken (maximale Kontrastierung). Ein zentrales Kriterium war dabei die zeitliche Dimension, da diese einerseits ein wichtiger theoretischer Unterschied bezüglich slow violence-Phänomenen (Nixon 2011:41) und ihrer Wahrnehmung in der Gesellschaft darstellt, aber auch weil in Chile die Rechtslage Tailings in drei zeitliche Kategorien einstuft, für die jeweils eine andere (oder keine) Regulierung gilt. Deshalb wurde ein historisches (vergessenes) Tailing (Pabellón), ein kürzlich geschlossenes Tailing, das zu einer noch funktionierenden Mine gehört (Chañaral) und ein aktives Tailing (Tierra Amarilla) gewählt. Durch den unterschiedlichen rechtlichen Status der drei Tailings –bedingt durch die zeitliche Dimension – sind auch die Zuständigkeiten und Verantwortlichen AnsprechpartnerInnen in allen drei Fällen andere. Auch die Unternehmen sind unterschiedlicher Art: während das Tailing von Pabellón durch den Arbeitsprozess kleiner Unternehmen und selbstständiger traditioneller Bergarbeiter des Gold- und vor allem Silberabbaus entstanden ist, handelt es sich bei Tierra Amarilla um eines der größten privaten, transnationalen Kupferunternehmen, die sich in Chile niedergelassen haben. Das Tailing von Chañaral gehört wiederum dem staatlichen Bergbauunternehmen Codelco an. Dabei werden sowohl staatliche und private Akteure berücksichtigt als auch die Entstehung von Tailings durch sehr unterschiedliche Produktionsprozesse, Größenordnungen und durch die Verarbeitung verschiedener Materialen. Außerdem ist die Konfliktform – ausbleibender, latenter und manifester Konflikt – in allen drei Fällen unterschiedlich. Damit zusammenhängend unterscheidet sich auch die gesellschaftliche Sichtbarkeit zwischen den Fällen stark: von völlig unbekannt, über lokal-regional bis zu (inter-)national bekannt. Dadurch konnte ein möglichst breiter Unterschied in der nationalen öffentlichen Wahrnehmung erfasst werden. Um lange Wiederholungen entlang der Arbeit zu vermeiden, können die genauen Kriterien der Fallauswahl sowie die zentralen Eckdaten sowohl zur gewählten Region Atacama, als auch zu den drei Untersuchungsfällen Pabellón, Tierra Amarilla und Chañaral dem letzten Abschnitt des 5. Kapitels entnommen werden, wo diese detailliert und ausführlich dargestellt werden (für die genaue geografische Lage der Fälle siehe zudem Abbildung 4.1).

Das zentrale Ziel der Fallauswahl bestand darin, die verschiedenen Mechanismen und Strukturen sowie Akteure und ihre actions, die auf unterschiedlichen Ebenen greifen, abbilden zu können und zu beobachten, welche davon ihre Wirkung auf lokaler Ebene zeigen bzw. welche sich auf regionaler, nationaler oder sogar internationaler abspielen. Demensprechend rücken verständlicherweise auch in jedem Fall unterschiedliche Akteure in den Vordergrund. Insgesamt sollten allerdings alle im Thema involvierten Akteure untersucht werden. Um die Forschung trotz aller Komplexität und der großen Menge an Kriterien und Dimensionen zu vereinfachen, sollten sich außerdem alle drei Fälle in der gleichen Region befinden. Auf diese Weise konnten in den Interviews mit ExpertInnen, WissenschaftlerInnen, regionalen Medien, regionalen Behörden oder Regionalbüros der Ministerien wiederholt Fragen zu allen drei Fällen gestellt werden. So konnte ein noch größerer Umfang an Daten und logistischer Aufwand bei der Forschung vermieden werden.

Abbildung 4.1
figure 1

(Quelle: Eigene Markierung der Fälle auf einer Karte von OpenStreetMap (OSM))

Rechts die Lage der Region Atacama innerhalb des chilenischen Territoriums und links markiert die Lage der drei Untersuchungsfälle innerhalb der Region Atacama. Von oben nach unten: Chañaral, Tierra Amarilla und Pabellón.

Der Anspruch an die ausgewählten Fälle besteht nicht in der Repräsentativität jedes einzelnen der drei untersuchten Fälle, sondern vielmehr darin, am Beispiel der chilenischen Bergbauindustrie einem Überblick über die möglichen Gegebenheiten, actions, Strukturen und Mechanismen darzustellen, die auf unterschiedlichen Ebenen zur Unsichtbarkeit eines Umweltproblems führen können (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014:177 f.). Die Forschung soll somit eine gewisse Aussagekraft und Verallgemeinerbarkeit für den Umgang mit dieser Art von Umweltproblemen aus anderen Sektoren oder in anderen Ländern haben. Ihr Anspruch ist es allerdings nicht, repräsentativ für alle Bergbaustädte zu sein, sondern ein Strukturmuster des gesellschaftlichen Umgangs mit Tailings darzulegen. Die Zusammensetzung der Fälle ist also vor allem in der Hinsicht wichtig, dass daraus theoretisch relevante Kategorien im Hinblick auf die Forschungsfrage gewonnen werden können (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014:182). Dabei bestand das Feld vorerst aus dem Fall Pabellón und wurde im Laufe der Forschung (nach den Prinzipien der Grounded Theory, besonders dem Theoretical Sampling) auf die anderen beiden Fälle erweitert. Die hier linear wirkende Darstellung ist also der Verschriftlichung verschuldet und kann der Prozesshaftigkeit der Forschung und daraus resultierenden Forschungsentscheidungen (wie etwa der Fallauswahl) nicht gänzlich gerecht werden. Das Theoretical Sampling (Breuer 2010: 58) entsteht in und aus der Forschung und lässt sich im Nachhinein nicht mehr als Prozess darstellen, sondern wirkt statisch und „a priori“ bestimmt.

Felderschließung und -zugang in den einzelnen Forschungsfällen

Während die drei Fälle jeweils nach theoretischen und empirischen Vorkenntnissen ausgewählt wurden, wurde in jedem einzelnen Fall vor Ort zunächst ein Prozess der Felderschließung durch die Sichtung der vorliegenden Literatur zu jedem Fall, aber vor allem durch die Beobachtungen vor Ort durchlaufen (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 40). Auf diese Weise wurde das Feld abgegrenzt, der Kontext (historisch, institutionell, ökologisch, usw.) weitestgehend erfasst und für die Forschung besonders relevante Personen, Orte und Verbindungen (Netzwerke) erschlossen (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014:41). Da in Bergbauregionen erfahrungsgemäß oftmals starke Interessenkonflikte innerhalb der verschiedenen Akteursgruppen vorliegen, wurde besonders darauf geachtet, möglichst Zugang zu allen Konfliktparteien auch innerhalb der jeweiligen Akteursgruppen zu finden.

Die ersten Feldkontakte und InformantInnen wurden meistens sogar schon vor der eigentlichen Feldforschung kontaktiert. Durch die Recherchen zum Fall und die Aufarbeitung der Sekundärliteratur (falls vorhanden) wurden bereits erste Ansprechpartner identifiziert und angeschrieben. Dabei handelte es sich meist um ExpertInnen zum Untersuchungsthema und nicht direkt um Mitglieder einer zu untersuchenden Akteursgruppe. Weitere InformantInnen und InterviewpartnerInnen wurden dann in einer ersten Phase der teilnehmenden Beobachtung identifiziert.

Bei der Vorstellung und der Darlegung des Forschungsinteresses gegenüber den Interviewten wurde außerdem ein allgemeineres Thema angegeben, als es tatsächlich zur Beantwortung der Fragestellung nötig gewesen wäre. Ziel dabei war es, die Praxis der Akteure im Feld und deren Antworten im Interview nicht durch die Interviewanfrage und -situation zu stark zu beeinflussen. Gerade bei der Erforschung von Mechanismen, Praktiken, Handlungen und (Nicht-)Wissen, die zur (Un-)Sichtbarkeit eines Phänomens führen, ist es wichtig, nicht selbst durch die Forschungspraxis frühzeitig zur Sichtbarkeit des Problems beizutragen. Überdies ist das erforschte Thema des giftigen Mülls der Bergbauindustrie ein gesellschaftlich außerordentlich heikles Thema. Für die Personen vor Ort hängt daran oft der eigene Arbeitsplatz (oder der eines Familienmitglieds). Staatliche Behörden beziehen wiederum oft einen Großteil ihrer Gelder aus der Industrie oder haben Vereinbarungen bzw. Entschädigungsabkommen mit den Unternehmen unterschrieben, die ein offenes Gespräch über das Thema verbieten. Die interviewten MitarbeiterInnen der Unternehmen aus höheren Positionen hatten darüber hinaus eine Schweigepflicht bezüglich interner Abläufe und sozial-ökologischer Probleme mit ihrem Unternehmen unterzeichnet. Unter solchen Umständen ist es wichtig, den Personen im Feld nicht nur absolute Anonymität zu gewährleisten (s. u.), sondern auch Vertrauen zur forschenden Person und der Absicht, die evtl. hinter der Veröffentlichung der Forschungsergebnisse steht, aufzubauen. Das allgemeine Misstrauen ist eine der größten Hürden, die es in diesem Forschungsfeld zu überwinden gilt. Die Personengruppe, bei denen sich der Feldzugang am schwierigsten gestaltete, besteht aus Vertretern der Bergbauindustrie oder MitarbeiterInnen in Verantwortungs- bzw. Führungspositionen der großen Bergbauunternehmen. Hier musste sowohl bei der Darlegung der Forschungsinteresses als auch bei der Durchführung der Interviews besonders vorsichtig vorgegangen werden. Auf den ersten Verdacht, die Forschung könnte sich gegen die Industrie richten, wurden Interviews entweder im Vorhinein abgesagt oder im Interview nur vorgefertigte Antworten dargelegt. Trotzdem gelangt es auch innerhalb dieser Akteursgruppe einige gute Interviews zu führen.

Durch die drei ausgewählten Fälle (siehe Abbildung 4.1) konnte so ein möglichst breites Bild des gesellschaftlichen Umgangs mit Tailings am chilenischen Beispiel analysiert werden und damit eine Lücke zwischen den sonst üblichen Makro- und den vereinzelten Mikroanalysen geschlossen werden. Dabei war es das Ziel, eine möglichst große Bandbreite an involvierten Gegebenheiten, Strukturen und Mechanismen sowie beteiligten Akteuren, deren actions und das Zusammenwirken der unterschiedlichen Faktoren zu erfassen. Anhand der Analyse von Sekundärdaten und der bestehenden Literatur wurden die Ergebnisse dann zudem in einen größeren nationalen und internationalen Rahmen gesetzt, wobei auch hier Strukturen herausgehoben wurden die u. a. die (Un-)Sichtbarkeit von Tailings direkt oder indirekt beeinflussen.

4.3 Erhebungsmethoden

Um die Fälle so vollständig und umfangreich wie möglich untersuchen zu können, wurde für die Datenerhebung eine Reihe verschiedener Methoden und Quellen genutzt. Auf lokaler und regionaler Ebene wurden vorwiegend Interviews geführt und teilnehmende Beobachtung betrieben, wobei der Beobachtung eine zentrale Rolle zukam (Reichertz und Wilz 2016:57). Die Interviews sind damit stets eingebettet in die Beobachtung des Feldes. Die Gewichtung dieser beiden Methoden ist dabei relativ ausgeglichen. Während die Interviews zwar die Datengrundlage der Forschung darstellen, bilden die aus den Beobachtungen erstellten Feldnotizen und die anschließenden Memos den Ausgangspunkt der Konzeptualisierung und somit der Theoretisierung (ebd.). Auch auf regionaler und nationaler Ebene wurden Interviews mit verschiedenen zentralen Akteuren geführt. Hier wurden allerdings auch zunehmend Sekundärdaten/-literatur hinzugezogen, um diese zu ergänzen. Während der Feldforschung wurde fotografisch dokumentiert, wobei hier besonders darauf geachtet wurde, die schwer beschreibbaren Phänomene und Gegebenheiten – wie beispielsweise die materielle (Un-)Sichtbarkeit der Tailings – festzuhalten. Auch Satellitenbilder waren bei der Analyse der Gesamtlage, der geografischen Einordnung und vor allem der Größendimension der Tailings hilfreich.

Die methodische Besonderheit lag während der gesamten Forschung in der immer wiederkehrenden Frage, wie sozial, gesellschaftlich oder materiell Unsichtbares, für die Forschung sichtbar gemacht werden kann. Dies betrifft sowohl die materiellen Gegebenheiten als auch die gesellschaftlich unsichtbaren Betroffenen sowie die ausbleibenden oder latenten Konflikte und die unerkannten Risiken der Tailings. Dabei wurden unterschiedliche Lösungsansätze gewählt, die in den folgenden Abschnitten zudem dargestellt werden.

a) Interviews

Neben der teilnehmenden Beobachtung war die zentrale Erhebungsmethode die Durchführung von qualitativen leitfadengestützten Interviews. Dafür wurden für die verschiedenen Akteursgruppen und Ebenen unterschiedliche Leitfäden erstellt, die dann je nach Kontext bzw. neuem Kenntnisstand erneuert wurden. Im Verlauf der Forschung wurden diese dann im Sinne eines zyklischen Forschungsprozesses durch fortlaufendes Theoretical Sampling fortgehend erweitert, um sie nochmals im Feld anzuwenden.

Das offene Leitfadeninterview ist ein teilstandardisiertes Interview, das es ermöglicht, bei allen Interviews einer bestimmten Akteursgruppe eine ähnliche Struktur zu bewahren bzw. dieselben Themengruppen zu behandeln (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014:126 ff.). Methodisch gewählt wurde das offene leitfadengestützte Interview, da zwei der Kerninteressen der Forschung – die Bestandaufnahme des konkreten Wissens der Interviewten über die Tailings und der Umgang mit diesem Umweltproblem im Alltag – primär über den Modus der Beschreibung und der Argumentation zu erfassen sind, wofür eine detaillierte Darstellung und Beschreibung notwendig ist, welche abgefragt werden muss (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 127). Eine gewisse thematische Grundstruktur ist für meine Forschung auch deshalb wichtig, weil sie die Auswertung einer großen Menge an Interviews erleichtert. Auf diese Weise konnten in allen drei Untersuchungsfällen in angepasster Form die gleichen Themenblöcke behandelt werden und dann zu jedem Fall spezifische Themen hinzugefügt werden. Um das Kriterium der Offenheit zu gewährleisten, wurden die Interviewfragen allerdings so gestellt, dass die Interviewten erst möglichst frei zum erfragten Sachverhalt erzählen konnten (ebd.:128). Im Idealfall erzählt die/der Interviewte aus ihrer/seiner Perspektive alles, was sie/er zum Thema für wichtig erachtet und erst nachdem die Erzählung abgeschlossen ist, fragt der/die Interviewende in einer lockeren Gesprächsführung nach den bisher noch nicht angesprochenen Punkten des Leitfadens (Kriterium der Spezifität) (ebd.: 128). Dabei wurden die Kriterien der Kontextualität und der Relevanz berücksichtigt (ebd.: 129). Inhaltlich wurde – besonders durch Nachfragen – versucht, jenen Aspekten besonders viel Raum zu geben, die durch die reine Beobachtung nicht erfasst werden können. Während Handlungen und actions gegenüber dem Problem der Tailings besser beobachtet als abgefragt werden können, kann wiederum bspw. die Risiko- bzw. Problemwahrnehmung, der Wissensgrad und die Wissensform über das Umweltproblem oder die Bedeutung, die eine Person ihren Handlungen zuschreibt, nur durch die direkte Nachfrage erhoben werden. Einige wenige Interviews zu Themen, die nicht explizit im Leitfaden aufgeführt werden, aber für die Forschung relevant waren, wurden zudem informell und spontan geführt (diese sind nicht unten aufgeführt). Die gewöhnliche Interviewdauer lag zwischen 20 Minuten und zwei Stunden. In einzelnen Fällen fielen Interviews allerdings auch kürzer oder länger aus.

Das Problem des unsichtbaren Forschungsgegenstands im Interview

Der Hauptgrund dafür Leitfadeninterviews durchzuführen, liegt in meinem Forschungsgegenstand selbst. Da sich die untersuchten Umweltprobleme für die Betroffenen teilweise nicht als solche darstellen, von ihnen nicht als solche wahrgenommen werden oder keine besondere Relevanz in ihrem Alltag spielen (dies trifft besonders für den Untersuchungsfall Pabellón zu), wird bspw. im Fall dieser Akteursgruppe erst im breiteren Sinne über Umweltprobleme vor Ort gesprochen (Leitfadenteil A), um anschließend ganz konkret nach dem zu untersuchenden Problem zu fragen (Leitfadenteil B). Auf diese Weise kann auch erhoben werden, ob die Interviewten das Thema auch von sich aus erwähnt hätten und wenn ja, welche Bedeutung sie ihm im Vergleich zu anderen Umweltproblemen vor Ort beimessen. Erst wenn das Thema nach längerer Zeit nicht erwähnt wird, wird der/die Interviewte durch indirekte und mit der Zeit immer direktere Fragen zum Thema hingeführt. Es gab auch Interviewte, die angaben, nichts über die Tailings zu wissen. In diesen Fällen konnte nur der erste Leitfaden (A) angewandt werden. Dennoch ist diese Tatsache eine besonders wichtige Erkenntnis bei meinem Forschungsinteresse und kann durch den zweiteiligen Leitfaden besser erfasst und systematischer analysiert werden.

Diese Form des zweigeteilten Leitfadens ermöglichte es zudem, ein viel genaueres Bild der tatsächlichen (Un-)Sichtbarkeit der Tailings und der Risikowahrnehmung der Betroffenen zu erfassen. Auf diese Weise konnte das Problem kompensiert werden, das mit jedem Interview einhergeht: Interviewte erzählen meistens das, von dem sie denken, dass es der/die InterviewerIn hören will. Sie sprechen also besonders über die Themen, nach denen sie konkret gefragt werden. Mit der sofortigen direkten Nachfrage würde ein sonst möglicherweise im Alltag unsichtbares Thema automatisch sichtbar, wodurch das Phänomen der alltäglichen Unsichtbarkeit nicht mehr erforschbar wäre. Trotz aller Bemühungen als Forscherin nicht zur Sichtbarkeit des Themas beizutragen, war es leider nicht gänzlich möglich, dies in allen Fällen zu verhindern (siehe Reflektion über die Forschung 4.5 und Kapitel 5).

Wie oben schon erwähnt, macht es das Forschungsinteresse notwendig bei einem relativ großen Umfang an Interviewten an einer qualitativen Erhebungsmethode festzuhalten. Die teilstrukturierte Form der Interviews ermöglicht es zudem, trotz einer systematisierten Befragung für neu aufkommende Themen offen zu bleiben und so relevante Informationen zu berücksichtigen, die möglicherweise nicht im Voraus absehbar waren.

Das Experteninterview – Eine besondere Art des Interviews

„ExpertIn“ wird eine Person dadurch, dass sie über ein Sonderwissen verfügt, das andere nicht teilen, bzw. – konstruktivistisch formuliert – dadurch, dass ihr solch ein Sonderwissen von anderen zugeschrieben wird und sie es selbst für sich in Anspruch nimmt (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014:118). Es ist „sinnvoll, den Begriff der Expertin nur für solche Personen zu verwenden, die – soziologisch gesprochen – über ein spezifisches Rollenwissen verfügen, solches zugeschrieben bekommen und diese besondere Kompetenz für sich selbst in Anspruch nehmen. Das verbindet sich in modernen Gesellschaften häufig mit Berufsrollen, zunehmend aber auch mit Formen eines spezialisierten außerberuflichen Engagements, so dass Experteninterviews in der Regel in Studien zum Einsatz kommen, in denen derart spezialisiertes Wissen von Interesse ist“ (ebd.). Es handelt sich demnach um einen relationalen Begriff in Hinblick auf ein bestimmtes Wissensgebiet (ebd.). Dabei wird berücksichtigt, dass „das Expertenwissen einerseits als spezialisiertes Wissen zu betrachten [ist], und andererseits die mit dem Expertenstatus verbundene Deutungsmacht“ reflektiert werden muss (ebd. 119). Für diese Forschung sind ExpertInnen demnach sowohl (Sozial-)WissenschaftlerInnen und ÄrztInnen als auch Mitglieder der Zivilgesellschaft, die sich intensiv mit dem Thema der Tailings befassen. Manche davon interviewte ich ausschließlich als ExpertInnen, um bestimmte Prozesse zu verstehen und mir (Kontext-)Wissen über mein Feld anzueignen, andere – vor allem vor Ort anwesende bzw. selbst von der Schadstoffbelastung betroffene oder an der Wissensgenerierung über die untersuchten Tailings involvierte – ExpertInnen wurden wiederum in ihrer Rolle als „beteiligte Akteure“ in der (Un-)Sichtbarmachung von Tailings belassen, um auch die Wirkung im Feld bspw. durch das Handeln der WissenschaftlerInnen zu untersuchen. Einige davon wurden auch in ihren zwei Rollen interviewt. Aus diesem Grund sind im nächsten Abschnitt nur wenige Interviews ausschließlich als ExpertInnen (E) eingeordnet, die meisten von ihnen befinden sich in anderen Kategorien wie etwa Wissenschaft (W) oder Zivilgesellschaft (Z).

Auswahl der InterviewpartnerInnen

Die Auswahl der InterviewpartnerInnen folgte einerseits zuerst den allgemeinen Kriterien des Theoretical Sampling und somit dem Erkenntnisinteresse der Untersuchung (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 127; Breuer 2010: 57 f.). Nach einer Erstauswahl und Kontaktierung von zentralen InterviewpartnerInnen wurden vor Ort dann je nach Akteursgruppe unterschiedliche Strategien gewählt. ExpertInnen, aber auch MitarbeiterInnen der Bergbauunternehmen, die sich in Führungspositionen oder im Management befinden, wurden direkt per Email angeschrieben, da zu ihnen sonst meinst kein direkter Zugang möglich ist. Zuständige und MitarbeiterInnen von öffentlichen Behörden wurden entweder durch eine direkte Kontaktaufnahme vor Ort gewonnen oder wie bei manchen staatlichen Institutionen notwendig, durch eine schriftliche Terminvereinbarung kontaktiert. Unter der betroffenen Bevölkerung wiederum wurde versucht, einen guten Feldzugang zu den unterschiedlichen Positionen innerhalb der Bevölkerung gegenüber der Tailings herzustellen. Aus diesen Gruppen heraus wurde dann jeweils nach dem Schneeballprinzip agiert um weitere InterviewpartnerInnen zu gewinnen (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 59 f.).

Um den gesellschaftlichen Umgang mit Tailings beobachten zu können, ist es für meine Forschung besonders wichtig, möglichst alle Akteursgruppen zu erforschen, die in Zusammenhang mit Tailings stehen, sei es als VerursacherInnen, Betroffene oder weil sie auf irgendeine Weise mit ihnen in Kontakt kommen. Aus diesem Grund sind in jedem der drei untersuchten Fälle unterschiedliche Akteursgruppen (auf unterschiedlichen Ebenen) relevant. Während etwa in Pabellón der „Umgang“ mit den Tailings fast ausschließlich auf lokaler und wissenschaftlicher Ebene stattfindet und die relevanten Akteure hier dementsprechend primär die Betroffenen, vereinzelte regionale staatliche Behörden und WissenschaftlerInnen sind, spielen etwa in Tierra Amarilla zudem die lokalen Medien und die Unternehmen eine wichtige Rolle und in Chañaral wiederum auch der Zentralstaat, die Zivilgesellschaft und die nationalen Medien.

Geführte Interviews

Insgesamt wurden auf diese Weise 164 teilstrukturierte leitfadengestützte Interviews geführt ( die detaillierte Interviewtabelle ist im Anhang im elektronischen Zusatzmaterial einsehbar). In dieser Zahl nicht enthalten sind Interviews mit AkteurInnen, die zu einem früheren Zeitpunkt bereits interviewt wurden (jede Person wird nur einmal gezählt) sowie informelle Interviews, die nicht aufgezeichnet wurden und auch nicht jene Interviews, deren Aufzeichnungen verloren gegangen sind (siehe unten Datenverlust). In den Tabellen 4.1, 4.2 und 4.3 werden die geführten leitfadengestützten teilstrukturierten Interviews dargestellt.

Tabelle 4.1 Interviews zu den drei Untersuchungsfällen: lokale Bevölkerung und ArbeiterInnen. (Eigene Darstellung)
Tabelle 4.2 Interviews mit AkteurInnen auf regionaler und nationaler Ebene (2014-2019). (Eigene Darstellung)
Tabelle 4.3 Interviews in Kooperation mit Fondecyt-Projekten von Sebastián Ureta (2014-2017). (Eigene Darstellung)Footnote

Diese Interviewgruppe wurde gänzlich im Auswertungsprozess berücksichtigt. Da es sich allerdings hauptsächlich um ExpertInneninterviews handelt, wurde ein Großteil, der durch sie gewonnenen Informationen in Kapitel 5 angewandt und durch andere Quellen belegt, weshalb hiervon keine direkten Zitate im Text verwendet wurden. Die für diese Forschung verwendeten Interviews aus dem Projektkontext wurden zudem vorwiegend eigens von mir durchgeführt.

Während die Interviews in der Tabellen 4.1 und 4.2 unabhängig und eigenständig im Rahmen dieser Forschung durchgeführt wurden,Footnote 7 wurden die Interviews der Tabelle 4.3 unter Zusammenarbeit mit einem Forschungsprojekt von Sebastián Ureta durchgeführt. Die Verwendung dieser Daten für diese Forschung wurde mit Sebastián Ureta vertraglich geregelt. Der Verweis auf die jeweiligen Interviews im Text erfolgt durch ein vierstelliges systematisches Kürzel, das die Zuordnung, durch die im Anhang vermerkte Liste ermöglicht (Interviewtabelle ist im Anhang im elektronischen Zusatzmaterial einsehbar). Dabei steht der erste Buchstabe für den UntersuchungsfallFootnote 8 und der zweite für die Akteursgruppe. Beim Kürzel PB01 stehen dementsprechend die Buchstaben P für den Fall Pabellón und B für BewohnerIn und darauf folgt die Zahl, die die Zuordnung zu der jeweiligen BewohnerIn ermöglicht.

Die große Anzahl an teilweise sehr langen Interviews war trotz des damit verbundenen Auswertungsaufwands durchaus intendiert. Ziel dabei war es, eine gewisse Aussagekraft und Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse bezüglich der drei untersuchten Fälle trotz der Verwendung rein qualitativen Methoden gewährleisten zu können bzw. die Sättigung in allen drei Fällen und Ebenen zu erreichen. Die Ergebnisse sind aufgrund der qualitativen Methode dadurch zwar nicht repräsentativ, sie ermöglichen es allerdings, ein möglichst breites Bild zu rekonstruieren und eine große Vielfalt an möglichen Mechanismen, die zur Unsichtbarkeit des untersuchten Phänomens führen, aufzuzeigen.

b) Teilnehmende Beobachtung

Die teilnehmende Beobachtung ist das Herzstück einer jeden Feldforschung und zieht sich durch die ganze Forschung von der Felderschließung (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 40; Flick et al. 2010: 385) bis zu den letzten Erhebungen, die die Sättigung der Daten konstatieren. Die teilnehmende Beobachtung impliziert die Positionierung und die Reflektion der eigenen Rolle im Forschungsfeld (siehe Abschnitt 4.5), da sie nicht dieselbe Distanz zum Gegenüber erlaubt, wie etwa in einer Interviewsituation oder einer quantitativen Befragung. Das Verhältnis zwischen Teilnahme und Beobachtung muss außerdem in jedem Fall erneut ausgelotet werden (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 44–45), um einerseits einen guten Zugang zum Feld zu erlangen und gleichzeitig die Beobachtungsposition nicht zu vernachlässigen. Dabei folgt die Forscherin der Dynamik zwischen Inklusion und Exklusion, wobei sie sich in die Rolle der „Beforschten“ versetzten muss, um deren Verhalten, Einstellungen und Erzählungen nachvollziehen und verstehen zu können. In Goffmans Worten (1989) muss „man sich selbst, seinen eigenen Körper, seine eigene Persönlichkeit, seine soziale Situation, den besonderen Umständen unterwerfen, denen bestimmte Individuen ausgesetzt sind“ (zitiert in Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 45). Erst dann sei man „in einer Position, um ihre gestischen, visuellen, körperlichen Reaktionen auf die Dinge, die um sie vorgehen, wahrzunehmen und ist empathisch genug – weil man den gleichen Mist aufgenommen hat wie sie – zu spüren, was es ist, auf das sie reagieren. Für mich ist das der Kern der Beobachtung“ (Goffman 1989: 125 f. in Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 46). Trotzdem soll die Forscherin dabei nicht selbst zur Betroffenen werden, sondern zur Zeugin der Situation.

Während der Forschungsreisen zwischen 2014 und 2019 habe ich versucht, mich soweit es ging, in die Position der AkteurInnen zu versetzen, um deren Aussagen, Handlungen und Erfahrungen nachvollziehen zu können. Hierfür wurden mehrere längere Aufenthalte an jedem Untersuchungsort eingeplant. Wenn die Übernachtung vor Ort nicht möglich war (in Pabellón bspw. gibt es keine Übernachtungsmöglichkeiten), sind wir (meine Begleitperson und ich) in der nahegelegenen Stadt Copiapó untergekommen und täglich mit dem Bus in die zu untersuchende Ortschaft gefahren und haben dort den ganzen Tag verbracht. Obwohl die ForscherInnen während der Feldforschung bspw. den gleichen Schadstoffen ausgesetzt sind, die gleiche Luft geatmet, das gleiche Wasser getrunken und das dort angebaute Essen gegessen haben, wie es auch die Betroffenen tun, ist deren Erfahrung, teilweise ausweglos der Langzeitexposition und den daraus resultierenden gesundheitlichen Folgen ausgesetzt zu sein, für uns als ForscherInnen kaum vorstellbar. Die Interviews ermöglichen es allerdings zumindest, der von ihnen gelebten Situation, eine auswertbare und klare Stimme innerhalb dieser Forschung zu gewährleisten.

Im Forschungsalltag habe ich mich, wenn möglich, alle zwei bis drei Stunden zurückgezogen, um Feldnotizen zu erstellen oder durch Audioaufnahmen festzuhalten, was soeben geschehen war. Jeden Abend erstellte ich mit diesen Notizen und Audios ein tägliches Forschungs- /Beobachtungsprotokoll. Neben der detaillierten Niederschrift der Beobachtungen wurden zudem Kontextinformationen, theoretische, methodische und Rollen-Reflexionen festgehalten (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014:49 ff.). Nach einigen Tagen im Feld zog ich mich dann für einige Zeit zurück, analysierte die erhobenen Daten, hörte mir teilweise nochmal die geführten Interviews an und erstellte daraus Memos (Reichertz und Wilz 2016:54). Aus diesen resultierten dann teilweise neue Hypothesen und Fragen, die bei einer darauffolgenden Erhebungswelle im Feld überprüft bzw. angewandt wurden, die dann schließlich wieder in Memos festgehalten wurden (Strauss/Corbin 1996:175) und wodurch sich ein innerer Dialog durch den gesamten Forschungsprozess zog. Dieser hat dabei geholfen auf diese Weise von einfachen zu komplexen Zusammenhängen vorzudringen (Equit & Hohage 2016:14).

Inhaltlich wurde bei der Beobachtung besonderer Wert auf die Handlungen (actions) der unterschiedlichen AkteurInnen im Feld gesetzt. Dabei kam es nicht selten zu Widersprüchen mit ihren Aussagen im Interview und genau hier lagen oftmals die wichtigsten Erkenntnisse für mein Forschungsinteresse. Besonders aufschlussreich waren vor allem die unter den AkteurInnen nicht verbalisierten Vorgänge und Abläufe im Feld sowie die Netzwerke, die dabei entstanden sind. Daraus konnte etwa der tatsächliche alltägliche Umgang der verschiedenen Akteure mit den Tailings rekonstruiert werden.

c) Sekundärliteratur/-datenanalyse

In einer ersten großen Recherche wurden alle Arten von Daten zu Abfällen der chilenischen Bergbauindustrie und den drei Untersuchungsfällen gesammelt. Laut Corbin und Strauss (siehe Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014) sind zunächst alle Arten von Daten, die im Zusammenhang zum Forschungsinteresse stehen, von Bedeutung. Im Laufe der Forschung wurde dann fokussierter nach bestimmten Lücken in der eigenen Empirie gesucht und diese anhand von Studien anderer WissenschaftlerInnen zu füllen versucht. Am meisten wurden sozialwissenschaftliche Forschungen und journalistische Dokumentationen herangezogen. An anderen Stellen standen wiederum historische Untersuchungen zu den drei Ortschaften und deren sozial-ökologischen Konflikten oder naturwissenschaftliche Studien, die zur Gefahren- und Risikoeinschätzung der untersuchten Tailings dienten, im Mittelpunkt. Mit der Sekundärliteratur sollen nicht nur die Lücken der Feldforschung und Interviews geschlossen und Forschungsergebnisse überprüft werden, sondern auch die Informationen und Daten erhoben werden, die nicht mit den Interviews erfasst werden können. Gerade bei Unternehmen und staatlichen Institutionen war dies besonders hilfreich, um alle Dimensionen erfassen zu können. Unter die genutzte Sekundärliteratur fallen vorliegende staatliche und private Untersuchungen aber auch z. B. Gesetze und Umweltregulierungen, Verträge und Abkommen sowie offizielle Erklärungen zu Richtlinien, Zielsetzungen und zukünftiger Planung. Auch im naturwissenschaftlichen Bereich wurden die vorhandenen Studien, Statistiken und Untersuchungen zu den Tailings berücksichtigt. In diesen Fällen wurden teilweise auch ExpertInnen zum Thema befragt, um die Daten der Studien richtig zu interpretieren. Für die Untersuchung der Medien wurden zusätzlich die vorhandenen Nachrichten und Artikel sowie Bild- und Filmmaterial zu Tailings berücksichtigt.

d) Fotografische Dokumentation und die Nutzung von Bildmaterial

Während der Feldforschung wurden forschungsrelevante Situationen, Gegebenheiten, Handlungen und Praktiken fotografisch festgehalten. Dabei stehen die Bilder keinesfalls für sich alleine und wurden auch nicht eigens analysiert. Sie sind immer nur als Teil der Gesamtforschung zu verstehen (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 147). Sie dienen vor allem dazu, gesellschaftlich unsichtbare Probleme in den Ergebnissen dieser Arbeit sichtbar zu machen. Dies entspricht einer „[…] lange[n] Tradition des Sichtbarmachens und damit der Arbeit mit Bildern“ in der Forschung (Flick et al. 2010: 405 f.; Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 148). Fotografien sind damit als ein ergänzendes Werkzeug zu verstehen. Durch die Bilder lässt sich das, was Bourdieu (2018 [1979]) als inkorporiertes Wissen bezeichnet und als wesentliches Element „praktischer Logik“ gilt, besser fassen. Es handelt sich dabei um jenes Wissen, das nicht explizit ist und nicht über Erzählungen und Beschreibungen verfügbar gemacht werden kann, also als Teil des atheoretischen Wissens gilt (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014:150).

Zudem wurde das Verhältnis zwischen Bild, Text (Transkription) und Umgebung durch die Triangulation der Datengrundlage (Flick 2010: 309; Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 151) untersucht. „Bilder sind Umgebungen für Texte und umgekehrt sind Texte Kontexte für Bilder“ (Flick 2010: 309). Dies ist besonders dann interessant, wenn sich Bild und Text widersprechen. Die Schilderung der eigenen Praktiken/actions der Interviewten in der Gesprächssituation richtete sich teilweise daran aus, was die Interviewten vermuteten, das die die Interviewerin zu hören erwartete und stimmte dementsprechend nicht immer mit den tatsächlichen Praktiken überein. Dieser Widerspruch konnte teilweise fotografisch festgehalten werden. Dies zeigt, dass Bilder bzw. Beobachtungen sehr wichtig sind, wenn das Verhältnis zwischen Wissen und Praxis untersucht wird, besonders wenn das Wissen über ein gewisses Risiko gegen eine bestimmte Praxis spricht, wird diese im Interview meistens nicht erwähnt oder bestritten. In anderen Fällen spielen sich bestimmte Praktiken für die Beteiligten fast unbewusst ab.

Auch Dokumentarfilme und Videos wurden für diese Arbeit analysiert. Sie wurden aber primär als Datenquelle angesehen, die anschließend nochmals eigens recherchiert und überprüft wurde. Hier stand der Inhalt im Vordergrund und sie wurden nicht mit den selbst erhobenen Daten gleichgestellt. Die Daten wurden zur eigenen Überprüfung gesammelt, da eine direkte Analyse ohne den Kontext, die Interviewbedingungen und das Wissen um mögliche Konditionen oder Schnitte im Filmmaterial sonst stark verfälscht sein könnte. Diese Datenquellen waren aber bei jenen Akteursgruppen besonders relevant, die ansonsten schwer zugänglich waren (etwa Personen aus dem Management großer Bergbauunternehmen). Diese Bilder und Videos stehen in der Forschung teilweise auch für sich, da ihre Verbreitung in manchen Fällen direkten Einfluss auf die (Un-)Sichtbarkeit der Tailings hatte. So hat etwa der Dokumentarfilm „Minas de oro, desechos de muerte“ von Carola Fuentes, das Problem der Tailings erstmals öffentlich angesprochen und sichtbar gemacht. Andersherum hat z. B. das berühmte Bild vom Bad des Expräsidenten Ricardo Lagos am Strand von Chañaral dazu beigetragen, das dortige Umweltproblem auf nationaler Ebene zu vertuschen und als gelöst darzustellen. In solchen Fällen werden weniger die Bilder als solche analysiert, als inwiefern die Medien zur (Un-)Sichtbarkeit des Phänomens beitragen. Dennoch ist ihre Analyse in dieser Hinsicht von großer Bedeutung für die Forschung.

Die chilenische Ley de Transparencia hat dazu geführt, dass viele staatlich erhobene Daten nicht nur auf Anfrage größtenteils offengelegt werden müssen, sondern teilweise für alle öffentlich zugänglich gemacht worden sind. So wurde z. B. das Kataster der Tailings mit Google Earth aus Satellitenansicht dargestellt. Interessanterweise sind in diesem Kataster allerdings eine Reihe von Tailings – unter ihnen sogar international bekannte Tailings wie das aus Chañaral – nicht aufgeführt. Darüber hinaus konnten bisher eine Großzahl der historischen Tailings nicht mehr ausfindig gemacht werden. In anderen Fällen, wie etwa in Chañaral, würde die Veröffentlichung einer solchen Information dem Eingeständnis des schweren Verstoßes der Umweltregulierungen durch ein staatliches Unternehmen (Codelco) gleichkommen. In Chañaral wird dafür allerdings die viel kleinere Tailingdeponie des Unternehmens CIA Minera Falda Verde angezeigt. Die Satellitenbilder ermöglichen außerdem einen Blick in Gebiete, in die SozialforscherInnen sonst keinen Zutritt haben. So können auf ihnen etwa die Anlagen und Produktionsstätten der Unternehmen gesichtet und die Dimensionen der Minen – zumindest der Tagebau-Gruben – und Tailingdeponien in Bezug zur Umgebung gesetzt werden.

Was die Verfügbarkeit und die Autorisierung von Bildern im Allgemeinen in dieser Arbeit angeht, wurde grundsätzlich hauptsächlich auf eigene Bilder zurückgegriffen, bei denen die Verfügbarkeit gewährleistet ist und deren Autorisierung direkt im Feld erfolgt ist. Generell wurde dabei auf Bilder mit erkennbaren Personen verzichtet, außer diese haben einer Veröffentlichung explizit zugestimmt. Des Weiteren wurde, wie oben beschrieben, auf öffentlich zugängliche Bilder, Videos, Satellitenbilder und ähnliche visuelle Datenbanken zurückgegriffen, die keine direkte Autorisierung voraussetzten oder diese eben durch Prozesse wie die Ley de Transparencia angefordert und dann sachgemäß zitiert wurden.

Anonymisierung

Bei den meisten Akteursgruppen wurde die Anonymisierung vor dem Interview schriftlich bestätigt. Bei der Gruppe der betroffenen Bevölkerung wurde nach einigen ersten Erfahrungen die Zusicherung der Anonymisierung dann allerdings bei laufender Tonaufnahme mündlich durchgeführt, da einige der Interviewten dieser Gruppe weder lesen noch schreiben konnten. Es gab auch den Fall einiger ExpertInnen, denen ich eine komplette Anonymisierung zusichern musste, bevor sie zu einem Interview bereit waren. Das heißt, dass nicht nur die Person unkenntlich gemacht werden sollte, sondern auch etwa die Institution, Unternehmen und Behörde, da für sie mindestens der Verlust des Arbeitsplatzes, meistens aber auch zukünftige Arbeitsplätze auf dem Spiel standen. Manche von ihnen hatten in der Vergangenheit sogar Drohungen erhalten. In zwei dieser Fälle wurde das Interview auf Wunsch der Interviewten deshalb telefonisch geführt. Generell wurden sonst alle standardgemäßen Vorkehrungen zur Gewährleistung der Anonymisierung eingehalten (siehe hierfür Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014: 164 f.).

Transkription und Übersetzung

Die Transkription der Interviews wurde größtenteils selbst übernommen. Einige wenige –vorwiegend aus jenen, die im Rahmen des Forschungsprojekts von Sebastián Ureta geführt wurden, wurden von KollegInnen aus Chile transkribiert. Anschließend wurden jene Passagen, die keine Überschneidungen mit dem Untersuchungsthema aufwiesen, ausgeklammert (bspw. Wegbeschreibungen, Unterbrechungen von dritten Personen, Gespräche mit oder über Verwandte in der Interviewsituation), um zur Auswertung und Übersetzung des erhobenen Materials überzugehen. Alle in dieser Arbeit verwendeten Interviewausschnitte wurden eigenständig von mir übersetzt. Dies war mir besonders wichtig, da in meinen Augen die Übersetzung von derselben Person durchgeführt werden sollte, die auch die Interviews geführt hat, um Missverständnisse und Verfälschungen so gut es geht zu vermeiden und den Interviewkontext berücksichtigen zu können. Um die Analyse nicht durch Übersetzungsfehler zu verfälschen, habe ich die ersten Kodierungen und Auswertungsschritte parallel zur Übersetzung durchgeführt, um so den Sinn der Originalfassung zu bewahren. Dieser Dreischritt aus Transkription, Übersetzung und erstem Kodieren war zeitlich gesehen der längste Arbeitsschritt der gesamten Forschung. Die Prinzipien der Transkription der gesprochenen Sprache sowie die Gütekriterien der Praktikabilität, Ausbaufähigkeit und Flexibilität gegenüber den Gesprächsdaten (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014:166 f.) wurden dabei berücksichtigt, um ein gutes und der Beantwortung der Forschungsfrage angemessenes Transkriptionsverfahren zu gewährleisten.

Da ich selbst in Chile aufgewachsen bin, die spanische Sprache genauso gut beherrsche wie die deutsche und den chilenischen Kontext somit seit meiner frühen Kindheit kenne, kann ich behaupten, dass in diesem Fall keine Zuspitzung des Problems des Fremdverstehens, wie es Przyborski und Wohlrab-Sahr (2014:314) andeuten, vorliegt. Da die Erhebung, die Transkription und die anschließende Übersetzung und Interpretation von mir selbst durchgeführt wurden und ich das Feld gut kenne, handelt es sich nicht um die „Interpretation fremdsprachigen Materials“, sondern vielmehr um eine zweisprachig durchgeführte Forschung. Aus oben beschriebenen Gründen war eine computergestützte Auswertung des gesamten Datenmaterials nicht möglich. Während ich anfänglich bei der Auswertung noch mit MAXQDA gearbeitet habe, hat sich das Programm beim Doppelschritt Auswertung-Übersetzung nicht als hilfreich erwiesen, weshalb die Daten letztendlich „manuell“ – auf dem Computer, aber ohne Auswertungsprogramm – ausgewertet wurden.

4.4 Auswertung der erhobenen Daten

Kodierung und Datenanalyse

Das Kodieren hat in der GT einen besonderen Stellenwert. Dabei sollen einerseits Verbindungslinien zwischen Phänomenen im Untersuchungsfeld hergestellt werden und sich gleichzeitig sukzessive eine in den Daten „gegründete“ Theorie herausbilden. Am Anfang der Forschung wird das Material „aufgebrochen“. Dabei handelt es sich um eine theoretisch offene und explorative Kodierung. Darauffolgend kommt eine spezifischere Konzeptualisierung der Daten und die Bildung von Kategorien, die später die Grundlage der zu bildenden (grounded) Theorie darstellen. So werden Daten konzeptualisiert und die untersuchten Phänomene ausdifferenziert (Equit und Hohage 2016: 13). Die Art des Kodierens steht in direktem Bezug zur theoretischen Fallauswahl. Während dies anfangs noch offen gestaltet wird, um ein möglichst breites Bild und die vielfältigen Aspekte des Phänomens zu fassen, wird die Suche nach Fällen und Ereignissen mit zunehmendem Erkenntnisgewinn gezielter durchgeführt, um die gebildeten Kategorien zu überprüfen (ebd.: 13).

Da die Interviews, die Arbeit im Feld sowie die Erstellung der Feldnotizen und der Memos fast ausschließlich auf Spanisch durchgeführt wurden, wurden auch die ersten Analyseschritte in dieser Sprache durchgeführt. Erst nach der Transkription der Interviews wurden im Moment der Kategorienbildung, die relevanten Interviewausschnitte selbstständig übersetzt und im gleichen Schritt jene Kategorien gebildet, die sich entlang des Forschungsprozesses herauskristallisiert haben. Aus heutiger Perspektive würde ich der Übersetzungsarbeit eine besonders hohe Gewichtung in einer zweisprachigen Arbeit beimessen. Sie macht die Auswertung der Daten sowohl zeitlich als auch inhaltlich um einiges aufwendiger und komplexer als bei einsprachigen Forschungen. Obwohl eine Übersetzung auch immer die Gefahr des Informationsverlustes birgt, zwingt sie gleichzeitig – wenn sie wie hier, von ein und derselben Person erstellt wird – auch zu einer genaueren Auseinandersetzung mit dem erhobenen Material und der doppelten inhaltlichen Analyse jedes einzelnen Satzes.

Im Auswertungsverfahren der Grounded Theory werden sukzessive theoretische Zusammenhänge über das Kodierungsverfahren erschlossen (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014: 190). Das Grundanliegen der Methodologie der Grounded Theory ist – wie oben erwähnt – die enge Verschränkung von empirischer Forschung und Theoriebildung: „Empirische Forschung zielt darauf, Theorie zu generieren, und Theorie wiederum wird nicht „von oben her“ entfaltet, sondern soll in eben dieser Forschung begründet sein“ (ebd.: 192). Bei der Grounded Theory geht es prinzipiell darum, in einem ständigen Wechselprozess zwischen Datenerhebung und Auswertung und Theoretical Sampling zu arbeiten. Bereits bei den ersten erhobenen und gesammelten Daten wurde demnach mit der Analyse begonnen und diese Auswertung steuerte dann wiederum die Richtung der weiteren Erhebung. Dabei wurden gerade die ersten Daten „expansiv“ ausgewertet bzw. alles, was relevant sein könnte, wurde dabei berücksichtigt. Mit fortgeschrittener Forschung ergaben sich Zuspitzungen, während sich andere Aspekte, die anfangs noch relevant erschienen, als irrelevant erwiesen. Erst jene Konzepte, die im Laufe der Forschung aufrechterhalten werden, werden dann später auch Teil der sich entwickelnden Theorie (ebd.: 200).

Zentraler Bestandteil dieses konstanten Auswertungsprozesses war das fortlaufende theoretische Kodieren des erhobenen Materials (Flick et al. 2010: 477 ff.). Die Daten sprechen in diesem Prozess also nicht für sich und können somit auch nicht rein deskriptiv dargelegt werden, sondern müssen „präpariert“, das heißt zu einem Konzept verdichtet werden. Während anfangs ein offenes Kodieren stattfindet, also das Erstellen von Konzepten, die teilweise noch vorläufig sind, kristallisieren sich im Laufe der Forschung die zentralen Konzepte heraus und werden immer abstrakter (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014: 201). Aus Konzepten, die sich auf dasselbe Phänomen beziehen, wurden schließlich Kategorien, die die Eckpfeiler der sich herausbildenden Theorie darstellen. Letztere sind Resultat von Interpretation. Dieser Prozess der Entstehung von Kategorien (Breuer 2010: 73 f.) aus den Konzepten wird „axiales Kodieren“ genannt (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014: 202). Die Verknüpfung dieser Kategorien bildet dann wiederum die Grundlage einer Theorie. Durch „selektives Kodieren“ gelangt man hin zu den „Schlüsselkategorien“, die nun im Mittelpunkt der Theoriegenerierung stehen (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014: 202; Breuer 2010: 75 f.). Die Grounded Theory folgt bei diesem Prozess dem Prinzip der Verifikation von Theorie, wobei weniger vorab entwickelte Hypothesen empirisch getestet werden, als dass die im Verlauf der Forschung generierten Hypothesen auf ihre Robustheit hin überprüft werden (Corbin und Strauss in Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014: 202), denn die im Verlauf der Forschung entstandene Theorie muss sich als solche auch beweisen. Im Mittelpunkt dieses Verfahrens steht das Feststellen von Beziehungen zwischen Kategorien bzw. Zusammenhängen zwischen verschiedenen Phänomenen (und Konzepten), die sich als richtig oder falsch herausstellen können.

In der vorliegenden Arbeit wurden anfangs durch Erkenntnisse aus dem Feld (vorwiegend aus einer früheren Forschung) die zentralen Kategorien durch eine Heuristik in Beziehung gebracht, die dann im Laufe der Forschung überprüft, verändert und erweitert wurde. Die Heuristik galt prinzipiell als Ausdruck des Forschungsinteresses. Ganz im Sinne von Corbin und Strauss (1990: 421 f. in Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014: 203) wurde von Anfang an die Prozesshaftigkeit mitgedacht, da sowohl Handlung (als action auch eine der zentralen Kategorien der Heuristik) als auch Veränderbarkeit (change) wesentliche Gesichtspunkte der Theoriegenerierung darstellen. In dieser Forschung wurde dies sowohl während der Forschung berücksichtigt (etwa die Interaktion und Netzwerke der Akteure) als auch ganz konkret in jedem Fall empirisch untersucht. So wurde für jeden der drei Forschungsfälle eine geschichtliche Aufarbeitung erstellt und die Prozesse der (Un-)Sichtbarwerdung (Umbruch/Veränderung) als Schlüsselmomente berücksichtigt, in denen die Akteure, Strukturen und Mechanismen, die dazu beitragen, besonders deutlich zum Vorschein kommen.

Ein weiterer Aspekt der Grounded Theory Analyse, der in meiner Arbeit einen besonderen Stellenwert hat, ist die Tatsache, dass die untersuchten Fälle und die in ihnen involvierten AkteurInnen nicht isoliert wahrgenommen werden, sondern dass gleichzeitig die Bedingungen, unter denen diese agieren, in die Interpretation mit einbezogen werden. Die „strukturellen und interaktiven Bedingungen“ (Strauss 1991:118 ff. in Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014:202) werden hier in den Kapiteln 2 und 5 ausführlich behandelt und anschließend in der Auswertung und Analyse in den darauffolgenden Kapiteln berücksichtigt (diese Reihenfolge bezieht sich auf die Darstellung, in der Forschung geschah dies zyklisch). Diese „konditionelle Matrix“ (Corbin/Strauss 1990:422 in Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014:203) bzw. die strukturellen Bedingungen sind dabei zentral für die Theoriegenerierung. Die wichtige Rolle der strukturellen Bedingungen ergibt sich in der vorliegenden Forschung zudem auch aus dem Forschungsinteresse selbst, einerseits weil die MehrebenenanalyseFootnote 9 dies verlangt und andererseits, weil das Konzept der slow violence nur im Zusammenspiel mit den strukturellen Gegebenheiten zu verstehen ist. Während sich der empirische Teil dieser Forschung vorwiegend auf die handelnden Akteursgruppen in der Mitte des Schaubildes konzentriert hat und dabei ein besonderer Akzent auf das Zusammenspiel der jeweiligen Ausprägungen der drei Kategorienpaare der Heuristik (unten rechts) gelegt wurde, wurden sowohl die stofflich-materiellen Gegebenheiten sowie die institutionellen und strukturellen Rahmenbedingungen und die in ihnen und durch sie wirkenden Machtstrukturen und -asymmetrien durch die Verwendung der bestehenden Sekundärliteratur und Theorien berücksichtigt. Nur so konnte am Ende der Forschung ein Gesamtbild der gesellschaftlichen (Un-)Sichtbarkeit der Tailings in Chile erstellt werden (siehe hierfür Kapitel 9).

4.5 Methodische, politische und ethische Implikationen der Forschung

Die eigene Rolle Im Feld

In einer Feldforschung wird besonders durch die teilnehmende Beobachtung immer direkt oder indirekt Einfluss auf die Gegebenheiten im Feld und somit auf die Ergebnisse genommen. Diesen Einfluss gilt es, so gut es geht zu minimieren. Da dies nie vollständig möglich ist, ist es besonders wichtig, die eigene Rolle und den Einfluss auf die Ergebnisse während des gesamten Forschungsprozesses zu reflektieren (Breuer 2010: 137 ff.). Auf diese Weise werden mögliche Verfälschungen offen dargelegt (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 44).

Je nach Forschungsfall war der Einfluss der Forschenden unterschiedlich ausgeprägt: mal ausschlaggebender, mal konnte er minimal gehalten werden. Während der Fall Pabellón das eine Extrem darstellt, da es sich hierbei um eine sehr kleine Ortschaft handelt, in der sich jeder persönlich kennt und in der praktisch nie neue Gesichter auftauchen, handelt es sich in Tierra Amarilla und Chañaral um sehr belebte Kleinstädte, in die auch vielen Menschen von außerhalb zum Arbeiten kommen oder auf der Durchfahrt anhalten. Im ersten Fall sind wir als forschende Personen deutlich stärker aufgefallen. Während die Anwesenheit der Forschenden in Pabellón für die BewohnerInnen also unübersehbar war, sind wir in den anderen beiden Fällen kaum aufgefallen.Footnote 10 Auch das Interesse an Umweltproblemen hatte eine andere Wirkung in Pabellón, wo die meisten Umweltprobleme unsichtbar sind und im Alltag kaum wahrgenommen werden, als in den beiden anderen Fällen, in denen sich diese teilweise offensichtlich darstellen. Die Annäherung und der Umgang mit dem Thema musste deshalb sehr unterschiedlich gestaltet werden. Dennoch trug die Forschung in allen drei Fällen immer ein Stück weit zur Sichtbarwerdung der Tailings bei. Trotz aller Bemühungen, das zu erforschende Phänomen nicht als solches während der Feldforschung sichtbar zu machen, ließ es sich bspw. im Fall von Pabellón nicht vermeiden, dass die wenigen BewohnerInnen, die über die Tailings Bescheid wussten, aber zuvor nie mit anderen BewohnerInnen darüber gesprochen hatten bzw. ihnen im Alltag keine Wichtigkeit beimaßen, durch das Interview plötzlich wieder daran erinnert wurden und sich mit anderen Betroffenen darüber austauschten. Dies wurde besonders bei späteren Besuchen vor Ort deutlich. Interviewte, die vorher angegeben hatten, nichts über die Tailings zu wissen, waren sich beim nächsten Mal zumindest darüber bewusst, dass es sich dabei um Tailings handelte und diese gesundheitsschädlich sein können.

Die Interviews wurden oft mit Personen aus sozial stark benachteiligten und marginalisierten Bevölkerungsgruppen geführt. Es war mir besonders wichtig, im Rahmen meines Forschungsgegenstandes eben jene Menschen zu berücksichtigen, die oftmals innerhalb der Sozialwissenschaften nicht vorkommen und deren Probleme folglich unsichtbar bleiben. Obwohl es keine Probleme gab, mit den zu Interviewenden in Kontakt zu treten und sie für ein Interview zu gewinnen, stand in manchen Fällen eine von ihnen empfundene (und geäußerte) Wissensasymmetrie einem guten Gesprächsfluss im Weg. Auf meine Nachfragen zu einem bestimmten Sachverhalt antworteten manche: „das wissen Sie doch viel besser als ich, Sie haben doch studiert“ (PB15). In diesen Fällen stockte das Gespräch anfangs und es bedarf einer längeren Überzeugung, dass ihre Erzählung tatsächlich von Interesse für mich und diese Forschung sei, um einen Gesprächsfluss herzustellen. Gibt es bei jeder Art des Interviews ein asymmetrisches Verhältnis zwischen den Gesprächspartnern, so wurde dies hier besonders deutlich. Je länger sich die Forscherin im Feld bewegte, desto mehr stieg zwar einerseits das Vertrauen mancher Personengruppen, wie etwa den Betroffenen, andere wie etwa öffentliche Behörden oder MitarbeiterInnen der Unternehmen, die in Führungspositionen sitzen, schöpften jedoch umso mehr Verdacht. Beim Zugang zu diesen Akteursgruppen war es von großem Vorteil die Dissertation an einer deutschen Hochschule zu absolvieren. Laut der Angaben einiger der Interviewten dieser Gruppe hat diese Tatsache sie dazu veranlasst, ihren Standpunkt zu teilen und einem Interview zuzusagen.

In einigen Fällen musste aus Sicherheitsgründen eine Begleitperson ins Forschungsfeld mitgenommen werden. Teile der Betroffenen waren (in)direkt in illegale Geschäfte verwickelt (besonders Drogenhandel und dem rentablen Weiterverkauf geklauter getrockneter Trauben in Form von Rosinen). Dadurch kam es teilweise auch vor, dass die Forschung zunächst unerwünscht war, bis das Vertrauen aufgebaut war. Zwei Situationen waren in dieser Hinsicht besonders heikel: Einmal gerieten wir während der Forschung in einen Moment der Übergabe mit einem Kunden eines illegalen Geschäfts. Im Jahr 2014 wurden wir unter dem Vorwurf des angeblichen Drogenerwerbs von der Polizei festgehalten. Erst nach der Aussage des Geschäftsführers eines landwirtschaftlichen Betriebs, der bestätigte, dass wir schon seit Wochen vor Ort forschten, ließen sie uns gehen. Da es in manchen der erforschten Gebiete zudem weder Handyempfang noch verlässliche regelmäßige öffentliche Verkehrsmittel gibt, habe ich relativ früh in der Forschung (und besonders nach den beschriebenen Erfahrungen aus der ersten Forschung) beschlossen, bestimmte Orte nur in Begleitung zu erforschen. Dennoch kam es 2017 durch den Diebstahl der Kamera und des Aufnahmegeräts während einer Busfahrt zu Datenverlust (vier Interviews und Fotos von der dritten Feldforschung zu Pabellón gingen dadurch verloren).

Besonders im Fall von Pabellón war bei den letzten Besuchen vor Ort die Wahrung der wissenschaftlichen Distanz nicht mehr einfach. Da mich die Akteure vor Ort schon seit Jahren kennen, wurde ich oft freundschaftlich empfangen und in persönliche Gespräche verwickelt, wobei sie mir ihre Probleme der letzten Zeit erzählten. Dennoch waren auch diese Besuche sehr relevant für meine Forschung, weil sie bspw. mit Schilderungen über die Aktivitäten auf den Tailings oder Erkrankungen, die teilweise in Beziehung zu die Tailings standen, einhergingen. Um bei sehr persönlichen Interviewmomenten darauf hinzuweisen, dass es sich weiterhin um eine Interviewsituation handelt, fragte ich wiederholt nach, ob der ein oder andere Aspekt weiterhin für die Forschung verwendet werden kann. Es gab außerdem auch eine Akteursgruppe, bei der es mir persönlich teilweise schwer viel, nicht die Rolle der Forscherin zu verlassen und mich parteiisch zu äußern: die der Zivilgesellschaft. Meine eigene Arbeit zu diesen Themen in NGO, Stiftungen und politischen Gruppen, verleitete dazu, von einem Interview in eine Ebene des fachlichen und politischen Austauschs zu geraten. Dennoch ermöglichten auch diese Interviews, wertvolle Erkenntnisse und meine Erfahrungen in dem Bereich haben mir gleichzeitig auch geholfen, anschließend tiefgründigere Nachfragen stellen zu können. Zuletzt konnte die wissenschaftliche Distanz auch auf stofflicher Ebene nicht eingehalten werden, da die Froschende während der Feldforschung auch selbst den Schadstoffen und giftigen Substanzen über längere Zeiträume hinweg ausgesetzt war.

Politische und ethische Implikationen der Forschung

Wie oben beschrieben, habe ich während der Feldforschung zum Zweck der methodischen Genauigkeit und um eine Verfälschung der Forschungsergebnisse zu vermeiden, stark darauf geachtet, die Unsichtbarkeit der Tailings durch meine Forschungspraxis nicht zu beeinflussen. Dies erschien mir auch in der Hinsicht wichtig, als dass die Ergebnisse der Forschung zeigen sollten, dass Betroffene teilweise nicht wissen, dass sie von starker Umwelt- und Gesundheitsbelastung betroffen sind oder dass latente Konflikt teilweise auch deswegen latent bleiben, weil sie im Alltag anderen Sorgen untergeordnet und vergessen werden. Dies sind wichtige Erkenntnisse, wenn es darum geht, die Entstehungsmöglichkeiten von sozial-ökologischen Konflikten zu verstehen. Aus diesem Grund habe ich die BewohnerInnen der untersuchten Ortschaften während der Forschung auch nicht mit den bestehenden wissenschaftlichen Erkenntnissen über die tatsächliche Schadstoffbelastung der Gebiete konfrontiert.

Während der Forschung gilt es zudem, so gut es geht die eigene Involviertheit zu vermindern, um einerseits die Forschungsergebnisse nicht zusätzlich zu beeinflussen, aber auch um die notwendige Distanz zu den „Beforschten“ zu bewahren, sodass nicht etwa Egalität, Nähe oder Freundschaft suggeriert wird (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 45). Obwohl man im Feld die Rolle der Forscherin besetzt, die das Feld nach der Forschung wieder verlässt, bleibt man auf eine andere Art weiterhin in den Fall und den Gegenstand involviert. Besonders wenn – wie in meinem Fall – auch ein persönliches (teilweise auch moralisches) Interesse besteht (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 47) darf dieses während der Forschung möglichst wenig Einfluss auf die Rolle als Forscherin haben. Dies verändert sich allerdings sobald die Forschung als komplett abgeschlossen gilt. Nach Abschluss der Erhebung begann ich deshalb aus politischen und ethischen Gründen, die Ergebnisse der Forschung und den naturwissenschaftlichen Kenntnisstand über diese Umweltprobleme zumindest mit den Betroffenen zu teilen. Bei aller (berechtigten und weiter unten ausgeführten) Kritik an der Dominanz der Naturwissenschaften als gesellschaftlich einzig anerkannte Wahrheitsquelle gegenüber anderen Wissensformen scheint es mir unethisch, die Betroffenen nicht über die staatlich gemessenen und anerkannten Werte der Schadstoffbelastung zu informieren. Dazu verwendete ich einerseits den weiterhin bestehenden Kontakt zu einigen Betroffenen und Teilen der lokalen Zivilgesellschaft und andererseits ist zukünftig – im Sinne einer Soziologie der Emergenzen (de Sousa Santos 2010) – noch die Publikation eines wissenschaftlichen Artikels zu jedem der drei Fälle in spanischer Sprache geplant.

In den folgenden vier Kapiteln werden nun die Forschungsergebnisse präsentiert. Während sich das Kapitel 5 mit dem chilenischen Bergbau, dem politischen, ökonomischen und sozialen Kontext, in dem dieser eingebettet ist, sowie seinen sozialökologischen Kosten beschäftigt, werden anschließend in den Kapitel 6, 7 und 8 die Ergebnisse zu den drei Untersuchungsfällen dargestellt. Auf jedes dieser Kapitel folgt ein Zwischenfazit. Diese Ergebnisse werden in Kapitel 9 in Beziehung zueinander gesetzt, gemeinsam analysiert und abschließend im Fazit noch einmal zusammengefasst dargestellt.